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Sechstes Kapitel

Während ich mehr als eine Stunde auf dem Sopha liegen blieb und in dem Düster meiner Seele meine kurze Laufbahn und meine gegenwärtige Lage musterte, dabei gelegentlich einen ahnungsvollen Blick auf die Zukunft werfend, erwachte allmählig in meinem Innern ein Gefühl, das ich bisher nie gekannt hatte – der in mir verborgene Stolz brach sich Bahn und hielt mich aufrecht. Ich habe schon früher bemerkt, daß, so lange ich mich in dem elterlichen Hause befand, bei mir Furcht die vorherrschende Gemüthsstimmung war; auf sie folgten die Gefühle der Liebe und des Dankes – jetzt aber, da ich auf's Neue ungerecht behandelt wurde, traten Stolz und mit ihm viele unwürdigere Leidenschaften an ihre Stelle, und ich schien im Laufe von zwei Stunden ein ganz anderes Wesen geworden zu sein. Ich fühlte Vertrauen zu mir selbst; meine Augen wurden so zu sagen mit einemmale geöffnet für die Herzlosigkeit der Welt, und je mehr ich das fast Hoffnungslose meiner Lage in Erwägung zog, desto mehr steigerte sich die Kraft meines Willens. Als ein vertrauenvolles schmiegsames Mädchen hatte ich mich auf den Sopha niedergeworfen; als ein entschlossenes, klar blickendes Weib stand ich wieder auf.

Nach reiflicher Betrachtung war ich zu der Ueberzeugung gekommen, daß Madame d'Albret einer Person, welche von ihr so schwer gekränkt worden, nie wieder vergeben konnte. Sie hatte mich veranlaßt, alle elterlichen und Familienbande – wie sie nun auch sein mochten – abzuschütteln, mich gänzlich von ihr abhängig gemacht und sich nun meiner auf eine grausame und herzlose Weise entledigt. Weil sie ihr Benehmen nicht zu rechtfertigen vermochte, mußte Täuschung mithelfen. Sie hatte mich verläumdet und als Vorwand ihres Verhaltens mich des Undanks bezüchtigt. Daher war jede Versöhnung mit ihr unmöglich, und ich beschloß, unter keinerlei Umständen irgend einen Beistand von ihr anzunehmen. Zudem, war sie nicht mit Monsieur de G – verheirathet, den der Verdruß über meinen Korb zu meinem Feinde gemacht und der, als er seine neue Werbung verfolgte, aller Wahrscheinlichkeit nach es für nothwendig gehalten hatte, mich als ein Hinderniß zu beseitigen, das seiner Verbindung mit Madame d'Albret gefährlich werden konnte, auch abgesehen davon, daß sich ihm hier eine Gelegenheit bot, durch mein Verderben sein Müthchen an mir zu kühlen? Von dieser Seite her durfte ich also nichts hoffen oder erwarten, selbst wenn ich gewollt hatte. Und was war mein Verhältniß zu Madame Bathurst? Wenn ich mich nicht mehr als ein auf Besuch anwesender Gast betrachten konnte, so war nirgends auf Erden mehr ein Obdach für mich.

Ich wußte zwar, daß mir Madame Bathurst wahrscheinlich einen zeitweiligen Zufluchtsort anbieten und mich nicht aus dem Hause jagen würde; aber mein neu erwachter Stolz empörte sich bei dem Gedanken an die Abhängigkeit von einer Frau, an die ich durchaus keine Ansprüche erheben konnte. Was war also anzufangen? Ich prüfte meine Hilfsquellen. Was konnte mich meine Schönheit nützen? Das hinterlistige Benehmen des Monsieur de G – hatte meine Gleichgültigkeit gegen sein Geschlecht zu entschiedener Abneigung gesteigert, und es kam mir nicht zu Sinne, mit meinen körperlichen Vorzügen zu Markt zu ziehen. Ich konnte singen und gut Klavierspielen, sprach französisch und englisch und verstand mich auch auf das Italienische. Sticken und sonstige Nadelarbeiten waren Fertigkeiten, die gleichfalls zu meinem Kapital gehörten, und so war nun der Grundstock beisammen, mit welchem ich meinen Anfang in der Welt machen sollte. Ich konnte demnach bis zu einem gewissen Grad Unterricht ertheilen im Französischen und in der Musik, den Obliegenheiten einer Gouvernante vorstehen oder eine Modistin werden.

Ich dachte an Madame Paon; wenn ich mir aber vergegenwärtigte, in welcher Stellung ich sie sonst zu besuchen pflegte, mit welcher Achtung und (ich kann wohl sagen) Ehrerbietung ich in ihrem Hause behandelt wurde, und welche ganz andere Aufnahme ich zu gewärtigen hätte, falls ich als erwerbsuchende Arbeiterin in das Etablissement trat, so wurde mir doch ein solcher Gedanke zu peinlich, und ich nahm mir vor, zu diesem Nahrungszweige, wofern sich mir kein anderer Ausweg bot, nur an einem Platze zu greifen, wo man mich nicht kannte. Nach reiflicher Ueberlegung beschloß ich, zu Madame Bathurst zu gehen, ihr meine Absichten mitzutheilen und sie zu bitten, daß sie mir durch ihre Empfehlung zu einer Stelle behilflich sein möchte. Nachdem ich meine Haare geordnet und alle Spuren meiner kürzlichen Aufregung beseitigt hatte, begab ich mich auf ihr Zimmer. Sie war allein. Ich fragte sie, ob sie einige Minuten für mich übrig habe, händigte ihr den von Madame Paon erhaltenen Brief ein und vertraute ihr sodann jenen Theil meiner Geschichte, von dem sie noch nicht unterrichtet war. Während des Redens belebte sich mein Muth; meine Stimme gewann Festigkeit, und ich fühlte, daß ich nicht länger ein Mädchen war.

»Madame Bathurst, ich habe Euch alles dies vertraut, weil Ihr mit mir einverstanden sein werdet, daß ich jedes Verhältniß zu Madame d'Albret abbrechen muß und kein Anerbieten von dieser Seite her annehmen kann, selbst wenn es mir gemacht würde. Ihrem Benehmen verdanke ich's, daß ich mich jetzt in einer ganz falschen Stellung befinde. Ich bin hier auf Besuch, weil Ihr mich für eine protegée dieser Dame und für eine Person von Bedeutung hieltet. Ihr Schutz ist mir entzogen, und ich bin jetzt eine Bettlerin ohne andere Aussichten für meine Zukunft, als diejenigen sind, welche mir meine Talente bieten. Ich erkläre Euch dies offen, weil ich nicht daran denken kann, länger als Gast bei Euch zu bleiben, und wenn mein Begehren nicht zu kühn ist, möchte ich mir von Eurer Freundschaft nur so viel erbitten, daß Ihr mir diejenige Empfehlung zu Theil werden lasset, welche Ihr mir mit gutem Gewissen geben könnt, damit ich auf diese Weise die Mittel finde, mich im Leben fortzubringen.«

»Meine liebe Valerie,« entgegnete Madame Bathurst, »ich will Eure Gefühle nicht verletzen. Es ist ein schwerer Schlag, und mit Freude bemerke ich an Euch, daß er, statt Euch zu erdrücken, dazu dient, Euch zu erheben. Ich habe von Madame d'Albrets Heirath und von der Täuschung gehört, die sie sich erlaubte, augenscheinlich um sich Eurer zu entledigen. Vor einiger Zeit schrieb ich an sie und hielt ihr den Widerspruch in ihren Briefen mit ihrer wirklichen Lage vor, indem ich sie zugleich ersuchte, mir anzugeben, was mit Euch zu geschehen habe. Ihre Antwort ist heute eingelaufen. Sie behauptet, daß Ihr sie grausam hintergangen hättet; während Ihr die größte Dankbarkeit und Zuneigung heucheltet, hättet Ihr sie hinter ihrem Rücken verlästert und verlacht, namentlich gegen Monsieur de G–, der jetzt ihr Gatte sei, und wenn sie auch geneigt wäre, Euer falsches Benehmen gegen sie zu übersehen und zu vergeben, so sei doch Monsieur mit aller Entschiedenheit dagegen, daß Ihr je wieder unter sein Dach kommet. Sie hat deshalb eine Note von fünfhundert Franken beigeschlossen, um Euch in die Lage zu setzen, wieder zu Eurer Familie zurück zu kehren.«

»Dann ist es, wie ich geargwöhnt habe,« versetzte ich. »Monsieur de G– ist an allem Schuld.«

»Aber warum habt Ihr ihm vertraut, Valerie – oder vielmehr, warum konntet Ihr so unklug, und ich muß beifügen, so undankbar sein, Euch in der angedeuteten Weise über Madame d'Albret zu äußern?«

»Und Ihr glaubt es, Madame Bathurst – Ihr glaubt, daß ich dieses that? Ich kann nur sagen, daß es in diesem Falle am besten ist, wenn wir je eher je lieber scheiden.«

Ich theilte ihr dann mit, was ich in meiner frühem Erzählung ausgelassen – daß ich nämlich Monsieur de G – einen Korb gegeben hatte. Ich setzte Madame Bathurst seinen Charakter auseinander und bewies ihr, wie sein Handeln nur aus Interesse und Rachsucht hervorgegangen war.

»Ich sehe jetzt klar in der Sache, Valerie, und bitte Euch um Verzeihung, daß ich Euch nur einen Augenblick eines so undankbaren Benehmens fähig halten konnte. Eure Erklärung gereicht mir zur Beruhigung und setzt mich in die Lage, Euch ein Anerbieten zu machen, das ich Euch bereits gestellt haben würde, wenn mich nicht diese Schmähung gegen Euch zurückgehalten hätte. Ich bitte Euch daher, meine liebe Valerie, vorläufig hier zu bleiben. Ihr würdet vortrefflich zu einer Gouvernante für Caroline passen; aber es ist mir lieber, wenn Ihr statt in dieser Eigenschaft als Freundin bei mir bleibt. Ich sage dies, weil ich fürchte, Ihr werdet zu stolz sein, in einem abhängigen Verhältniß zu verharren, ohne daß Euch Gelegenheit geboten würde, Euch nützlich zu machen. Ihr wißt, daß ich willens war, sobald ich nach London komme, für Caroline eine Gouvernante einzuthun. Wenn Ihr einwilligt, so bleibt mir dieser Schritt erspart, und ich muß Euch obendrein noch dankbar sein, weil mir auf diese Weise nicht nur eine fähige Erzieherin gewonnen, sondern auch der Verlust einer theuren jungen Freundin erspart wird.«

»Ich danke Euch für Euer Erbieten, meine liebe Madame,« versetzte ich, indem ich aufstand und mich gegen sie verbeugte, hoffe aber, Ihr werdet mir eine kurze Bedenkzeit gestatten, eh' ich einen Entschluß fasse. Ihr werdet zugeben, daß der gegenwärtige Zeitpunkt der folgenreichste ist in meinem Leben, und ich muß mich möglichst hüten, irgend einen falschen Schritt zu thun.«

»Zuverlässig,« versetzte Madame Bathurst. »Ihr habt Recht, Valerie, wenn Ihr Euch bedenkt, eh' Ihr einen Entschluß faßt; aber ich muß sagen, daß mir Euer Benehmen gegen mich etwas stolz vorkömmt.«

»Möglich, meine liebe Madame Bathurst; und wenn es wirklich so ist, so bitte ich Euch um Entschuldigung. Ihr müßt aber nicht vergessen, daß die Valerie von gestern, welche Euer Gast und Eure junge Freundin war, nicht mehr die Valerie von heute ist.«

Mit diesen Worten nahm ich die Note von fünfhundert Franken, welche Madame Bathurst auf den Tisch gelegt hatte, an mich, verließ das Gemach und begab mich auf mein eigenes Zimmer.

Ich freute mich, wieder allein zu sein, denn obgleich in Anbetracht der Umstände mein Muth wunderbar aufrecht blieb, wirkte doch die Summe der Aufregungen erschöpfend auf meinen Körper. Ich hatte mir in dem Augenblicke, als mir Madame Bathursts Erbieten gestellt wurde, vorgenommen, darauf einzugehen, wollte aber nicht dergleichen thun, als stürze ich mit Begierde darauf los, wie sie vielleicht erwartet hatte. Nach der Behandlung, die mir von Madame d'Albret zu Theil geworden, war ich mißtrauisch gegen Jedermann, und wahrscheinlich wurde ich, wenn man meiner Dienste nicht mehr bedurfte, von Madame Bathurst mit ebensowenig Umständen entlassen, als es meine frühere Gönnerin für nöthig gehalten hatte. Mein Inneres sagte mir, daß ich wohl die erforderlichen Fähigkeiten besaß, um Caroline zu leiten und zu unterrichten, wie denn auch Madame Bathurst nicht leicht eine Erzieherin gefunden haben würde, die in Musik und Gesang zu leisten vermochte, was ich. Daher fand meinerseits gerade keine sonderliche Verpflichtung statt, und ich beschloß, ihren Antrag abzulehnen, wenn mir die Bedingungen nicht gefielen. Ich besaß einiges Geld, da ich von den zwanzig Souverains, mit welchen Madame d'Albret beim Abschied meine Börse versehen, nur wenig ausgegeben hatte, und konnte mich deshalb wohl für einige Zeit fortbringen, im Falle ich mit Madame Bathurst über die Honorirung meiner Leistungen nicht einig wurde.

Nach der Erwägung einer Stunde setzte ich mich nieder und schrieb an Madame Paon einen Bries, in welchem ich ihr das Vorgefallene und meinen Entschluß mittheilte, daß ich fortan durch eigene Thätigkeit mir meinen Lebensunterhalt sichern wolle, indem ich beifügte, da ich noch nicht gewiß wisse, ob ich Madame Bathursts Erbieten annehmen werde, so wäre es mir wünschenswerth, wenn sie mich an irgend einen von ihren Bekannten in London mit einem Empfehlungsschreiben versähe; denn bei meiner Unerfahrenheit und Rathlosigkeit könnte ich sonst wohl nach allen Richtungen hin betrogen werden. Nachdem ich mit diesem Schreiben zu Ende war, begann ich ein zweites an Madame d'Albret folgenden Inhalts:

 

»Meine liebe Madame!

»Ja, ich will Euch noch immer meine liebe Madame nennen; denn obgleich Ihr nie wieder etwas von mir hören sollt, werdet Ihr mir dennoch theuer bleiben, theurer vielleicht, als je in der Zeit, während welcher ich in Euch meine Beschützerin und mehr als eine Mutter sah. Und warum so? Wenn diejenigen, welche wir lieben, im Unglück sind, wenn unsere Wohlthäter sich in einer Lage befinden, daß sie selbst bald des Beistandes bedürftig sein werden, so ist ja erst die rechte Zeit, wann unsere Dankbarkeit und Liebe von Werth wird. Ich schreibe es nicht Euch zur Last, meine liebe Madame d'Albret, daß Ihr durch einen niedrigen Heuchler, der eine so gewinnende Maske trägt, getäuscht wurdet; ich mache es Euch nicht zum Vorwurf, daß Ihr Euch von ihm überreden ließet, ich habe Euch verlästert und mich undankbar gegen Euch benommen. Eure Gefühle gegen ihn und seine vollendete Arglist haben Euch geblendet, und ich verdiene eigentlich Tadel, daß ich Euch nicht eröffnete, wie er mir nur kurze Zeit vor meiner Abreise einen Antrag machte, den ich unwillig zurückwies, weil er sich dieses ungewöhnlichen Schrittes vermessen, ohne Euch vorläufige Mittheilung davon zu machen. Nicht daß ich darauf eingegangen wäre, selbst wenn Ihr es gewußt hättet, denn ich wußte, daß er in dem Geruche eines falschen, unwürdigen Mannes stand. Ich würde Euch von seinem Heirathsanerbieten Mittheilung gemacht haben, meine theure Madame, wenn er es nicht als Gunst von mir erbeten hätte, gegen Euch darüber zu schweigen; auch wußte ich damals noch nicht, daß er ein zu Grunde gerichteter Mann, ein verzweifelter Spieler war und daß er wegen ehrloser Practiken am Spieltisch England hatte verlassen müssen – eine Wahrheit, die Ihr leicht ermitteln könnt, da sogar Madame Paon in der Lage ist, Euch die erforderlichen Nachweise zu geben. Und in die Hände eines solchen Menschen seid Ihr gefallen, meine theure Madame d'Albret! Ach, wie seid Ihr zu beklagen! Das Herz blutet mir um Euretwillen, und ich fürchte, daß schon ein Paar Monate zureichen werden, die Wahrheit von alledem zu beweisen, was ich Euch hier schreibe. Daß ich unter Monsieur de G –'s Benehmen sehr leide, ist wahr. Ich habe eine gütige Beschützerin, eine nachsichtige Mutter verloren und bin jetzt darauf angewiesen, mir meinen Unterhalt zu erwerben, wie es eben gehen will. Alle frohen Hoffnungen, alle Träume von Glück in Eurer Nähe, alle meine Wünsche, Eure Güte durch Dank und Liebe lohnen zu können, sind zerronnen, und ich bin hier – ein junges, verlassenes, schutzloses Wesen. Doch ich denke nicht an mich; jedenfalls bin ich frei – nicht an einen Menschen gekettet, wie dieser Monsieur de G–, und meine Seele ist nur erfüllt von bitterem Leide über das, was Ihr durchzumachen haben werdet. Ich sende Euch die Note von fünfhundert Franken zurück, da ich das Geld nicht annehmen kann. Ihr seid an Monsieur de G– verheirathet, und ich kann nichts von einer Person annehmen, die Euch den Glauben beibrachte, daß Valerie der Lästersucht und des Undanks fähig sei. Lebt wohl, meine theure Madame; ich will für Euch beten und über Euer Unglück weinen.

Stets

Eure dankbare

Valerie de Chatenœuf.«

 

Ich gestehe, daß gemischte Gefühle mir dieses Schreiben eingaben. Wie ich darin sagte, bemitleidete ich Madame d'Albret von ganzem Herzen und verzieh ihr die gegen mich geübte Lieblosigkeit; zugleich aber suchte ich mich an Monsieur de G– zu rächen, und während ich dies that, pflanzte ich Dolche in ihr Herz. Freilich bedachte ich dies während des Schreibens nicht. Ich wünschte weiter nichts, als mich zu rechtfertigen, und dies konnte nicht anders geschehen, als wenn ich Monsieur de G– blosstellte und dadurch, daß ich den Menschen in seinen wahren Farben schilderte, Madame d'Albret zu einem Bewußtsein ihrer Lage brachte, das ja früher oder später doch eintreten mußte. Allerdings war es nicht freundlich von mir, wenn ich ihre Seele mit Zweifeln und Eifersucht erfüllte, und ich empfand dies wohl, als ich meinen Brief vor dem Siegeln noch einmal durchlas; aber ich fühlte keine Neigung, etwas darin zu ändern, wahrscheinlich weil ich Madame d'Albret doch nicht so ganz vergeben hatte, als ich mich selbst glauben machen wollte. Sei dem übrigens, wie ihm wolle, das Schreiben wurde gesiegelt und mit dem an Madame Paon noch durch dieselbe Abendpost abgesandt.

Ich hatte mich jetzt nur noch mit Madame Bathurst zu vergleichen und begab mich nach dem Empfangszimmer hinunter, wo ich sie allein fand.

»Ich habe Euren gütigen Vorschlag in Erwägung gezogen, meine theure Madame Bathurst,« begann ich. »Allerdings hatte ich dabei einen kleinen Kampf zu überwinden, denn Ihr werdet zugeben müssen, daß es keine angenehmen Gefühle weckt, wenn man aus der Rolle eines Gastes in der Familie zu der einer abhängigen Person heruntersinkt, und dies muß doch nothwendig der Fall sein, wenn ich ferner in Eurem Hause bleibe. Gleichwohl haben mich die Vortheile, die ich darin sehe, daß ich um eine Frau bin, die ich so hoch achte, und ein so liebes Wesen zu unterrichten habe, wie Caroline ist, bestimmt, Euer Erbieten anzunehmen. Darf ich mir nun die Frage erlauben, unter welchen Bedingungen ich als Gouvernante einzutreten habe?«

»Valerie, ich fühle, daß dies eitel Stolz ist,« versetzte Madame Bathurst, »gleichwohl aber kein unehrenhafter Stolz, und obschon ich mich ihm fügen muß, würde ich es doch vorgezogen haben, Euch keine Bedingungen zu stellen, sondern Euch als theure Freundin bei mir zu behalten, der meine Börse und Alles im Hause zur Verfügung steht. Ich hoffte, Ihr würdet mir dies gestatten; da Ihr aber nicht so wollt, so muß ich Euch sagen, daß ich bei Erwerbung einer Gouvernante für Caroline auf einen Aufwand von hundert Pfunden rechnete. Dies ist das jährliche Salär, welches ich Euch gleichfalls anbiete.«

»Es reicht mehr als zu, meine theure Madame,« versetzte ich, »und ich nehme Euer Erbieten an unter der Bedingung, daß unser Vertrag eine halbjährliche Probezeit in sich schließt.«

»Valerie, Ihr macht mich lachen, und doch muß ich mich zugleich ärgern. Nun, sei es darum, denn ich kann von Euch viel ertragen. Ihr habt freilich einen schweren Schlag erlitten, armes Kind. Sprechen wir übrigens nicht weiter davon. Die Sache ist abgemacht, und unsere Abfindung soll ein Geheimniß bleiben, wenn Ihr es nicht etwa selbst veröffentlicht.«

»Ich werde sicherlich kein Geheimniß daraus machen, Madame Bathurst; denn es thäte mir leid, mich unter falschen Farben zu zeigen und von Euren Bekannten für etwas anderes gehalten zu werden, als ich wirklich bin. Ich habe nichts begangen, dessen ich mich schämen müßte, und verabscheue jede Täuschung. Wie sich auch meine Lage im Leben gestalten mag, so hoffe ich, daß ich nie dem Namen Unehre machen werde, den ich trage; auch bin ich nicht die Erste von edler Abkunft, welcher das Glück den Rücken gekehrt hat.«

Wie seltsam, daß ich jetzt – zum erstenmal in meinem Leben – einen Stolz auf meinen Familiennamen zu fühlen begann, und es geschah vermutlich deshalb, weil wir, wenn wir fast Alles verloren haben, das uns noch Bleibende besonders Werth halten. Von der Zeit an, als Madame Bathurst mich zum erstenmal kennen lernte, bis auf die letzten vierundzwanzig Stunden war jede Spur des Stolzes von mir ferne geblieben, und als die protegée, die angenommene Tochter der Madame d'Albret mit glänzenden Aussichten, erschien mein Benehmen als die Bescheidenheit selbst; jetzt aber, als abhängige Person mit einem Jahresgehalt von hundert Pfunden wetteiferte Valerie an Stolz sogar mit Lucifer. Madame Bathurst bemerkte dies, und ich muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie in ihrem Benehmen gegen mich große Vorsicht beobachtete. Sie fühlte Theilnahme für mich und behandelte mich mit mehr Wohlwollen, ja, ich darf sagen mit mehr Achtung, als dies dem Gast und der vermeintlichen Standesgenossin gegenüber der Fall gewesen war.

Am andern Tage unterrichtete ich Caroline von der Veränderung in meinen Aussichten und theilte ihr mit, daß ich bei ihr das Amt einer Erzieherin übernommen habe, das heißt, mit sechsmonatlicher Probezeit. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß es fortan meine Pflicht sei, Sorge zu tragen, daß sie ihre Studien nicht vernachläßige, und ich mir fest vorgenommen habe, dem von Madame Bathurst in mich gesetzten Vertrauen Ehre zu machen. Caroline, die einen sehr liebenswürdigen Charakter besaß, entgegnete mir, sie werde mich stets als ihre Gefährtin und Freundin betrachten und aus Liebe zu mir gerne Alles thun, was ich wünsche – ein Versprechen, das sie auch redlich hielt.

Der Leser wird mit mir einverstanden sein, daß der Umschwung in meinen Verhältnissen unter den obwaltenden Umständen nicht milder hätte stattfinden können. Die Dienstleute erfuhren nie, daß ich die Stelle einer Gouvernante angenommen hatte, denn Madame Bathurst und ihre Nichte nannten mich stets Valerie und ich wurde fortwährend als ein Gast im Hause behandelt. Ich verwandte viele Zeit auf Carolinens Erziehung und arbeitete eifrig an meiner eigenen Ausbildung, um meiner Pflegbefohlenen desto nützlicher werden zu können. In Allem gieng ich auf die Elemente zurück, um meiner Unterweisung mehr Gründlichkeit zu geben, und Caroline machte nicht nur sehr rasche Fortschritte in der Musik, sondern bildete auch ihre Stimme in einer Weise aus, daß man sich von ihr im Verlauf einiger Jahre etwas Treffliches versprechen durfte. Während der Saison begaben wir uns nach London; aber ich vermied die Gesellschaft so viel wie möglich – in einem Grade sogar, daß sich Madame Bathurst darüber beschwerte.

»Valerie,« sagte sie zu mir, »Ihr thut Unrecht, daß Ihr Euch so sehr zurückzieht. Wenn Ihr Euch so benehmt, stellen natürlich die Leute Fragen an mich und wollen wissen, ob Ihr die Gouvernante oder sonst irgend etwas seiet.«

»Dies ist mir nicht unangenehm, meine liebe Madame, und ich bitte Euch, ihnen unverholen zu antworten. Ich bin ja die Gouvernante und will meine Stellung durchaus nicht verhehlen.«

»Aber ich kann nicht zugeben, daß Ihr das seid, was man gewöhnlich unter einer Gouvernante versteht, Valerie. Ihr seid eine junge Freundin, die sich bei mir aufhält und meine Nichte unterrichtet.«

»Das ists ja eben, was eine Gouvernante sein sollte,« versetzte ich; »eine junge Freundin, welche die Kinder des Hauses erziehen hilft.«

»Ich gebe dies zu,« entgegnete Madame Bathurst; »aber wenn Ihr in einer anderen Familie diese Stellung einnähmet, so würdet Ihr, fürchte ich, finden, daß eine Gouvernante gewöhnlich nicht in diesem Lichte betrachtet oder nach der von Euch angedeuteten Eigenschaft behandelt wird. Ich kenne keine Klasse von Menschen, welche so sehr zu beklagen wäre, als die jungen Personen, welche als Gouvernantinen ihren Unterhalt suchen. Sie erscheinen als nicht gut genug für den Salon und sind doch zu gut für die Küche. Vom Hausherrn und von der Hausfrau werden sie mit hauteur behandelt und nur zeitweise in ihre Gesellschaft zugelassen oder vielmehr darin geduldet. Von den Dienstboten sind sie als Personen angesehen, die keinen Anspruch haben auf die Aufmerksamkeiten und Höflichkeit, für welche sie Kost und Lohn erhalten, und sind der Ansicht dieser Leute zufolge in keiner Weise zu einer Bedienung berechtigt, da sie eben so gut wie sie selbst ›Lohn‹ erhalten. So trifft sie denn in den meisten Häusern Vernachläßigung von allen Seiten her. An sich unglücklich, geben sie Anlaß zu Groll und Zwistigkeit, und um der Gouvernante willen erhalten mehr Dienstboten ihre Aufkündigung oder Entlassung, als wegen irgend einer andern Ursache. Im Salon betrachtet man sie als ein Hemmniß der Unterhaltung, und thut sie im Unterrichtszimmer ihre Pflicht, so gibt sie Anlaß zu Unzufriedenheit, Schmollen und Thränen. Wie die Fledermaus ist sie weder Vogel noch Vierfüßler und flattert im Hause umher, wie eine böse Vorbedeutung. Die Leichtherzigkeit und der Lenz der Jugend ist für sie verloren; der beständige Aerger und Verdruß versäuert ihre Gemüthsstimmung, und ihr Leben ist voll Elend, Mühsal und Unzufriedenheit. Ich sage Euch dies offen; es ist zwar ein herbes, aber leider nur allzuwahres Bild. Ich hoffe, daß Ihr bei mir glücklich sein werdet; eine Veränderung aber und ein Uebergang in eine andere Familie dürfte wohl Eure Erwartungen bitterlich täuschen.«

»Ich habe früher wohl ähnliche Schilderungen vernommen, meine theure Madame,« erwiederte ich, »aber Eure rücksichtsvolle Güte hat mich sie vergessen lassen. Ich kann nur sagen, daß es ein trauriger Tag für mich sein wird, der mich Euer Haus zu verlassen nöthigt.«

Es wurden Besuche angemeldet, und in unserer Unterhaltung fand eine Unterbrechung statt. Wie ich schon früher bemerkte, besaß ich Geschick für Anfertigung von Kleidern, und die Güte der Madame Bathurst veranlaßte mich, von allen meinen Gaben in ihrem Interesse Gebrauch zu machen. Jedermann lobte und bewunderte die eigenthümliche Eleganz ihres Anzugs, erkundigte sich nach der sie bedienenden modiste, und Madame Bathurst versäumte nie, alles Verdienst mir beizulegen.

Die Zeit verschwand rasch und die Saison war nahezu vorüber. Madame Bathurst hatte ihren vertrautesten Freundinnen mitgetheilt, welche Veränderung in meinen Aussichten stattgefunden, und daß ich mich bei ihr mehr als Gesellschafterin, denn in irgend einer andern Eigenschaft aufhalte. Dies sicherte mir Rücksichtnahme und Achtung, so daß ich oft in Gesellschaften eingeladen wurde. Ich blieb jedoch lieber eingezogen für mich und machte von diesen Einladungen höchstens dann Gebrauch, wenn mir ein Logenplatz in der Oper oder im französischen Schauspiel angeboten wurde.

Meinem Ersuchen gemäß hatte mir Madame Paon ein Empfehlungsschreiben an einen ihrer Freunde, einen Monsieur Gironac zugehen lassen, der in Leicestersquare wohnte. Er war verheirathet und hatte keine Kinder. Seinen Lebensunterhalt gewann er den Tag über durch Unterricht im Flöten- und Guitarrespielen oder in der französischen Sprache, während er sich Abends als zweiter Violinist in dem Orchester des Opernhauses verwenden ließ, so daß er also außer denen seiner Violine viele Saiten für seinen Bogen hatte. Seine Gattin, ein hübsches lebhaftes Weibchen unterrichtete junge Frauenzimmer im Anfertigen von wächsernen Blumen und gab sich in den Abendstunden mit Spitzennähen ab. Sie waren ein sehr liebenswürdiges unterhaltliches Paar, das stets einen scherzhaften Krieg unter sich führte und, so lang sie bei einander waren, sich in gegenseitiger launiger Neckerei ergieng. Ihre Händel waren das komischste und belustigendste, was mir je vorgekommen ist, und endigten in der Regel mit einem schallenden Gelächter. Sie nahmen mich mit der größten Freundlichkeit und Rücksicht auf, behandelten mich mit aller Achtung, bis unsere warme Vertraulichkeit dies nicht mehr nöthig machte, und unsere Freundschaft knüpfte sich noch inniger durch den Umstand, daß Caroline den Wunsch ausdrückte, Wachsblumen machen zu lernen, und Madame Gironac's Schülerin wurde. Dies war der Stand der Dinge, als die Londoner Saison zu Ende gieng und wir wieder auf's Land zurückkehrten.

Die Zeit schwand rasch dahin. Madame Bathurst behandelte mich mit Wohlwollen und Achtung, Caroline mit Liebe, und ich fühlte mich glücklich und zufrieden. Es war mir ein ernstes Anliegen, Caroline gut auszubilden, und ich hatte dabei die Freude, zu hören und zu fühlen, daß meine Bestrebungen als erfolgreich anerkannt wurden. So hoffte ich denn, bis zu der Vollendung von Carolinens Erziehung eine bleibende Stätte gefunden zu haben – für einen Zeitraum von zwei oder drei Jahren vielleicht, und dieses Sicherheitsgefühl ließ mich nur wenig an meine weitere Zukunft denken. Da trat ein Umstand ein, welcher allen meinen Berechnungen ein Ende machte.

Ich habe angegeben, daß Caroline eine Nichte der Madame Bathurst war. Ihre Mutter war eine jüngere Schwester ihrer Tante, welche sich sehr unglücklich verheirathet hatte, indem sie sich von einem jungen Mann entführen ließ, der keinen Schilling sein eigen nennen konnte und ganz von dem guten Willen eines kinderlosen Onkels abhieng. Diese unkluge Verbindung hatte jedoch den Zorn seines reichen Verwandten erregt, welcher ihm alsbald erklärte, daß er von ihm nichts mehr zu erwarten habe, weder jetzt, noch nach seinem Tode. Die Folge davon war, daß Madame Bathursts Schwester und ihr Gatte in die größte Noth geriethen, bis es endlich Madame Bathurst gelang, letzterem durch ihren Einfluß einen Posten beim Zollamt mit einem jährlichen Gehalt von dreihundert Pfunden zu verschaffen. Von diesem Einkommen und den gelegentlichen Geschenken der Madame Bathurst konnten sie nothdürftig leben; da sie aber zwei Knaben und ein Mädchen zu erziehen hatten, so nahm Madame Bathurst das letztere, Caroline, zu sich, mit dem Versprechen, während ihrer Lebzeiten entweder auf die Versorgung ihrer Nichte bedacht zu nehmen oder nach ihrem Tode den Unterhalt derselben gehörig zu sichern. Madame Bathurst genoß ein sehr schönes Witthum, so daß sie mit jedem Jahre etwas für Caroline bei Seite legen konnte – eine Vorsorge, welcher sie seit dem Eintritt der Nichte in ihr Haus (das Mädchen war damals sieben Jahre alt) treulich nachgekommen war. Um die Zeit, von welcher ich spreche, war, wie es schien, der Onkel von Carolines Vater gestorben und hatte ungeachtet der früheren Drohung seinem Neffen das ganze große Vermögen, das er hinterlassen, vermacht. Dieser war dadurch sogar noch reicher geworden, als Madame Bathurst, und in Folge davon erhielt letztere die betreffende Anzeige, welche mit der Aufforderung schloß, Caroline unverweilt in das Haus ihres Vaters zurückzusenden. In dem Briefe, den ich selbst auch las – denn Madame Bathurst hatte mir ihn mit der Bemerkung eingehändigt, daß er mich so gut wie sie und Caroline betreffe – zeigte sich nicht viel von dankbarer Anerkennung der vielen Güte, welche das Ehepaar von der wohlwollenden Verwandten genossen: es war ein herz- und gefühlloser Brief, und sein Inhalt flößte mir, nachdem ich ihn gelesen, Abscheu ein.

»Ist dies der ganze Dank für das, was Ihr an Eurer Schwester und ihrem Gatten gethan habt?« bemerkte ich. »Je mehr ich von der Welt sehe, desto mehr wird sie mir verhaßt.«

»Ihr habt hier einen Beweis von kalter Selbstsucht und niedriger Herzlosigkeit,« versetzte Madame Bathurst. »Caroline ist so lange bei mir gewesen, daß ich sie für mein eigenes Kind ansah, und nun soll sie mir entrissen werden ohne die mindeste Rücksicht auf meine Gefühle. Es ist sehr grausam und undankbar.«

Nach dieser Bemerkung stand Madame Bathurst auf und verließ das Zimmer. Wie ich später erfuhr, schrieb sie auf den erhaltenen Brief eine Antwort, in welcher sie andeutete, wie lange nun Caroline unter ihrer Obhut gewesen, wie sie dieselbe als eigene Tochter betrachtet, und bat die Eltern, dem Kinde die Rückkehr zu gestatten, nachdem es sie besucht hätte; dabei bemerkte sie, wie unfreundlich und undankbar es von ihnen wäre, wenn sie, nun ihre Verhältnisse sich geändert hätten, ihr das Mädchen entrissen, und wie schmerzlich für sie ein solcher Schritt von ihrer Seite werden müßte. Auf dieses Schreiben erhielt sie eine im höchsten Grade kränkende Rückantwort, indem sie aufgefordert wurde, über die Kosten der Erziehung und Unterhaltung ihrer Nichte eine Rechnung auszufertigen, damit man ihr den Betrag zustellen könne. Bei dieser Gelegenheit sah ich Madame Bathurst zum erstenmale wirklich zornig, und sie hatte auch allen Grund dazu. Caroline wurde nun vorbeschieden und ihr, da man ihr bisher blos mitgetheilt hatte, ihren Eltern sei ein großes Erbe zugefallen, der erwähnte Brief mit dem Concept dessen, was Madame Bathurst geschrieben, zu Händen gestellt. Während sie der an sie ergangenen Aufforderung gemäß die beiden Schreiben las, beobachtete ihre Tante mit strengforschendem Blick ihr Gesicht, als wolle sie sich überzeugen, ob der Undank der Eltern als Erbe auch auf die Nichte übergegangen sei. Dies war jedoch nicht der Fall, denn die arme Caroline sank, das Antlitz mit ihren Händen bedeckt, in den Sessel zurück, stürzte dann auf Madame Bathurst zu, warf sich zu ihren Füßen nieder, begrub ihr Gesicht im Schoos der Tante und weinte, als ob ihr das Herz brechen wollte. Einige Minuten nachher richtete Madame Bathurst ihre Nichte wieder auf, küßte sie und sagte:

»Ich bin überzeugt. Meine liebe Caroline wenigstens ist nicht undankbar. Aber jetzt mußt du deine Pflicht erfüllen, mein Kind, und deinen Eltern Gehorsam leisten. Da wir uns doch trennen müssen, so ist es am besten, wenn es je eher je lieber geschieht. Valerie, wollt Ihr Sorge dafür tragen, daß auf morgen früh Alles für Carolinens Abreise bereit sei?«

Mit diesen Worten machte sich Madame Bathurst von Caroline los und verließ das Zimmer. Es stund lange an, bis es mir gelang, durch vernünftigen Zuspruch dem armen Mädchen wieder einige Fassung beizubringen. Zwar mußte ich ihr zugeben, daß das Benehmen ihrer Eltern gegen Madame Bathurst in hohem Grade schmählich sei, aber zugleich machte ich sie darauf aufmerksam, wie es in der Natur der Sache liege, daß sie, die nur eine einzige Tochter hatten, die Rückkehr derselben unter ihre eigene Obhut wünschten, indem es für sie eine schwere Prüfung gewesen sein müsse, zu der sie nur die Sorge für das Wohl ihres Kindes bewegen konnte, ihre Tochter an Madame Bathurst abzutreten. Was ich übrigens auch vorbringen mochte, Carolinens Unwille gegen ihre Eltern, von denen sie nur wenig wußte, ließ sich nicht viel mildern, und eben so groß blieb ihre Abneigung, in das elterliche Haus zurückzukehren. Da jedoch Madame Bathurst sich dafür entschieden hatte, daß sie gehen sollte, so war in der Sache nichts zu ändern, und es gelang mir, sie zu bereden, daß sie mich begleitete und mir ihre Kleider zum Einpacken zurecht legen half. Bei der Mittagtafel trafen wir an jenem Tage nicht zusammen, denn Madame Bathurst ließ herunter sagen, ihr Geist sei zu betrübt, als daß sie ihr Zimmer verlassen könnte; da bei Caroline und mir das Gleiche der Fall war, so blieben auch wir in unsern Gemächern. Abends ließ mich Madame Bathurst rufen. Sie lag in ihrem Bette und sah sehr übel aus.

»Valerie,« sagte sie, »ich wünsche, daß Caroline morgen in aller Frühe abreise, damit Ihr, die Ihr sie begleitet, noch vor Abend wieder eintreffen könnt. Ich werde nicht im Stande sein, sie morgen noch einmal zu sehen, und muß ihr deshalb heute noch Lebewohl sagen. Bringt sie her. Je bälder es vorüber ist, desto besser.«

Ich entfernte mich, um Caroline zu holen, und nun fand ein schmerzlicher Abschied statt. Kaum weiß ich, wer von uns dreien am bitterlichsten weinte; aber nach einer halben Stunde gab mir Madame Bathurst durch ein Zeichen zu verstehen, daß ich das Mädchen wieder fortnehmen solle. Ich that dies und schaffte sie so bald wie möglich zu Bette. Nachdem ich bei ihr geblieben war, bis sie sich in den Schlaf geschluchzt hatte, gieng ich zu dem Gesinde hinunter, dem ich Madame Bathursts Weisungen für den nächsten Morgen mittheilte, und begab mich dann selbst zur Ruhe. So erschöpft ich auch war nach diesem Tage des Kummers und der Thränen, konnte ich doch geraume Zeit kein Auge schließen, da mir stets der Gedanke vor der Seele schwebte, welche Folgen die Lösung dieses Verhältnisses für mich haben werde. Ich befand mich als Carolinens Gouvernante im Hause, konnte also nicht wohl erwarten, daß Madame Bathurst nach Entfernung ihrer Nichte mich bei sich zu behalten wünschte, und eben so wenig würde mir mein Stolz gestattet haben, auf ein derartiges Anerbieten, wenn es mir gemacht wurde, einzugehen, da ich dadurch blos von ihrer Wohlthätigkeit abhängig geworden wäre, ohne dafür eine Gegenleistung bieten zu können. Ich sah deshalb nichts anderem entgegen, als sie verlassen und mich um einen anderen Platz bemühen zu müssen. So viel dachte ich mir wohl, daß mich Madame Bathurst nicht sogleich fortschicken, sondern mir Zeit lassen würde, mich nach einer geeigneten Stelle umzusehen; ob ich mich aber nach der mir gegebenen Schilderung für den Posten einer Gouvernante oder etwas anderes entscheiden sollte – dies war ein Punkt, der mich lange unschlüssig und nachdenksam machte. Endlich nahm ich mir vor, mein künftiges Geschick der Vorsehung anheim zu stellen, und nachdem ich so weit auch zu einem Schlusse gelangt war, schlief ich ein.

Wir nahmen zeitig unser Früstück ein, stiegen in den Wagen und langten vor Mittag in dem Hause von Carolinens Eltern an. Die prächtig heraus geputzten Livreebedienten führten uns in das Bibliothekzimmer, wo Vater und Mutter unserer Ankunft harrten. Schon der erste Blick ließ mich in ihnen Personen erkennen, die über den Wechsel ihrer Glücksverhältnisse von Hochmuth dick angeschwollen waren. Caroline wurde mit keiner sonderlichen Herzlichkeit bewillkommt. Die Eltern benahmen sich mit einer so steifen Förmlichkeit, daß von Seite der Tochter jeder Gefühlserguß hätte erstickt werden müssen, wenn sie anders geneigt gewesen wäre, einen solchen zu zeigen, was aber leider bei ihr nicht der Fall war; im Gegentheil schien sie noch immer Groll im Herzen zu tragen wegen des Benehmens, das man ihrer Tante hatte zu Theil werden lassen. Nachdem die erste Begrüßung vorüber war, setzte sich Caroline ihren Eltern gegenüber auf den Sopha nieder. Ich blieb stehen und ergriff, als eine Pause eintrat, folgendermaßen das Wort:

»Madame Bathurst hat mich beauftragt, Euch Eure Tochter wohlbehalten zuzuführen und, sobald die Pferde gefüttert wären, die Rückreise zu ihr anzutreten.«

»Wer mag wohl diese Person sein, Caroline?« fragte ihre Mutter.

»Ich muß Mademoiselle de Chatenœuf um Entschuldigung bitten, daß ich es versäumte, sie vorzustellen,« versetzte Caroline, von Unwillen erröthend. »Sie hat sich an mir und meiner Tante als eine sehr theure Freundin erwiesen.«

»In der letzten Zeit bin ich die Gouvernante Eurer Tochter gewesen, Madame,« sagte ich.

»Oh!« entgegnete die vornehme Frau. »Will Jemand die Klingel ziehen?«

Ich nahm an, daß unter diesem Jemand nur ich verstanden war, dem ein solcher Dienst zugemuthet wurde; da man mir jedoch nicht einmal die gewöhnliche Höflichkeit erwiesen hatte, mich Platz nehmen zu heißen, so ließ ich den Wink unbeachtet.

»Wollt Ihr die Klingel ziehen, mein Theurer?« bemerkte die Lady gegen ihren Gatten.

Der Gentleman willfahrte, und als der Bediente eintrat, sagte die Lady:

»Führt die Gouvernante in das kleine Frühstückzimmer und bedeutet dem Kutscher, er solle seine Pferde ausspannen und ihnen Futter geben; in einer Stunde möge er wieder vorfahren.«

Der Bediente blieb, die Thürklinke in der Hand, stehen und erwartete, daß ich ihm folgen würde. Nicht wenig entrüstet wandte ich mich an Caroline und sagte zu ihr:

»Es wird wohl am besten sein, wenn ich mich jetzt von Euch verabschiede.«

»Ja wohl, Valerie, Ihr habt Recht,« versetzte Caroline, indem sie von dem Sopha aufstand, »denn nach der Behandlung, die Euch zu Theil wurde, getraue ich mich nicht mehr, Euch in's Gesicht zu sehen. Werdet Ihr – fuhr sie mit großer Lebhaftigkeit fort – Euch mit meiner Abbitte zufrieden geben wegen des Benehmens meiner Eltern gegen eine Dame, welche vermöge ihrer Abkunft und ihrer Bildung weit höher steht, als sie sich rühmen können?«

»Bst, Caroline!« erwiederte ich. »Vergeßt nicht –«

»Ich vergesse nicht und werde nie vergessen, welche schimpfliche Behandlung zuerst meiner theuren Tante und nun Euch, meine liebe Valerie, zu Theil geworden ist,« versetzte Caroline, die jetzt ihre Arme um meinen Nacken schlang und mich zu wiederholtenmalen küßte. Dann stürzte sie von mir weg, warf sich auf den Sopha nieder und brach in Thränen aus, während ich mich beeilte, dem Bedienten zu folgen, um einem so unangenehmen Auftritt zu entrinnen.

Ich wurde in ein kleines Zimmer gewiesen, wo ich einige Zeit allein blieb und mir Gedanken darüber machte, wie richtig Madame Bathurst die Stellung einer Gouvernante geschildert und was ich von der Uebernahme eines solchen Postens zu erwarten hatte, als ein Bedienter herein kam und mich in herablassender Weise fragte, ob mir etwa ein Lunch beliebe. Ich antwortete mit Nein.

»Ihr könnt auch ein Glas Wein haben, wenn Ihr wollt,« fuhr er fort.

»Ihr könnt das Zimmer verlassen,« versetzte ich ruhig. »Ich wünsche nichts.«

Der Bediente entfernte sich, schlug die Thüre hinter sich zu und ich war wieder allein. Noch einmal vergegenwärtigte ich mir die Scene, deren Zeuge ich eben gewesen war, und konnte mich nicht genug über das Benehmen Carolinens wundern, die sich sonst immer so sanft und liebenswürdig gezeigt hatte. Immerhin schien mir hieraus die Wahrheit hervorzugehen, daß Eltern, wenn sie ihre Kinder der Obhut anderer überlassen, zugleich auf die Gefühle, die zwischen Eltern und Kindern bestehen sollten, verzichten und sie auf die Person übertragen, welche sich des Pfleglings mit elterlicher Sorgfalt annimmt. Die Gefühle kindlicher Achtung und Liebe, welche von der Natur in das Herz der Jugend gelegt werden, waren auf die Tante übergegangen, gegen welche sich Caroline stets gehorsam und anhänglich erwiesen hatte. Das schmähliche Benehmen gegen mich erschien ihr in dem Lichte, als sei es mir von wildfremden Personen zu Theil geworden, und sie fühlte sich in keiner Weise durch den kindlichen Gehorsam zurückgehalten. Die Rückkehr Carolinens in das väterliche Haus schien also weder der Tochter, noch den Eltern eine Erhöhung ihres Glückes in Aussicht zu stellen, und ich konnte mir keine Muthmaßungen darüber bilden, wie es enden würde.

Endlich wurden meine Träumereien durch den Eintritt des Bedienten unterbrochen, welcher mir meldete, daß der Wagen vorgefahren sei. Ich folgte ihm sogleich und trat meine Rückreise an, unterwegs den Entschluß fassend, daß ich meine eigenen Aussichten nicht länger im Zweifel lassen, sondern unverweilt mit Madame Bathurst zu einem Verständniß kommen wolle.

Da ich erst spät anlangte, so konnte ich am nämlichen Abend Madame Bathurst nicht mehr besuchen; sie kam jedoch am andern Morgen zum Frühstück herunter, und ich erzählte ihr Alles, was in dem Hause ihrer Schwester vorgefallen war, ohne der Rücksichtslosigkeit zu vergessen, mit der ich selbst behandelt worden. Als ich damit zu Ende war, bemerkte ich gegen sie, daß ich natürlich nicht erwarten dürfe, nach Carolinens Entfernung länger ein Unterkommen in ihrem Hause zu finden; ich bitte sie daher, sie möchte mir durch ihren Rath und Beistand zu einer andern Stelle behilflich sein.

»Jedenfalls hat dies keine so große Eile, Valerie,« versetzte Madame Bathurst. »Ich hoffe, Ihr werdet nichts dagegen einzuwenden haben, mein Gast zu bleiben, bis sich ein Platz für Euch aufthut, der Euch gefällt. Ich will Euch nicht bitten, ganz bei mir zu bleiben, weil ich weiß, daß Ihr doch nicht darauf eingehen würdet, und ich mich nicht mit unnöthigen Complimenten befassen mag. Und doch, warum solltet Ihr nicht? Ich kenne Euch gut und bin Euch zugethan. Den Verlust Carolinens werde ich schwer verschmerzen – warum also nicht lieber bleiben?«

»Ich danke Euch herzlich für Euer gütiges Erbieten, meine theure Madame,« versetzte ich; »aber Ihr wißt, daß ich den festen Entschluß gefaßt habe, mir meinen Unterhalt durch eigene Thätigkeit zu verdienen.«

»Wohl; aber ein Entschluß kann geändert werden, wenn die Umstände es wünschenswerth erscheinen lassen. Madame d'Albret stand in keiner näheren Beziehung zu Euch, als ich, und doch habt Ihr das Erbieten dieser Frau angenommen.«

»Allerdings, Madame,« entgegnete ich mit Bitterkeit, »und Ihr wißt, welches Ende es nahm. Ich hätte mein Leben zum Pfande gegeben für ihre Aufrichtigkeit und Zuneigung – und doch, in welcher Weise wurde ich abgeschüttelt? So sehr ich Euch zu Dank verpflichtet bin, meine theure Madame, kann ich doch Euer Erbieten nicht annehmen; denn ich möchte mich nicht gerne ein zweites Mal in eine ähnliche Lage begeben.«

»Ihr macht mir durch diese Bemerkung kein sonderliches Compliment, Valerie,« erwiederte Madame Bathurst etwas unwillig.

»Es würde mir in der That sehr leid thun, meine theure Madame, wenn irgend eine meiner Aeußerungen eine Frau verletzen sollte, die gegen mich stets so rücksichtsvoll und freundlich gewesen ist; aber ich weiß, daß ich mich elend und unglücklich fühlen würde, wenn ich mich meiner Unabhängigkeit begeben wollte, und kann mich unmöglich einem zweiten Schlage aussetzen, wie der war, den Madame d'Albret durch ihr Benehmen gegen mich führte. Ich erbitte mir es als eine Gunst, den Gegenstand nicht weiter zu berühren.«

»Gut, Valerie, Euer Wille geschehe. Vielleicht würden meine Gefühle wie die Eurigen sein, wenn ich ebenso behandelt worden wäre. Und nach was wünscht Ihr Euch umzusehen – etwa nach einer Gouvernantenstelle?«

»Lieber alles Andere, meine theure Madame. Ich bin gestern hinreichend gedemüthigt worden. Sogar den Dienst einer Kammerjungfer würde ich vorziehen, obschon ich hoffe, daß ich nicht nöthig haben werde, gar so weit herabzusteigen.«

»Es gibt so wenige Stellen für eine Person von Eurer Erziehung. Wir haben zum Beispiel die einer Gesellschafterin für eine Dame, aber ich glaube, sie ist nichts weniger als angenehm – dann die eines weiblichen Ammanuensis, doch sie ist selten. Ihr könnt allerdings bei Familien Unterricht ertheilen in der Musik, im Singen und in der französischen Sprache; aber es gibt so viele französische Lehrer und Lehrerinnen; auch werden für Musik und Gesang stets die Männer vorgezogen, obschon ich mir den Grund nicht gerade denken kann. Immerhin glaube ich, daß sich etwas für Euch thun lassen wird, wenn wir nach London kommen; bis dahin aber können wir nichts, als darüber sprechen. Vielleicht geht für Euch etwas auf, wo wir es am wenigsten erwarten. Da ich indeß jetzt Euren Entschluß kenne, will ich vorläufig nach allen Seiten hin Erkundigungen einziehen und Euch jeden Beistand leisten, der in meinen Kräften liegt.«

Ich dankte ihr herzlich für ihre Theilnahme, und das Gespräch wurde abgebrochen.

Gleichwohl verließ ich mich nicht unbedingt auf Madame Bathurst, sondern setzte mich mit meiner Freundin, Madame Gironac in Leicestersquare in Correspondenz, indem ich sie über das Vorgefallene, wie auch über meine Gedanken und Absichten unterrichtete und sie zugleich bat, mir mit ihrem Rath über die Schritte, die ich thun sollte, an die Hand zu gehen. Nach einigen Tagen erhielt ich folgende Antwort, die ich einrücke, da sie ein Bild der Schreiberin gibt.

 

»Meine theure Mademoiselle!

»Euer Brief hat mir viel Sorge gemacht, und was meinen Gatten betrifft, so wurde er ganz wüthend, indem er erklärte, er möge keine Minute mehr länger leben in einer so abscheulichen Welt. Indeß hat er mir zu Gefallen gezögert, sich den Hals abzuschneiden. Es ist in der That schrecklich, mit ansehen zu müssen, daß eine junge Dame, wie Ihr, durch die Schwächen und Thorheiten anderer in eine so unangenehme Lage gerathen sollte; aber wir müssen uns in das fügen, was le bon Dieu uns auferlegt, und wenn es zum Aeußersten kommt, so steht man der Hoffnung am nächsten, daß es zum Bessern umschlagen müsse, da dann jeder Wechsel nur zum Vortheil sich kehren kann. Ich habe mich mit meinem Mann über Eure Plane berathen; aber er will von keinem derselben etwas wissen. Ihr seiet zu gut für eine Gouvernante, sagt er; als Gesellschaftsfräulein giengen alle Eure schönen Gaben verloren, und er möge nicht daran denken, daß Ihr in einem Cabriolet umherfahret und Lectionen gebet – mit einem Worte, er will von nichts dergleichen hören, sondern verlangt, daß Ihr zu uns kommt und bei uns lebet. Ich kann nur sagen, meine liebe Mademoiselle, daß ich mich der letzteren Bitte anschließe und daß ich die Ehre und die Freude Eurer Gesellschaft als einen reichlichen Ersatz betrachten würde. Gleichwohl haben wir Euch nur eine arme Heimath anzubieten, obschon sie immerhin so ist, daß Ihr Euch herablassen könnt von unserem Erbieten Gebrauch zu machen, ehe Ihr Euch Kränkungen von Personen aussetzt, welche der in diesem Lande so allgemeinen Ansicht huldigen, daß das Geld Alles ausmache. Ich bitte also, kommt zu uns, wenn Ihr Lust dazu habt; wir können dann die Sache ruhig besprechen und abwarten, was Euch die Vorsehung zuführen will. Mein Mann findet gegenwärtig kaum Zeit zum Mittagessen, er hat so viele Zöglinge der einen oder der andern Art, und es freut mich, Euch mittheilen zu können, daß auch meine Zeit meist in Anspruch genommen ist. Wenn es Gott gefällt, uns in guter Gesundheit zu erhalten, so hoffen wir, etwas Geld für einen regnerischen Tag zurücklegen zu können, wie in diesem Lande, in welchem es immerfort regnet, das Sprüchwort lautet. Seid unserer Liebe, Achtung und Rücksicht versichert, meine theure Mademoiselle u. s. w.

Annette Gironac.«

 

Wir begaben uns früher als gewöhnlich nach London, denn Madame Bathurst fühlte nach der Entfernung Carolinens, von der sie seit ihrer Abreise noch keine Silbe erhalten hatte, auf dem Lande sehr einsam. Ihr Schweigen wurde natürlich auf Rechnung ihrer Eltern geschrieben, welche, nachdem sie eines Beistandes nicht mehr bedurften, in solcher Weise Madame Bathurst ihren Dank abtragen wollten für die viele genossene Güte. Ich weiß nicht, wie es kam, aber allmählig trat eine Art Kälte zwischen Madame Bathurst und mir ein. Ob die Schuld in dem Mißvergnügen lag, weil ich ihr Erbieten, mich bei sich zu behalten, abgelehnt hatte, oder ob sie es für passend hielt, sich des Umgangs mit einer Person zu entwöhnen, welche im Begriff stand, sie zu verlassen – ich vermag hierüber keine Auskunft zu geben. Jedenfalls vermied ich es, durch irgend Etwas Anstoß zu erregen. Ich benahm mich vielleicht stiller und weniger heiter, als zuvor, weil ich nachdenksamer geworden war, ließ mir aber meines Wissens durchaus keinen Fehler oder Irrthum zu Schulden kommen.

Wir mochten uns ungefähr eine Woche in London aufgehalten haben, als eine Bekannte aus früherer Zeit, die nach einem zweijährigen Aufenthalt in Italien eben erst nach England zurückgekehrt war, Madame Bathurst ihren Besuch machte. Lady R– denn so hieß sie – war die Wittwe eines Baronets und in nicht sehr vermöglichen Umständen, obschon ihr Einkommen zureichte, eine Equipage – wenn auch nicht zu halten, so doch zu miethen. Sie war außerdem Schriftstellerin und hatte zwei oder drei Romane geschrieben, die dem Vernehmen nach zwar nicht sonderlich gut waren, aber doch, da sie der Feder einer Dame ihren Ursprung verdankten, gut bezahlt wurden. Sie war sehr eccentrisch und dabei ziemlich unterhaltlich. Wenn eine Frau alles heraussagt, was ihr in den Kopf kommt, so wird sich unter der vielen Spreu wohl auch hin und wieder ein Waizenkorn befinden, und so sprach sie mehr zufällig als mit Absicht gelegentlich wohl etwas, was für wirklich gut gehalten wurde. Nun wird aber in der Regel das Gute nacherzählt und der Unsinn vergessen, ein Umstand, welchem Lady R– neben dem Ruf einer Schriftstellerin auch den eines witzigen Geistes verdankte. Sie war eine große Frau, mochte dem fünfzigsten Lebensjahre nahe stehen, wenn sie es nicht etwa schon zurückgelegt hatte, und zeigte in ihrem Gesichte noch Spuren früherer Schönheit. Dem Anscheine nach war sie gesund und kräftig, denn sie gieng federleicht einher und war rasch und lebhaft in allen ihren Bewegungen.

» Cara mia,« rief sie, als sie nach ihrer Anmeldung auf Madame Bathurst losstürzte, »und wie ist es Euch in dieser langen Zeit ergangen – während meines zweijährigen Aufenthalts im Lande der Dichtkunst, wo ich für meinen Geist solche Schätze von Ideen und schönen Bildern sammelte, daß sie wohl für mein ganzes Leben ausreichen sollen? Habt Ihr mein letztes Werk gelesen? Es ist erstaunlich – und Jedermann sagt es – welchen Einfluß das Klima auf ein Geisteserzeugniß übt – ganz neu – ein italienischer Stoff von ergreifendem Interesse. Und ich bemerke, Ihr habt auch etwas Neues hier,« fuhr sie fort, indem sie sich an mich wandte, »nicht nur neu, sondern auch schön – habt die Güte, mich vorzustellen. Ich bin begeistert für das Erhabene und Schöne. Ist sie eine Verwandte? – Keine Verwandte? – Mademoiselle de Chatenœuf! Welch ein hübscher Name für eine Novelle. Ich möchte ihn wohl gerne borgen und das Original nach der Natur zeichnen. Wollt Ihr mir sitzen zu Eurem Portrait?«

Daß Lady R– Niemand zu sprechen gestattete, als sich selbst, war augenscheinlich. Madame Bathurst, welche ihren Besuch wohl kannte, ließ das Rädchen ablaufen, und ich ersah, da mir so rücksichtslos hingeworfene Schmeicheleien nicht sonderlich gefielen, eine Gelegenheit, als Lady R– eben Madame Bathurst etwas zuflüsterte, das Zimmer zu verlassen. Am andern Morgen sagte Madame Bathurst zu mir:

»Valerie, Lady R– fand bei ihrem gestrigen Besuch großes Wohlgefallen an Eurem Aeußeren, und da sie mir, nachdem Ihr das Zimmer verlassen hattet, mittheilte, sie bedürfe gerade einer solchen Person, wie Ihr seid, als eines Ammanuensis und zur Gesellschaft, so hielt ich es für in der Ordnung, ihr zu sagen, daß Ihr Euch nach einem derartigen Platze umsähet und nur so lange unter meinem Schutze stündet, bis Ihr etwas Passendes aufgefunden hättet. Wir besprachen uns über den Gegenstand noch eines Weiteren, und beim Abschiede erklärte sie mir, daß sie mir schriftlich nähere Mittheilung darüber machen werde. Soeben ist mir nun ein Billet von ihr zugegangen, und Ihr mögt es lesen. Sie bietet Euch einen Jahresgehalt von hundert Pfunden und will außer der Kleidung allen Euren übrigen Aufwand bestreiten. Was die Belohnung betrifft, so scheint mir ihr Antrag sehr beachtenswerth zu sein. Und nun will ich Euch meine Ansicht von Lady R– in wenigen Worten geben. Ihr saht sie gestern selbst, und ich habe sie nie anders gekannt – weder mehr noch weniger verständig. Sie hat ihre Sonderbarkeiten, ist aber ein gutmüthiges Wesen und, wie ich höre, freigebiger und wohlthätiger als viele, die es weit besser erschwingen könnten. Ihr wißt jetzt Alles, was ich von ihr sagen kann, und müßt nun selbst entscheiden. Hier ist ihr Billet; Ihr braucht mir vor morgen früh keine Antwort zu geben.«

Ich machte noch einige Bemerkungen und verließ das Zimmer. Das Billet war allerdings sehr freundlich, aber eben so flüchtig, wie ihr ganzes Wesen. Ich eilte nach meinem Schlafgemach und setzte mich nieder, um nachzudenken. Ich fühlte das Ungeeignete meiner Stellung in Madame Bathursts Hause und sehnte mich nach Unabhängigkeit; gleichwohl aber konnte ich mich noch nicht entschließen, Lady R–'s Erbieten anzunehmen, da sie sich so sehr von den Personen unterschied, an deren Umgang ich bisher gewöhnt gewesen war. Ich gieng noch immer mit mir zu Rathe, als Madame Bathursts Kammerjungfer zu mir ins Zimmer trat und mich darauf aufmerksam machte, daß es Zeit sei, mich für die Mittagtafel anzukleiden. Während sie mir dabei behilflich war, sagte sie zu mir:

»Wie ich höre, wollt Ihr uns also gleichfalls verlassen, Miß Chatenœuf. Es thut mir sehr leid – zuerst Miß Caroline – und jetzt Ihr. Ich hoffte, Ihr würdet bei uns bleiben, denn unter Eurer Leitung wäre ich bald eine brauchbare Putzmacherin geworden.«

»Wer hat Euch gesagt, Mason, daß ich willens sei, das Haus zu verlassen?«

»Mrs. Bathurst,« versetzte das Kammermädchen. »Es ist noch keine Viertelstunde, seit sie mir dies mitgetheilt hat.«

»Gut; sie hat Euch der Wahrheit gemäß unterrichtet, Mason,« versetzte ich, denn Masons Mittheilung hatte augenblicklich alle meine Bedenken beseitigt und den Entschluß in mir zur Reife gebracht, auf Lady R–'s Antrag einzugehen. Hatte ja doch, wie es mir vorkam, Madame Bathurst bereits für mich entschieden, als sie ihrer Dienerin eine so vorzeitige Eröffnung machte.

Der Leser kann sich denken, daß mir nach dieser Entdeckung der Gedanke an eine Trennung von Madame Bathurst nicht sehr schmerzlich wurde, und am folgenden Morgen kündigte ich ihr mit großer Kälte meine Absicht an, Lady R–'s Erbieten anzunehmen. Madame Bathurst faßte mich scharf ins Auge, als überrasche sie es, daß ich kein Bedauern über die baldige Trennung ausdrücke und keine Worte des Dankes habe für die genossenen Gunstbezeugungen; aber ich konnte in jenem Augenblick keine Gefühle heucheln, die nicht wirklich in meiner Seele lagen. Später sah ich freilich ein, daß ich Unrecht hatte, weil ich ihr doch in vielfacher Beziehung zu Danke verpflichtet war und sie, obschon ich ihr von Madame d'Albret in so treuloser Weise aufgedrungen worden, doch nie im Stande gewesen wäre, sich in derselben Art meiner zu entledigen, wenn sie Lust gehabt hätte, mich aus ihrem Hause zu schaffen. Ich hatte also immerhin Verpflichtungen gegen sie und würde diese zuverlässig anerkannt haben, wenn nicht die Mittheilung des Kammermädchens mir bewiesen hätte, daß ihre Aeußerungen nicht aufrichtig gemeint waren.

»Wohlan denn,« ergriff endlich Madame Bathurst das Wort, »so will ich unverweilt an Lady R– schreiben. Vermuthlich soll ich ihr sagen, daß Ihr zu ihrer Verfügung steht, so bald sie Euch aufnehmen kann?«

»Ja, Madame; ich bin zu jeder Stunde bereit,« lautete meine Antwort.

»Es scheint Euch in der That recht dringlich darum zu thun zu sein, daß Ihr aus meinem Hause kommt, Mademoiselle,« sagte Madame Bathurst und biß sich in die Lippen.

»Allerdings,« versetzte ich. »Ihr habt Mason mitgetheilt, daß ich gehen werde, noch eh' Ihr meine Absicht kanntet, und deshalb entziehe ich mich auch gerne der Gesellschaft derjenigen, welchen so sehr daran gelegen ist, sich meiner zu entledigen.«

»Ich habe allerdings gegen Mason geäußert, es könnte wohl so weit kommen, daß Ihr mich verlasset,« entgegnete Madame Bathurst erröthend, »aber – doch wozu soll ich mich auf eine Untersuchung dessen, was ich wirklich sagte, oder auf eine Catechisation meines Kammermädchens einlassen? So viel ist klar: wir beide haben uns gegenseitig in einander getäuscht, und deshalb ist's am besten, daß wir scheiden. Ich glaube, ich bin noch Eure Schuldnerin, Mademoiselle de Chatenœuf. Habt Ihr berechnet, wie lang Ihr bei mir gewesen seid?«

»Ich berechnete die Zeit, während welcher ich Carolinen Unterricht ertheilte.«

» Miß Carolinen, wenn ich bitten darf, Mademoiselle de Chatenœuf.«

»Wohlan denn, Miß Carolinen, wenn Ihr es so wünscht,« erwiederte ich von meinem Stuhle aufstehend. »Die Zeit beträgt fünf Monate und zwei Wochen.«

»Behaltet Platz, bis ich den Betrag berechnet habe, Mademoiselle,« sagte Madame Bathurst.

»Es wäre eine zu große Ehre für eine Chatenœuf, in Eurer Gegenwart zu sitzen,« versetzte ich ruhig, indem ich stehen blieb.

Madame Bathurst gab keine Antwort, sondern berechnete die mir gebührende Summe auf einem Bogen Briefpapier, händigte mir das Blatt ein und bat mich, nachzusehen, ob es so richtig sei.

»Ich zweifle nicht daran, Madame,« versetzte ich, ohne darauf hinzuschauen, indem ich das Blatt auf das Pult vor ihr niederlegte.

Madame Bathurst zählte den Betrag in Banknoten und Souveräns vor mich hin und sagte:

»Habt die Güte, es zu zählen und nachzusehen, ob es richtig ist.« Dann stand sie auf und fügte bei: »Meine Dienstleute werden wie gewöhnlich Euren Wünschen nachkommen, so lange Ihr unter meinem Dache weilt. Gott behüte Euch.«

Die letzteren Worte begleitete sie mit einer tiefen Verbeugung und verließ dann das Zimmer.

Ich antwortete darauf mit einer eben so förmlichen Begrüßung, wie die ihrige gewesen, und setzte mich dann im Verdruß über die erlittene Behandlung nieder, um ein wenig zu weinen; aber mein Stolz kam mir zu Hilfe, und ich hatte bald meine Fassung wieder gewonnen.

Dieser Auftritt war mir jedoch ein weiterer Beweis von dem, was ich in der Zukunft zu erwarten hatte, und übte die wohlthätige Wirkung auf mich, daß er meine Gefühle abstumpfte und mich stählte. » Miß Caroline!« sagte ich zu mir selbst, »nachdem der protégée der Madame d'Albret und dem Gaste der Madame Bathurst gegenüber von nichts als ›Caroline‹ und ›liebe Valerie‹ die Rede war. Sie hätte mich ja ziehen lassen können, ohne mich in einer so höhnenden Weise darauf aufmerksam zu machen, wie sehr sich unsere wechselseitigen Beziehungen geändert haben. Wie dem übrigens sein mag – schönen Dank, Madame Bathurst; was immer für Verbindlichkeiten ich gegen Euch gehabt haben mag, sie sind mir jetzt abgenommen, und das Bewußtsein derselben wird mich nicht mehr drücken, wie vielleicht sonst der Fall gewesen wäre. Ach, Madame d'Albret, Ihr entrisset mich meiner Heimath, um mich den Maulschellen meiner Mutter zu entreißen, und habt mich dafür in eine Lage gesetzt, daß die ganze Welt mich mißhandeln kann. Nun, sei es darum; ich will mir gleichwohl einen Weg erkämpfen.«

Und ich verließ das Zimmer, um meine Habseligkeiten zusammen zu packen. Gerade der Versuch der Madame Bathurst, mich zu demüthigen, hatte dazu gedient, meinen Muth neu anzufachen.

Der Brief der Madame Bathurst hatte Lady R– veranlaßt, sich schon am Nachmittag wieder einzufinden. Ich befand mich auf meinem Zimmer, als ein Bedienter mir meldete, daß sie unten auf mich warte. Bei meinem Eintritt fand ich sie allein, da Madame Bathurst ausgefahren war, und wie sie meiner ansichtig wurde, stürzte sie mir fast in die Arme. Sie nahm mich bei beiden Händen, pries sich überglücklich, daß sie einen solchen Schatz als Freundin und Gesellschafterin gewonnen, wünschte zu wissen, ob ich nicht sogleich mit ihr gehen könne, da sie ihren Wagen vor der Thüre habe, und machte so zehn Minuten ohne Unterlaß fort, wohl fünfzig Fragen an mich stellend, ohne daß sie mir gestattete, auch nur eine einzige zu beantworten. Endlich kam ich in die Lage, ihr doch in Betreff der wichtigsten eine Erwiederung zu geben, des Inhalts, ich werde mich glücklich schätzen, am andern Morgen zu ihr zu kommen, wenn sie mich abholen lassen wolle. Sie bestand darauf, daß ich schon an ihrem Frühstück theilnehmen müsse, und ich willigte ein, da Madame Bathurst nicht früh aufzustehen gewohnt war und ich das Haus zu verlassen wünschte, ohne nach unserer förmlichen Verabschiedung wieder mit ihr zusammen zu treffen. Nach dieser Uebereinkunft that Lady R– sehr eilig und hüpfte mit einer solchen Hast aus dem Zimmer, daß ich nicht Zeit gewann, nach ihrem Wagen zu klingeln.

Ich vervollständigte meine Vorbereitungen zur Abreise, nahm mein Mahl auf meinem Zimmer ein und ließ mein Wegbleiben vom Diner gegen Madame Bathurst mit dem Vorwande entschuldigen, daß ich schweres Kopfweh habe – eine Ausrede, welche in der That keine Lüge war. Am andern Morgen, lange eh' sich Madame Bathurst aus ihren Federn erhob, fuhr ich Bakerstreet in Portmansquare zu, wo Lady R– wohnte. Ich fand die gnädige Frau in ihrer robe de chambre.

»Schön,« rief sie mir entgegen; »das ist herrlich. Meine Wünsche sind endlich gekrönt. Ich habe mich die ganze Nacht in meiner Ungewißheit zwischen Furcht und Hoffnung auf dem Bette hin und her gewälzt, wie man in der Regel zu thun pflegt, wenn man viel auf dem Spiele hat. Kommt, ich will Euch Euer Zimmer zeigen.«

Sie führte mich nach einem sehr hübsch möblirten Gemach, das auf die Straße hinaus sah.

»Seht, Ihr habt eine Aussicht nach der Straße,« sagte sie, »zwar nicht sehr ausgedehnt, aber gleichwohl zum Moralisiren einladend, wenn Ihr früh aufsteht. Ihr könnt dann Zeuge sein von London's Erwachen. Zuerst der schläfrige Polizeidiener – der müde Cabrioletkutscher und sein nach der Anstrengung einer Nacht noch müderer Gaul, der sich nach dem Stall und nach Ruhe sehnt – die halbrege Hausmagd, die ihre Kleider umwirft – die Küchenmagd, welche die Thürtreppe von dem gestrigen Schmutze säubert – das Falsett des Milchmädchens und der Baß des Straßenkehrers – die Bäckerjungen, die Briefträger der Morgenpost – und so von den Einheiten zu den Zehnern, von den Zehnern bis zu Zehntausenden, die zu dem Gewühl Londons gehören. Es liegt Poesie darin. Doch jetzt wollen wir zu dem Frühstück hinunter. Ich frühstücke stets in meinem robe de chambre; Ihr müßt dasselbe thun, das heißt, wenn Euch diese Mode gefällt. Wo ist der Page?«

Lady R– zog an der Klingel des Wohnzimmers, das sie ein Boudoir nannte, und ein vierzehnjähriger Knabe in blauer Blouse mit ledernem Gurt trat ein.

»Lionel, sogleich das Frühstück! Mache dich unsichtbar, eh' der Leviathan eine Meile weit schwimmen kann, und bring warme Semmeln und Butter.«

»Ja, gnädige Frau,« versetzte der Knabe naseweis; »ich werde wieder da sein, eh' Euer Kauz hundert Ellen weit zu schwimmen im Stande ist.«

Und im Nu war er aus dem Zimmer verschwunden.

»Der Knabe hat gute Eigenschaft und besitzt Witz genug für einen Premierminister oder für einen Hanswurst in Astley's Circus. Ich griff ihn ganz zufällig auf. Er ist eines von meinen Modellen.«

Ich konnte mir nicht denken, was Lady R– mit diesem Ausdruck sagen wollte, fand aber bald die geeignete Aufklärung. Die Rückkehr des Knaben mit dem Frühstück machte ihrer Zungengeläufigkeit vorderhand ein Ende. Sobald wir damit fertig waren, wurde der Page wieder aufgeboten.

»Nun, Lionel, vollbringe diesmal deinen Zauber manierlich.«

»Ich weiß schon,« versetzte der Knabe; »ich soll nicht die Tassen wieder verwettern, wie ich gestern that.«

Der Knabe sammelte das Frühstückgeräthe mit großer Hurtigkeit auf ein Brett und verschwand mit einer so plötzlichen Schwenkung, daß ich nicht anders glaubte, als er werde seine Heldenthat von gestern wiederholen, noch eh' er die Treppe hinunterkomme.

Sobald er fort war, trat Lady R– auf mich zu und begann folgendermaßen –

»Und nun laßt mich Euch mit Muße betrachten; ich will mich dann eine Weile zufrieden geben. Ja, ich täuschte mich nicht: Ihr seid ein vollkommenes Modell und müßt in Zukunft meine Heldin sein. Eure Schönheit ist gerade von der Art, wie ich sie brauche. Ja, so wird's recht sein; jetzt sitzt nieder, damit wir mit einander plaudern. Ich habe mich oft nach einer Gefährtin gesehnt. Was den Ammanuensis betrifft, so ist dies nur ein Geschäft dem Namen nach. Ich schreibe so schnell, als irgend Jemand, und kann doch meinen Ideen nicht nachkommen, wenn ich auch, möchte ich sagen, kritzelte, als ob es mein Leben gälte. Mache ich dabei unleserliche Haken, so ist dies nicht meine Sache, sondern die des Setzers. Er soll sich nur zurechtfinden, denn ich lasse meine Arbeiten nie abschreiben. Aber es gebrach mir an einer schönen Gesellschafterin und Freundin – eine häßliche möchte ich um keine Welt in meiner Umgebung haben, da sie mich eben so sehr hindern würde, als Ihr mir zu statten kommen werdet.«

»Ich weiß in der That kaum, wie ich Euch nützlich werden kann, Lady R–, wenn ich nicht für Euch schreiben soll.«

»Ich glaube es wohl; aber wenn ich Euch sage, daß ich reichlich entschädigt bin, wofern ich Euch nur ansehen kann, so oft ich Lust dazu habe, so werdet Ihr zugeben müssen, daß Ihr mir von Nutzen seid. Wir wollen uns übrigens nicht jetzt schon in metaphysische und psychologische Fragen einlassen, da sich alles dies gelegentlich geben wird. Der erste Dienst, um den ich Euch bitte, besteht darin, daß Ihr mit einemmale über die langweiligen vierzehn Tage einer allmähligen Annäherung, welche mit Freundschaft endet, wegspringt. Ich habe in dieser Trägheit nie etwas anderes, als einen unwürdigen Beweis für das unserer Natur inwohnende Mißtrauen sehen können. Ihr müßt mir gestatten, Euch ohne Weiteres Valerie zu nennen, und ich bitte Euch, mir den Namen Sempronia zu geben. Euer Name ist entzückend und paßt vortrefflich für eine Heldin erster Klasse. Den, welchen ich in der Taufe erhielt, habe ich abgeschworen, und wenn meine Pathen mir ihn wieder geben wollten, würde ich ihn mit Verachtung ihnen wieder zuwerfen. Wie denkt Ihr wohl, daß ich getauft wurde? – Barbara! – Ja wohl, Barbara. ›Meine Mutter hatte eine Magd, die hieß Barbara,‹ sagt Shakspeare, und solch ein Name sollte nie mit etwas Anderem in Verbindung kommen, als mit Besen und grauer Seife. Wenn Ihr mir also einen Gefallen erweisen wollt, so werdet Ihr mich fortan Sempronia nennen. Und nun muß ich ein wenig schreiben. Nehmt ein Buch in die Hand und setzt Euch auf den Sopha, denn bei Eröffnung dieses Kapitels befindet sich meine Heldin in einer solchen Situation – ›jungfräuliche Gedankenfülle mit freiem Schwung der Phantasie.‹


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