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Viertes Kapitel.

Eine Stunde später kam Madame d'Albret, die zu ihrer Schwester hinuntergegangen war und mich auf meinem Bette zurückgelassen hatte, wieder herauf und redete mich an. Der Blutverlust und die Aufregung hatten jedoch eine solche Schwäche zurückgelassen, daß ich einige Minuten fort delirirte und Madame d'Albret in die ernstlichste Sorge gerieth. Mittlerweile war der Obrist nach Hause gekommen und hatte von seiner Gattin den ganzen Vorgang erfahren. Sie führte ihn auf mein Zimmer, als ich eben irre redete. Er nahm das Licht auf, betrachtete mein geschwollenes Gesicht und sagte:

»Ich würde das arme Mädchen nicht wieder erkannt haben. Mort de ma vie, das ist schändlich, und Monsieur de Chatenœuf ist ein erbärmlicher Wicht. Aber ich will's ihm morgen sagen.«

Der Obrist verließ mit seiner Gattin das Zimmer. Ich hatte mich nachgerade von meinem Anfall erholt. Madame d'Albret kam zu mir, brachte ihr Gesicht an das meinige und sagte:

»Valerie.«

»Ich höre, Madame,« versetzte ich.

»Seid Ihr jetzt bei Besinnung? Glaubt Ihr, daß Ihr mich anhören könnt?«

»Ja, Madame, ich werde Euch dankbare Aufmerksamkeit schenken,« entgegnete ich.

»Gut also. Mein Plan ist folgender. Ich weiß, der Obrist beabsichtigt, Euch morgen wieder zu Euren Eltern zu bringen. Hindert ihn nicht daran. Morgen will ich Euch sagen, wie Ihr Euch benehmen müßt. Morgen Nacht sollt Ihr entfliehen, und ich will mit einem Fiaker an der Straßenecke warten, um Euch aufzunehmen. Ich führe Euch dann nach meiner Wohnung, und Niemand, nicht einmal meine Schwester, soll erfahren, daß Ihr bei mir seid. Man wird glauben, Ihr hättet Euch in die Seine gestürzt, und da das Regiment in zehn oder vierzehn Tagen nach Lyon aufbricht, so wird, wenn Ihr Euch bis dahin verborgen haltet, Niemand ahnen, daß Ihr noch am Leben seid.«

»Ich danke – danke Euch, Madame. Ihr wißt nicht, wie glücklich ihr mich gemacht habt,« versetzte ich, indem ich die Hand an mein Herz drückte, das vor Freude schmerzlich pochte. »Gott segne Euch, Madame d'Albret. Oh, wie will ich für Euch beten, gütige Madame d'Albret!«

Madame d'Albret vergoß Thränen, nachdem ich so gesprochen, und wünschte mir mit der Bemerkung gute Nacht, daß sie mich am andern Morgen besuchen, über den Stand der Dinge unterrichten und mir weitere Weisungen für mein Verhalten ertheilen wolle. Dann entfernte sie sich und ich suchte zu schlafen, konnte aber vor Schmerz nicht zur Ruhe kommen. Als ich für einige Augenblicke einschlummerte, träumte mir, daß mich meine Mutter wieder schlage. Ich schrie laut unter dem Schmerz ihrer Streiche und erwachte. Von jetzt an schlief ich nicht wieder. Mit dem Anbruch des Tages stand ich auf, und man kann sich denken, daß mein erster Blick dem Spiegel galt. Ich erschrack. Mein Gesicht war so verschwollen, daß meine Züge kaum mehr zu erkennen waren – das eine Auge geschlossen, und das Blut durch das Taschentuch gedrungen, das mir der Wundarzt um den Kopf gebunden hatte. Ich bot in der That einen Anblick des Erbarmens dar. Das Dienstmädchen brachte mir eine Tasse Kaffee, die ich trank, und dann blieb ich auf dem Zimmer bis die Gattin des Obristen zu mir heraufkam.

Dies war das erste und einzigemal, daß ich diese gute Frau zornig sah. Sie rief von dem oberen Treppengeländer aus ihrem Gatten zu, er möchte herauf kommen. Der Obrist entsprach dieser Aufforderung und betrachtete mich, sagte aber nichts, sondern gieng wieder hinunter. Etwa eine halbe Stunde später erschien Madame d'Albret mit dem Wundarzt. Sie befragte letzteren über die Folgen der mir beigebrachten Beschädigungen, und er antwortete nach einer sorgfältigen Untersuchung, er glaube nicht, daß sie eine bleibende Entstellung nach sich ziehen würden, obschon es einige Tage anstehen dürfte, bis die Spuren der Mißhandlung sich wieder verloren hätten. Diese Erklärung machte mir große Freude, und ich glaube, daß es jedem anderen hübschen Mädchen in meiner Lage ebenso gegangen wäre. Madame d'Albret wartete, bis der Wundarzt sich entfernt hatte, und gab mir dann einige weitere Weisungen, denen ich buchstäblich nachkam. Sie brachte mir auch einen schwarzen Schleier für den Fall, daß ich selbst keinen hätte, und verließ mich mit den Worten, der Obrist habe nach meinem Vater geschickt und sie wünsche der Begegnung anzuwohnen.

Mein Vater kam. Der Obrist theilte ihm mit, welche Behandlung mir zu Theil geworden war, und überhäufte ihn mit Vorwürfen, indem er ihm erklärte, nur ein Feigling könne ruhig zusehen, wenn ein Weib sich solcher Grausamkeit gegen das eigene Kind schuldig mache. Dann forderte er Madame d'Albret auf, mich herunter zu holen. Bei meinem Eintritt fuhr mein Vater entsetzt zurück. Er hatte dem Obristen eine stolze Antwort gegeben; als er aber den Zustand sah, in dem ich mich befand, sagte er:

»Obrist, Ihr habt Recht. Ich verdiene alles, was Ihr mir gesagt habt, ja, noch mehr; aber habt jetzt die Güte, mich nach Hause zu begleiten. Komm, Valerie, mein armes Kind – dein Vater bittet dich um Verzeihung.«

Als mein Vater meine Hand nahm, um mich fortzuführen, bemerkte Madame d'Albret gegen den Obristen:

»Mein lieber Allarde, ladet Ihr Euch nicht eine schwere Verantwortlichkeit auf, wenn Ihr gestattet, daß dieses Mädchen wieder zurückgebracht wird? Ihr wißt, was sie gestern sagte.«

»Ja, ma chère, Eure Schwester hat es mir mitgetheilt. Aber es geschah in einem Zustand von Aufregung, und ich zweifle nicht daran, daß eine freundliche Behandlung ihr bald solche Gedanken aus dem Kopf treiben wird. Monsieur de Chatenœuf, ich stehe zu Euren Diensten.«

Während dieser ganzen Verhandlung sprach ich keine Silbe. Madame d'Albret band mir den schwarzen Schleier um den Kopf und ließ ihn niederfallen, damit mein Gesicht verhüllt würde, und so folgte ich meinem Vater, welchen der Obrist begleitete. Wir traten in das Zimmer, in welchem meine Mutter saß. Mein Vater nahm mir den Schleier von dem Gesicht.

»Madame,« sprach er in strengem Tone, »seht Ihr, in welchen Zustand Eure Barbarei dieses arme Mädchen versetzt hat? Ich bringe Monsieur Allarde mit, um Euch in seiner Gegenwart zu erklären, daß Euer Benehmen schändlich gewesen ist und daß ich's mir nie verzeihen kann, mein Kind nicht gegen Eure Grausamkeit geschützt zu haben. Nunmehr aber sage ich Euch, daß Ihr den Bogen gespannt habt, bis er brach, und daß es in diesem Hause mit Eurer Gewalt ein Ende hat für immer.«

Meine Mutter war über diesen strengen Verweis vor Zeugen so erstaunt, daß sie Mund und Augen weit aussperrte. Endlich brach sie in eine Art kichernden Lachens aus.

»Madame, es ist mein voller Ernst,« fuhr mein Vater fort, »und Ihr werdet finden, daß in Zukunft ich hier zu gebieten habe. Auf Euer Zimmer, Madame – augenblicklich!«

Das letzte Wort wurde mit einer Donnerstimme gesprochen. Meine Mutter stand auf und brach, während sie sich entfernte, in einen Strom leidenschaftlicher Thränen aus. Der Obrist verabschiedete sich jetzt und sagte noch zu meinem Vater:

»Tenez-vous là.«

Mein Vater blieb noch eine Viertelstunde bei mir, tröstete mich, machte sich selbst Vorwürfe und versprach mir, er wolle in Zukunft dafür sorgen, daß mir Gerechtigkeit widerfahre. Ich hörte ihn ohne Erwiederung an. Die Thränen traten mir in die Augen bei diesen Aeußerungen seiner liebevollen Theilnahme; aber ich fühlte, mit welcher Unsicherheit ich auf die Erfüllung seiner Zusagen rechnen konnte und zitterte bei dem Gedanken daran. Er verließ mich und gieng aus. Meine Mutter hatte auf der Lauer gestanden, bis er aus dem Hause war, und kam jetzt in wilder Hast die Treppe herunter in das Zimmer, in welchem ich mich befand.

»So, Jüngferchen,« rief sie keuchend und augenscheinlich nur mit Mühe an sich haltend, »mit meiner Gewalt in diesem Hause soll es also für immer zu Ende sein, und zwar durch dich. Ha, ha, ha! Wir wollen sehen, wir wollen sehen! Hörst du mich, du Kreatur?« fuhr sie fort, mir die geballten Hände vor das Gesicht haltend. »Nein, noch nicht,« fügte sie nach einer Pause bei und verließ das Zimmer.

Wenn das freundliche Benehmen meines Vaters meinen Entschluß einigermaßen zum Wanken gebracht hatte, so wurde er durch die Drohung meiner Mutter wieder auf's Neue gekräftigt. Ich fühlte, daß sie in dem, was sie sagte, Recht hatte und ehe ein Monat vergieng, darauf zählen durfte, die Gewalt wieder an sich gerissen zu haben, so daß sie dann in der Lage war, mich vollends zur Verzweiflung zu treiben. Während dieses ganzen Tages gab ich auf nichts Antwort, was meine Geschwister, die mich heimlich aufsuchten, zu mir sprachen. Ich folgte dabei dem Rathe der Madame d'Albret und zu gleicher Zeit meinen eigenen Gefühlen und Neigungen. Auch die Dienstboten, die mir zu essen brachten und durch Schmeichelworte mich zu bewegen suchten, daß ich etwas Nahrung zu mir nehme, konnten mir keine Silbe entringen, bis endlich ein gutmüthiges, freundliches Dienstmädchen in Thränen ausbrach und mit dem Ruf sich entfernte, die Mademoiselle sei tolle geworden. Mein Vater kam nicht zum Diner nach Hause. Die Mutter blieb auf ihrem Zimmer, bis er Abends heim kehrte, und nun gieng er zu ihr hinauf. Es fehlte noch eine halbe Stunde bis zu der Zeit, wann ich mit Madame d'Albret zusammentreffen sollte. Ich wartete geduldig zu und hörte mittlerweile über mir die Töne eines lebhaften Wortwechsels. Da die Mutter meinen Geschwistern verboten hatte, zu mir zu kommen, so befand ich mich ganz allein, und als die Uhr schlug, zog ich meinen Schleier über das Gesicht und verließ in aller Stille das Haus, um mich an dem verabredeten Platze einzufinden.

Madame d'Albret wartete bereits auf mich mit dem Fiaker. Ich stieg ein, und einige Minuten später befand ich mich wohlbehalten in ihren prächtigen und bequemen Gemächern. Madame d'Albret wies mir ein kleines Kabinet innerhalb ihres eigenen Zimmers an, so daß Niemand, als eine Kammerjungfer, welcher sie trauen konnte, etwas von meiner Anwesenheit in ihrem Hause erfuhr. So blieb ich denn mir selbst überlassen, bis meine Beulen heilten und ich wo möglich mein gutes Aussehen wieder gewonnen hätte. Am andern Tag verfügte sich meine gütige Beschützerin nach der Kaserne und verweilte bei ihrer Schwester bis zum Abend. Sobald sie zurückgekehrt war, kam sie zu mir herauf.

»Alles ist abgelaufen, wie ich es wünschte,« sagte sie, als sie ihren Hut abnahm. »Ihr seid nirgends zu finden und Niemand hat eine Ahnung von Eurem Hiersein. Als man Euch zu vermissen begann, meinte man, Ihr seiet zu dem Obristen zurückgekehrt, und Euer Vater hielt es nicht für räthlich, vor dem andern Morgen Erkundigungen einzuziehen. Nun aber erfuhr er zu seinem Erstaunen, daß man Euch dort mit keinem Auge gesehen hatte. Der Husar, welcher am Abend zuvor auf dem Posten gestanden, wurde jetzt in's Verhör genommen und gab an, daß gegen halb neun Uhr eine junge Person, die ihrer Gestalt nach wohl Madmoiselle de Chatenœuf gewesen sein könne, durch das Thor gegangen sei; sie habe einen dichten Schleier vor dem Gesicht gehabt, so daß er nicht weiter sehen konnte. Als mein Vater und der Obrist nach stattgehabtem Verhör den Soldaten entließen, brach meine arme Schwester in Thränen aus und rief: ›Ach, dann hat sie leider Wort gehalten und sich in die Seine gestürzt. Oh, Monsieur Allarde, meine Schwester sagte Euch, Ihr würdet eine schwere Verantwortlichkeit auf Euch laden, wenn Ihr das Mädchen zurücksendetet, und nun ist's richtig eingetroffen. Liebe, arme Valerie!‹ Euer Vater und der Obrist waren fast eben so trostlos, als meine Schwester, und so standen die Sachen, als ich bei ihnen anlangte.

»›Schwester,‹ rief mir Madame Allarde zu, ›Valerie hat die Kaserne verlassen.‹

»›Wie?‹ entgegnete ich. ›Wann? Oh, meine Besorgniß war nur zu begründet!‹

»Und ich schlug meine Hände zusammen, nahm mein Tuch heraus, bedeckte mein Gesicht damit und schluchzte. Ich versichere Euch, Valerie, nichts als meine Liebe zu Euch wäre im Stande gewesen, mich zu einer solchen Täuschung zu veranlassen; durch die obwaltenden Umstände glaube ich aber gerechtfertigt zu werden. Mein erkünsteltes Leid beseitigte allen Argwohn, daß Ihr bei mir sein könntet. Bald nachher verständigte sich der Obrist mit Eurem Vater durch ein Zeichen, und sie verließen gemeinschaftlich die Kaserne, ohne Zweifel um sich nach der Morgue zu begeben und dort nachzusehen, ob sich vielleicht ihre Besorgnisse bereits bestätigt hätten.«

»Was ist die Morgue, Madame?« fragte ich.

»Wißt Ihr dies nicht, mein Kind? Es ist ein kleines Gebäude am Ufer der Seine, wo die Leichen, die man im Fluß auffindet, zur Schau ausgestellt werden, damit die Angehörigen der verunglückten Personen sie erkennen möchten. Unter der Brücke ist ein starkes Netz quer durch den Fluß gezogen, welches alle durch die Strömung herabgeführten Leichname auffängt. So werden viele aufgefunden; wenn aber auch die meisten Körper sich dort verfangen, kommen doch Fälle vor, daß sich die Leiche nie wieder vorfindet.«

Madame d'Albret versäumte nicht, am andern Tage wieder nach der Kaserne zurückzukehren, und fand daselbst alles – nicht nur die Officiere, sondern auch die Soldaten – in großer Aufregung. Mein vermeintlicher Selbstmord war jetzt allgemein bekannt geworden. Mein Vater hatte die Morgue zum zweitenmal besucht und die Policei vergebliche Nachforschungen angestellt. Meine Mutter wagte es nicht einmal, sich an ihren eigenen Fenstern blicken zu lassen, und sogar ihre Kinder vermieden sie. Was meinen Vater betrifft, so war er ganz außer sich und begegnete der Mutter nie, ohne sie mit schweren Vorwürfen zu überhäufen oder sich selbst zu verwünschen, daß er so thöricht gewesen, sich so lang ihrem herrschsüchtigen Willen zu unterwerfen.

»Jedenfalls ist aus Eurem vermeintlichen Tode eine gute Wirkung hervorgegangen, Valerie,« sagte Madame d'Albret. »Euer Vater hat nämlich sein ganzes Ansehen wieder gewonnen, und ich glaube nicht, daß er sich desselben je auf's Neue begeben wird.«

»Mein armer Vater!« rief ich unter einer Fluth von Thränen. »Wie sehr fühle ich für ihn!«

»Er ist allerdings zu beklagen,« versetzte Madame d'Albret, »aber sein eigenes Gewissen muß für ihn der schlimmste Plagegeist sein. Er war selbstsüchtig genug, Euch während der vielen Jahre von Verfolgung sein Mitgefühl zu versagen, und ließ Euch das Opfer werden, nur damit seine häusliche Gemächlichkeit nicht durch den Hader einiger Stunden gestört werde. Doch besinnt Euch wohl, Valerie. Wenn Ihr noch den Wunsch hegt, zu Euren Eltern zurückzukehren, so ist es nicht zu spät. Das Regiment bricht erst am nächsten Donnerstag von Paris auf.«

»Oh nein, nein,« rief ich. »Meine Mutter würde mich umbringen. Ich bitte, Madame, sprecht mir nie wieder davon,« fügte ich zitternd bei.

»Ich will es nicht mehr thun, mein Kind; denn offen gestanden, Ihr würdet in keinem sehr günstigen Licht erscheinen, wenn Ihr jetzt wieder zurückkehrtet. Ihr habt meiner Schwester und ihrem Gatten viel Herzeleid bereitet, und nachdem so mit ihren Gefühlen gespielt wurde, könnten sie Euch nicht mehr mit der früheren Freundlichkeit aufnehmen. Auch wäre es ein Triumph für Eure Mutter, und ich zweifle nicht, daß sie in kurzer Zeit die Gewalt wieder gewinnen würde, die sie vorläufig verloren hat. Nach dem was vorgefallen ist, könnt Ihr in Eurer Familie nie wieder glücklich sein, und ich denke, es ist am besten, man lasse die Sache in ihrem nunmehrigen Stand. Euer Vater kann von vierzehnen wohl ein Kind missen, da er ja ohnehin für ihren Unterhalt wenig mehr besitzt, als seinen Degen. Euer vermeintlicher Tod wird die Folge haben, daß ihm sein rechtmäßiges Ansehen im Hause verbleibt und er an seinen übrigen Kindern die Ungerechtigkeit verhindern kann, die Euch zu Theil geworden ist. Wenigstens werden die Gewissensbisse Eurer Mutter einen Zügel anlegen, wenn sie auch nicht im Stande sind, sie zu einem menschlicheren Wesen zu machen, obschon ich an dem letzteren noch nicht ganz verzweifle. Ich habe alles dies bei mir selbst wohl erwogen, meine liebe Valerie, eh' ich Euch meinen Vorschlag machte, und bin noch immer sowohl um Eurer selbst, als um anderer willen der Ansicht, es sei am besten, wenn Ihr Euch zum Opfer bringt. Gleichwohl muß ich wiederholen – geht mit Euren Gefühlen zu Rath, und wenn Ihr den Schritt, den Ihr gethan habt, bereut, so ist es noch immer Zeit zur Umkehr.«

»Meine liebe Madame, zurückkehren werde ich nie, wenn ich nicht mit Gewalt dazu gezwungen werde. Mein Herz sagt mir nur, es könnte mich beruhigen, wenn es thunlich wäre, den herben Schmerz meines Vaters dadurch zu mildern, daß man ihn von meinem Leben in Kenntniß setzte.«

»Auch ich wünschte dies, Valerie, wenn sich die gleichen günstigen Erfolge mit einer solchen Mittheilung vereinigen ließen. Dies dürfen wir aber nicht hoffen, wenn es nicht etwa dem Himmel gefällt Eure Mutter abzurufen; denn nur dann wird es räthlich sein, Euren Vater von Eurem Leben zu unterrichten.«

»Ihr habt Recht, Madame.«

»Ich denke dies selber auch, Valerie; denn im Grunde verdient Euer Vater recht wohl die schwere Züchtigung, daß er jeden Tag die Morgue besuchen muß. So schmerzlich auch das Heilmittel ist, so nothwendig wird es für die Kur.«

»Ja, Madame,« versetzte ich schluchzend; »alles, was Ihr sagt, ist vollkommen wahr. Aber doch kann ich mich der Thränen und des Mitleids gegen meinen armen Vater nicht erwehren. Nicht daß mein Entschluß dadurch geändert würde – ich kann nur die Stimme des Herzens nicht ersticken.«

»Eure Gefühle machen Euch Ehre, Valerie, und ich will Euren Schmerz nicht tadeln; nur bitte ich Euch, demselben nicht im Uebermaße Raum zu geben, da Ihr sonst das Gute in einen Fehler verwandeln würdet.«

Nur noch drei Tage lagen zwischen der Zeit, in welcher das Regiment nach Lyon aufbrechen sollte, und ich verbrachte sie in der tiefsten Betrübniß. Stets stand mir der Gram meines Vaters vor Augen, und mit Freuden wäre ich wieder in die Kaserne zurückgeeilt, um mich in seine Arme zu werfen, wenn sich nicht stets das Bild meiner Mutter dazwischen gestellt hätte. Ihre letzten Worte: »Wir wollen sehen, ob meine Gewalt für immer dahin ist,« klangen noch immer in meinen Ohren, und da ich mir zugleich ihre geballte Hand dicht vor meinem Gesicht vergegenwärtigte, so blieb mein Entschluß fest. Die Geschwulst meines Gesichtes hatte sich gelegt, und ich fieng an, wieder auszusehen, wie andere Leute; gleichwohl färbten noch blaue und gelbe Stellen da und dort mein Auge und meine Wangen; auch waren die Wunden meines Kopfes noch nicht ganz zugeheilt. Gleichwohl hatte ich mich von der Richtigkeit der Versicherung des Regimentswundarztes überzeugt, daß die mir zu Theil gewordene Behandlung keine nachhaltige Entstellung zur Folge haben werde.

»Ich habe Neuigkeiten für Euch,« sagte Madame d'Albret, als sie aus der Kaserne zurückkam, wo sie sich von ihrer Schwester vor Antritt ihrer Reise verabschiedet hatte. »Euer Bruder August, der, wie Ihr wißt, auswärts gewesen, ist zu seinem Regiment zurückgekehrt und hat nun seinen Posten in einem andern erhalten, das in Brest liegt.«

»Wie gieng dies zu, Madame? Seid Ihr näher unterrichtet? Habt Ihr ihn gesehen?«

»Ja; er war bei dem Obristen. Er sagte, er könne nicht bei dem Regiment bleiben, so lange seine Mutter mit seinem Vater zusammenlebe. Nach den Vorgängen werde er nie im Stande sein, sie auch nur mit gewöhnlicher Höflichkeit, geschweige denn mit dem Pflichtgefühl eines Sohnes zu behandeln, und deshalb ziehe er die Versetzung zu einem andern Regiment vor.«

»Und mein Vater, Madame?«

»Euer Vater läßt ihm hierin seinen Willen. Ueberhaupt fühlt er das Gewicht der Gründe Eures Bruders, und mein Schwager, der damit einverstanden ist, hat zu der Versetzung seine Zustimmung gegeben. August beklagt Euch sehr, und der arme Junge sah sehr übel aus. Ich denke, er hat Recht gethan, obgleich dies ein schwerer Schlag ist für Eure Mutter. Freilich verdient sie kein Mitleid.«

»Meine Mutter hat August nie geliebt, Madame.«

»Ich will dies wohl glauben; aber der Grund, warum er sein Regiment verläßt, muß verletzend auf sie wirken, da darin eine offene Verdammung ihres Benehmens liegt.«

»Von dieser Seite aus mögen ihre Gefühle allerdings nicht die angenehmsten gewesen sein,« entgegnete ich.

»Ich bin erst zurückgekehrt,« fuhr Madame d'Albret fort, »nachdem das Regiment aufgebrochen und die Kaserne geräumt war. Ihr wißt, der Commandant ist stets der letzte. Ich begleitete meine Schwester an den Wagen, und nun bin ich hier, um Euch zu sagen, daß Ihr nicht länger eine Gefangene seid. Ihr könnt's Euch jetzt behaglich machen und ungehindert das ganze Haus durchstreifen. Zuerst müssen wir aber unser Augenmerk auf Eure Garderobe richten. Ich bin bemittelt genug, um Euch damit zu versehen, und es soll unverweilt Sorge dafür getragen werden. Und nun, liebe Valerie, laßt mich Euch ein für allemal sagen, was ich in Worten nicht zu wiederholen gedenke, wohl aber in Handlungen zu bekunden hoffe. Betrachtet mich als Eure Mutter, denn ich habe Euch Eurer Familie nicht ohne den festen Vorsatz entzogen. Euch – nicht die Mutter, die Ihr verloren, sondern die Mutter zu ersetzen, wie Ihr sie Euch in Träumen dachtet. Ich liebe Euch, mein Kind, denn Ihr verdient, geliebt zu werden. Behandelt mich daher mit jenem schrankenlosen, offenen Vertrauen, in welchem Euer junges und reines Herz sich zu erleichtern sehnt.«

»Gottes Segen über Euch, Madame – Gottes Segen über Euch!« rief ich, indem ich in Thränen ausbrach und mein Antlitz in ihrem Schooß verbarg. »Ich fühle jetzt, daß ich eine Mutter habe.«


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