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Sechstes Kapitel.

Am folgenden Tage sprach man in Luciens Dorfe wie in der ganzen Gegend um Lecco von nichts anderem als von dem Mädchen, dem Ungenannten und dem Erzbischof. Indessen unterhielt man sich auch noch von einem Vierten, der sonst recht gern sich im Munde der Menschen wußte, unter diesen Umständen dagegen weit lieber übergangen worden wäre, von Don Rodrigo nämlich.

Man hatte freilich schon vorher von seinen Streichen geredet, es geschah jedoch bloß in einzelnen, heimlichen Gesprächen; zwei Menschen mußten schon auf sehr vertraulichem Fuße miteinander stehen, wenn sie in diesem Kapitel mit gegenseitiger Offenherzigkeit sich verständigten. Wer hätte sich aber jetzt enthalten können, über ein so geräuschvolles Ereignis, in welchem die Hand des Himmels sichtbar gewaltet und zwei solche Menschen eine so glänzende Rolle gespielt, Fragen zu tun und Urteile zu fällen? Man ging bei dieser Gelegenheit die übrigen Feldzüge des Helden durch, und da der einzelne mit allen sich der nämlichen Meinung sah, sprach man furchtlos aus, was man dachte. Man flüsterte einander zu und stand in gesprächigen Haufen beisammen, hielt sich aber noch immer weit vom Schuß; denn um den Mann stand nach wie vor eine Menge von bewaffneten Bravi.

Ein großer Teil dieses öffentlichen Tadels fiel auf seine Freunde und Schmeichler. Der Herr Stadtvogt, der bei den Handlungen dieses Tyrannen sich stets taub, blind und stumm verhalten hatte, erhielt seinen Text gelesen; aber auch hier wagte man sich nicht ganz offen heraus: der Herr Stadtvogt hatte seine Häscher. Mit dem Doktor Knotenhauer, welchem bloß Geschwätz und Kabalen zu Gebote standen, wie mit den übrigen Schmeichelwürmchen dieser Art ging man so glimpflich nicht um; man wies mit Fingern auf sie hin und warf ihnen scheele Blicke zu; das geschah so nachdrücklich, daß sie es fürs klügste hielten, dem Lichte der Welt eine Zeit hindurch ihre werten Personen zu entziehen.

Zu Boden geschmettert von einer so ungeahnten Nachricht, nachdem er von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick eine ganz andere erwartet hatte, blieb Don Rodrigo zwei Tage hindurch, mit seinen Söldlingen allein, im Palaste verborgen und kaute am giftigen Brocken; mit dem dritten Tage reiste er nach Mailand ab. Hätte es sich bloß um das Gemurmel der Leute gehandelt, so wäre er vielleicht, da die Dinge doch einmal so weit gekommen waren, trotzend dort geblieben und hätte nach einer Gelegenheit gesucht, an einem der Kecksten für die übrigen alle ein Beispiel seines strafenden Grimmes aufzustellen; was ihn aber hinwegtrieb, war die Kunde, daß der Kardinal auch nach jener Gegend sich schon auf den Weg gemacht habe.

In der Tat bereiste der Kardinal das Gebiet von Lecco und besuchte täglich einen Kirchsprengel. An dem Tage, da er nach Luciens Dorfe kommen sollte, hatte sich ein großer Teil der Einwohner an die Straße gestellt und sah ihm erwartungsvoll entgegen. Gegen Abend, zur Stunde, da Borromeo gewöhnlich anzulangen pflegte, machten sich auch die Greise, die Frauen und vorzüglich die Kinder, welche bisher zu Hause geblieben, auf den Weg und zogen teils in Reihen, teils in Haufen hin. An ihrer Spitze schritt Don Abbondio, die einzige Schattengestalt in diesem festlichen Getümmel; denn teils setzte ihn das Gelärm außer Fassung, teils umwimmelte ihn das Volk hinten und vorn und überflorte ihm, wie er zu sich selbst sagte, die Augen; teils marterte ihn auch heimlich der Gedanke, die Frauen könnten geplaudert haben und er werde über die Vermählung Rechenschaft ablegen müssen.

Da erschien der Kardinal oder richtiger der Schwarm, unter welchem er in der Sänfte, von seinem Gefolge begleitet, sich befand; denn von dem ganzen Reisezuge war nichts weiter als ein Zeichen in der Luft zu sehen, hoch über all den Köpfen ein Teil des Kreuzes, welches der Kapellan, auf einem Maultiere sitzend, in der Hand trug. Die Menge, die mit Don Abbondio ging, eilte stürmisch daher, mit dieser zweiten sich zu verbinden. Drei oder viermal sagte der gedrängte Pfarrer: »Langsam, hübsch in der Reihe! Was macht ihr?« – wandte sich dann aufgebracht und rief, das sei eine babylonische Verwirrung, begab sich in die Kirche, während sie noch menschenleer war, und wartete dort die Ankunft des Erzbischofs ab.

Der Kardinal näherte sich, teilte mit der Hand seinen Segen aus und empfing ihn aus dem Munde des Volkes, welches seine Begleiter nur mit Mühe entfernt halten konnten, zurück. Denn als Dorfgenossen des geretteten Mädchens hätten sich die Bauern gar gern mit außerordentlichen Ehrenbezeugungen gegen den Erzbischof sehen lassen; das hielt aber schwer; überall, wo er hinkam, strengten alle nach altem Gebrauche ihre Kräfte so viel wie möglich an.

Zunächst begab er sich in die Kirche und trat an den Altar, verrichtete ein kurzes Gebet und sprach nach seiner Gewohnheit einige Worte mit den Umherstehenden, wie er sie liebe, wie ihr Wohlsein ihm am Herzen liege und welche Vorbereitungen sie für den morgenden Gottesdienst zu treffen hätten. Sodann begab er sich in das Haus des Pfarrers, teilte ihm Verschiedenes mit und erkundigte sich unter anderem nach Renzos Charakter und Betragen. Don Abbondio nannte diesen einen etwas lebhaften Kopf, welcher an Eigensinn und Galle nicht eben zu kurz gekommen. Als aber die Fragen bestimmter klangen und mehr ins Besondere gingen, mußte er bekennen, es sei ein wackerer Jüngling und er wisse sich's gar nicht zu erklären, wie er in Mailand zu den verteufelten Abenteuern, von denen man erzähle, gekommen sei.

»Was aber das Mädchen betrifft,« sagte der Kardinal, »meint Ihr, daß sie sich jetzt ohne Bedenken wieder in ihr Haus begeben kann?«

»Für jetzt,« antwortete Don Abbondio, »kann sie kommen und bleiben, für jetzt sag' ich, wie sie will; aber« – fügte er mit einem Seufzer hinzu – »dann müßten auch Eure erlauchte Gnaden immer in unserm Dorfe hier oder wenigstens in der Nachbarschaft sich aufhalten.«

»Der Herr ist allerorten nah,« sagte der Kardinal, »übrigens werde ich darauf denken, sie in Sicherheit zu bringen.« – Sodann gab er sogleich Befehl, daß morgen früh beizeiten die Sänfte mit einer Begleitung hingeschickt würde, um beide Frauen abzuholen.

Don Abbondio ging sehr zufrieden fort, daß der Kardinal von dem Paare mit ihm geredet hatte, ohne ihn mit der Frage, warum er sie nicht habe trauen wollen, in die Enge zu treiben. – Er weiß also nichts, sagte er zu sich selbst, Agnese hat reinen Mund gehalten, ein wahres Wunder! Man muß es freilich noch erst abwarten; ich will ihr aber noch eine Anweisung geben. – Der arme Mann ließ sich's nicht träumen, daß Borromeo sich in diese Materie bloß darum nicht eingelassen hatte, weil er bei freierer Zeit umständlich mit ihm darüber zu sprechen gedachte und, ehe er ihm den verdienten Lohn gab, auch seinen Gründen ein Ohr leihen wollte.

Aber die Entwürfe des redlichen Kirchenfürsten, um Lucien unterzubringen, waren bereits unnötig geworden; nachdem er sie verlassen, hatten sich Dinge ereignet, die unsre nächsten Blätter berichten sollen.

Wenige Miglien von dem Dörfchen, in dem Agnese und Lucia unter dem gastfreundlichen Dache des Schneiders wohnten, lebte ein Paar von hohem Stande auf einem Landgute, Don Ferrante und Dame Prassede, – der Familienname ist auch hier, wie gewöhnlich, in der Feder unsres Anonymus stecken geblieben. Dame Prassede war eine bejahrte Edelfrau, welche einen ziemlichen Hang zum Wohltun hatte. Nachdem sie Luciens großes Ereignis erfahren und sich alles hatte sagen lassen, was man bei dieser Gelegenheit von dem jungen Mädchen einander erzählte, kam ihr die Neugier an, sie zu sehen; eine Kutsche langte an, um Mutter und Tochter abzuholen. Lucia fand kein Behagen daran und bat den Schneider, welcher die Nachricht brachte, auf eine Entschuldigung zu sinnen. Solange nur unbedeutende Leute sich eingefunden hatten, um die Bekanntschaft des Wundermädchens zu machen, hatte der Schneider ihr jedesmal mit willigem Herzen diesen Dienst erzeigt; in diesem Falle aber kam ihm eine Weigerung wie eine Art von Empörung vor. Er machte so viele Verwunderungsgesichter, erhob ein so nachdrückliches Geschrei, brachte so viele Gegengründe vor – man benehme sich nicht so; es sei eine hohe Familie; vornehme Herren speise man nicht mit Nein ab; es könnte ihr Glück sein; die Dame Prassede sei, alles andre beiseite gelassen, auch eine Heilige – kurz, er setzte so viele Hebel in Bewegung, daß Lucia sich endlich ergeben mußte; auch ließ es Agnese bei all diesen Gründen an nachhelfenden Versicherungen nicht fehlen.

Bei der Dame angelangt, wurden sie mit freundlichen Grüßen und Glückwünschen überhäuft. Sie fragte, sie erteilte ihren Rat; alles mit einem gewissen angeborenen Übergewicht, welches aber von so leutseligen Ausdrücken gemildert, von so lebhaftem Eifer annehmlicher gemacht und von einem so geistlich frommen Wesen gewürzt wurde, daß Agnese auf der Stelle, Lucia allmählich sich von ihrer ängstlichen Ehrfurcht erholten und die adlige Gegenwart gefaßter zu ertragen anfingen; ja, sie fühlten bald zu der hohen Wirtin sich hingezogen. Die Dame vernahm, daß der Kardinal es übernommen hatte, für Lucien einen Zufluchtsort zu finden; es regte sich der Wunsch in ihr, eine so edle Absicht zu unterstützen und ihr zuvorzukommen; sie erbot sich, das Mädchen in ihr Haus aufzunehmen, woselbst ihre ganze Beschäftigung nur im Nähen, Plätten oder Spinnen bestehen sollte. Dem Erzbischof würde sie Nachricht davon geben.

Mutter und Tochter sahen sich an. Die schmerzliche Notwendigkeit, voneinander zu scheiden, stand ihnen vor den Augen; so schien denn beiden der Vorschlag höchst annehmlich, zumal wenn sie die geringe Entfernung des Landgutes von ihrem Dorfe bedachten; sie konnten sich, wenn die Sache schlimm ausfiel, an einem Zwischenorte finden und sprechen. Sobald die eine der anderen ihre Einwilligung angemerkt hatte, wandte sich das Paar zu der Dame mit dem Danke, der ein Anerbieten ergreift. Von ihrer Seite erneuerten sich Höflichkeiten und Versprechungen; der Brief an Monsignore sollte im Augenblick geschrieben sein. Die Frauen entfernten sich, und Don Ferrante setzte den Brief auf; denn da er sich mit Gelehrsamkeit befaßte, war er bei wichtigen Angelegenheiten der Kanzleischreiber seiner Ehehälfte. So setzte er denn auch hier seinen Geistesfähigkeiten angestrengt zu, übergab ihr den Aufsatz zur Abschrift und legte ihr dabei mit glühendem Eifer die Rechtschreibung ans Herz; diese war eins von den vielen Dingen, die er erlernt hatte, und eins von den wenigen, die seinem Gebote im Hause gehorchten. Die Abschrift geschah mit sorgfältigster Gewissenhaftigkeit und ward sodann zum Schneider hinübergeschickt, damit ihn die Frauen dem Kardinal überreichen könnten. Dies begab sich zwei oder drei Tage, ehe dieser die Sänfte sandte, welche das Paar nach dem heimatlichen Hause zurückbrachte.

Als sie anlangten, hatte sich Borromeo noch nicht zur Kirche begeben. Sie stiegen vor dem Pfarrhause ab; der Kapellan, welcher den Befehl hatte, sie augenblicklich einzuführen, sah sie zuerst und tat, wie ihm geboten war.

Der Kardinal unterhielt sich eben mit Don Abbondio über Angelegenheiten des Kirchsprengels; so konnte dieser nicht, wie er es gewünscht hatte, die Frauen in die Schule nehmen. Nur als er hinausging und sie hereintraten, gab er ihnen im Vorüberstreifen durch einen Augenwink zu verstehen, wie zufrieden er mit ihnen wäre und wie gut sie täten, im Stillschweigen so wacker fortzufahren.

Nach höflichem Empfang von der einen und vielen Verneigungen von der andern Seite zog Agnese den Brief hervor und übergab ihn mit den Worten: »Er ist von der gnädigen Frau Prassede; sie sagt, sie kenne Eure erlauchte Gnaden, Monsignore, sehr wohl; wie natürlich die hohen Herrschaften immer miteinander Bekanntschaft halten. Wenn Sie gelesen haben, werden Sie sehen.«

»Gut,« sagte der Kardinal, nachdem er gelesen und aus Don Ferrantes rhetorischen Blumen den Saft gesogen hatte. Er kannte das Haus und war überzeugt, daß Lucia, in guter Absicht eingeladen, vor der List und der Gewalttätigkeit ihres Verfolgers daselbst sicher sein würde.

»Nehmt auch diese Trennung und diese neue Ungewißheit in Frieden hin,« sprach er darauf; »seid überzeugt, sie wird nicht lange währen; das Ziel, welches Gott euch bestimmt, wird er euch erreichen lassen; sein Wille aber, glaubet fest, ist auch der beste.«

Lucien gab er insbesondere manche liebevolle Erinnerung auf den Weg, tröstete dann beide, segnete und entließ sie. Beim Hinausgehen gerieten sie in einen Schwarm von Freunden und Freundinnen, in die ganze Gemeinde, kann man sagen, welche sie erwartete und wie im Siegeszuge nach ihrem Hause geleitete. Die Frauen alle wetteiferten im Glückwünschen, im Bedauern und Fragen; jede gab laut ihr Mißbehagen zu erkennen, als sie hörte, daß Lucia morgen schon wieder abreisen würde. Die Männer machten einander im Anerbieten ihrer Dienste den Vorrang streitig; jeder wollte die Nacht über als Wache vor dem Hause stehen. Bei dieser Gelegenheit rückt unser Autor mit einem Sprichwort hervor: Sollen sich viele Arme zu eurem Beistand erheben, so dürft ihr bloß keinen nötig haben.

So viele Liebesbezeugungen verwirrten Lucien und brachten sie schier außer Fassung; genau genommen indessen taten sie ihr wohl und zogen sie ein wenig von den Gedanken und den Erinnerungen ab, welche mitten in dem Getümmel bei dieser Türe ihres Hauses, in diesen Zimmern, beim Anblick eines jeden Gegenstandes nur allzu ängstlich ihr aufs Herz fielen.

Mit dem Geläute der Glocke, welche den Beginn des Gottesdienstes verkündigte, setzte sich alles nach der Kirche in Bewegung, und die Heimgekehrten erlebten einen zweiten Siegeszug.

Nach Beendigung des Gottesdienstes kam Don Abbondio heimgelaufen, um nachzusehen, ob auch Perpetua zur Mittagsmahlzeit alles gehörig eingerichtet habe, hörte aber, daß der Kardinal ihn zu sprechen verlange. Sogleich eilte er nach dem Zimmer des hohen Gastes; dieser ließ ihn näher treten und sagte: »Herr Pfarrer« – der Ton dieser Anrede verriet den Beginn eines langen und ernstlichen Gespräches – »Herr Pfarrer, warum habt Ihr diese Lucia und ihren versprochenen Bräutigam nicht durch den ehelichen Segen verbunden?«

Die haben heut früh den Sack ausgebeutelt! dachte Don Abbondio und erwiderte mit Worten, die halb in der Kehle steckenblieben: »Sie werden wohl, erlauchter Monsignore, von den Verwirrungen, die in dieser Sache sich ereignet, sprechen gehört haben; das Ganze ist eine solche Verwicklung, daß man auch zu dieser Stunde noch keinen klaren Blick hineintun kann; wie Eure erlauchte Gnaden schon daraus ersehen können, daß das Mädchen, nach so vielen Ereignissen, gleichsam durch ein Wunder hier ist und vom Aufenthalt des jungen Mannes gar nichts bekannt geworden.«

»Habt Ihr, frage ich, vor allen diesen Ereignissen an dem besprochenen Tage, als Ihr darum gebeten wurdet, Euch geweigert, die Trauung zu vollziehen? Und warum habt Ihr Euch geweigert?«

»Freilich wohl – wenn Eure erlauchte Gnaden wüßten, was für Vorschriften, was für drohende Ermahnungen ich bekommen habe, mir kein Wörtchen entwischen zu lassen ...« Ohne zu enden, stockte er mit einer Gebärde, welche ehrfurchtsvoll zu verstehen gab, daß nur Unbescheidenheit mehr zu wissen verlangen könne.

»Aber,« sagte der Kardinal mit ungewöhnlichem Ernste in Ton und Miene, »Euer Bischof ist's, der um seiner Pflicht und Eurer Rechtfertigung willen von Euch zu erfahren verlangt, warum Ihr nicht getan habt, was unter gewöhnlichen Umständen die Schuldigkeit erforderte.«

»Monsignore,« erwiderte Don Abbondio, indem er sich demütig gleichsam verkürzte, »ich habe ja nicht damit sagen wollen ... Weil es aber verwickelte, alte Geschichten ohne Heilmittel sind, so schien's mir unnütz, sie wieder aufzurühren. Jedoch, sag' ich – ich weiß, Eure erlauchte Gnaden wollen Ihren armen Pfarrer nicht dem Verderben preisgeben. Denn Sie sehen wohl, Monsignore, Eure erlauchte Gnaden kann nicht allerorten sein, und ich bleibe hier im Feuer sitzen ... Inzwischen, wenn Sie es so befehlen, will ich, will ich alles heraussagen.«

»Redet; ich will nichts weiter, als Euch ohne Schuld finden.«

Nun machte sich Don Abbondio an die Erzählung seiner Leidensgeschichte. Doch unterdrückte er den vorzüglichsten Namen, sprach bloß von einem »großen Herrn«, und folgte, so gut sich's in diesem Gedränge tun ließ, den Winken der Vorsicht.

»Und habt Ihr keinen andern Beweggrund gehabt?« fragte der Kardinal, nachdem er alles ruhig angehört hatte.

»Ich hab' mich vielleicht nicht deutlich genug ausgedrückt,« antwortete der Pfarrer, »bei Lebensstrafe haben sie mir verboten, das Paar zu trauen.«

»Und scheint Euch das ein hinreichender Grund, um eine vorgeschriebene Schuldigkeit umgehen zu dürfen?«

»Meiner Schuldigkeit hab' ich immer Genüge zu leisten gesucht, auch wenn's mir herzlich sauer wurde; aber wenn das Leben auf dem Spiel steht ...«

»Und als Ihr Euch der Kirche vorgestellt habt,« sagte Borromeo mit noch ernsterem Tone, »um dieses Amt zu erhalten, hat sie Euch Bürgschaft für Euer Leben geleistet? Hat sie Euch gesagt, daß bei allen Pflichten Eures Amtes sich durchaus kein Hindernis, durchaus keine Gefahr finde? Oder daß die Pflicht etwa aufhöre, wo die Gefahr beginnt? Hat sie Euch nicht vielmehr das Gegenteil verkündet? Daß sie Euch wie ein Lamm unter die Wölfe schickt? Wußtet Ihr nicht, daß es gewalttätige Bösewichter gibt, denen mißfallen könnte, was Euch gerade geboten worden? Er, dessen Lehre und Beispiel uns leitet, nach dessen Vorbild wir uns Hirten nennen, hat er etwa, da er zur Erde herniederstieg, um sein Amt zu verwalten, die Sicherheit des Lebens zu seiner Bedingung gemacht? Setzte er die heilige Salbung, das Auflegen der Hände, die Vorzüge des Priestertums fest, um auf Kosten der Menschenliebe und der Pflicht dieses irdische Leben auf einige Tage zu fristen? Schon das weltliche Leben gewährt diese Tugend, lehrt diese Lehre. Was sage ich? O Schande! Die Welt selbst belegt Euch mit Schmach. Auch die Welt hat ihre Gesetze, die das Gute wie das Böse bestimmen, hat gleichfalls ihr Evangelium, darin Stolz und Haß bezeichnet stehn; auch sie erkennt in der Liebe zum Leben keinen Beweggrund, um ihre Gebote zu überschreiten. Sie will es nicht und findet Gehorsam. Und wir, wir Söhne und Prediger der Verheißung! Wie stände es um die Kirche, wenn Euer Geschwätz da die Sprache aller Eurer Amtsgefährten wäre? Wo stände sie, wenn sie mit solchen Lehren auf Erden aufgetreten wäre?«

Don Abbondio hielt sein Haupt gesenkt; sein Geist schwebte unter den Beweisgründen des Bischofs wie ein Hühnchen in den Klauen des Geiers, welcher es in eine unbekannte Gegend, in eine nie geatmete Luft mit emporgerissen. Etwas, sah er wohl, mußte geantwortet werden; er äußerte daher mit einer unentschlossenen Ergebung: »Monsignore, ich habe unrecht. Wenn das Leben in keine Rechnung dabei kommt, so weiß ich nicht, was ich sagen soll. Wenn man aber mit gewissen Leuten zu tun hat, mit Mächtigen, die von keinen Gegengründen wissen wollen, so seh' ich nicht ein, was man damit gewinnen könnte, auch wenn sich einer entschlösse, den Helden zu spielen. Der Edelherr ist von der Art, daß sich weder an Kampf noch an Übereinkunft mit ihm denken läßt.«

»Wißt Ihr denn nicht, daß im Leiden um der Gerechtigkeit willen unser Sieg besteht? Wißt Ihr nicht, was Ihr selbst predigt? Was lehrt Ihr denn? Welches ist denn die gute Kunde, die Ihr den Armen verheißt? Wer verlangt von Euch, daß Ihr Gewalt mit Gewalt zurücktreibt? Wahrlich, man wird Euch eines Tages nicht fragen, ob Ihr die Mächtigen zur Rechenschaft zu zwingen verstanden habt; dazu ward Euch weder Auftrag noch Mittel gegeben. Wohl aber wird man Euch fragen, ob Ihr die Mittel angewandt und der Vorschrift Genüge zu leisten versucht habt, auch wenn jene verwegen genug gewesen, es Euch zu untersagen.«

Was sind doch diese Heiligen wunderlich! dachte Don Abbondio: wenn man's bei Licht besieht, liegt ihnen die Liebschaft eines jungen Paares ernstlicher am Herzen als das Leben eines armen Priesters. – Seinerseits hätte er sich vollkommen beruhigt, wenn das Gespräch hiermit zu Ende gewesen wäre; er sah aber den Kardinal, sooft er ein wenig einhielt, eine Antwort erwarten, ein Geständnis, eine Selbstverteidigung, kurz, irgendeinen Laut aus dem Munde des Gegners.

»Ich wiederhole, Monsignore,« erwiderte er endlich, »ich habe unrecht. Den Mut, den kann sich keiner geben.«

»Warum habt Ihr Euch also, könnte ich fragen, zu einem Amte verpflichtet, welches Euch gebietet, den Leidenschaften der weltlichen Menge gerüstet entgegenzutreten? Fällt Euch aber nicht ein, daß, wenn zu diesem Amte der nötige Mut Euch gebricht, der Herr ihn unfehlbar Euch verleihen wird, sobald Ihr deshalb mit brünstigem Gebet Euch an ihn wendet? Glaubt Ihr, daß alle die Tausende von Märtyrern mit angeborenem Mute gewaffnet waren? Daß sie von selbst immer das Leben geringachteten? So viele Jünglinge, die soeben es zu genießen angefangen, so viele bejahrte Männer, die über das nahende Ende desselben sich zu beklagen pflegten, so viele Mädchen, so viele Mütter? Alle besaßen Mut; denn Mut war nötig, sie aber waren stark im Glauben. Da Ihr Eure Schwäche und Eure Pflichten kanntet, habt Ihr daran gedacht, Euch für die schweren Schritte, die eintreten konnten und wirklich eingetreten sind, vorzubereiten? Wenn Ihr während der vielen Jahre Eures Hirtenamtes Eure Herde geliebt, wenn sie Euer Herz erfüllt hat, Eure Sorge und Eure Lust gewesen ist, o, so durfte Euch der Mut im Falle der Not nicht fehlen; die Liebe ist unerschrocken. Wenn Ihr sie also liebtet, die Eurer geistlichen Sorgfalt anvertraut waren, die Ihr selbst Eure Kinder nennet, und sahet zwei unter ihnen mit Euch zugleich bedroht, wahrlich, wie die Schwäche des Fleisches um Euretwillen Euch in Schrecken setzte, hätte Euch die Liebe um ihretwillen zittern gemacht. Ihr hättet Euch wegen jener ersten Furcht gedemütigt, weil sie eine Wirkung Eures Elends war; Ihr hättet um die Kraft gefleht, sie zu besiegen und zu verscheuchen, weil sie eine Versuchung war; die heilige, edle Liebe zum Nächsten aber, zu Euren Kindern, sie hättet Ihr angehört, sie hätte Euch keine Ruhe gelassen, hätte Euch gespornt und gezwungen, nachzudenken und Euer möglichstes zu tun, um die Gefahr, welche ihnen drohte, abzuwenden ... Was hat Euch nun die Furcht, die Liebe eingegeben? Was habt Ihr für sie getan? Was habt Ihr ersonnen?«

Er schwieg und wartete auf Antwort.


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