Niklaus Manuel
Die Totenfresser
Niklaus Manuel

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Die »Totenfresser«.

1. Die Aufführung von 1523 und die Schicksale des Textes.

Es ist der Sonntag der Herren oder Pfaffenfastnacht des Jahres 1523. An der Kreuzgasse in Bern, wo sonst bei dem großen Kreuz, nach dem die Straße benannt ist, der Schultheiß von seinem Richterstuhle aus nach altem Brauch unter freiem Himmel Recht zu sprechen pflegt und wo sich zwischen Leutkirche und Rathaus die beiden Hauptstraßen der Altstadt kreuzen, ist eine geräumige Bretterbühne gezimmert, deren Hintergrund und Kulissen von den malerischen Bürgerhäusern selbst, die aber heute die Stadt Rom bedeuten, gebildet und stadtaufwärts von dem alten XIV Stadttor des Zeitglockenturms abgeschlossen werden. Vor der Bühne drängt sich bereits das Volk von Bern in Erwartung kommender Dinge. Denn hier soll es heute ein Fastnachtsspiel neuer, ja unerhörter Art geben, in dem der Papst selber mit seiner Klerisei auftreten wird, um sich selber und seiner Habsucht und Kriegslust das Urteil zu sprechen und es aus dem Munde der Erzapostel und des evangelischen Predigers gesprochen zu erhalten. Der treffliche Malermeister und Feldschreiber Niklaus Manuel, der schon vor sieben Jahren, und ganz neulich wieder, im Kampf gegen Papst und Kaiser mit Schwert und Feder seinen Mann gestellt hat, der noch letztes Frühjahr im Welschland, bei der Erstürmung von Novara – zum Glück nur leicht – verwundet worden und der blutigen Niederlage an der Biccocca glücklich entgangen ist, hat das Stück verfaßt und mit den jungen Bürgerssöhnen eingeübt: dem ist so was schon zuzutrauen! Hat er nicht auch den spottenden Landsknechten ihr übermütiges Lied auf die besiegten Schweizer in gleicher Münze heimgezahlt und noch auf dem Heimweg in einem erdichteten Traumgesicht den verstorbenen kriegerischen Papst zur Hölle fahren lassen wegen seines Betrugs mit dem Ablaß und wegen seiner Ländergier und Kriegstollheit? Der Büchsenmeister Fabian besitzt die Handschrift davon, die er freilich noch geheim hält: die altgläubigen Bürger und Junker sind immer noch zu scheuen. Aber heute, an der Fastnacht, will offenbar der Rat ein Auge zudrücken: man sagt sogar, es sei den Spielern von dort eine Beisteuer an ihre Kosten in Aussicht gestellt! Ja, die neue Lehre greift bei den Regierenden wie bei den Regierten kräftig um sich: ist doch auch vor wenig mehr als vierzehn Tagen im Zürcher Ratssaal beim Kampfgespräch über Papsttum, Messe und Heiligenverehrung der gelehrte Vikar des Konstanzer Bischofs dem streitbaren Meister Zwingli unterlegen oder feige ausgewichen und ist doch XV auch bei uns das Neue Testament Luthers, das sie in Basel drunten so flink nachgedruckt, bereits in vielen Händen . . .

Und da nimmt auch schon der Papst mit seinem Hof auf der Bühne die geschmückten Sitze ein und naht sich aus der Gasse der Leichenzug, der mit seinen Zeremonien die päpstliche Kirche neuerdings wird ernähren und stützen helfen, und hageldicht sausen auf ihren Herrn und sein hohes Gesinde, zumeist aus deren eigenem Munde, die vernichtenden Streiche nieder . . .

 

Wir wollen die Handlung und die Reden des Spiels nach dessen uns heute durch den Fund Burgs geschenktem, aber in dem ersten buchstabengetreuen Abdruck des Entdeckers bisher nur schwer lesbarem Wortlaut und dramatischer Gliederung an uns vorbeigehen lassen. Das Stück baut sich gemäß den Auftritten und Aufmärschen der spielenden Personen in sieben einzelnen Szenen auf, worunter die erste, von den Totenmessen ausgehende, den größten Raum (etwa 648 echte Verse gegenüber 110, 220, 304, 296, 148, 112, zusammen 1190, der sechs andern Auftritte) einnimmt. In den bisher bekannten Texten, die alle – auch der Bächtolds von 1878 – auf eine in starke Zerrüttung gerateneVorlage der noch zeitgenössischen Druckausgaben von Froschauer in Zürich (1524 und 1525) zurückgehen, ist diese Anfangsszene schon von diesem ersten Drucker durch Einschiebungen entstellt worden, die den Zusammenhang unterbrechen oder in die Zusammensetzung der hohen Gesellschaft nicht passen, und die außerdem in ihren Anspielungen auf das Zürcher Religionsgespräch vom Jänner 1523 sich als Zutaten eines wahrscheinlich Zürcherischen Theologen verraten. Es sind das gleich im ersten Auftritt – nebst einigen Ausfällen auf die Lehre vom Fegefeuer (unten hinter Vs. 8 und Vs. 626) – die Reden des neben dem vorhergehenden Bischof gänzlich überflüssigen bischöflichen Vikars Fabler XVI (Faber von Konstanz) über die – erst im Verlauf des Jahres 1523 ihm gewidmete – Spottschrift vom »Gyrenrupfen«, sowie eines Klosterbettlers über den Rückgang seines Gewerbes, gegen das damals (1522 und 1524) Bern und andere Orte einschränkende Maßregeln ergreifen mußten (Beiträge aaO. 96¹): beide Personen und ihre Reden sind der Hamburger – ehemals Berner – Handschrift noch fremd. Auch im spätern Verlauf und gegen Ende des Spiels sind eine Anzahl von Stellen deutlich erst für den Zürcher Drucker von einem theologischen Überarbeiter zugesetzt oder wenigstens der Einschiebung verdächtig; wo sie in unserer Handschrift noch fehlen, sind sie in unserem Drucke weggelassen. Durch bloße Sorglosigkeit und Gedankenlosigkeit sodann ist in der handschriftlichen Druckvorlage Froschauers, von der alle weiteren Drucke abstammen, vielleicht erst während der Setzerarbeit, die sechste Szene – die der Musterung der Kriegsvölker durch den Papst – unvernünftig in fünf Bruchstücke auseinandergerissen und sodann in geradezu blödsinniger Weise falsch wieder zusammengeflickt worden, doch so, daß sie jetzt mit Hilfe der Hamburger Handschrift wieder richtig und vollständig hergestellt werden kann.

Wir nehmen in die folgende nach der Handschrift gegebene Erzählung der Handlung die wesentlichsten Abweichungen und Zusätze der Drucke (bzw. des Textes bei Bächtold, B) von dem Hamburger Text, in [ ] gesetzt, mit auf, ebenso die wichtiger erscheinenden neuen Namen, die in den Drucken einzelnen Personen beigegeben sind.


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