Niklaus Manuel
Die Totenfresser
Niklaus Manuel

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Die Vorgänger.

Die Mannigfaltigkeit der Begabung und Betätigung, die wir an den großen Italienern des Rinascimento bewundern, findet sich vielleicht bei keinem Manne deutschen Stammes so auffallend wieder wie bei Manuel. Sie ist aber doch wohl auch das Verhängnis seines Lebens und seines Lebenswerkes gewesen, das bei der kurzen ihm vergönnten Spanne Zeit auf keinem der Gebiete seiner Tätigkeit die reifen Früchte gezeitigt hat, worauf seine reiche Natur Anspruch hatte. So ist auch seine volle Würdigung erst den eingehenden geschichtlichen, kunst- und literarhistorischen Forschungen des 19. Jahrhunderts vorbehalten gewesen. Frühere Zeiten kannten ihn zumeist nur als einen der Vorkämpfer der Berner Reformation, die er dichtend und malend, durch seine Fastnachtsspiele und durch seinen Totentanz, befördert habe. Zwar der Zeit- und Gesinnungsgenosse Valerius Anshelm steht noch unter dem Eindruck der seltenen Vielseitigkeit des Mannes: er hebt die Wirksamkeit des Fastnachtsspieldichters Manuel nachdrücklich hervor, gedenkt aber auch lobend des »künstlichen Malermeisters« und seiner vielfachen Verdienste in öffentlichen Stellungen, zu denen der »junge, aber wohlberedte, tätige Mann« insbesondere seit dem reformatorischen Umschwung von 1528 – also erst in seinen zwei letzten Lebensjahren – gelangt ist.

IX Im Zusammenhang mit der Reformationsgeschichte führen wenigstens die Berner Geschichtschreiber der Folgezeit den Venner Manuel regelmäßig in ihren Werken auf. Auch Samuel Scheurer, der zum erstenmal, in seinem »Bernerischen Mausoleum« (II, i. J. 1742), eine Biographie Manuels unternahm, beabsichtigt damit zunächst nur einen Beitrag zur Geschichte der Berner Reformation zu geben; doch wird auch des Künstlers Manuel, und zwar nicht bloß des Totentanzmalers, einläßlich Erwähnung getan.

Mehr oder weniger einseitig haben auch die Zeitgenossen und Nachfolger Scheurers bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Manuel behandelt. Erst Karl Grüneisen aus Stuttgart hat (1837) dem Leben und den Werken Manuels ein eigenes Buch gewidmet und ihn als eine der besondern Darstellung würdige Erscheinung der religiös-politischen, der Kunst- und der Literaturgeschichte erkannt. Ihm folgte vierzig Jahre später, mit bedeutender Vermehrung des biographischen Stoffes und des literarischen Nachlasses, Jakob Bächtold in seiner Ausgabe Manuels (erschienen 1878) nach, auf welcher auch die schöne Darstellung in seiner »Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz« (1892) beruht, und seither hat sich dem so vielseitig tätigen Künstler, Dichter, Staats- und Volksmann eine entsprechend vielseitige Tätigkeit von Historikern, von Kunst-, Sprach- und Literaturkundigen zugewandt. Über den Maler und Zeichner Manuel haben ausführlicher zuerst in Bächtolds Ausgabe Salomon Vögelin, dann – teilweise in besonderen Schriften und Bilderwerken – Georg Trächsel, Berthold Haendcke, Paul Ganz, Josef Zemp, Lucie Stumm, Eduard von Rodt, Konrad Escher Förderndes gearbeitet, seinen Totentanz insbesondere (nach der alten Kopie Albr. Kauws) J. R. Wyß und A. Flury im Bilde wiedergegeben, einzelne seiner Dichtungen und deren Sprache X Adolf Kaiser und Samuel Singer ersprießliche Untersuchungen angestellt, zu seiner politischen Tatigkeit Emanul Lüthi und Adolf Fluri Beiträge geliefert. Einzelne Abschnitte seines Lebens im Zusammenhang mit der Zeitgeschichte – den Mailänder Feldzügen von 1516 und 1522, der Reformation von Basel und von Solothurn, seiner Vogtschaft in Erlach – sind durch den Schreibenden, ferner durch Wilhelm Vischer d. Ä. (nach Briefabschriften Moritz v. Stürlers), Rudolf Steck, Wolfgang Fr. v. Mülinen, Heinrich Türler, Adolf Wustmann und andere – zum Teil mit Veröffentlichung von Briefen seiner Hand – ins Licht gestellt worden. Einzelne Stücke wurden vielfach in Sammlungen abgedruckt: bei Goedeke und Tittmann (»Totenfresser« von letzterem), bei Kürschner u. a. Für die literarische und reformationsgeschichtliche Seite des Gegenstandes, insbesondere für die ältern Dichtungen Manuels, ist aber seit fünfundzwanzig Jahren die Auffindung der einzigen alten, wenn auch vielfach lückenhaften Handschrift jener frühesten Dichtungen in der Hamburger Stadtbibliothek durch Fritz Burg (veröffentlicht 1897 im Berner Taschenbuch) wichtig geworden. Dieser Fund hat uns ein verlorengeglaubtes Gedicht Manuels wiedergebracht und zu vielfachen Berichtigungen in bezug auf die Echtheit mancher Stellen dieser Werke und auf den Wortlaut ihres Textes Anlaß gegeben. Durch Adolf Fluri ist ferner (ebenfalls im Berner Taschenbuch, 1901) erwiesen worden, daß die satirischen Verse, die einst auf Manuels Totentanzbildern stunden und unter anderm auch Mönchtum und Geistlichkeit treffen, das späte Machwerk eines Schulmeisters sind und daß Manuel zu seinen Angriffen gegen die alte Kirche erst nach und nach durch die Zeitereignisse und durch den Vorgang der kirchlichen Reformatoren gedrängt worden ist. Volksmäßige Darstellungen seines Lebens und Wirkens, XI auf Grund der früheren Arbeiten besonders von bernischen Pfarrern (Schädelin, A. v. Greyerz, Ochsenbein, Schaffroth u. a.) verfaßt, gingen daneben noch vielfach her.

Durch den Fund Burgs kam sodann der Schreibende zu einer spätern Ansetzung des hier mitgeteilten Spiels »Die Totenfresser« (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache XXIX, 1903) und gelangte ferner zu den ersten zunächst mehr nur papstfeindlichen als eigentlich reformatorischen Anfängen von Manuels Kampf gegen die alte Kirche, wie er ihn hier bei Burg in seiner ersten erhaltenen Dichtung, dem »Traum« von 1522, führt (Besprechung im Sonntagsblatt des »Bund« 1893). Auf grund dieser neu gewonnenen Erkenntnisse über die Frühzeit des Dichters Manuel veröffentlichte ebenderselbe sodannMit Beihilfe seines seither verstorbenen Freundes Karl Frey. in Gustav Grunaus »Blättern für bernische Geschichte, Kunst und Altertumskunde« 1916 und 1917 teilweise, und auf das Reformationsgedenkjahr 1917 unter dem Titel »Ein Rufer im Streit« vollständig in Neudeutsch, Niklaus Manuels erste reformatorische Dichtungen: die Satire»Ein Traum« und die beiden Spiele »Die Totenfresser« und »Von Papsts und Christi Gegensatz«, letzteres – ein Bauern-Zwiegespräch – übertragen in gegenwärtiges Berndeutsch, das der Sprache der Reformationszeit immer noch viel näher steht als das heutige Hochdeutsch. In der Sprache Manuels jenes, in berndeutscher Umformung dieses, wurden diese zwei frühesten dramatischen Spiele des Berner Malerdichters am 29. und 30. Juni 1918 unter Führung der Mitglieder des Deutschen Seminars der Berner Hochschule im dortigen Stadttheater nach vier Jahrhunderten zum erstenmal wieder auf die Bühne gebracht. Weder die Bearbeitung noch die Aufführung wurden damals, während des letzten Kriegsjahres, auswärts beachtet; nur von seiten einer beschränkten Ortspresse eines Nachbarkantons, die auch in unserer Zeit der »Umwertung aller Werte« die XII von rückständigen Glaubensgegensätzen unbeeinflußte Würdigung einer wertvollen geschichtlichen Persönlichkeit nicht verstehen kann, erhub sich nachträglich einiger Widerspruch. Wir ergreifen gerade deswegen gern die Gelegenheit, zunächst das erste Spiel unseres Landsmanns in der neugewonnenen, erst jetzt eigentlich lesbaren ursprünglichen Form den germanistischen Fachgenossen und den Freunden der ältern deutschen Literatur und Sprachgeschichte vorzulegen. Die Germanisten insbesondere mögen in dieser ersten bereinigten Ausgabe der ältesten und echtesten Überlieferung des frühesten der Manuelschen Fastnachtsspiele, worin die große Lücke aus den bisher allein bekannten gedruckten Quellen ergänzt ist, den Vorläufer sehen einer wissenschaftlich-kritischen Neuausgabe der echten Dichtungen Niklaus Manuels, wozu nach den neuerlichen Entdeckungen und Forschungen, besonders seit der Veröffentlichung der von Grüneisen und Bächtold noch nicht genannten einzigen alten Handschrift, ein dringendes Bedürfnis besteht, wenn Manuel künftig in seiner wahren Gestalt und gereinigt von fremden Zutaten seinem Land und der deutschen Literatur angehören soll. Im Anschluß daran wird eine ausführliche Lebensbeschreibung auf Grund der seitherigen Forschungen die Arbeiten Grüneisens und Bächtolds ergänzen und berichtigen, eine Anzahl beigegebener Bilder den Künstler Manuel dem Betrachter und Leser vorführen.Hier nur einiges auch für den Leser der »Totenfresser« Wissenswerte. Niklaus Manuel ist nach herkömmlicher Überlieferung i. J. 1484 (in Wirklichkeit vielleicht einige Jahre später) zu Bern geboren und nach sichern Angaben am 28. April 1530 ebenda gestorben. Er war der Sohn des Tuchhändlers und Stadtläufers Emanuel (Manuel) Alamand, genannt Apotheker, und seiner Gattin Margareta Fricker, ein naher Verwandter des Hans Alamand, Apothekers an der Kreuzgasse, dessen Vater Jakob Alamand der Walch (der »Welche« oder »Churwelche«?), ebenfalls Apotheker, aus romanischen Landen (Chieri bei Turin, oder Chur?) über Genf nach Bern gekommen war; aus Genf lassen auch die fabelhaften Stammbäume der Familie den Vorfahr Niklaus Manuels nach Bern gelangen. Dieser selbst führte nochg bei seiner Verheiratung 1509 den Namen Niklaus Allaman, vermutlich weil irgendwo in welschen Landen die vorübergehend in Genf niedergelassenen »Walchen«, seine Vorfahren und Verwandten, als »Deutsche« mochten bezeichnet worden sein; er selbst nannte sich in seinem Künstlermonogramm (NMD) den »Deutschen« (»Dütsch«), im übrigen seit seinen Mannesjahren ausschließlich nach dem Vornamen seines Vaters »Niklaus Manuel«.

Der junge Mann ward Maler und erlernte auch, wahrscheinlich in Basel, die Glasmalerei. Den Höhepunkt seiner künstlerischen Tätigkeit bezeichnet die nur mehr als Kopie vorhandene Bilderreihe des Totentanzes in Bern. In Basel bewundert man mit Recht sein Schreib- oder Vorlagebüchlein: feine Zeichnungen mit Silberstift auf Elfenbeinplättchen ausgeführt. Der erhaltene Nachlaß des Künstlers Manuel an Gemälden und Handzeichnungen liegt hauptsächlich in den Museen von Basel und von Bern. Hier in der Heimatstadt ist die dekorative Bemalung des Chorgewölbes der Leutkirche (des Münsters) – nicht aber die Wölbung selbst, wie man früher glaubte – sein Werk; an der Erstellung der Chorgestühle daselbst hat er mindestens als Berater teilgenommen.

Zum Dichter haben ihn vermutlich erst die politischen und kirchlichen Ereignisse seit den ersten Zwanzigerjahren des 16. Jahrhunderts gemacht; zur staatsmännischen Tätigkeit hat ihn für seine zwei letzten Lebensjahre der reformatirische Umschwung von 1528 berufen.

Hier haben wir es von nun an nur mehr mit dem Dichter, besonders mit dem der »Totenfresser« von 1523, zu tun.

XIII


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