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Sechzehntes Kapitel.
Alles in allem

Der Garten vereinsamte oft. Die wenig zahlreichen Gäste des Hauses schienen sich am Strande zu erlustigen oder in der Stadt ihrem Vergnügen nachzugehen. Was sie wirklich taten, behielt jeder für sich. Vielleicht dasselbe Schiff begehren wie wir. Oder ganz heimlich einen Platz im Flugzeug den anderen wegschnappen. Zuletzt blieb immer nur der griechische Dampfer.

Als wir ihn wirklich bekamen, offenbarte sich erst das Glück, das wir gehabt hatten: von seiner Nation fuhr nur noch dieser, und der seefahrenden Nationen wurden immer weniger. Während unserer Reise, der vorletzten der Nea Hellas, verlor auch ihr Land die Freiheit.

Wir warten. Das Schiff wird kommen, es säumt nur einige Wochen – vielleicht eine gütig bewilligte Frist, da es ebensowohl untergehen kann wie andere, bisher neutrale Schiffe. Wieder mischt das Glück sich ein. Dieser hohe Faschist aus Italien, den wir täglich essen sehen, erwartet gleich uns den Griechen: der Grieche hat um des Faschisten willen gute Aussicht, nicht torpediert zu werden. Indessen sind dies nicht die Sorgen eines X, auf seinem äußersten Strohhalm europäischen Bodens.

Er empfindet vielmehr die Vereinsamung, der leere Garten gibt ihr Gleichnis, gewissermaßen tut es wohl. Wer abreist und nichts zurückläßt als nur Unheil, unabsehbar, die ganze Wahrheit nie zu erraten – sucht einige Tröstung, Rechtfertigung sogar, bei einer Anonymität. Sie ist ihm beglaubigt durch ein Papier, das auf X nicht zutrifft. Obwohl, was träfe auf X nicht zu? Die Papiere der Zurückgewiesenen oder des hohen Faschisten: die einen sind nur früher zusammengebrochen als die anderen. Wird jedes einmal ungültig, sein Inhaber namenlos.

Drüben, wie man es nennt, als gäbe es noch ein Diesseits, wird darum gekämpft werden, zu bleiben, der man war. Es möglichst lange zu bleiben, trotz einer Welt im Umsturz, und der Neubau, auf wann? Ungültig erklären, ist vorerst ihr Hauptgeschäft: durchstreichen was wir geworden und gewesen. Die Welt weiß es selbst noch nicht, besonders die »neue«, drüben. Die Neuigkeit gelangt dorthin später. Halte dich, X! Versuch es! Glück auf! Aber es ist kein Unglück, vergänglich zu sein.

Ein X im letzten Gärtchen gedenkt der Vergänglichkeit. Der Unrechte, sich von ihr ängstigen zu lassen, war der Christ Pascal, er fühlte es selbst. »Grauenvoll, daß alles, was man besitzt, fortwährend dahinfließt, und daß man sich anklammert und gar nicht suchen möchte, ob es nichts gibt, was dauert.« – »Darum: sed levius fit patientia. Quidquid corrigere est nefas«, antwortet ihm Voltaire mit Horaz. »Du trägst es leichter in Geduld. Es ändern wollen, wäre – Schuld« – da vom Unheil, das niemand abwendet, die Schuld zu subtrahieren ist.

Die Vergänglichkeit, wie hier klar wird, darf ein X in nichts bedauern. Sein eigenes Leben, wäre es nicht vergänglich, wo sollte es wohl stehen bleiben? Hier im letzten Garten? Das fehlte noch. Oder fände er es wünschenswert, einige schon alte Jahre, vielleicht seine besten, endlos zu repetieren? Unsinn, beste hat es nie gegeben: jedes, fast jedes, hatte Punkte eines erhöhten Lebensgefühls. Die eigene Fähigkeit, sehr glücklich, sehr unglücklich zu sein, entscheidet. Alles andere, das Lebensalter, das er gerade durchmacht, das Zeitalter, in das er verwickelt ist, interpretiert ihn nur. Die Idee seiner selbst ist von ihm.

Deshalb war es bei wechselnden Umständen doch immer dasselbe mit ihm. Ein Jahr, das zu den glücklichsten zählt, entblößte unversehens die größte Katastrophe, die nie mehr gutzumachende: sie wurde aber ertragen. Selbstanklagen haben ihn nicht umgebracht, obwohl die alte fassungslose Verzweiflung bei dem Gedanken an eine Tote noch heute in seiner Brust pocht. Ihr Sarg mit ihrem Namen darauf, war von seiner, seiner Verantwortung schwer, und endgültig wurde sie in das Grab gesenkt. So unwiederbringlich ist nichts, was seither untergeht.

Einen anderen Augenblick aber desselben Jahres, wohlverstanden nach der Katastrophe, nachher, sieht der commemorative X sich auf dem eingesessenen Polster eines offenen Gartencafés, wie ihm der Schluß einer lustigen Affäre einfällt. Es war dasselbe, durchaus alberne Abenteuer, um dessentwillen er die Sterbende, wenn nicht ihre Rettung, versäumt hatte. Gerade diese Albernheit hat er soeben glücklich zu Ende erfunden, demnächst wird sie mit Glück über die Bühnen gehen. Die andere, ernste Sache auch. Sie hat ihn vernichtet und bereichert ihn. Daran ist nichts zu ändern. I profondi amori fanno le profonde miserie, aber das tiefe Elend macht um so bereitwilliger zu lieben.

Das Beste war, immer bewundern, das heißt lieben zu können. Ein inspirierter Augenblick, Scuola San Rocco, die Kreuzigung des Tintoretto. Es ist nicht die Frage, ob es das außerordentliche Bild war: ein Augenblick des Glückes war es jedenfalls, und beglänzt ganze Jahre des Lebens. Erinnere dich, X, deiner unversieglichen Produktivität in den Theatern Alfieri, Lirico, della Pergola. Ein Opernabend diktierte dir fertige Romanszenen. Begabt müssen diese Bühnen gewesen sein!

Das venezianische Gebirge war genial, zumindest einen Tag lang, als für cinque lire das unbeschwerte Wägelchen dahinfuhr mit dem glücklichen X, glücklich von früh bis in die Nacht. Ein hervorragender Tag, vieles trifft zusammen, damit er schön ist. X hat gestern etwas Richtiges beendet. Der Kutscher ist bei Laune, trinkt und ißt, was er bezahlt bekommt, redet erfreulich. Eine gestreckte weiße Villa, alle Fenster heiter geöffnet, schöpft Gartenluft. Oh! suggestiver leerer Rasen. Die Minute vorher muß eine Gesellschaft, die für ihn gedacht war, aufgestanden sein aus den nachlässig verstreuten Sesseln. Wird dann doch zurückgekehrt sein? Die Dekoration steht, im Gedächtnis eines X, nach siebenunddreißig Jahren.

Wieviel Lebensgefühl sprüht ihm entgegen, und vormals waren es Momente des seinen! Die Geburt seines Kindes – er war fortgeschickt worden, erwartete die Entscheidung in einem Theater, das ihn sonst schon feucht und verstört gesehen hatte: diesmal sollten Erfolg oder Mißerfolg gemacht sein aus seinem Fleisch und Blut. Da man ihn grüßte und durchließ, stand er seitlich neben der Bühne, hinzusitzen wagte er nicht. Eine eingebildete Hand konnte immer nach seiner Schulter greifen. Beständig von dem Schauspiel abgelenkt, fand er es an Eindringlichkeit und Kraft weit unter seiner gespannten Erwartung – einer Geburt.

Das sind nunmehr Augen eines schon zurückgetretenen Daseins, diesen X blicken sie an, als wäre er es gar nicht. In den Schatten entlassen zu seinen ältesten Dingen sind auf einmal die kürzlich abgeschlossenen: sogar sein französisches Königsbuch. Er schrieb es in Frankreich alle die langen Jahre. Um seines Henri Quatre willen hatte auch er an dem Lande, das kein Exil war, seinen Anteil und sein Recht. Nicht viele mitlebende Franzosen haben für Frankreich mehr getan als er mit seinem Roman. Von Frankreich empfangen haben in aller Welt wohl mehrere: bliebe zu wissen, was. Es will gestaltet sein.

Henri Quatre, oder die Macht der Güte. Die Mächte der Bosheit, der Dummheit und der leeren Herzen hatten X viel früher bewogen, sie darzustellen. Die Kenntnis der Dritten Republik machte ihn empfänglich für ihre Herkunft: der einzige König meldete sich an.

Es war im Schloß von Pau, am Fuß derselben Pyrenäen, die X dereinst ersteigen wird, um sich zu retten. (Heute, 1944, bemächtigen Partisanen sich der Bergstädte und halten sie gegen den Sieger, der nie einer war.) 1925 war nur der eine Fremde einbegriffen in einen Schub französischer Touristen. Sie besichtigten das Schloß des guten Königs Henri. Alle kannten ihn, und nur ihn. »Der einzige König lebt bis heute bei – den Armen«, sagt ein Vers des achtzehnten Jahrhunderts sogar. X war sehr unruhig, blieb in den verlassenen Zimmern allein zurück, besann sich auf alte Antriebe, endlich fühlten sie ihre Befriedigung kommen. Was war es doch? Er wußte nicht, während es ihn verlangte.

Sieben Jahre denkt man an den großen Plan, der wartet. Er kann es, X hat Zeit. Das Buch zu schreiben nimmt er sich noch einmal sechs. Das ist nun ein Aufenthalt, ironisch Exil benannt, in dem Königreich seines Henri. Auf seiner Spur lernt X es von Grund auf verstehen. Legt sich täglich nieder und steht wieder auf im Dienst derselben Gestalt, – die ihm jung bleibt, auch er selbst altert um ihrer willen noch nicht.

Wunderbare Ermutigung, leibhaftig zu sehen: der menschliche Reichtum – nicht die gewohnte verkümmerte Natur ohne Wissen – kann machtvoll sein. Ein Mächtiger kann auch lieben, wie dieser König seine Menschen: trotz ihnen und in voller Kenntnis ihrer Gebrechlichkeit, nur um seine weiß er ebenso gut. Kann über jede Frist, über seine Jahre und ihren Tod, Gabrielle lieben. X beendet diese Geschichte einer beständigen Leidenschaft, woraus Größe wird, woraus Schuld wird, denn Henri ließ sie sterben, – und auch der Roman ist aus. Da war es spät geworden, 1938. Er hat bald achtundsechzig Jahre bestanden, diese letzte Liebesgeschichte überschritt die Altersgrenze, für Henri und für ihn.

Die Betrachtungen eines letzten Gartens gelangen notwendig dahin, daß alles richtig war und sich richtig entscheidet. Sonst wäre X am Wesen der Dinge vorbeigegangen, immer falsch aufgebrochen und angekommen, wo er es sich nicht versah. Wer will das. Mit seinem Zeitalter gelebt haben, möchte jeder. Bleibt nur, das abgelaufene zu besichtigen. Vorerst, in seinem Hotelgarten entsinnt er sich: für ihn kam endlich ein Buch der siegreichen und ermordeten Güte.

Das Wort

Sowjetberichte, von der Botschaft auf englisch mitgeteilt, zeigen einen sehr jungen deutschen Soldaten: pfeifend schlendert er durch ein Dorf, wo sie diesen Augenblick die Sieger sind. Der Junge pfeift, er denkt an irgend etwas, nicht gerade an das kleine Kind, das auf seinem Bajonette steckt und noch wimmert. Unachtsam, aber fröhlich, wie man sieht, hat er das letzte der heute aufgespießten Kinder mit auf den Marsch genommen.

Der Soldat war selbst einmal klein und unschuldsvoll. Noch nicht geboren war er, als sein Vater im Jahr 1914 gegen Rußland aufbrach und vom Kinderspießen nichts ahnte. So sind die gutartigen Menschen von einst geworden – in ihren Söhnen. Sie selbst müssen ebenso gut – wie bösartig gewesen sein. Ein Krieg, der Generationen überdauert, hat diesen pfeifenden Mörder als letztes Produkt.

Zuweilen wird er gefangen, oder andere Exemplare seinesgleichen, durchaus wie er, fallen einem Feind in die Hände. Italien ist dafür geschaffen, daß eine kanadische Armee dort deutsche Halbwüchsige fängt – sie beileibe nicht aufspießt, aber photographiert. Da hat man die Bescherung.

Man erblickt drei hellblonde Knaben, drei gesenkte Leidensgesichter, das jüngste, weichste könnte einer verführten Jungfrau gehören. »Was hat man dir, du armes Kind, getan?« – »Oh! Nichts. In Rußland lehrte man mich die noch jüngeren Kinder aufzuspießen.« Das sagen sie nicht. Sie hätten es schon vergessen, wären sie sogar dasselbe Exemplar, das pfiff und droben am Bajonette weinte das Kind.

Sie einfach hassen, hieße sich von der Menschheit trennen: sie hat Dulder und Henker, verbunden durch Personalunion. Ein Zeitalter, das nicht vollenden durfte, enthebt zuletzt der Unterscheidungen. Die Atmosphäre des Zeitalters ist unverkennbar dieselbe wo immer. Kinder am Spieß kennzeichnen nicht überall den Anfang junger Lebensläufe: jedem das Seine.

Die Anweisungen eines Infanterie-Offiziers, keines deutschen, über den wohlverstandenen Gebrauch des Messers, tragen dennoch die Marke desselben Lebensgefühls. Das Land, dessen Presse anstandslos verbreitet, was die Praxis des Nahkampfes dem denkenden Fachmann eingibt, dieses Land war nicht, wie Deutschland, im Grunde von je der Unterlegene. Es darf frei sein und bleiben, solange es stark ist. Hochhalten kann es seine Moral.

»Nimm das Messer in die rechte Hand und eine Handvoll Schmutz in die Linke«, erklärt der Lehrer. »Wirf den Schmutz dem Gegner in die Augen und stich ihn in den Magen.« Er gibt zu, das Verfahren sei nicht »strenggläubig«, sei »unorthodox«; aber es bringe die besten Resultate. Das Messer in der Hand eines Feindes verursache Panik, um so mehr bei Verwendung einer breiten, blitzenden Klinge anstatt der blauen Stahlklinge des Bajonetts.

Alles will gelernt sein, auch die verwundbarsten Stellen des Zieles, das ein Menschenleib ist. Anfängern muß gesagt werden, daß es die Kehle, das Herz und der Unterleib sind. Und wo sitzt das Beefsteak? Der Meister weicht aus. »Alle anderen Messerstreiche und -stiche sollten nur die Vorübung sein für den vitalen Todesstoß in diese Gegenden.«

Vital – ist der Tod: so viel wissen diese Geschlechter; überall lernen es Fachmänner und Laien. Die maßlose Vitalität des Todes läßt keine Abstinenten zu. Eine medizinische Wochenschrift – diesmal nicht die deutsche – hat ohne Widerspruch empfohlen, minderwertige Säuglinge zu töten. Ein schöner Mut ist nötig, diesen Geschlechtern zu vertrauen, daß sie dereinst nicht mehr das Sterben, sondern das Leben für vital erachten mögen. Recht behalten, ich weiß es, wird dennoch Präsident Roosevelt, der sprechen kann wie hier:

»Die Vereinigten Staaten sind im Kampf für eine Welt, in der weder Tyrannei noch Überfall vorkommen; eine Welt gegründet auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit; eine Welt, darin alle Menschen, gleichviel welcher Rasse, Farbe oder welches Bekenntnisses leben können in Frieden, Ehre und Würde.«

Man unterdrückt ein Schluchzen. Ehre eines Kinderspießers. Würde eines Menschenmetzgers. Ihr gemeinsamer Friede – den sie so sicher haben werden nachher, oder zwischendurch, wie seit dreißig Jahren den Krieg. Navigare necesse est, vivere non necesse. Vorerst sterbt, die Welt der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit wird euer Lohn sein.

Wer über Menschen Macht haben wollte, hat billig damit gerechnet, daß es veränderliche Menschen waren – ebensowohl in Richtung der Güte zu verändern, falls einer sich die Mühe gäbe. Es kostet auch nur die Anstrengung wie sonst, um sie bösartiger zu machen.

Wir lauschen Klängen, die weither kommen. Die Worte Roosevelts befremden unsere wirkliche Erfahrung; sie rühren wie eine zu edle Fabel und tun weh. Aber worüber wundere ich mich. Ich habe, genau zwölf Monate vor diesem Krieg, ein Dokument abgeschlossen, Henri Quatre – die Macht der Güte. Es ist weder verklärte Historie noch freundliche Fabel: nur ein wahres Gleichnis. Ich gab es mir für die Zeit der Schrecken mit. Sind sie überstanden, soll es sich wahr und wirklich erweisen.

Siehe! Noch tappen wir alle durch unentschiedene Ereignisse; aber einer der großen Intellektuellen, die jetzt, nach streng logischen Zusammenhängen gerade jetzt, an der Spitze der Öffentlichkeit stehen, bekennt: eine Welt, gegründet auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. (Statt der »Brüderlichkeit«, die für Feiertage bestimmt und fakultativ war, die gerechte Verteilung der Existenzmittel). Wollte ich mehr? Ahnte ich weiter?

Der Präsident weiß, erfahrener als ich, daß mit keiner menschlichen Geistesart, wäre sie verderblich oder heilsam, auf lange Sicht zu rechnen ist. Grund genug zu handeln, weil noch der Sinn der Lebenden vom Schrecken bestürzt, von Spannung erregt und etwas mit ihnen zu machen ist! Die erweiterte Gleichberechtigung, jetzt! Die soziale Befreiung angebahnt, in einem hin mit der Befreiung vom Feind! Jetzt oder niemals geht es! Friede und Ehre und Würde für Menschenbesitz erklären, so furchtbar der heute erbrachte Beweis, daß sie vorläufig abhanden kommen, um nochmals vorläufig erworben zu werden!

Unschuldiger wurden die Worte des Präsidenten, dieselben Worte vernommen, als vormals die ersten, die beispielhaften Menschenfreunde anderer Zeiten uns so viel versprachen. Das waren Staatengründer und Philosophen diesseits und jenseits des Meeres. Wir, die wir in braunen Röcken, Kniehosen und Haarbeutel zuhörten, machten unser Herz weit. Gern täten wir es anders gekleidet wieder.

Leider wissen wir – aber es ist gut zu wissen und nie zu vergessen –, daß der moralische Besitz zerrinnt, sobald seiner nicht geachtet wird. Ohne eine fortgesetzte Spannung des Willens und Gewissens hat nichts Bestand, nicht einmal die verbrieften Konventionen des internationalen Rechtes: wir sehen alle gebrochen. Es ging – infolge vorher eingetretener sittlicher Erschlaffung.

Unsere kurzen Tage haben genügt, wie denn, ein Tag war genug, um die Folter wieder einzuführen – ohne Widerstand Deutschlands, denn es geschah ohne viel Aufsehen der Welt, der es auch geschah: sie sollte es noch bemerken. Eine demokratische Republik, die deutsche, hat das Geschworenengericht dahingegeben. Der Minister, der seine Aufhebung verfügte, fragte weder Volk noch Parlament. Keine entschlossene Empörung, nicht einmal das schwächste Erschrecken verriet, daß man begriff. Rechtsgarantien verschwinden nicht ohne Folgen, so wenig ohne Grund um sie gekämpft worden war von Generationen.

Aus den abhängigen Berufsrichtern über Leben und Tod sind, als es der Auftrag war, Hitlersche Henker geworden. Dasselbe wurden Ärzte, die Erhalter des Lebens; aber sie hatten zugegeben, daß nicht jedes Leben die Erhaltung wert ist. Was dem Menschenleib nunmehr an Greueln widerfährt in aller Welt, hat von praktischen Vorbedingungen wenige gemeine Handgriffe. Der geistigen Ursachen sind mehr.

Praktisch ist das meiste geschehen, wenn wieder gefoltert wird. Dann Geiseln, Ermordete im Massengrab, dann eine heimatlos dahinfliehende Menschheit: hinter ihr brennt die Stadt, wer nicht entkam, verkohlt in der Kirche. Woran noch denkt man, wenn man »heute« denkt? Unsere Bilder alle sind von derselben Hand.

Das Zeitalter in seinen Anfängen erscheint dem Zurückgewendeten, als wäre es ohne Geste gewesen: so furchtbar ausgelassen benimmt es sich zum Schluß. Es war gemessen und ist unbeherrscht. War taktvoll, ist unflätig. Einst mochte es nicht sterben sehen. Jetzt verachtet es das Leben – das in der Tat schlecht angewendet worden sein muß, sonst gäbe man es weniger billig. Bereut wird nichts, man ist unwissend, ist nirgends so unwissend wie in den moralischen Dingen.

Aber gerade darum das Wort: das Wort eines großen Intellektuellen an der Spitze der Öffentlichkeit. Die Zeit ist dafür erfüllt, das Zeitalter bis hierher vollendet. Die Lebensfeindschaft hat sich abgenutzt bis auf die Blöße, die sittliche Gleichgültigkeit schlottert zerlumpt an den verarmten Geschlechtern.

Könnten sie sich fragen, nur die Muße fehlt ihnen bis jetzt, sie wüßten, was sie wollen: sich verwandeln. Sie wüßten, was sie müssen; die menschliche Lage verbessern. Es war sonst eine ungefähre Pflicht, mit der man es nirgends, außer in der Sowjetunion, genau nahm. Es wäre jetzt – Doktrin beiseite, persönliche Vor- und Nachteile ungerechnet – die einzige Lust des Lebens.

Männer aus den Weltreichen befreien nunmehr die Territorien des europäischen Kontinentes. Menschen befreien, sie unabhängig und wissend machen, folgt alsbald, und zeichnet sich schon ab. Die ersten, die frei im Sinne des Präsidenten werden sollen, sind die Befreier selbst. Das ist vollkommen möglich. Großartige Zeugnisse treten auf, damit ich sehen soll: die Menschen verwandeln sich. Das Zeitalter, bevor es abtritt, rettet seine Ehre.


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