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Achtes Kapitel.
Die Gefährten

Die äußeren Schicksale, die vielleicht den Bericht verdienen, sind die Folgen der inneren. Die Freunde, die man hat, kennzeichnen uns. Wie mein Bruder, wir waren beide jung, im gelegentlichen Überdruß sagte: »Unsere Freunde sind nicht unsere beste Seite.« Mehrere waren aber unsere allerbeste, oder verpflichteten uns gerade zu ihr.

Zufälle, die es gewiß nur scheinbar waren, verbanden mich mit wenigstens zwei ganz ungewöhnlichen Geschäftsleuten. Der Kunsthändler Paul Cassirer war mir gegenüber ein Kenner mehr als ein Kaufmann. Buchverleger wurde er erst an mir – wäre es auch an Frank Wedekind geworden, aber der Dramatiker erwiderte ihm: »Herr Cassirer, mit einem einzigen Bild verdienen Sie mehr, als meine sämtlichen Werke Ihnen jemals einbringen können. Sie werden die Lust verlieren.«

In Wirklichkeit behielt er bis zum Kriege das Vergnügen an den auffallenden Werken des Friedens. Seine eigennützige Absicht war allein der Ruhm, an ihnen teilzuhaben. Fünf Jahre, von 1910 bis 1914, bezahlte er meine längst vorliegenden Leistungen reichlich, ohne auf Gewinn oder nur Ersatz zu achten. Seine Sicherheit war »Der Untertan«; indessen konnte der fertige Roman aus Gründen des öffentlichen Geschehens noch lange nicht erscheinen.

Als seine Zeit kam, hatte ein ebenso ungewöhnlicher Buchhändler, mit Namen Georg Heinrich Meyer, plötzlich alles bekanntgemacht, was ich seit 1900, fünfzehn Jahre lang, geschrieben hatte. Die bisherigen Erfolge bei Eingeweihten verwandelten sich unversehens in Publikums-Schlager – was nicht lange vorhält und an einer Bestimmung nichts ändert. Einige Autoren bleiben, mit siebzig Jahren wie mit dreißig, wesentlich auf junges Volk angewiesen, eine bewegliche Auslese Junger und Nichtgealterter. Nur muß die gewalttätige Zeitgeschichte einen Teil der Generationen am Leben, sogar geistig am Leben gelassen haben. Dann dauert günstigenfalls auch der Autor.

Vorkriegsphänomene, sie gehören einem seither verlassenen Zustand: der bürgerliche Mäzen für hochgesittete Luxusexistenzen. Er übervorteilte den einen oder den anderen Maler – nach der Ansicht der Maler, die aber ihre ungewöhnlichen Preise nicht ohne ihn erzielten. Dafür saß auf einmal in seinem Wohnzimmer ein bärtiger Mann mit rauher Joppe und Wasserstiefeln, für die auch Grund war. Er war aus seinem märkischen Dorf über Weg und Steg gewandert, bis an die Kleinbahn nach Berlin. Er hieß Ernst Barlach.

Er schrieb, ländlich wie er anzusehen war, die seltsamsten aller Theaterstücke, etwas zu großstädtisch, hätte man sagen können, für die Avantgarde der Theaterstadt. Er wurde wenig gespielt, auf einen Platz für sich allein verwiesen, und hatte zu leben, weil Paul Cassirer, ein gewitzter Mann wie andere, dennoch auf seine Art unschuldig trotz einem Barlach war. Er konnte lieben. Er liebte über sich hinaus. Viele hassen, was sie übertrifft. Darum mußte, als Hitler kam, Ernst Barlach Hungers sterben. Bäcker und Krämer in seinem Dorf verkauften ihm kein Stück Nahrung mehr.

Vorher hatten sie ihn halbwegs geachtet, da sie hörten, daß die Juden von Berlin ihm seinen erdichteten Unsinn abnahmen. Die Zeit der Juden war nunmehr zu Ende. Wer, ungeachtet seiner Wasserstiefel, von so fremder Art war, daß nur jüdische Liebhabereien ihn durchhielten, wurde alsbald verleugnet und auf den Friedhof geschickt. Diese Primitiven erwarben das Verdienst klarzulegen, wer mit Hitler wirklich zur Herrschaft kam – mit Weltanschauung, Rasse, revolutionärem Gefasel und bluttriefender Dummheit. Die ganze Macht den Banausen!

Frank Wedekind

Die andere Vorkriegserscheinung ist das Warten. Wir mußten es. Wir konnten es. Frank Wedekind sagte mir, daß er auf den großen Erfolg seiner Stücke fünfzehn Jahre gewartet habe. Genau die Zeit war auch mir verordnet. Wedekind, um sieben Jahre älter als ich, hat die erste Generation seiner Leser schlechthin berauscht. Er erzeugte, in einem hin, Grausen und Gelächter. Ich weiß deutlich, wie ich im Münchner Hofgarten seine »Büchse der Pandora« las, den Abtanz und gräßlichen Tod seiner Lulu.

In dieser ersten Fassung des Stückes, um 1902, war ein Akt deutsch, einer französisch; im dritten, mit Jack dem Aufschlitzer, sprach man englisch. Woraus sogleich zu sehen, daß vorläufig mit der Aufführung nicht gerechnet wurde. Der Wedekind, der noch nicht oft im Rampenlicht stand, war eine Legende, über keinen anderen derselben Epoche liefen so viele Anekdoten um, damals unverbürgt, jetzt vergessen.

Seine menschlichen Beziehungen galten für nicht geheuer; tiefste Ironie und eine äußerste Launenhaftigkeit, sollten sie gefährlich machen. Ich vermutete einen leidenden Menschen, die ganze Fröhlichkeit und Harmlosigkeit des Produktiven ging wohl in seine tägliche Szene ein. Er schrieb sie am Abend in dem lärmenden Lokal der »Torggelstube«. Nach getaner Arbeit nahm er in dem stilleren Nebenraum den Vorsitz seines Stammtisches ein.

Abseits der Tafel trank auch ich zuweilen den säuerlichen Tiroler Wein, eigentlich wohl als das Opfer für einen einzigen Gast. Plötzlich stand er vor mir und sprach, mir scheint, ohne Anwendung seines Bühnenorgans: »Wir sind doch nicht dazu da, immer umeinander herumzugehen.« Sogleich wechselte ich ein für alle Male an seinen Tisch hinüber, und wir waren Freunde, als hätten wir uns immer gekannt. Hieran zweifelten weder er noch ich, weshalb wir es nicht erwähnten.

Ich habe in meiner Erinnerung niemand, der sein öffentlich getragenes Wesen so sehr ablegte, um mir nahezukommen. Meiner Natur war es nicht gegeben, das äußere Verhalten zu ändern: Die Gefühle aber, die zugrunde lagen und ihm sicher waren, begriff sein gequälter Geist, der Ruh' und Sicherheit brauchen konnte. Ich habe ihn nie herausgefordert. Er hat nie versucht, mich zu demütigen. Diese spannenden Äußerungen der Freundschaft ließen wir, ohne besondere Verabredung unbenutzt.

Der Krieg kam, unsereiner entwöhnte sich der Öffentlichkeit, da trank er gern seinen Wein bei mir. In meinem Arbeitszimmer, das 1916 allein noch geheizt wurde, saß er am Ofen. Der Dramatiker sah Personen, nicht Gegenstände; nach einiger Zeit bemerkte er dennoch ein Bild, gleich neben seinem Platz. Es war ein alter Kupferstich, eine italienische Prinzessin des Cinquecento, die Haare aufgestellt über der Stirn, das Gesicht wurde dadurch besonders streng und rein. »Ist das nicht –?« fragte er. Ich antwortete: »Gewiß.« Denn es war seine Frau, die ganze Lust und alles Leid des Alternden.

Sterbend hat er sich auf seine Art von ihr verabschiedet. Das letzte Glas Champagner nahm er aus ihren Lippen. Sein Begräbnis zog ganze Volksmengen an, der unkundigste Münchener hatte wenigstens einmal auf der Galerie gesessen, wenn der Dichter sich selbst gab; oder auch das nicht, sondern sie drängten sich zu dem letzten Auftreten eines, der nicht stirbt.

Die literarische Unsterblichkeit war eine seither untergegangene Tatsache. Ich spreche vom Jahr 1918; den ersten seiner Kriege hatte das Jahrhundert bald hinter sich gebracht. Schon um dieselbe Zeit seufzte ahnungsvoll eine ländliche Wirtin, die mich gelesen hatte: »Ja, ein Schriftsteller, das war auch etwas.« Die Frau nahm vorweg, was wenig später der scheidende France zur Erinnerung sprach: Die Zeiten, die bald kommen, werden von uns nicht wissen, Abgründe tun sich auf, nichts führt die Nachfahren zu uns zurück.

Sehr möglich, daß nur eine Eklipse gemeint war. Nach Verfinsterungen des Gestirns wird es trostreicher leuchten. Für einen Geist wie Wedekind war es eine Vereinfachung seines Lebens, wenn es unmittelbar vor der großen Finsternis abbrach. Er hing mit Leidenschaft an der literarischen Unsterblichkeit – und an der anderen. Die geistigen Anstrengungen des Menschen empfand er lückenlos fortgesetzt: er selbst hatte dazu beigetragen, daß sie als Kette verlaufen. Er erneuerte den Ton von Balladen des großen Schiller. Der revolutionäre Dramatiker Georg Büchner wurde wiederentdeckt und fortgesetzt von Frank Wedekind. Die »Menschenwürde« tragisch zu behaupten, war einzig ihm gegeben.

Seine Haltung war vollendetes 19. Jahrhundert: der Glaube an die immer belohnte Arbeit, an den Aufstieg vermöge »Entwicklung«, durch redliche Ausdauer. Welch ein wahrhaft reiner Dankbrief an seine Mutter, daß sie ihm das Leben geschenkt, ihm mitgegeben habe, was er nunmehr sei! Je mehr moralischer Empörer, um so ehrfürchtiger vor jeder Tradition. Seine gewagten Probleme kleiden sich in überlieferte sprachliche Formen, die Indezenz sogar ist um Klassizität bemüht.

Nach außen – um Gottes willen kein Leugner und Entweiher, vielmehr fest an bestehendes Herkommen gebunden. Als er berühmt war, empfing ihn, mit anderen Schriftstellern, der König von Württemberg – unter vier deutschen Königen einer. Die anderen Schriftsteller behielten denn auch den Kopf oben. Wedekind verneigte sich bis zu seinen Knien hinab – ihm war es wohl dabei, dem König weniger. Kein Zweifel, daß Wedekind, der abgründige Mann, ihn herausgefordert, die Majestät herausgefordert hat: »Seien Sie, wie ich, in allem Ernst, was Sie vorstellen!«

Er ist tot. Ein absonderlicher Verehrer des Alten (der selbst etwas Neues macht), könnte sich auch schwer zurechtfinden in dem Deutschland, wo es Bomben regnet; um so schwerer, wenn er sagen hört, die Niederlegung der alten Städte sei eigentlich ein Glück. Die reihenweise verschwundenen Häuser – ungewiß, welche schon fehlen, ob das Dürerhaus, das Goethehaus, die um fünfhundert Jahre älteren Dome –, aber diese, mitsamt den Museen und ihren Andenken, mitsamt den Bischofs- und Fürstensitzen, die noch lebendig vom Gewesenen zeugten, alles sei leicht zu missen.

Vielmehr sei die Zerstörung erwünscht gewesen. Sie schaffe Raum für den Aufbau moderner Arbeits- und Wohnstätten der Massen, die Inhalt und Beruf der nationalsozialistischen Zukunft seien. Hier fällt erstens auf, daß der Nationalsozialismus sich eine Zukunft zutraut. Dann, daß er meint aufbauen zu können. Er war gekommen, niederzureißen. Auch die fremden Fliegerbomben sind von ihm herbeigerufen. (Wie habe ich gezittert, daß er sie auf Rom lenke! Wie zittere ich in diesem Augenblick, er möchte sie auf Paris lenken. Dies – und das übrige – liegt längst nicht mehr im Begriff eines Traditionalisten, wie der Empörer Frank Wedekind einer war.)

Noch merkwürdiger, wenn möglich, ist die nationalsozialistische Huldigung an die Massen seiner rechtlosen Zwangsarbeiter. Ihnen wird ohne Warnung eröffnet, daß der Kapitalismus nicht mehr existiere, daher mit Recht auch seine schönen Städte nicht mehr. Sie müßten in Wirklichkeit bemerkt haben, daß bei ihnen zulande der Kapitalismus auf seine gewagte Messerschneide gestellt worden war. Reich, nur der Führer mit seinen Leuten, ein Monsterkonzern, der unbegrenzte Grundbesitz. Übrigens Bettler, die arbeiten dürfen, bis sie krank sind, und einmal krank, naht die Vergasung.

Wer Menschen gar nicht anerkennt, nur Objekte des Mißbrauchs und der Vernichtung, wie sollten ihn die schönen, alten Städte rühren. Die Menschen, das Geschlecht und die Vernunft der Menschen bewegen ihn eher zu hassen als zu ehren: Wozu dann die alten Zeichen eines Könnens, das von je gemacht war aus Geist und Sexus. Fort mit den Denkmalen! Die Führer sind Banausen, die Angeführten sollen kaum noch lesen, gewiß nicht sehen lernen.

Die – radiographisch verbreitete – Genugtuung über die bevorstehende Verwandlung eines ehrwürdigen Landes in den nackten Kasernenhof zwischen Zement und Eisen würde dem deutschen Nachwuchs kein Unbehagen machen: er hat keine Erinnerungen, seine Welt beginnt bei Hitler. Indessen ist da der Hinblick auf das auch nicht gerade zurückgebliebene Sowjetvolk. Jedes Bild zeigt, welche Kulissen dort die arbeitenden Massen umgeben.

Die ausgeplünderten Bibliotheken werden alsbald neu aufgefüllt. Der uralte Kreml steht aufrecht, die zahllosen Kuppeln von Moskau prägen den wachen Sinn moderner Arbeiter: einstmals empfingen sie die scheue Liebe frommer Pilger. In dem ehemaligen Sankt Petersburg bevölkert eine gleichförmig mittlere Menge den Newa-Prospekt, der alles andere als bescheiden ist. Das Winterpalais, schwer und feierlich wie je, die Eremitage, deren mächtige Quadern behaupten: Auch wir! Auch wir sind Europa, einige der höchsten Kunstwerke unseres Erdteiles sind hinter diese Mauern gerettet. Sie sind nunmehr Volksbesitz.

Anzunehmen ist, daß diese Säle am Sonntag von ihren Besitzern übervoll sind. Sie waren einsam, als ich, mit dreizehn Jahren, hineingeführt wurde. Mehr als die Rembrandts interessierten mich damals der Schlitten Peters des Großen und der goldene, radschlagende Pfau, den Mentschikoff seiner Zarin gewidmet hat. Kommt eins nach dem anderen. Die kleinen Soldaten, die in Florenz die Bildergalerie des Palazzo Pitti besichtigten, verstanden so viel wie ich und wahrscheinlich mehr: aus ihrem Blut war dies geschöpft.

Leningrad, die erste Kapitale, die das junge Kind einer alten deutschen Kleinstadt voreinst besucht hat, bleibt ihm nach langen Zeiten die überlebensgroße Erinnerung. »Umarme die Säule!« sagte mein Onkel auf den Stufen der Isaakskirche. Als ich meine Arme an sie gelegt hatte, faßte ich von ihrem Umfang so gut wie nichts.

Dieses eigene »so gut wie nichts« war eigentlich immer mein inneres Verhältnis zu den überdimensionalen Schöpfungen. Ich empfand es, so oft ich hinkam, vor der Place de la Concorde, in dem Halbrund der Kolonnaden, die auf den Petersdom vorbereiten: er wäre ohne sie zu gewaltig. Mein Gefühl war das gleiche auf dem Parvis von Notre Dame, mit dem berittenen Charlemagne, wie angesichts der Santissima Annunziata in Florenz, die von zierlichen Maßen, dennoch an Vollendung ungeheuer ist. Auch unter den Linden.

Auch in Berlin die Straße Unter den Linden, vom Brandenburger Tor zum Friedrichsdenkmal, hat bis zuletzt meine Ehrfurcht erregt. Jahre kamen, da ich aus der Akademie der Künste hinuntersah: ich war deshalb nicht mehr geworden, die Avenue nicht weniger. Ob vor fünfzig Jahren oder nur seit fünf, gekommen war ich aus dem kleinen, alten Haus einer Stadt unfern der See. Seine Trümmer sind aus den Bombengruben kürzlich weggeräumt. Übrigens sah ich den Ort das letzte Mal mit zweiundzwanzig Jahren.

In mir übrig ist die Überlieferung allein, aber mein Lebensgefühl trägt ihre Spur. Offenbar wäre ich nicht der Mann gewesen, in Berlin die historischen Linden abzuhauen – nicht einmal technische Gründe haben es entschuldigt. Ein nach allen Richtungen offenes Land, das meine, hätte ich nicht gerade den Luftangriffen der ganzen Welt ausgesetzt, um nachher den Deutschen ihr Glück zu rühmen: Nichts mehr da, Heil!

Die Deutschen lassen es sich sagen, mit anderem der Art, obwohl sie bemerken müssen: hier ist eine Grenze erreicht. So viel und wenig wie die gefallenen Städte waren demnach ihren Herren die Millionen gefallener Menschen wert. Platz gemacht! Wer nicht mehr lebt, ist keine Gefahr für uns. Tote verlangen nicht, daß wir die menschliche Lage verbessern. Falls in Deutschland, trotz dem Verbot zu denken und aller irrationalen Erziehung entgegen, noch eine Idee aufkäme, sollte es diese sein: sehr eng verbunden ist die Erneuerung unseres Wohles mit der Achtung unserer Tradition.

Mein innerster Zusammenhang mit Frank Wedekind war, daß wir einiges Gewesene für unser Bestes hielten. Der Überlebende neigt sich vor ihm, ernst, wie er selbst vor dem König von Württemberg. Als ich aber in Amerika landete, rief auf der Treppe des Hafens eine Stimme mich an: seine Tochter Kadidja. Soviel Zuneigung zu finden bei den Kindern! Daran erkenne ich ihn.

Mein Bruder

Als mein Bruder nach den Vereinigten Staaten übersiedelt war, erklärte er schlicht und recht: »Wo ich bin, ist die deutsche Kultur.« Wirklich erfassen wir erst hier die Worte ganz: »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!« Das ist unser mitbekommener Inhalt an Vorstellungen und Meinungen, Bildern und Gesichtern. Sie ändern sich im ganzen Leben nicht wesentlich, obwohl sie bereichert und vertieft werden. Endlich sind sie an keine Nation mehr gebunden.

Unsere Kultur – und jede – hat die Nation unserer Geburt als Ausgang und Vorwand, damit wir vollwertige Europäer werden können. Ohne Geburtsstätte kein Weltbürgertum. Kein Eindringen in andere Sprachen, Literaturen gar, ohne daß gleichzeitig unser angeborenes Idiom, gedruckt und mündlich, von uns erlebt worden ist bis zur Verzweiflung, bis zur Seligkeit. Anfangs seiner zwanziger Jahre war mein Bruder den russischen Meistern ergeben, mein halbes Dasein bestand aus französischen Sätzen. Beide lernten wir deutsch schreiben – erst recht darum, wie ich glaube.

Ihn sehe ich an meiner Seite, wir beide jung, meistens auf Reisen, zusammen oder allein: an nichts gebunden – hätte man gesagt. Man weiß nicht, wieviel unerbittliche Verpflichtung ein Gezeichneter, der sein Leben lang hervorbringen soll, als Jüngling überall hin und mit sich trägt. Es war schwerer, als ich mir heute zurückrufen kann. Später wäre der Zustand der Erwartung unerträglich gewesen. Wir bedurften der ganzen Widerstandskraft unserer Jugend.

Ich möchte nicht zu weit vordringen; die Untersuchung eigener Schmerzen habe ich damals, aus Furcht, sie für immer festzulegen, auf bessere Zeiten verschoben. Die guten Zeiten kommen nie, aber mit den Schmerzen, die übrigens in reicher Auswahl wechseln, auszukommen lernen, ist eigentlich die Lehre, wie man lebt. Mein Bruder verstand dies früher als ich.

Wir stiegen, nach der Hitze des Sommertages, von unserem römischen Bergstädtchen – zehn Jahre darauf die Dekoration meiner »Kleinen Stadt« – auf die Landstraße hinab. Vor uns, um uns hatten wir den Himmel aus massivem Gold. Ich sagte: »Die byzantinischen Bilder sind gold-grundiert. Das ist kein Gleichnis, wie wir sehen, es ist eine optische Tatsache. Nur noch der schmale Kopf der Jungfrau, und ihre viel zu schwere Krone, die aus ihrem plastischen Zenith unbeteiligt niederblicken!« Meinem Bruder mißfiel die Schönseligkeit. »Das ist der äußere Aspekt«, sagte er.

Niemals ließ er seinen kleinen Hund zu Hause. »Sollen wir wirklich allein gehen?« fragte er, wenn Titino nicht zur Stelle war. Wir hatten ihn auf einem Heuhaufen gefunden. Sein Gehaben in allen Lagen, die Äußerungen seiner kleinen Instinkte, dieselben wie unsere, nur unbefangener, es gewährte ihm Trost und gab ihm Unterricht. Titino, der Realist, war eine muntere Berichtigung, wenn das junge Gemüt seines Herrn sich verdüstern wollte.

Die beste Gegenkraft hieß »Buddenbrooks, Verfall einer Familie«. In unserem kühlen, steinernen Saal, auf halber Höhe einer Treppengasse, begann der Anfänger, mit sich selbst unbekannt, eine Arbeit, – bald sollten viele sie kennen, Jahrzehnte später gehörte sie der ganzen Welt. In dem Entwurf, den er unternahm, war es einfach unsere Geschichte, das Leben unserer Eltern, Voreltern, bis rückwärts zu Geschlechtern, von denen uns überliefert worden war, mittelbar oder von ihnen selbst.

Die alten Leute haben bedachtsamer als wir ihre Tage gezählt, sie führten Buch. Die Geburten im Familienhaus, ein erster Schulgang, die Krankheiten und was sie die Etablierung ihrer Kinder nannten, Eintritt in die Firma, Verheiratung, alles wurde schriftlich aufbewahrt, besonders eingehend die Kochrezepte, mit den erstaunlich niedrigen Preisen der Lebensmittel – die Urgroßmutter klagte dennoch über Teuerung. Diese Dinge waren, als wir einander daran erinnerten, hundert Jahre vergangen, unsere miterlebten keine zehn.

Wenn ich mir die Ehre beimessen darf, habe ich an dem berühmten Buch meinen Anteil gehabt; einfach als Sohn desselben Hauses, der auch etwas beitragen konnte zu dem gegebenen Stoff. Hätte aber hinter uns ein abgeschiedener Herr gestanden im gestickten Kleid, mit gepudertem Haar, er hätte mehr als ich zu sagen gehabt. Der junge Verfasser hörte hin: die Einzelheiten der Lebensläufe zu wissen war unerläßlich. Jede forderte inszeniert zu werden. Das Wesentliche, ihr Zusammenhang, die Richtung, wohin die Gesamtheit der Personen sich bewegte – die Idee selbst gehörte dem Autor allein.

Nur er begriff damals den Verfall; erfuhr gerade durch seinen eigenen, fruchtbaren Aufstieg, wie es geht, daß man absteigt, aus einer zahlreichen Familie eine kleine wird und den Verlust eines letzten tüchtigen Mannes nie mehr verwindet. Der zarte Junge, der übrig ist, stirbt, und gesagt ist alles für die ganze Ewigkeit. In Wirklichkeit, wie sich dann herausstellte, blieb vieles nachzutragen, wenn für keine Ewigkeit, doch für die wenigen Jahrzehnte, die wir kontrollieren. Die »verrottete« Familie, so genannt von einem voreiligen Pastor, sollte noch auffallend produktiv sein.

Dies war die tatkräftige Art eines neu Beginnenden, sich zu befreien von den Anfechtungen seines ungesicherten Gemütes. Als sein Roman mitsamt dem Erfolg da waren, habe ich ihn nie wieder am Leben leiden gesehen. Oder er war jetzt stark genug, um es mit sich abzumachen. Der letzte tüchtige Mann des Hauses war keineswegs dahin. Mein Bruder bewies durchaus die Beständigkeit unseres Vaters, auch den Ehrgeiz, der seine Tugend war. Der Ehrgeiz veredelt die Selbstsucht, wenn er nicht von ihr ablenkt.

Nach sechzig Jahren höre ich wieder meinen Vater, seine Antwort auf die Bemerkung eines Mitbürgers, sein Name werde natürlich auch diesmal genannt. »Ja. Ich bin überall dabei, wo nichts zu verdienen ist.« Der Kaufmann legte Wert auf unbezahlte Arbeiten, die gemeinnützig dienten. Die Steuerpflichtigen seines Stadtstaates kosteten ihn mehr Mühe und Zeit, als ein Mitglied des regierenden Senates ersetzt bekam. Ich glaube nicht, daß er, obwohl 25 Jahre Chef der Firma, ihr Vermögen vermehrt hat.

Sein Geschäft war, Getreide zu kaufen, es zu lagern und es zu verschiffen. Als Knaben nahm er mich auf die Dörfer mit. Damals hoffte er noch, ich könnte ihm nachfolgen. Er ließ mich ein Schiff taufen, er stellte mich seinen Leuten vor. Das alles schlief ein, als ich zu viel las und die Häuser der Straße nicht hersagen konnte. Über Land fuhren wir im gemieteten Wagen. Niemand, kaum die Millionäre, hielten sich damals den eigenen, den jetzt Besitzlose haben. Beim Getrappel der Pferde trat der Bauer vor seinen Hof, und der Kauf wurde ohne Besichtigung abgeschlossen, beiderseits bestand Vertrauen. Gerade um die gute Freundschaft frisch zu erhalten, reiste mein Vater.

Seine Popularität, die groß und aufrichtig war – aufrichtig erworben und dargebracht –, erscheint mir, wenn ich die außerordentliche Namhaftigkeit meines Bruders bedenke, als ihre Vorgestalt. Er fing früher an, als er selbst zugegen war. Er ist namhaft außer jeder Reihe, in der Art eines Patriziers, der seine Tradition mitbringt. Vorurteile, die ihr anhängen, werden dem Abkömmling nachgesehen. Auch sind sie mit Skepsis verbunden. Eine unbeherrschte Abneigung gegen Neuheiten, die ihnen Gefahr bringen, ist sozial gesprochen, bei Neureichen, geistig, bei Ungesicherten.

Unser Vater arbeitete mit derselben Gewissenhaftigkeit für sein Haus wie für das öffentliche Wohl. Weder das eine noch das andere würde er dem Ungefähr überlassen haben. Wer erhält und fortsetzt, hat nichts anderes so sehr zu fürchten wie das Ungefähr. Um aber erst zu gestalten, was dauern soll, muß einer pünktlich und genau sein. Es gibt kein Genie außerhalb der Geschäftsstunden. Die feierlichsten Größen der Vergangenheit haben mit ihren Freunden gelacht und Unsinn geschwatzt. Man halte seine Stunden ein. In unserer Macht steht übrigens nicht das Genie: nur die Vollendung, gesetzt, wir wären stark und zuverlässig.

Wenn ich richtig sehe, wird meinem Bruder, noch mehr als seine Gaben, angerechnet, daß er, was er machte, fertig machte. Die ganz erreichte Vollendung ginge über menschliches Vermögen. Sich ihr unermüdlich anzunähern, ist schon die erlaubte Höchstleistung. Der uneigennützige Ehrgeiz, selbstlos, weil er das Werk will, und bliebe es unbedankt; er befremdet und bezwingt sowohl die Leute wie die Völker. Denn beide, soviel sie selbst betrifft, nehmen sich eher nachlässig. Solange wie möglich machen sie es sich bequem.

Hiermit wäre unvollständig erklärt, daß viele Amerikaner, sein neueres Publikum, übereingekommen sind, Thomas Mann den ersten Schriftsteller der Welt zu nennen. Wenn wir zurückdenken, hatten die meisten Deutschen dieselbe Meinung und waren nur unterschiedlich gehemmt, sie auszusprechen. Damit ein einzelner dieses unbezweifelte Ansehen erwirbt, muß er mehr darstellen als nur sich selbst: Ein Land und seine Tradition, noch mehr, eine gesamte Gesittung, ein übernationales Bewußtsein vom Menschen. Eins wie das andere trug bis zu diesen Tagen den Namen Europas. Es war Europa selbst.

Die Amerikaner sind, wohl mit Recht, überzeugt von ihrer künftigen Bestimmung, mitzubilden an der Kultur der Welt. Einiger Zweifel, ob dies so leicht getan wäre, erweist sich in ihrer vorbehaltlosen Anerkennung des Mannes, der deutsch schreibt, deutsch ist. Wollte er es auch, er könnte nichts gegen seine Herkunft und lebenslange Schulung. Jetzt gebraucht er täglich, auch öffentlich, das Englische. Ich hörte ihn aber das Deutsche seine »sakrale« Sprache nennen.

Erasmus von Rotterdam, dessen Bildnis schon vor Zeiten, als Vorahnung, neben dem Schreibtisch meines Bruders hing, schrieb lateinisch. Das Deutsche ist – auf wie lange? – tot. Wir müssen übersetzt werden, wenn man uns lesen soll. Leibniz, obwohl der gelehrten Sprache mächtig, drückte sich lieber gleich für die Laien französisch aus. Wer, Leibniz oder Erasmus, befolgte den höheren Ehrgeiz? Es ist erstaunlich, wie viele zugereiste Autoren nach kurzer Pause ihre Gedanken jetzt englisch äußern – ein ungefähres Englisch und ungefähre Gedanken. Der geachtetste aller Schriftsteller bleibt deutsch und wird sakral.

Man kann es sich im Alter erlauben, nach vielen abgelegten Proben, gegen das Ende einer bedeutenden Repräsentation. Seine Natur, sagt er, sei gewesen zu repräsentieren. Nicht, zu verwerfen. Er hat Deutschland, wie es war, vormals gehalten gegen die Wut der Welt und gegen eigene Bedenken. Sein Gewissen hatte einen schweren Weg, bis es gegen sein Land entschied. Um so höher wird ihm sein Entschluß vergolten, hier mit Liebe, dort mit Haß. Er ist ein Zeuge außerhalb der Reihe. Und er ist nicht lau.

Die Prinzessin von Oranien, Madame d'Orange, wie ihr Jahrhundert sie nannte, legt durch meine Vermittlung ihr Bekenntnis ab. »Ich gehe durch die Ereignisse als immer Gleiche: das ist ein großer Mangel. Wir sollen mit Gebrechen behaftet sein, damit wir sie heilen können durch Erkenntnis und Willenskraft. Ich hatte gar nichts abzulegen, weder Hochmut noch Ehrgeiz noch Eigennutz« ... Zum Abschluß wiederholt die Prinzessin: »Und das alles kostet mich nichts. Ich kämpfe nicht, mich lenkt ein heiterer Starrsinn, den man aus Irrtum tugendhaft nennt.«

Die Christin sucht offenbar ihre Genugtuung in ihrer Härte gegen sich selbst; sie spricht: »Niemals irren, bei unserem Herrn im Himmel heißt das Lauheit.«

Nun verkennt sie hierin die Idealisierung ihrer eigenen Fehlerhaftigkeit. Wie sie sich haben will, ist sie nie gewesen. Dieses Maß von Unbeteiligtheit an den allgemeinen Leidenschaften kennen wir nicht. Indessen bestehen Abstufungen für die Ergriffenheit oder Lauheit. Heute ist der Ergriffene mein Bruder. Ihn mußte, mehr als die meisten, sein Deutschland enttäuschen. Was es seither aus sich gemacht hat – oder wie es erlaubt hat, daß man es zeige – Feind der Vernunft, des Gedankens, des Menschen: ein Anathem, das traf ihn persönlich, je später es ihn traf. Er fühlte sich verraten.

Als er noch wenig veröffentlicht hatte, bezog er sich einmal auf das Wort eines anderen, das ich nicht mehr genau weiß: Mir im Rücken atmet ein Volk, – war der Sinn. Er wünschte schon damals, allein vor seinem Blatt Papier, daß eine Nation ihm über die Schulter blicke und zustimme. Sein Bedürfnis war, neu und tief, aber für eine Gesamtheit von Zeitgenossen neu und tief zu sein. Wie erst, als die Nation ihn wirklich der Welt als einen Meister anbot! Wenn keine Nation uns anbietet, erfährt die Fremde von uns spät oder nie.

Die Dinge sind indessen dahin gediehen, daß einige fremde Länder ihn kennen dürfen, nicht mehr alle, und nur zuletzt das seine. Gerade ihm hatte er immer sein Wort zugedacht; die anderen erreichte es, dank seiner Vorzüglichkeit unter den deutschen Worten. Es ist wahr, daß die Gipfel der europäischen Literatur oberhalb der Nationen einander nahe sind. Ihr Grund und Ansatz hat sich den Blicken entzogen. Das betrifft wahrhaftig kein einzelnes Land mehr, wenn unter der Hand eines Autors die Josephslegende zum Gleichnis der alten, im Wesen unveränderlichen Menschheit wird. Das spielt für alle. Es spielt in uns allen.

Aber der »Joseph« ist, wie vorher der »Zauberberg«, ein Erziehungsroman: seit dem »Wilhelm Meister« die deutsche Erscheinung des Romans schlechthin. Wenn nicht »L'Ingénu«, von Voltaire, schon vorher erschienen wäre, mit seinem Schlußkapitel, das ein Zaubermärchen der Moral und die Einfachheit selbst ist.

Im »Zauberberg« wird auch nur leben gelernt. Zu leben lehren ist die Absicht der Literatur, der Theologie und Medizin. Alle drei, und noch einige Disziplinen hinzu, muß ein Phantasiebegabter von jedem seiner Bücher zum nächsten nüchtern studieren, damit er sozusagen erfinden kann. »Ich habe eigentlich gar nichts gefunden«, meinte dieser Autor, so sehr überzeugen ihn seine Geschichten.

Einer erzieht schreibend sich selbst, umfaßt vom Leben mehr mit jedem Buch, gelangt über das von Mal zu Mal erweiterte Wissen zu der Weisheit, die das Ziel ist. Was soll da Deutschland? Dem Werk gibt es nichts und kann ihm nichts nehmen. Ja, aber es steht da, wenn auch mit eingestürzten Häusern. Das alte Haus, aus dem er kam, ist in seiner Erinnerung aufrecht, und so das Land, wie es war, wie er gewollt hat, daß es sei. Der Schmerz über einen sittlichen Zusammenbruch ist stärker, als wenn Städte untergehen. Er hatte Deutschland sittlich gesichert geglaubt. Daher ein Zorn, der nichts nachgibt.

Das Verhältnis zum eigenen Land gestaltet sich manchmal anders. Jemand kann vor der Zeit mit ihm zusammenstoßen, ungewiß warum. Vielleicht vermöge seiner jugendlichen Einfühlung in andere Zonen, oder aus Ursachen, die bis hinter seine Geburt reichen. Ich hatte mein zeitgenössisches Deutschland früh angezweifelt, zum berechtigten Unwillen meines Bruders. Aber was vermag einer gegen seine lebendigen Eindrücke.

1906 in einem Café Unter den Linden betrachtete ich die gedrängte Menge bürgerlichen Publikums. Ich fand sie laut ohne Würde, ihre herausfordernden Manieren verrieten mir ihre geheime Feigheit. Sie stürzten massig an die breiten Fensterscheiben, als draußen der Kaiser ritt. Er hatte die Haltung eines bequemen Triumphators. Wenn er gegrüßt wurde, lächelte er – weniger streng als mit leichtsinniger Nichtachtung.

Ein Arbeiter wurde aus dem Lokal verwiesen. Ihm war der absonderliche Einfall gekommen, als könnte auch er, für dasselbe billige Geld wie die anders gekleideten, hier seinen Kaffee genießen. Unter einer Decke, von der lebensgroße Stuckfiguren hingen! Zwischen den schlecht gemalten Militärparaden an beiden Längswänden! Obwohl der Mann keine Gegenwehr leistete, fanden der Geschäftsführer und die Kellner lange ihr Genüge nicht, bis der peinliche Zwischenfall aus der Welt war.

Ich brauchte sechs Jahre immer stärkerer Erlebnisse, dann war ich reif für den »Untertan«, meinen Roman des Bürgertums im Zeitalter Wilhelms des Zweiten. Der Roman des Proletariates, »Die Armen«, benannt, kam im Krieg 1916 zustande. An die leitenden Gestalten des Kaiserreiches ging ich erst im Sommer 1918, wenige Monate vor seinem Zusammenbruch – dessen Zeitpunkt bis zuletzt unbestimmt war. Für meinen ersten Entwurf des Romans »Der Kopp« fand ich es noch geraten, die Handlung in ein Land mit ausgedachtem Namen zu verlegen.

Früh war ich nicht aufgestanden, meine Eingebung hatte nichts von Prophetie. Allerdings begann ich, als die Tatsachen noch dämmerten. Als Sonnen sind sie nicht gerade aufgegangen. Litt ich an meinen Erkenntnissen, die zu der gleichen Zeit ein jeder hätte empfangen können? War ich ein Kämpfer? Ich gestaltete, was ich sah, und suchte mein Wissen überzeugend, wenn es hoch kam, auch anwendbar zu machen.

Es ist nicht angewendet worden. Nach dem Kaiserreich betrachtete ich die Republik und hielt von ihr ziemlich genau so viel, wie sie wert war. Der Zustand, der sie abgelöst hat, das durchaus grauenhafte Fazit der früher durchlaufenen Zustände, dieses Hitlerdeutschland, mußte mich anwidern wie jedes andere Individuum von Geschmack, Selbstachtung und Mitgefühl. Erduldet habe ich, dank Hitler, seiner Herrschaft, seinem Krieg, Ängste, Schmerzen, die tiefste Erniedrigung meines Daseins.

Nicht eigentlich Zorn. Der Zorn überrascht uns. Wir müssen die Menschen, die uns erbittern, für unfähig ihrer Schande gehalten haben. Nur den Milden bringen sie wahrhaftig außer sich. Wir dürfen die Vorzeichen, Vorstufen ihrer Schande nicht zu deutlich verzeichnet haben, wenn wir eines bösen Tages den Zorn kennenlernen sollen. Mein Bruder kennt ihn jetzt.

Das bedeutet: er war gütig. Ihn verlangte, an die Deutschen zu glauben – gewiß um seiner Arbeit willen, sie bedurfte des sittlichen deutschen Bodens, der viel ehrliches Werk hervorgebracht hat. Aber er vertraute den Deutschen auch aus Freundlichkeit. Wie hätte er anders ihnen helfen, wie ihren guten Namen, nicht seinen nur, hinaustragen dürfen. Der Seelenkenner, der er ist, gründet sein Wissen auf keine schwierige Gesamtheit. Die einzelnen Deutschen – Goethe unterscheidet sie von der Nation – waren oft tugendhaft.

Ein Überraschter in seinem Zorn muß wohl achtgeben, damit er nicht mit wenigen Bösewichtern, oder mit einem gerade lebenden Geschlecht von Boshaften, die Nation verwirft. Wenn wir nunmehr besprechen, was dieses Zeitalter tut, seine ganze schöne Bescherung – wir reden selten und knapp: aber eher bin ich es, der in dem unglücklichen Land unseres Ursprunges keinen monströsen Einzelfall erblickt.

Wohlverstanden weiß auch ich, was dieses eine Land verschuldet oder doch veranlaßt hat. Von seiner tristen Entartung habe ich Beispiele, die mir und anderen zugestoßen, gerade genug.

Nur mache ich geltend, daß dieser nicht der erste Versuch einer Welteroberung ist und nicht der letzte bleiben wird. Der Realist Stalin sagt: »Kriege wird es immer geben.« Was sind aber Kriege in einer räumlich leichter beherrschbaren Welt? Sie können nur die Unterwerfung der Menschheit durch eine oder zwei Mächte sein. Das muß sich wiederholen – wenn Napoleon, der allen hätte genügen sollen, sich dennoch wiederholen konnte. Diesmal traf das Los der Geschichte auf Deutschland. Der nächste ist vielleicht nicht weit. »Die Füße derer, die dich forttragen werden, sind vor der Tür.«

Oh! die Eroberer sind einander unähnlich in der Gesinnung und im Lebensgefühl. Das Frankreich, das mit seinem Kaiser antrat, brachte den Völkern das Beste, die Menschenrechte, die Freiheit – gesichert durch kaiserliche Festungen. Davon wird man wunderbar geschwellt, jahrelang atmet man Bewunderung ein, und eine wirkliche Überlegenheit strömt der Freund der Völker aus.

Wie anders hat es sich für die verhaßten Deutschen gewendet. Vielmehr wartete ihre übernommene Rolle nicht den letzten Akt ab, um abscheulich zu werden. So war sie gleich angelegt. Sie hatten auf ihrem Blitz durch die Welt nichts, gar nichts mitzunehmen für sich und andere, was die Herzen hebt. Ihr Atem war Lüge, und die Vernichtung nennt sich ihre Amme. Schrecklich, wie? Aber abgesehen davon, daß sie nach Rache lechzten und einen verkommenen Stolz ausgebrütet hatten, wären sie vielleicht edle Menschen geworden, gesetzt, einmütig hätte man sie empfangen als die ersehnten Einiger und Schützer des Kontinentes.

Was nicht wohl denkbar ist, und sie wußten es. Daher waren sie greulich und wurden immer greulicher. Der nächste Eroberer wird wieder voll reinster Absichten sein. Vertrauen wir darauf! Die Motive wechseln ab, nach diesen Deutschen sind entgegengesetzte geboten. Leider können sie an den Ergebnissen nichts ändern. Der währende Krieg ist auf dreißig Millionen direkter Opfer, bei längerer Dauer auf fünfzig zu berechnen; – die mittelbaren folgen. Der nächste würde einer unerbittlich vorgeschrittenen Technik die größere Hälfte der lebenden Menschheit darbringen.

Kein Wort von dem allen weiß ich wirklich. Ich habe nur gesehen, daß im Verlauf meines miterlebten Zeitalters jedes Ding seinen Weg bis an das äußerste Ende machte: es mußte nur ein verderbliches Ding sein. Das beweist nichts, meine Skepsis hat Unrecht. Der Irrationalismus, der mich aus meinem Lande, und noch weiter, fortwies, ist ausgekostet. Nächstens soll die Vernunft – nicht allmächtig sein, aber zugelassen, als ein Versuch, der den Reiz der Neuheit und auch sonst einiges verspricht.

Nicht mein Bruder würde diese Zweifel äußern an der unbedingten, so gut wie zusammenhanglosen Verschuldung der Deutschen und an der nachhaltigen Belehrung des ganzen Planeten. Auch ich sollte meine Bedenken still und für mich tragen. Es ist nur, meine Lauheit zu bekennen. Ich habe getan, was kämpfen heißt – ohne daß ich eines Kampfes bewußt war. Dafür haßte ich nicht blind genug und wurde vom Zorn nicht überrascht. Ich habe inständig geliebt, das ist wahr. Aber meine Liebe? Wo ist sie hin, wo ihre Spur?

Noch in der ersten Hälfte unserer Tätigkeit teilten mein Bruder und ich einander denselben heimlichen Gedanken mit. Wir hätten ein Buch gemeinsam schreiben wollen. Ich sprach als erster, aber er war vorbereitet. Wir sind niemals darauf zurückgekommen. Vielleicht wäre es das merkwürdigste geworden. Nicht umsonst hat man den frühesten, mitgeborenen Gefährten. Unser Vater hätte in unserer Zusammenarbeit sein Haus wiedererkannt. Nachgerade vergesse ich, daß er seit mehr als fünfzig Jahren abberufen ist.

Beim Theater

Um die Wende der Friedenswelt zur Kriegswelt hatte ich Freunde beim Theater, obwohl Freundschaften, die sich nur auf verwandte Gewohnheiten beziehen, kaum mein Fall waren. Die Schauspieler verkehren meistens untereinander. Wenn einige gern mit mir die Abende, oft bis zum Morgen, hinbrachten, müssen auch sie Beziehungen, und nicht ganz flache, gespürt haben.

Zehn Jahre früher war ich belehrt worden, von der Schauspielerin, die mir die nächste war und es geblieben ist. Ich sehe sie, als ob sie lebte, sich entfalten; aufrecht in dem langen, eng angeschmiegten Kleid, wie sie damals getragen wurden. Sie bewegte Arme, Schenkel, Hals, ließ ihre Stimme klingen, ihr Gesicht sich verwandeln und sprach mit der Zuversicht ihrer zwanzig Jahre. »Du schreibst«, sagte sie. »Wer dich liest, sieht Menschen. Ich will selbst zu sehen sein, mich ihnen wirklich vorführen. Dasselbe wie du mit deinem Geist allein, bin ich in ganzer Gestalt.«

Obwohl selbst jung genug, mich kräftig zu behaupten, widersprach ich meiner geliebten Schwester gar nicht. Sie hatte mehr recht, als ich damals glaubte. Die nachhaltigen, folgenschweren Wirkungen gehören offenbar Büchern, sie dürften zweihundert Jahre und älter sein und haben nichts verloren. Auf ihre Rechnung kommen Ereignisse und Taten, die geschehen sind. Ein einzelnes, kurzlebiges Geschlecht wird dennoch seine stärksten Eindrücke von der Bühne herab empfangen haben.

Könnte ich die Überlebenden von Berlin fragen, was alles untergegangen ist mit ihrer Stadt, sie wüßten nicht wo anfangen. Aber Bibliotheken und Akademien wären das erste nicht. Vorher käme das Deutsche Theater Max Reinhardts. Was ich verstehe und billige. Seine Macht über Menschen war meßbar nur an den Schöpfern. Das Allmächtige, Allbezaubernde ist das vollendete Gefühl von der Größe des Lebens, von seiner ergreifenden Stille, furchtbaren Dramatik, seiner Festlichkeit oder Trauer, von seiner unerschöpflichen Menschlichkeit. Das hat Shakespeare, hat Goethe gehabt. In der Begabung für das allumfassende Leben gleicht ihnen ein Mann des Theaters.

Er liebte und verehrte den Schauspieler als den Beauftragten der ganzen Seele, der keine ihrer Tiefen, ihrer Verirrungen ausläßt: alle kann er nachahmen und sie erlernen durch die Geste. »Ist's nicht erstaunlich, daß der Spieler hier bei einer bloßen Dichtung, einem Traum der Leidenschaft vermochte, seine Seele nach eignen Vorstellungen so zu zwingen –.« Dieser große Satz Hamlets über den Schauspieler ist die Selbstenthüllung Shakespeares und gibt das Bekenntnis Max Reinhardts.

Glücklich wäre die Welt, wenn sie dieselbe Spielfreudigkeit, dieselbe Begierde nach Erneuerung gehabt hätte wie ein gutes Theater. Die Welt ist aber nicht intensiv. Wer hat den vollen Ernst des Lebens? Die Kinder, wenn sie spielen – meinte der Regisseur. Gerade dies habe ich immer gedacht. Was die sogenannte Wirklichkeit dann angab, um sich aufzuspielen: ihre Kriege haben mich von ihrem Ernst noch weniger überzeugt.

Das Metier der Schauspieler führt mehr Materie mit sich als die Tätigkeit der Schriftsteller – zu meiner früheren Zeit. Seither mußten auch sie ihre Selbstherrlichkeit verlassen und in die zähe Masse der Abhängigkeiten steigen. Der Schauspieler war immer mitten darin. »Ein Beruf, der nur mit höherer Erlaubnis ausgeübt wird!« Und alle sagten du, während sie einander Rollen wegspielten. Am Abend sitzt ein reifer Mann mit seinen häuslichen Sorgen und schminkt sich. Nur wenige empfinden es als Entwürdigung. Es ist auch keine.

Sie beenden materiell, was der Autor des Stückes vor ihnen in der Idee begonnen hatte: Puppen malen. Wer es in sich hat, läßt sie Mensch werden. Ich bin immer erstaunt gewesen, wie vollständig und genau meine inneren Figuren auf der Bühne wieder erschienen. Hatte ich es den Schauspielern leicht gemacht? War ihr zweites Gesicht so sicher? Scheinbar blieben sie, um zu überlegen, niemals allein genug, niemals mit sich eingeschlossen wie ich. Die Proben, der Abend, die feuchten Nächte immer mit ihrer eigenen Menge. Sie konnten sich nicht trennen, weil die andere, gefährliche Menge, das Publikum, sie überreizt hatte.

Auch mich hatte mein Tag, obwohl mit unsichtbarem Andrang, überreizt. Man neigt dann zur billigen Erholung. Wenn das Lokal schon verdunkelt war, sangen zwei Künstler, die vor Stunden etwas ganz Ungemeines auf die Bühne gestellt hatten, mir ein sinnloses Lied vor, immer dasselbe. Es sollte eigentlich von höherer Bedeutung sein, nur kannten wir sie nicht. Betrat ich dagegen eine Garderobe, konnte ich einen Schwermütigen vorfinden. Die Frauen waren es nie. Sie wurden von der Anspannung des Auftretens vielleicht böse: um so mehr trugen sie Scharm auf.

Aus Gründen, die ihr Fach bedingt, waren die Komiker die Abnormsten. Da konnte einer vor seinem Spiegel sitzen, eine Fliege zum zwanzigstenmal von seiner Nase jagen und sie anherrschen: »Wohl verrückt geworden?« Aber vielleicht war dieser ein Tragöde. Der wirksamste Komiker legte auch den wundervollsten Krach hin, den ich auf einer Bühnenprobe gesehen habe. Die Freundin des Direktors hatte ihn herausgefordert. Sie war die Gefundene und kam an den Rechten. Er schäumte, dampfte, spie, er überschlug sich; aber kein einziger »Blubber« stieß seiner Zunge zu. Er blieb untadelig komisch, während er Element war.

Einst wählte er auch mich, um seine Natur als Kobold und Elementargeist auszulassen. Wir hatten immer nur achtungsvolle Gespräche geführt. Plötzlich in einer Vorstellung ersah er mich über sechs Parkettreihen hinweg und bei verdunkeltem Haus: da traf mich der Blick eines Untergrundes, der furchtbarste Scharfblick für alles ungewollt Menschliche erschreckte mich und ließ mich nicht wieder los. So war ihr Wissen, es war tieftraurig. Auf einer Grammophonplatte hörte ich ihn noch lange singen: »Ich bin Mene-Laus der Gute.« Entsetzlich bis zum Selbstmord klang »der Gute«.

Selbstmorde sind, ohne erkennbaren Grund, vorgekommen; ich erklärte sie mir. Ein junger, schon angesehener Mann, ging ohne Aufforderung in den vorigen Krieg und verblutete in einem Graben. Patriotismus war es nicht. Mein Freund Albert Steinrück hat damals recht schwer gelitten, sooft er die deutsche Selbstgerechtigkeit, wie es geboten war, öffentlich vorführte. Er sprach, scheinbar tief erbittert, einen üblichen Haßgesang gegen England. Er beherrschte seine Halsmuskeln, daß sein Gesicht beliebig anschwellen und sich röten konnte. Nachher stöhnte er – hätte immer noch lieber gekämpft.

Diese gelernten Sprecher des öffentlichen Empfindens, das meistens selbst nicht echt ist, laufen immer Gefahr, Lakaien des Publikums zu sein. Jeder, den dies bedrückt, entzieht sich dem Dienst auf seine Art. Steinrück malte Bilder. Bald nach dem ersten Kriege kam ich in einen ganz verödeten Ort am Bodensee. Der Hotelgarten lag streng einsam, aber dort oben am Fenster, wer steht und pinselt? Das war wohl unser bestes Wiedersehen, es könnte heute sein – wenn er lebte, wenn ich ihm nicht in Berlin die Grabrede gehalten hätte. Unsere Welt, ihr geistiges Gesicht, das Theater mit dabei, begann damals unvermerkt unterzugehen. Heute verschlingt sie der Strudel nur zu deutlich. Wir grüßen noch.

Keine entfernte Sympathie, auch die gründlichste Verwandtschaft nicht, würde genügen, um die Beziehung eines Schriftstellers zu den Schauspielern aktiv zu machen. Er muß für die Bühne gearbeitet haben. Er muß ihren Leimgeruch geatmet und muß Schweiß vergossen haben in der Erwartung des Beifalls. Nach der Beschaffenheit meiner Stücke habe ich es besonders mit Charakterspielerinnen zu tun bekommen.

Sie hatten, auf der Bühne wie im Leben, eine Fähigkeit der Verwandlung, die jede andere übertraf. Nach Bedarf und Belieben waren sie seelenvoll und leer, brutal und süß, erhaben, arm, waren verschleiert oder waren nackte Passion. Eine Charakterspielerin hatte kein Fach, sie beherrschte jedes. Diese und jene stand im Ruf einer mehr oder weniger verlockenden Häßlichkeit. Sooft sie es brauchte, war sie schön zum Erstaunen, auf blendende, sogar auf liebliche Art.

Sie mußten verdammt viel können, um, belastet mit allem Wissen und diesen vehementen Mitteln, auch leicht, auch frivol erscheinen zu können. Ich habe nie vergessen, was Tilla Durieux nicht mehr weiß. Sie hatte in Berlin zwei ernste Akte gespielt und hatte für sich und ihren Autor soviel herausgeholt, wie psychologische Effekte nun einmal erlaubten. Jetzt kam der komische Akt, der es schaffen mußte.

Umgekleidet, in ein völlig anderes Wesen übergegangen, bewegte sie sich hinter dem geschlossenen Vorhang, und welch eine Kraft war das! Das Geschlecht selbst, in all seinem tödlichen Reiz, wurde lächerlich, ein haarsträubender Vorgang wenn man will; bei ihr von der schrecklichsten Einfachheit, und jeder Schritt, noch ehe die Gardine sich teilte, strahlte vom Erfolg.

Ich täusche mich nicht; damals hatte ich keine vierzig Jahre. Mit mehr als sechzig begegnete ich einer englischen Charakterspielerin, und sie war von dem vertrauten Typ. Tilla Durieux, Ida Roland, meine verehrten Darstellerinnen, ähneln einander gar nicht: der Engländerin gelang es, beiden zu ähneln. An dem Tisch eines französischen Restaurants eröffnete mir jedes Gleiten ihrer Finger, ihrer Mienen, was für die Bühnen von London bestimmt war. Diese Frauen – ihre Art scheint mit dem Zeitalter abzugehen – gaben mehr von sich her, als Menschen erwarten lassen. Den Teufel im Leibe haben nannte es M. de Voltaire, und behauptete: »C'est le diable au corps qu'il faut avoir pour exceller dans tous les arts.«

Das Theater war, um unbedenklich zu sprechen, mein lustigster Abschnitt. Die paar kräftigsten Jahre um die Mitte des Lebens genügten meinem Bedürfnis nach den dramaturgischen Strapazen. Andere, die immer Stücke schrieben, konnten nicht erraten, wie anziehend die Verschiedenheit der neuen Arbeit von meiner vorigen war. Theaterstücke werden schnell geschrieben. Verlangt wird Bewegung, die Leidenschaft soll unmittelbar handeln; sie wickelt sich nicht aus den Schleiern der Erzählung. Noch der lebendigste Roman spielt in der Vergangenheit und ist bekleidet mit Worten. Ein Drama kann niemals nackt genug sein.

Ein Tragödiendichter des 18. Jahrhunderts wurde nach seinem neuen Opus gefragt. »Es ist fertig«, erklärte er. »Je n'ai plus qu'à écrire les vers.« Das heißt: Wenn die Szenenfolge feststeht, hat man das Stück, es kann nicht mehr fehlschlagen. Der Dialog, bei richtigen Voraussetzungen, läuft von selbst ab; der Autor schreibt nach, was die Personen reden und selbst antworten mögen. Angesichts eines Stückes von Gerhart Hauptmann bemerkte der große Maler Max Liebermann: »Wie das arbeitet!« »Es«, nicht »er«, schien zu arbeiten. Dies ist der Ruhm des Dramas.

Ein Roman, dem keine Mache mehr angemerkt wird, ist im Gegenteil der Triumph persönlicher Arbeit. Eine Gattung, die beschreibende Teile verbindet mit erzählenden und redende mit handelnden, zu schweigen von der Schaubarkeit der Welt, die aus dem allen wird, und von den Klängen der Sprache, himmlischen oder armen: wahrhaftig, der Roman, wie das große 19. Jahrhundert ihn hinterlassen hat, ist das erreichte Gesamtkunstwerk, oder es gäbe keins.

Flaubert, während seiner kurzen Beschäftigung mit dem Theater: »Es amüsiert mich großartig.« Zola, bei derselben Gelegenheit: »In diesem Augenblick erhole ich mich, ich schreibe eine komische Sache in drei Akten.« Vielleicht verrät dies nur, daß die Romanciers leichtsinnig werden, wenn sie Stücke machen? Nicht ich, trotz des genossenen Vergnügens. Nur dachte ich mir das meine, wenn das Drama über den Roman gestellt wurde: was in dem nunmehr auseinandergestobenen Deutschland die Übung war.

In Wahrheit gibt es keine Rangfolge der Gattungen. Wo die Willkür einmal angefangen hat, muß auch das Drama nicht ganz oben stehen: noch höher galt die Musik. Die nie erwähnte Begründung war die gröbste. Die Musik offenbarte sich, nicht nur vernehmbar, auch höchst anschaulich, in feierlichen Gebäuden, die den Äußerungen der Nation bestimmt waren und teil hatten an ihrer Geschichte.

Was sich groß darstellt, ist immer die Macht. Der Beherrscher eines Opernhauses genießt in dem Augenblick, wenn er den Stab erhebt, die kollegiale Achtung der öffentlichen Gewalten; er erfährt auch ihre Eifersucht. Als Wilhelm II. jung genug war, aber er blieb lange jung – soll er den Ausspruch getan haben: »Was ist denn der Richard Wagner? Ein ganz gewöhnlicher Kapellmeister.« Das war es gerade.

Die Deutschen sollten sich und anderen zum Verhängnis werden, weil sie nachgerade nichts mehr begriffen und sonst kein Ziel kannten als einzig äußere Macht. Darüber mußte ihnen einiges Wissenswerte entgehen: daß die Romane wohl schweigen, aber daß von aller Literatur allein die großen Romane in die Tiefe des wirklichen Lebens gedrungen sind, ja, die Welt verändert haben. Den Tatbestand erweist die russische Revolution: sie folgt auf ein Jahrhundert großer Romane, alle revolutionär wie nur die Wahrheit.

Aber für das Theater hatte ich mehr als nur Freundschaft ohne Verantwortung und schulde ihm höheres als die Lust, beim öffentlichen Vorgang mitzuwirken. Mein einziger Erfolg, der, wenn noch so fern, an Revolutionierungen durch das Wort erinnert, war ein Stück. Oh! Es brachte die Leute nicht außer sich. Gegen Ende des vorigen Krieges waren die Deutschen nicht zu empören, auf meine Weise nicht, auf eine andere schwach. Nach diesem? Ich weiß nicht. Aber ich erreichte so viel, daß sie betroffen wurden und ihrer besseren Tage gedachten.

»Madame Legros«, ein Drama aus den menschenfreundlichen Anfängen der Französischen Revolution, paßte seine Zeit ab. 1913 in ein paar Wochen glücklich hingeschrieben, erschien es auf einer Münchener Bühne 1917. Der Weltkrieg, der noch nicht der richtige war, bekam seine widerlichsten Züge, auch nach Mißerfolg sah er aus. Heimlich wurde er bereut.

Wenn nun ausnahmsweise einmal hochherzige Personen auftraten, wäre es nur im Theater, der Anstalt, die voreinst, von Schiller, »moralisch« genannt worden ist, konnten sie die Menschen ihres Zustandes bewußt machen, bis ihnen die Reue auf dem Gesicht stand. Bis ihnen die Reue zur Beglückung wurde. Wahrhaftig übertrug mein Stück nunmehr auf andere etwas von dem Glück, mit dem ich es vor den Ereignissen ahnungsvoll verfertigt hatte. An einem Abend, ehe die Vorstellung begann, sagte eine Frau, die nicht das erste Mal hineinging: »Endlich kann man einander wieder in die Augen sehen.«

Das Stück machte seinen Weg über Deutschland hinaus. Ich habe viele andere Worte gehört. Dieses ist unvergessen.

Arthur Schnitzler

Die Kunst ist um ihrer selbst willen ernst zu nehmen. Dies festgestellt, ist sie eine der sozialen Mächte. Keine andere soziale Macht, außer den intellektuellen, arbeitet für eigene Werte, keine verdient, unabhängig von materiellen Ergebnissen, geehrt, sogar geliebt zu werden.

Die Politik wurde vom Fürsten Bismarck die Kunst des Möglichen genannt. Das war seine Formel – und wessen noch? Sie tun gemeinhin nicht das Mögliche, woraus ein komponiertes Werk werden soll; sie tun das Nächstbeste um vorübergehender Geschäfte willen, und die pflegen faul zu sein. Bringen sie es endlich zu einer Macht, die niemand mehr beaufsichtigt, am wenigstens ihr Gewissen, dann ist es die Macht, sinnlos zu scheitern und Völker mitzureißen. Von Kunst sei nicht erst die Rede.

Wer wollte dieses Verhängnis der Macht zum Menschen berichtigen. Es besteht, mit geringen Unterbrechungen, soweit man zurückblickt. Es hat seine Gründe im Wesen der Macht und in der Natur der Menschen. Beide sind verbündet – gegebenenfalls auch gegen den Moralisten, der etwas ändern möchte. Er kann sogar berufen sein, nur daß seine Berufung, angesichts der verbündeten Gegnerschaft von Macht und Mensch, gelinde lächerlich wird. Montaigne meinte sogar, alle Berufungen seien es. »Toutes nos vocations sont farcesques«, sagte dieser alte Moralist, und doch hatte er das Glück, einen ganz seltenen Machthaber, den König Henri von Frankreich, von Gesicht zu Gesicht zu kennen.

1910 durfte einer, der sich auf intellektuelle Politik verlegte, den Ernst seines Unternehmens wahrhaftig bezweifeln; so unverständlich wie damals war es in Deutschland weder früher noch später. Die Deutschen glaubten felsenfest an eine Macht, die »das Reich« hieß, – dies, nachdem »das Reich« zwanzig Jahre hindurch erschüttert worden war; wer nur selbst im Gleichgewicht gewesen wäre, mußte es schaukeln fühlen. Niemand bemerkte es.

Sie bildeten sich ein, noch immer wäre alles in Ordnung, nachdem so furchtbar lange die verhängnisvollen Entscheidungen einem Monarchen mit labilem Selbstgefühl, aber beständiger Unruhe, überlassen worden waren. Bei ihnen allein war die Macht derart verteilt, daß eine veraltete, verarmte Kaste, die nur das Heer hatte, sie auszuüben schien; aber aus dem Hintergrund wurde der verantwortliche Adel gelenkt – mit den Mitteln, die jeder erraten konnte, gelenkt von den neuen Besitzbürgern der Industrie. Unbeteiligt waren Erkenntnis, historische Erfahrung, das Wissen um die Folgen, wenn alles, was vorgeht, falsch und eigentlich irreal, ja, nichts als unsaubere Phantasie ist.

Der Rassendünkel und die Ansprüche auf die Unterwerfung Europas durch ein »Herrenvolk«, das noch niemals sein eigener Herr war, der ganze Unfug, den die Welt seither begriffen hat, wurde schon 1910 von derselben Industrie bezahlt, und die Deutschen begriffen gar nichts. Bei ihnen war es möglich, daß einer »alldeutsch« war und kein Blut sehen konnte. Daher erübrigte sich jede Aufklärung: »In vier Jahren werdet ihr Krieg haben.« Kein Mensch hätte es geglaubt, fraglich, ob auch nur die Industriellen, die dafür bezahlten. Ganz ahnungslos war ihr ausführendes Organ, der Kaiser.

Man denke, daß jemand ihnen allen wörtlich vorausgesagt hätte: »Eh' ihr es denkt, werdet ihr den Krieg haben, auf den ihr hinarbeitet samt und sonders, aber am meisten ihr verwöhnten Intellektuellen, denen die Beschäftigung mit der Politik zu gemein ist. Als ob die erwähltesten Geister vor euch, als ob Goethe, Humboldt, Heine sich von der Prüfung ihrer Umwelt gedrückt und nicht Partei ergriffen hätten. Sie gehörten aber einem armen Deutschland an, und ihr seid Produkte eines »Reiches«, das zu schnell reich geworden ist. Daher die Überhebung der einen, und bei den anderen eine Gleichgültigkeit, die auch nur Überhebung ist.

Für meinen besonderen Teil, erinnere ich mich erstens, wie schwer mir einige, im Grunde bescheidene Essays wurden, und dann, wie unbescheiden sie wirkten. Nie vorher hatte ich so langsam geschrieben, unter beständigem Kampf um das Wort. Wer immer gestaltet und nie im eigenen Namen redet, hätte bei jedem ersten Versuch gestockt, gleichviel welcher Gegenstand. Dieser war der verantwortungsvollste. Es ging um Tod und Leben. Wenn sonst nichts, verriet mir der Widerstand der Sprache, daß ich mich an einem Schicksal maß, und natürlich vergebens.

Wer Donquichotterien auswich, mußte darum nicht unpolitisch sein. Mein Bruder hat sich so genannt, als er zum erstenmal mit Nachdruck politisch vortrat. Vorher war er es im Hintergrund und von selbst gewesen. Der einzige Dichter von Rang und Urteil, der seine Nichtachtung der öffentlichen Dinge für selbstverständlich nahm – und das Gegenteil für Zeitverderb, wenn nicht für eine ungewollte Enthüllung, war Arthur Schnitzler.

Er war Österreicher, womit viel erklärt ist. Ein anderer Alt-Österreicher wanderte mit mir in den italienischen Alpen, soweit sie noch der Monarchie gehörten. Wir betraten ein Wirtshaus, über dem Sofa grüßte das Bildnis des Kaisers. »Hier bin ich zu Hause«, sagte der Wiener Doktor und nahm Platz. Nach Jahrzehnten am Gardasee sprach er italienisch noch immer wie ein Fremder. Aber die Völkerschaften und ihre Streitigkeiten hätte er gern vergessen. Ein einziger überzeugte ihn von seiner Nation und gab ihm sein Vaterland.

In Wien hatte ich einen sehr geliebten Freund, Arthur Schnitzler, einen Dichter des Todes. Man hätte es ihm nicht angesehen, 1907, als wir zusammenkamen und uns angenehm waren; uns wohl auch verstanden, in den Grenzen, die immer bleiben. Damals vertrat er heiter seine Kaiserstadt, und die wollte heiter sein; sie sagte nicht erst im Krieg, nach Anbruch des Endes: »Die Lage ist verzweifelt, aber nicht ernst.«

Er liebte den Ruhm. Wenn er sich einen »sehr bekannten Autor« nannte; empfing seine Stirn einen Strahl der Unsterblichkeit. Einmal sah ich ihm zu, wie er auf die Bühne eilte, um sich dem Publikum zu zeigen. Alle seine lässige Anmut ließ er zurück; dies war ein unwiederbringlicher Augenblick der Spannung und des Ergebnisses.

Nach der Berliner Première seiner »Liebelei«, die er viele Jahre später mit Recht ein sehr gutes Stück nannte, schlug ein Kritiker namens Harmonist ihn auf die Schulter und sprach: »Ganz hübsch, Herr Doktor. Aber jetzt mal was anderes!« Nein, Schnitzler siegte gerade mit seiner Gabe, nichts anderes zu gestalten als seine eigene Herzenssache. Von den öffentlichen Dingen hielt er nichts, ihn berührten nur die mehr als öffentlichen, die allgegenwärtigen: Liebe und Tod.

Was er vorspielte im Drama und in Erzählungen, war sein naher Umkreis, das Glück, gebrechlich und so schön, das vorgeahnte Unglück. Er fühlte, wie seine Stadt, angenommen, auch sie hätte ein wohlgebildetes Herz gehabt. Mit aller Leichtigkeit, schwermütig, witzig, schwärmerisch, führte jede Handlung in den Tod – wie von selbst, als könnte kein Dichter sie aufhalten. Einer, der doch den Ruhm liebte, dachte den heitersten seiner Gedanken bis vor das Grab, – und seine Stadt desgleichen, angenommen, sie hätte gedacht.

Sie und ihren Dichter kümmerte allein das Privatleben, die Vorzeichen öffentlicher Katastrophen verwandelten sich ihnen zur intimen Geschichte. Ihr üppiges und ahnungsvolles Gefühl schwang in Worten mit, wie diesem letzten der Baronin Vetsera, die mit dem Kronprinzen Rudolf starb: »Bratfisch hat wieder wundervoll gepfiffen.« Neben jedem tragischen Ende stand ein Fiaker und pfiff schmelzend. Nicht anders wollten Wien und auch sein Dichter ihre Welt, wenn es denn bestimmt war, daß sie aufflog. Er haßte die öffentlichen Dinge.

Er hätte, was kam und folgte, durchschauen können wie meinesgleichen; er wollte nicht einmal, daß man daran litt. Man sollte, wie er, an der Verarmung seines Publikums und seines Lebens leiden, nicht an den weitreichenden Ursachen der Verarmung, oder nur unter den friolen Machern unseres Zusammenbruches. Der blutige Leichtsinn der vorigen Mannschaft war abgelöst von dem unfähigen Gewinsel der nächsten: einen Menschendarsteller durfte es nie berühren. Er sah dieselben Menschen zwecklos dahinleben, ob reiche Monarchie oder Republik des Elends; sie hatten ihm niemals mehr als dies gegolten, achtbar wurden sie nur, weil sie sterben mußten.

Sein Pessimismus war der gründlichste, er meinte ihn gar nicht, kaum, daß er ihn kannte. Meine Briefe über die deutschen Zustände schienen ihm der Verbitterung gefährlich nahe. Er selbst war mehr gefährdet. Wenn ich mich empörte, hoffte ich doch. Wer macht es richtig?

Schnitzler hat sich ein einziges Mal empört, als die Selbsterhaltung kein Ausweichen zuließ. Sein »Professor Bernhardi« wollte den Antisemitismus nicht vernichten, er zeigte ihn in seinem düsteren Nichts. Was konnte es ändern. Der Antisemitismus, dieser steckengebliebene Sozialismus des »dummen Kerls von Wien«, wie man zur Zeit des Bürgermeisters Lueger sagte, ist endlich doch die ganze – die ganze – geistige Grundlage einer versuchten Welteroberung geworden. Wozu dann Empörung? dürfte Schnitzler jetzt fragen.

Ich könnte ihm antworten, daß, wer sich empört, nicht nach dem Erfolg fragt. Empörung ist kein Willensakt; sie unterdrücken wäre gegen die Natur und dem Prinzip des Lebens ungemäß. In Wahrheit hat dieser Fremdling der Politik niemals vermieden, daß sie in sein Gemüt eindrang. Je widerwilliger er den öffentlichen Dingen folgte, um so wehrloser war er gegen ihre privaten Einflüsse.

Wir wanderten zusammen. Es scheint, daß die Bewegung des Gehens der Kunst des Schreibens förderlich ist. Die meisten, wie auch Schnitzler, sterben am Schreibtisch, waren aber vordem gut bei Wege. Als jüngerer Mann lief ich bergauf, bergab, womöglich dieselbe Zahl von Stunden, die ich geschrieben hatte.

Mit Schnitzler ging ich in Wien nur auf die Türkenschanze, kein weiter, aber sein gewohnter Weg. Einen ganzen heißen Tag lang schritten wir die blaue Ebene um Salzburg ab, rasteten und tranken Wein, brachen auf und erreichten die Stadt, als die Schatten fielen. Sie waren aber inzwischen auch über meinen Freund gesunken; sein Lebensgefühl erschauerte unter ihnen, in seinen Gesprächen wurde es Abend.

Dies liegt schon nach dem ersten Krieg. Als sein Schwager Albert Steinrück in Wien gastiert hatte, erkundigte ich mich, was Schnitzler mache. »Er jammert«, hieß die Auskunft. Über den Verfall des Zeitalters, die Instinktlosigkeit einer Welt? Natürlich, da er Aug' und Urteil hatte wie ich.

Ebenso begreiflich, wenn das Hinschwinden der Literatur ihm noch näherging. Aber es quälte ihn als eine persönliche Unbill, weil er die Gesamtheit der Erscheinungen absichtlich von sich wies. Ein »sehr bekannter Schriftsteller« war seit 1919 unter die vorsintflutlichen Erinnerungen versetzt. Einige schienen nicht mehr zeitgemäß, gerade wegen ihrer vorher reizvollen Übereinstimmung mit dem Gestern.

Schnitzler, seine immer gültigen Gebilde aus Liebe und Tod, seine Trauer um das Glück, während es noch dauert, bleiben richtig und können schwerlich verfallen, mit so leichter Hand auch alles gemacht scheint. (»La facilité« war für Stendhal die höchste Stufe der Kunst.) Nicht eigentlich sein besonderer Ruf, – was sich damals änderte, war die Achtung vor dem Schriftsteller überhaupt. Ich selbst hatte meine merkantilen Erfolge erst damals. Trotzdem fiel der Ausspruch jener Dorfwirtin in Bayern, meiner Leserin: »Ja, ein Schriftsteller, das war auch einmal etwas.«

Man ist, was die Umstände wollen. Heute gelte ich in einem entfernten Reiche viel, indessen gar nichts hier, wo gerade mein Fuß hintritt. Das habe ich nie persönlich genommen. Schnitzler bezog es auf sich allein. Er war ein guter Arzt, wie er sagte, aber nicht seinen späten Zeitgenossen fühlte er den Puls, nur sich selbst, und fand sein Herz gealtert. Oh! Schnell und schreckhaft verdüstert sich der Alleingelassene, den viel Umtrieb verwöhnt hatte – um seinetwillen, so hatte er zu glauben geliebt.

Genug, daß die Theater aufhörten, ihn täglich auf ihre Spielpläne zu setzen. Hielt er sie denn für »moralische Anstalten«? Gerade er nicht; aber auch ein Ungläubiger sieht in ihnen nicht »öffentliche Häuser«, wie ein Wedekind seine Laune ausdrückte. Hinzu kam: wenn er in Wien, seinem Wien gespielt wurde, fiel ein Skandal vor. Die antisemitische Mannschaft war aufgeboten, von oben flog ein Stuhl. Das hätten sie unter dem weisen Franz Joseph wagen sollen! Der Kaiser hatte jahrelang ihren Häuptling Lueger vom Rathaus ausgeschlossen.

Die Erscheinung des unpolitischen Schriftstellers ist abhängig von einer alten Ordnung, und diese war die älteste gewesen, ein Fürst mit der ganzen Erfahrung von Jahrhunderten, der eigenhändig seine große Monarchie verwaltete, ohne Übergriff, unter strenger Achtung der bürgerlichen Übung, ihres harten Stumpfsinnes, und andererseits den galanten Begabungen zugeneigt.

Der Schauspieler Girardi ist bei der alten Freundin des Kaisers, der Schauspielerin Schratt, aus einem Vorhang heraus vor seine Füße hingestürzt, die Hände flehend aufgehoben. »Majestät, retten Sie mich! Meine Frau will mich ins Irrenhaus sperren.« – »Da kann man nichts machen. Reisen Sie ins Ausland«, hat der Herr der Monarchie gesagt.

Ein wenig zum Lachen, zum Weinen auch, und sicher noch am ehesten nach dem Sinn Schnitzlers, ihm lieber als die seither aufgekommenen Formen der staatlichen Verwilderung und nachfolgenden Autorität von Unberufenen. Eine schöne Autorität, die nur entspringt, weil die Republik schlaff war!

Schnitzler, ein völlig gesitteter Geist, hatte recht und war liebenswert, als er mit dem beendeten Zeitalter Franz Josephs auch das seine aufgab. Schluß zu machen will verstanden sein. Es ist eine aufrichtige Handlung so oder so, ob einer Gift nimmt oder weiter atmet, um auszukosten, wie traurig der Tod kommt.

Seine Vorzeichen beunruhigen den Doktor. Der Schriftsteller hieß sie willkommen, sie bestätigten sein bitterstes Wissen. »Wer tot ist, ist sehr tot«, sprach nunmehr der ehemalige Verliebte der Berühmtheit: noch sah ich seine Augen glänzen, wie er zum Applaus auf die Bühne eilte. »Ich habe keine Illusion«, behauptete er in einem Salzburger Wirtsgarten vor Zuhörern, die ihn bedenklich ansahen.

Noch erschien er rüstig und war es wirklich. Er wanderte und schrieb. Er brauchte nur in alten Notizbüchern zu blättern, um Stoffe zu finden für die Arbeit von Jahrzehnten. Wer aber mit Überzeugung angibt,« er habe keine Illusion, glaubt der noch der Wirklichkeit? Sogar an die Werke seiner Einbildung muß er glauben.

Sein Niedergang war ein auffallendes Beispiel. Ihm hatte es nicht geholfen, daß er die öffentlichen Dinge verachtete: sie wußten ihn zu treffen. Sie fanden ihn wehrlos, ratlos, als einen Spielball des Glücks. Das sollte verboten sein vor der Würde eines alten Meisters. Wenn der Erfolg den Schriftsteller nicht eh' und je begleitet, fällt er logischerweise in die Mitte einer Laufbahn, allenfalls etwas nachher. Die ihn nur am Anfang haben, zählen wenig. Ihn erst gegen Ende zu erreichen, ist eine edle Ausnahme.

Schnitzler, von Wien und den Ländern deutscher Sprache zeitweilig zurückgestellt, wurde in Amerika verfilmt; es war doch die Existenz und war der Trost. Auch eine Freude empfing er noch, als seine Novelle »Fräulein Else« reißend abging. Wieder war er in aller Mund, gleich dem Heutigsten; nur er selbst verstummte, erstaunt und ungläubig.

Das letztemal erblickte ich ihn schrecklich verfallen, wohl weniger durch Krankheit als von Erlebnissen, die kaum vorbei waren, und er brachte sie nicht mehr hinter sich. Handlungen waren abgelaufen wie in seinen Stücken und Geschichten, die Liebe, ihre Unsicherheit und Gefahr, der Tod, der hinter der Szene gewartet hat, und jetzt tritt er auf. Der Dichter von Tod und Liebe beschloß das Dasein mit der wörtlichen Verwirklichung seiner lange, lange vorgeahnten Bildnisse. Er hätte nichts Schlimmeres wünschen können; auch nichts Besseres.

Er hat dargetan, daß der tragische Mensch, in seiner abgetragenen Maske von Armut, Schwermut, Heiterkeit, endlich der öffentlichen Tragik ganz entraten kann, um als er selbst zu sterben. Die öffentlichen Dinge hatten ihn belästigt, als es für ihn spät wurde. Er wußte nicht, wie ihm geschah, und litt gewiß hilfloser, wenn nicht tiefer, als ein anderer, den die öffentlichen Dinge gebrannt haben, bevor sie eine Welt anzündeten.

Kampf allein tut es nicht, was bleibt denn von den Kämpfen. Fortzuleben verdienen die schönen Werke und fordern, daß ihrer gebrechlichen, bedrohten Ursprünge gedacht wird. Ich ehre Sie, lieber Arthur Schnitzler.

Félix Bertaux

In Paris hatte ich einen sehr geliebten Freund, Félix Bertaux, Germanist, Lehrer der deutschen Sprache an einem der großen Lycées. Die Universitätslaufbahn hätte er in der Provinz beginnen müssen. Er blieb lieber im intellektuellen Mittelpunkt – oder hielt an Gewohnheiten fest. Sein Haus lag in Sèvres, petite banlieue, zwanzig Minuten von der Gare Saint-Lazare. Er wurde für mich in der Hauptstadt, die ich niemals auslernte, der intime Halt und Mittelpunkt.

Der Anfang war, daß er mir nach München sein Panorama de la Litérature allemande schickte. Über meine Zeitgenossen und mich gibt es nichts, das so sicher träfe. Dann folgte die Einladung, die höchst ungewöhnlich und für beide Teile ein Wagnis war. Wir schrieben 1923, die deutsche Republik hatte vom Gewinsel über Versailles einen kurzen Sprung in offenen Widerstand getan. Französische Truppen waren vorgerückt, kein deutscher Zug fuhr mehr hinüber.

In München stand auf Tür und Fenster der Läden zu lesen: »An Franzosen wird nicht verkauft«, aber kein Franzose beherzigte es, sie waren nicht vorhanden. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Bayern und Frankreich bestanden noch, der Gesandte wurde nur gemieden. Später hat Comte d'Ormesson mir gestanden, ich sei der einzige gewesen, der ihn damals empfing: er werde es mir nie vergessen. Übrigens hatte ich mir nichts Außerordentliches dabei gedacht. Vier Jahre später ist d'Ormesson weither gereist, um mich in der Sorbonne zu begrüßen.

Bertaux, der mich noch niemals gesehen hatte, wählte mich als den ersten deutschen Teilnehmer an den Entretiens de Pontigny. Das waren, Ende jedes Sommers, Aussprachen in wohlgeordneten Abschnitten, mit bestimmtem Programm, zwischen reifen Literaten, jüngeren Diplomaten und den Angehörigen der offiziellen Wissenschaft. Der Veranstalter, M. Paul Desjardins, war vormals Unterstaatssekretär für die Künste gewesen. Er genehmigte meine Wahl.

Mich erreichte die Einladung an der Ostseeküste, in Heringsdorf. Um dorthin zu gelangen, hatte ich einen Sack mit Inflationspapier im Schweiß meines Angesichts von der Bank nach Haus getragen. Schon in Berlin war er leer. Aber damit drei Personen ein Badehotel bewohnten, genügte ein Dollar täglich: den hatte ich bei einem amerikanischen Korrespondenten erschrieben. Dennoch waren dies nicht die Umstände, unter denen man leichten Herzens ein reicheres Land besuchte. Überdies war es den meisten Deutschen ein feindliches, wie im Krieg; eher mehr.

Es ist wahr, daß ich Frankreich zu keiner Zeit für meinen Feind erachtet hatte, auch nicht geneigt war, jetzt damit anzufangen. Die deutsche Mißbilligung, wenn ich mit Frankreich verkehrte, meinte ich tragen zu können. Die deutschen Gefühle für den Nachbarn, der sie gar nicht verstand? Angenommen, daß sie echt gewesen wären, verdienten sie Bedauern. Andererseits erwartete ich von den Intellektuellen, die mich hinberiefen, keine Vorwürfe. Indessen war dort ein Land – mit Erinnerungen, die neu waren und für meine Nation nicht einnahmen.

Möglich, dachte ich; daß der Sieger nicht haßt. Aber es wäre begreiflich, wenn er mißtraut, wenn er mißachtet und es ohne seine Absicht merken läßt. Ich möchte nicht an das untere Tischende gesetzt werden, oder mit Ostentation an das obere. Beides gilt mir gleich, wenn es meine Person allein betrifft. Als Mitglied einer Nation, die sich dauernd unbeliebt macht, umhergezeigt und gerade nur gelitten werden; dies lieber nicht. Daher antwortete ich Herrn Bertaux, mit dem wertlosen deutschen Geld sei sein Wunsch, den ich übrigens teile, nicht zu erfüllen.

Sofort versicherte er mir, der Beitrag, den die übrigen Mitglieder entrichteten, werde von mir nicht verlangt. Ich fand es unstatthaft, länger auszuweichen. Am Bahnhof Friedrichstraße bestieg ich den Zug. Er ging nur bis Kehl, dann folgte eine Lücke. Die Visitation der Reisenden war nicht geeignet, sie zu überbrücken. Damit niemand eigene Wege suchte, schlängelte man sich schrittweise durch lange, enge Bretterwände. Ich erkannte sie wieder.

Während des Krieges hatte ich mich im Traum zwischen ihnen befunden. Damals führten die Bretter in nicht geheuren Windungen, wie ein Gespensterhaus auf dem Jahrmarkt, nach dem italienischen Verona. Dort war ich in besseren Jahren je viermal ausgestiegen – ohne Papiere, wie üblich. Jetzt trug ich bei mir die falschen: ausnahmsweise einen Paß, aber einen feindlichen. Keiner der Wohlversorgten, die mit dahin wandelten, sah mir meinen Zustand an. Es war ein schrecklicher Traum und kam, wie seinesgleichen, nie zum Abschluß.

Hier am Rhein war die Flucht von Brettern nüchterne Wirklichkeit, hatte ein praktisches Ziel, und jeder erreichte es endlich. Ich wurde geprüft und richtig befunden, obwohl ich mit entbehrlicher Offenheit zugab, daß ich auch für Zeitungen schrieb. Noch weniger Umstände machte mein Gepäck. Was hätte man von dem ausverkauften Deutschland an freudigen Überraschungen erwartet? Niemand wurde bis auf das Hemd entkleidet, was ich an der italienischen Grenze (im Wachen) leider gesehen hatte. Mit einem Taxi, dessen Lenker Wert darauf legte, deutsch zu flüstern, durfte ich Straßburg erreichen. Dort verschwendete ich eine Nacht.

Am Ostbahnhof Paris erwartete mich ein langer, schlanker Mann von dunkler Hautfarbe, mit strahlenden Augen. Mich belehrte sein freundschaftliches Lächeln, wer er war. Er hatte mich vorher erkannt. Er entführte mich sogleich nach Sèvres, gab mir das Zimmer seines Sohnes, bat mich zu Tisch. Seine Frau war wohlwollend ohne Betonung. Beide vermieden es, mein Gefühl zu bestätigen, als befände ich mich bei ihnen auf einer Insel.

Beide waren ebensowohl deutsch wie französisch gebildet: das begründet eine Gemeinschaft, die sonst auf den menschlichen Anstand beschränkt bliebe. Félix Bertaux wußte genau, warum er gerade mich als den Gast ausgesucht hatte. Meine Bildung war französisch wie deutsch. Der Germanist konnte mich für seinen weniger gelehrten Kollegen ansprechen, ein Romanist deutscher Herkunft. In einer idealen Mitte geschieht die Begegnung. Um zu dauern, bedingt sie Liebe.

Er begleitete mich nach Pontigny – ohne ihn hätte ich mich in Verlegenheit befunden. Auf dem Weg nach der Gare de Lyon, zwischen den vier Reihen von Autos (in Deutschland fuhren nur einzelne), deutete er auf einen erhöhten Rettungsplatz und fragte, wie man deutsch für refuge sage. Der Beziehung auf ihn und sein Haus nicht eingedenk, antwortete ich: »Insel«.

Die Abtei Pontigny liegt abseits, wir stiegen in einen Lokalzug um. Das Dorf bestand aus einer staubigen Straße kleiner Häuser, um so stattlicher macht sich in ihrem frischen, grünen Park die Abtei. Als die Mönche sie, infolge der »affaire«, verließen, hatte M. Desjardins sie erworben. Wohnhaft in der Hauptstadt, zog er diesen ländlichen Aufenthalt vor. Drei Ankünfte, jede für zehn Tage, versammelten die Teilnehmer seiner »Unterhaltungen«. Die einen dachten sich selbst zu unterhalten, die anderen ihr Publikum. Man kam um der ungezwungenen Geselligkeit willen oder aus Bedürfnis nach geistiger. Man kam, weil es hier frisch und grün und weil es eine Auszeichnung war.

Der Hausherr erschien würdig, mit Autorität, freundlich ohne Herablassung. Die religiöse Stille seiner späten Jahre wird er nicht immer gehabt haben. Einst als literarischer Kritiker ist er Mitbewerber oder Gegner der Kampflustigsten gewesen. Bei dem geselligen Stundenplan dieser zehn Tage kam es dennoch zu einem improvisierten Spaziergang über Feld, drei allein, Desjardins, Bertaux, in ihrer Mitte ich. Mir wurde bewußt, daß ich weder fremd noch einer von vielen sein sollte. Ihr Gespräch zog mich in Pariser Angelegenheiten, als ob ich sie gekannt hätte. Nahezu ein Jahrzehnt war ein Teil der Welt, der mich anging, mir verschlossen gewesen, und sie wußten es.

Eine eigene Art von Dankbarkeit hat der 1939 dahingegangene Desjardins mir hinterlassen. Ich denke seiner wie eines sehr überraschenden, sehr harmonischen Zwischenspieles, das er mir bereitete, dessen innige Stimmung er selbst hineinlegte, und das nie wiederkehren sollte. Den Alten habe ich dann wohl in Paris, nicht mehr in Pontigny aufgesucht. Manchen Sommer lud er mich ein; ich fühlte aber, daß an ein abgeschlossenes Erlebnis besser nicht gerührt werde. »So viel hat es für Sie bedeutet?« höre ich ihn fragen.

Mein lieber Bertaux konnte nur zwei, drei Tage bleiben, dann war ich eingeführt genug und hatte mich allein zurechtzufinden. Wir wohnten in den einfachen Wirtschaftsgebäuden um das Kloster, ich weder zu schlecht noch zu gut. Wir frühstückten an den langen Tischen des Refektoriums, jeder zu seiner Zeit, und holten uns das heiße Getränk in unserem großen, henkellosen Napf. Der Vormittag verging den nahe Bekannten abgesondert im Garten. Ich hatte keinen, mich ihm anzuschließen. Die große Bibliothek gab eher Gelegenheit, ins Gespräch zu kommen.

Bei den Hauptmahlzeiten saß ich einige Male, nicht zu oft, neben der Hausfrau. Sie redete mich an, wie einen Zugehörigen, der sich lange nicht hat blicken lassen, aber es ist nichts vorgefallen inzwischen. Die Münchener Plakate »An Franzosen wird –« verwischten sich, wurden unwahrscheinlich. Dagegen fällt mir als Vergleich noch heute das Burgtheater ein, wo der Regisseur meine Anregungen genehmigt hatte mit den Worten: »Der Zugelassene weiß manchmal mehr als der Zugehörige.« Der Zugelassene war auf dieser Stufe des Geschmacks – der Autor.

Eine reiche Dame aus dem Saarland nannte mir gewisse Halspillen, von denen man eine Vogelstimme erhalte – »comme Gide«, sagte sie. Denn André Gide war ein Hauptsprecher, an den Nachmittagen und des Abends. In einem Laubengang des Parks – frisch duftende Reseden, man mußte klug sein und man mußte reden –, fanden die festgelegten Unterhaltungen statt. Sie bewegten sich, unter der taktvollen Leitung des Hausherrn, in der Gegend zwischen Literatur und Zeitgeschichte. Ich konnte wohl einmal mithalten.

Was ich nach Kräften vermied: für ein Land, im Namen anderer zu urteilen. Mein Wissen sollte den Wert haben wie ich selbst. Dennoch mußte ich von M. Roger Martin Du Gard (nachher Nobelpreis) eines Tages hören: »Sie sind hier für ein großes Land. Qu'est-ce que je suis, moi? Un sac de poussière.« Genau wie ich, mein Bester. War es drüben, bin es hier. Was wir von einem Lande mitbringen, wäre allenfalls sein Staub. Vielleicht aber haben Sie ihm Gold beigemischt?

Beruhigend und als gütig empfand ich M. Jean Schlumberger. Nur einmal sprachen wir uns damals des Näheren, tauschten unsere Adressen aus, rue d'Assas besuchte ich ihn. Die Wohnung war ausgezeichnet durch ihre freie Lage am Jardin du Luxembourg, übrigens bescheiden für den Angehörigen einer Familie großer Industrieller. Er selbst war mild und bescheiden, er gab sich unansehnlicher als er zu sein verdiente. Er hat Schönes geschrieben und hat auf seine sanfte Art zu nicht mehr verstandenen Schönheiten hingeleitet. Das letzte, was er mir schickte, war »Plaisir à Corneille«.

André Gide war unbestritten erster Held in Pontigny. Die Abende unter dem weichen Lampenschein wären ohne ihn anders bei Diskussionen und weniger vergnüglich verlaufen. Mit den jungen Leuten führte er Scharaden auf, die altmodischen, reizenden Verkleidungsspiele, die Rätsel vorstellen. Aber er liebte auch aus seinen Dichtungen zu lesen. Er hatte die schönste tenorale Sprechstimme, und hatte sie nur, wenn er sich und das Seine zur Geltung brachte. War er fertig, wurde Tilleul gereicht.

Auch die zehn Tage waren einmal um. Sie hatten genug Ungewohntes gebracht, um länger als ihre Zahl zu währen. Ich hatte im Schoß einer Familie gelebt, alle Franzosen hinzugerechnet eine große, einige Familie. Heftigen Widerspruch bemerkte ich nur an dem Abend, als Anatole France genannt wurde. Er hatte damals sein letztes Jahr zu leben. Für mehrere Junge war er vor dem Ende tot, bei ihnen hinterließ er keine Spur.

Es tat mir weh, aber ich begegnete auch hier der abrupten Scheidung der Geister, in Fragen des Verstehenwollens und Nichtnehmenwollens, im Hinblick auf Duldsamkeit und Gewalt. Die Autorität des alten Desjardins stellte einen unsicheren Frieden her. Dies war nicht mehr sein Jahrhundert. Unter dem Eindruck einer erstaunlichen Tradition und der Störungen, die ihr drohten, ging ich.

In Paris wählte ich Rue du Havre ein winziges Hotel, das meinem Bestand an echtem Geld entsprach. Die ungedeckten Scheine der deutschen Republik waren nicht im Handel. Paul Desjardins erschien nochmals. Er führte mich durch die Stadt, er aß mit mir bei Brébant, wo die Goncourt und ihre Freunde ihr monatliches Dîner gehabt hatten. Das Speisehaus war geringer geworden, jetzt ist es verschwunden. Als ich abreiste, fand ich meine Hotelrechnung schon bezahlt.

Rechtzeitig kehrte Félix Bertaux aus Lothringen zurück. Dort besaß er ein Bauerngut. Geht man französischen Intellektuellen nach, die meisten stammen von Bauern. Warum sonst wäre die Literatur dort eingesessen, der Gedanke eine soziale Macht.

Mein Freund trug selbst das Gepäckstück an den Wagen, wir verabschiedeten uns mit dem Versprechen, einander bald wiederzusehen, und haben es gehalten. Alles schien gut gegangen, denn er verschwieg mir damals, was er gesehen hatte. Der Chauffeur, kaum daß er »gare de l'Est« hörte, bekam ein Gesicht, das meinen Freund erschreckte; er war nicht sicher, daß ich ohne Zwischenfälle durchkommen würde.

Indessen fuhr ich ab Straßburg auf schlechten Kleinbahnen durch süddeutsche Gegenden, die im hellsten Sonnenschein das Herz betrübten. Die Bewohner waren schlecht ernährt und bemühten sich verhungert auszusehen, damit die Reisenden, während ihrer langen Aufenthalte, noch schwerer zu einem Stück Brot kamen. Ich gedachte der Mahlzeiten von Pontigny, der großen Tassen ohne Griff, des abendlichen Lindenblütentees. Von der Infusion bis zu den bequemen Betten unterstützte das Wohlleben der Menschen ihr Wohlwollen. Gastlichkeit ist allerdings erschwert, wenn in großen Berliner Hotels der Kunde, beim Schein einer Kerze, selbst die Matratze beziehen muß mit Papier.

Aber nur drei Jahre später sollte alles sich umkehren. In Paris bewohnte ich Prunkgemächer, die, hoch berechnet, mit Goldmark dennoch leicht zu bezahlen waren; und die »Cent mille chemises«, kann ich mich erinnern, gaben den Fremden kein einziges Hemd, die Aufkäufer hatten die Inflation des Franc genug mißbraucht. Der Unterschied zwischen Deutschland 1923 und Frankreich 1926: nur die Franzosen wehrten sich, jeder einzelne rächte den Angriff auf die nationale Währung. Nahe Bordeaux schlug eine Krämerin wütend auf die Faktur einer Schokoladenfabrik, die von ihr Bezahlung in Dollars verlangte. »Mit dem Haus bin ich fertig!«

Sie haben, im ganzen genommen, die Schuld an ihren Mißständen nicht auf andere abgewälzt. Ob sie über ein Versailles gewinselt hätten? Nach 1871 hieß ihr Wort: »Immer daran denken, niemals davon sprechen.« Ein Déroulède sprach gleichwohl so lange, bis er Denkmäler bekam. Einem sinnvollen Komiker wieder, Alphonse Allais, war es um 1890 erlaubt, dem geräuschvollen Patrioten gute Besserung zu wünschen. »Bien du mieux chez vous, mon cher Paul.«

Der Chauffeur, der Fahrten nach dem Ostbahnhof nicht liebte, war mir unbekannt. Im Dorfe Pontigny hatte ich mich nur den Maryland-Zigaretten zuliebe gezeigt und den ironischen Blick eines Mannes überrascht. Wäre das alles gewesen, ich hätte nicht eingesehen, warum im nächsten Jahrzehnt die Völker nicht an gutem Willen zunehmen sollten.

Aber den Deutschen wurde von einem Typ, der geschäftlich wie doktrinär fortgeschritten war seit Déroulède, geläufig beigebracht, jede ihrer Unannehmlichkeiten, und wenn man sich beim Rasieren schnitt, käme von ihrer unverdienten, übrigens nicht stattgehabten Niederlage. Bei den Franzosen schlich sich das schlechte Gewissen ein; die Schuld am Niedergang, ihrem und jedem, fiel allmählich auf ihren unvorsichtigen Sieg. Dabei bleibe man beiderseits gut gelaunt und werde weise!

Mein Freund besuchte mich schon im folgenden Sommer. Mit seinem jungen Sohn saß er bei Tisch, es schien sein gewohnter Platz, wir fingen das Gespräch an, wo es aufgehört hatte. Er besichtigte meine französische Bibliothek und fand, daß »alles da« sei. Wir gingen zusammen ins Gebirge, nach Oberammergau; es ist, noch in Jahren ohne Spielzeit, attraktiver als Dorf Pontigny. Zu bieten hatte ich ihm die Sitten der Örtlichkeit und ihre Figuren, Holzschnitzer, die unausgesetzt ihre Apostelköpfe umhertragen.

Linderhof, das Schloß eines geistig gestörten Königs, erschien dem Franzosen erstaunlich banal. So viel billige Nachahmung trotz vieler verschwendeter Mittel, hätte er einem hochfliegenden Phantasten nicht zugetraut. Vor dem Gasthaus der roh gezimmerte Tisch, die Bank ohne Lehne, das Bier und der würzige Duft der Kräuter ergaben die beste Stunde. Von der Kindheit bis heute zähle ich die Plätze, wo die Natur gut gerochen hat. Bertaux hatte vor allem den Drang, den schwierigsten der Berge zu besteigen. Nachher war er vollkommen glücklich.

Eines anderen Sommers bin ich zu ihm in die Pyrenäen gereist. Es war nicht einfach; sein gewohnter Sitz lag am Rande eines Städtchens, einst das verbotene Getto von Leprakranken; höher hinauf begann alsbald der Übergang nach Spanien. Carmen mit ihren Schmugglern konnte den Paß beschritten haben. Der felsige Boden war dennoch angebaut, so weit Frankreich waltete. Die Grenze – und alsbald die Wüste.

Der gebräunte Mann aus dem Flachland war durch eigene Ernennung ein Gebirgler. An der abschüssigsten Stelle schoß er wohl eine der stämmigen Gemsen, die Izards heißen. Das lieferte ein Hauptstück unserer Nahrung. Madame Bertaux bereitete sie auf der offenen Feuerstätte des großen Wohnzimmers. Die Sessel waren aus Stroh, den Boden bedeckte rötlicher Stein. Kleine Schlafkammern, an die Fensterchen schlug damals der Regen. Das Haus hatte Mauern wie eine Burg, die Tür aus eichenen Bohlen wäre notfalls zu verteidigen gewesen. Herein trat eines Abends der Lehrer.

Der Lehrer von Lescun besaß die volle Überzeugung eines Instituteurs: Nationale Vorurteilslosigkeit, Menschenliebe und den Glauben, als sei der gute Wille genug, um den Frieden allen begreiflich, allen wünschenswert zu machen. Vielleicht hat der Typ geschadet? Tausende seinesgleichen, die ein Volk erziehen, lassen es »allzu gerecht« werden, wovor zu seiner Zeit Klopstock die Deutschen gewarnt hatte. Der ungerechte Sinn, den sie dann erwählten, wäre ihm verhaßter gewesen. Man weiß nicht. Lehrer der Güte haben zuletzt doch wohl einem gesegneten Volk beigestanden.

Mich hat auch der Volksschullehrer ermutigt, in seinem Land nach meinem Vermögen zu wirken, für die Freundschaft mit meinem. Bertaux war für meine Versuche, ungefähr in dem Maß, wie ich selbst sie richtig fand. Der günstige Augenblick schien gekommen. Die Illusionen seines kleinen Amtsbruders hat der skeptische Intellektuelle nicht auf sein Gewissen genommen – ich auch nicht.

Wir dachten nur: Der Augenblick ist der Augenblick, versäume keinen! Während wir uns um die vergebliche Vernunft bemühen, können unbekannte Umstände ihr dennoch Macht verleihen – und wir hätten auch im Zeitlichen recht getan. Schweigen wir von dem Rechttun, das mehr als zeitlich ist.

Den Monat Dezember 1927 besetzte ein wohlgesinnter Manager, der junge Philippe Soupault, lückenlos mit meinem Auftreten vor Zuhörern jeder Art, in Gesellschaften ungleicher Herkunft. Überall empfing mich eine erstaunte Bereitwilligkeit. Noch höre ich den gerührten Dank eines alten Gelehrten – als wäre ihm ein unglaubwürdiger Traum seines Lebens dennoch erfüllt. Den Deutschen, der ihm dieses andere Gesicht eines Landes zeigte, hatte er nicht mehr erwartet. Um dieselbe Zeit kam der deutsche Minister Stresemann am Quai d'Orsay von einer Unterredung mit Briand. Die angesammelte Menge draußen rief Vive l'Allemagne!

Der deutsche Botschafter von Hoesch gab mir, wie vielen anderen, ein gepflegtes Frühstück. Zu sagen wußte er mir, daß ich für die beschleunigte Räumung des Rheinlandes von französischen Truppen wirken möge. »Dabei können Sie uns wirklich helfen.« Zu verstehen: »Was Sie sonst tun, zählt nicht.« Später habe ich sein letztes Bildnis gesehen: er vertrat Hitler in London. Verzweiflung und Tod standen ihm im Gesicht. Die Sache ist: seine Überzeugung, falls er eine hatte, vertrat er vorher kaum. Erst als Botschafter Hitlers bemerkte er, daß er lau gewesen war. Keine Skepsis rechtfertigt unsere Lauheit.

Nun die französische Besatzung, viel früher als vorgesehen, wirklich zurückgezogen wurde, hat niemand gedankt. In der Preußischen Akademie wies ich auf den Vorgang hin. Die Antwort war Achselzucken. Die deutsche Republik, angenommen, sie selbst wäre für voll und als handelnde Person genommen worden, strich eine überalterte Schuld ein.

Franzosen sind, bis gegen den Antritt Hitlers hin, in derselben Gesinnung nach Berlin gekommen, wie ich Paris besuchte. Es war, wie mir schien, nicht leicht, eine Gesellschaft ohne Besorgnis von Reibungen zu vereinigen, für einen Gast wie Victor Margueritte. Auch mußte ihm auffallen, daß der Sprecher wieder der bekannte war. Gab es außer mir keine persönlich Beteiligten – ausdrücklich bestellt und berufen? Oh! Es gab.

Aus Anlaß der Kolonialausstellung 1931 wurde von Paris eine deutsche Delegation erbeten. Ihr gesellte sich ein gewisser Bloem, als unberufener Schriftsteller alt geworden, aber wenn eine nationale Bosheit ohne Hirn das Talent ersetzt, sah er seine Gelegenheit nahe. Im Krieg haben die Nationalsozialisten, die seinesgleichen kaltstellten – als nationale und soziale Gottesgeiseln genügten sie sich – ihm endlich doch einen seiner Sätze nachgedruckt: die Russen kämpften fanatisch, weil sie noch unter dem Tier ständen. Mit diesen Begriffen in einem mächtigen Schädel, kam das Individuum nach Paris mit, um mich zu beaufsichtigen, um Verletzungen der nationalen Würde nach Haus zu melden.

Meine nationale Würde wird vom Haß verletzt: er ist das Produkt von Minderwertigkeiten. Den Haß fand ich in Frankreich nie. Er ist mir im Deutschland der Republik auf Schritt und Tritt begegnet. Jedes Wohlwollen für das andere Land hat den deutschen Haß beleidigt, es wollte ihm Abbruch tun. Er verlangte vielmehr nach Vorwänden, um auszubrechen.

Hitler stand sichtlich bevor, da hat meine nationale Würde für richtiger gehalten, das Rheinland werde nochmals besetzt. Ich riet es an – nicht den Franzosen, sondern mitten in Berlin. An dem Tisch des Meisters Liebermann (der nicht verantwortlich ist, er hörte nicht hin) saß auch ein französischer Journalist. Da ihm seine publizistische Neugier über jedes sachliche Interesse ging, benutzte er meine Äußerungen für ein Buch – es hätte mir bald eine Anklage wegen Landesverrates zugezogen. Die Patrioten verfehlten ihre Absicht, aber was wollen sie: dank ihnen ist heute Berlin ein Trümmerhaufen.

Was sie weder wußten noch bisher erfuhren: einmal auf dem richtigen Weg, ging ich von der Mittagsgesellschaft geradenwegs hinüber in die französische Botschaft. Ich berichtete M. François-Poncet. Er hörte an, was für ihn nichts Neues war. Seine Regierung war auf denselben Einfall gekommen. Der großbritannische Einspruch verhinderte sie, ihn auszuführen. Aber die Wiederbesetzung des Rheinlandes, damals vorgenommen, hätte das deutsche Rachegelüst in seine Grenzen verwiesen.

Ein ungesundes – und entbehrliches – Gelüst wird durch den Mißerfolg gereizt, nicht ermutigt. Es verkriecht sich und hat einige Aussicht – wenn nicht an sich selbst zu ersticken, doch in die hoffnungslose Minderheit zu kommen. Die traurige Menge der Dummköpfe, die nach Hitler schrien, wäre bis zur Ohnmacht herabgesunken bei wiederbesetzter Grenze. Kein Hindenburg – der Verrat mit eiserner Stirn – hätte die Gelegenheit bekommen, die »ganze Macht« erpressen zu lassen von dem Schurken, der ihm mit Entlarvung drohte.

Die Spielbank der Unterwelt wäre polizeilich aufgehoben, als noch Zeit war. Es klingt märchenhaft, nun sie auf ihr blutiges Brett die Nationen Europas geworfen und alle verloren haben an ein unbegreifliches Inferno. Es konnte nicht anders sein, da alles, was ist, vernünftig ist, so sehr man versucht wäre, es nicht dafür zu halten. Beim Erdbeben von Lissabon sagt Pangloss zu Candide: »Welchen hinreichenden Grund kann diese Erscheinung haben?«

Candide ruft nur: »Der letzte Tag der Welt ist da!« Ein Mann des Entschlusses und der Opportunität ist der Matrose, der unter Ruinen und Sterbenden stiehlt, säuft, hurt. Der gelehrte Pangloss, der nur leider angesteckt ist, zog ihn am Ärmel. »Lieber Freund«, sagte er, »das ist nicht recht, Sie handeln entgegen der Weltvernunft, Sie passen ihre Zeit schlecht ab.« – »Kopf und Blut!« antwortete der andere, »ich bin Matrose, gebürtig aus Batavia. Viermal hab' ich das Kruzifix mit Füßen getreten, auf vier Reisen nach Japan. Du kommst an den Rechten mit deiner Weltvernunft!«

Auch wir kamen an den Rechten. Félix Bertaux und ich befanden uns hierüber nicht so sehr im Irrtum wie der verseuchte Optimist. Mein Freund begleitete, seiner Zweifel unerachtet, meine Schritte, die dem Wünschenswerten bestimmt waren. Wer konnte wissen, ob sie nur des Wunsches, nicht auch der Mühen wert waren. Er beriet mich über die Worte, die ich an Briand zu richten hatte, als ich zu ihm bestellt wurde. Er ging manchen Vortrag mit mir durch. Als ich nicht mehr der – niemals beglaubigte – Vertreter Deutschlands, sondern ein leidlich interessanter Réfugié war, bestimmte er mich, über die Machtergreifung, ihre Voraussetzungen, ihre notwendigen Folgen das erste Buch zu schreiben.

»La Haine« war eine Sache von Wochen, beachtet wurde sie auch nicht lange – gerade in Frankreich nicht. Mein Freund wurde enttäuscht, obwohl er die Ursachen durchschaute. Wenn die Einmischung bei einer fremden Macht unzulässig schien – sogar ihm –, erübrigte sich die Kritik ihrer Verbrechen. Die geschlagene deutsche Republik verdiente eine Verachtung – die Entrüstung über Hitler wurde daneben klein. Das Schlimmste: nicht die deutsche Republik allein war erledigt. Sehr früh, in der Zeitrechnung der meisten, sprach mein Freund von der französischen Republik als von dem bisher schönsten Versuch, würdig zu leben – der zu Ende gehe.

Wir haben zusammen nur das öffentliche Verzagen erlebt, nur den rötlichen Widerglanz versinkender Hoffnungen, das Ende eines Tages. Glücklich war unsere Freundschaft. Ich sehe Sie, lieber Bertaux. Wir verlassen das Haus der Mutualité. Aus den Tausenden, die mich erst nach langer Begrüßung haben sprechen lassen, erkennt mich der und jener. Auf dem Boulevard Saint-Michel setzen wir uns vor ein Café. Mein Neffe, der an der Universität Rennes doziert, ist mit uns, er bringt uns etwas von seinem Jugendmut – insofern eine Jugend, die zu vieles, zu früh erfahren muß, ihren reinen Mut behält.

Immer sehe ich, mein Freund, Ihre Augen leuchten. Wirklich schickten sie Strahlen aus, wie nach meiner Kenntnis nur die Augen von Anatole France, im Bilde. Wenn sonst kein Grund wäre, mich Ihrer zu rühmen, bin ich stolz, daß der Mann mit den schönsten Augen sich einmal meinen Sohn nannte. Gerade Ihre Augen mußten erkranken: Ich halte es für ein Gleichnis. Als ich das besetzte Frankreich floh, konnten wir uns nicht mehr sehen; ich halte es für eine meiner Strafen.


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