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Fünfzehntes Kapitel.
Abschied von Europa

Frankreich, solange ich es kennen durfte, hat mich Haß nie fühlen lassen. Ich erlebte mit diesem Land das erste Jahr des Krieges, die Niederlage, und verließ es Ende August, als ersichtlich wurde, daß auch der Süden nicht mehr lange sicher sei. Nach meinem Fortgang, wohl schon vorher, empfing ich einige gedruckte Beschimpfungen; indessen wurden sie entwertet durch ihre Urheber selbst: heute denken die Verräter Frankreichs an Entkommen; ich aber war sein Freund.

Einfache Familien boten mir eine Zuflucht an. Beamte wollten mich unter einem angenommenen Namen im Gebirge verschwinden lassen: das ist der »Busch«, wo seither höchst aktive Flüchtlinge ihren Standort haben. Für die französische Mannhaftigkeit ist nichts zu befürchten. Eingetreten war 1940 eine militärtechnische Katastrophe; die moralische wird langsamer begriffen. Individuen und Massen sind befremdet von der Verwandlung, die mit ihnen vorgehen soll. Zögernd entschließen sie sich.

Die Franzosen waren in nichts darauf vorbereitet. Bis zum Mai hielten sie den Sieg für gewiß. Einen Deutschen, der sie vor den Machthabern ihres Landes immer gewarnt hatte, anerkannten sie und ließen ihm seine Meinung. Es tat wohl und es machte traurig. Ich hatte keinen Erfolg gehabt – da dennoch Krieg war. Aber sie dankten mir, obwohl verspätet, und wollten mich hören, als nichts zu sagen blieb.

Das ist nun eine Unterscheidung zwischen deutsch und deutsch, die ihre Bitternis hat. Sie beschämt den Empfänger; seine Sache wäre es gewesen, im Gegenteil aufzuheben, was deutsch von deutsch trennt, das Bessere zu machen aus Deutschland, das besser sein könnte. Unmöglich? Über die Kraft? Aber meinesgleichen hat bis an die Grenze der Kraft nie gehandelt: wir erkannten, was war, und ließen es zu. Wir haben kaum gekämpft.

Es fehlte nicht an ungeduldigen Rufen. Als Hindenburg das zweitemal gewählt werden sollte, erinnerte ein Leser der »Frankfurter Zeitung« daran, daß es mit ihm genug sei; geachtet und Deutschland vor der Welt zu vertreten würdig sei der alte Dichter Gerhart Hauptmann. Das wußte jeder. Damit einer es aussprach, mußte er absichtlich – denn so viel Fremdheit war nicht anzunehmen – alle aufgehäuften Tatsachen übersehen die vollendete Ungeistigkeit, nicht jedes Deutschen, aber ihrer staatlichen Gesamtheit; eine abgetragene, niemals erneuerte Machtverteilung; die krankhafte Hinneigung der Republik zu ihren Feinden, die ihr mit Haß vergalten.

An der Spitze ein Intellektueller, der sich Rechenschaft ablegte? Gesetzt, er hätte alle Konflikte durchgestanden, bis er fiel, physisch fiel, oder bis Revolution war. Ich sehe das nicht wie Dinge dieser Welt; das Nichtgeschehene erscheint gespenstisch, man greift danach umsonst.

Was hätte ich selbst getan? Denn auch mich hat man genannt. Die Frage ist immerhin erörtert worden, warum der Präsident ein abgetakelter Militär sein mußte und kein bewährter Schriftsteller sein durfte. Dieselbe demokratische Zeitung wußte hierauf eine Antwort, weltklug genug, daß sie selbst nunmehr aufgehört hat zu existieren. Vorher entehrte sie sich, wie sie konnte, mit derselben Kooperation, die später nach Frankreich verlegt wurde.

Einen merkwürdigen Aufschluß erhielt ich eines Nachts in Berlin, von einer Gesellschaft, die aufbrach und meinen Tisch streifte. »Den hätten wir lieber wählen sollen«, sagte einer, während die Gesichter, unsicher und nicht glücklich, sich nach mir umsahen. Mich zu erfreuen, war nicht die Absicht. Sollte ich mit ihnen bereuen?

Weder meine Bedenken noch die Erfahrungen, die die sie bestätigt haben, nehmen mir – und mehreren anderen, nicht weniger Verpflichteten – etwas von unserer Verantwortung. Indessen sieht man sie nicht, der einzelne bleibt mit ihr allein.

Die französischen Intellektuellen haben unvergleichlich besser gekämpft. Nicht umsonst hatten sie hundertfünfzig Jahre Revolution hinter sich. Sie konnten sagen: gegen Daladier und die Finanz ist auch nicht mehr zu machen als gegen Hitler und seine Industrie. Komme, was muß. Sie wußten aber, daß sie ein anderes Volk hatten: ein Volk schlechthin. Die Intellektuellen anderswo sind manchmal ohne Volk; sie haben Publikum. Die französischen Intellektuellen kannten das Vertrauen der Massen, sie hatten es erprobt; oftmals war ich dabei gewesen.

Auch sie stellten keinen Präsidenten der Republik, oder stellten ihn dennoch: Clémenceau, wie Briand, war der ihre; beide sind abgelehnt worden von derselben Bourgeoisie, die dem Retter Frankreichs, Robespierre, kein Denkmal gönnte. Die Intellektuellen gingen nicht mehr in das Parlament – womit das Parlament als unfruchtbar erwiesen und gerichtet ist. Hätten sie Sitz und Stimme gehabt, die einen, auf der vorgeblich demokratischen Seite, wären, sogar wenn sie dagegen stimmten, mitschuldig geworden an der Entrechtung der anderen, auf der sogenannt kommunistischen.

Sie dachten und handelten mit den Massen, vermittels Volksversammlungen und durch die Presse. »Ce Jour«, Herausgeber Louis Aragon und Jean-Richard Bloch, zwei Dichter und Romanciers, diese Tageszeitung bekam den Beifall der Massen sogleich, ohne die gewohnten Tricks des Erfolges, vielmehr in aller ihrer Schlichtheit. Das ganze Geheimnis war, den wirklichen Zustand auszusprechen. Keine letzten Ziele nennen. Noch gibt es keine.

Intellektuelle, die einfach feststellen, daß die Minus-Intellektuellen ihre Sache doch wohl übertreiben, sollen immer gleich Kommunisten sein. In Wahrheit haben sie mehr Leidenschaft als Doktrin. Damit sie gläubig werden, muß der Typ Laval die Gelegenheit bekommen, sogar die honnêtes gens zu radikalisieren, denn er treibt es zu arg. Der Verkauf der Nation an den Feind, durch einen fanatischen Geizhals, die vorläufige Herabsetzung der Nation von 40 auf 30 Millionen; dann ist die französische Untergrundbewegung, o Wunder, kommunistisch – ließ: national. Das Komitee der nationalen Befreiung verdient denselben Vorwurf, wenn es einer wäre. General de Gaulle spricht von dem »teuren, mächtigen Rußland«, ihm teuer ist ein befreites Proletariat, da es das Land rettet.

Der tschechoslowakische Konsul

Der tschechoslowakische Konsul in Marseille war ein tapferer Mann. Er hielt auf seinen Posten aus, als täglich die Gefahr näher kam. Seine amtlichen Pflichten, die uneigennützig waren, erleichterten ihm die eigenen Sorgen. Für ihn werde es noch immer einen Weg geben, meinte er. Nicht jeder verließ sich darauf. Der Konsul war vorübergehend seines Postens enthoben worden, als er eine Putzmacherin heiratete. Wie die Ämter die Norm wahrten, inmitten von Vorgängen, die sie verletzten! Eine reizende Französin aus dem Volk darf nicht die Frau des Konsuls sein, aber die Republik ist selbst deklassiert.

Jeden Tag konnten die Deutschen, voran ihre Gestapo, in Marseille eintreffen, ebensogut wie sie Lyon heimgesucht (und keinen silbernen Löffel dort gelassen) hatten, unbekümmert um den selbstverfertigten Wortlaut des Waffenstillstandes. Die Auslieferung von Personen mit verbotener Tätigkeit konnte immer verlangt werden. Die Tschechoslowakei ist ein deutsches Protektorat, ihre Konsulate verstoßen gegen geschaffene Tatsachen. Der Nachfolger meines Konsuls wartete nicht ab, daß seine Herausgabe verlangt wurde. Er entfernte sich, der Gatte der Modistin kehrte wieder, sie machte unbeanstandet Hüte.

Seine Amtsräume waren eine Börse der Gerüchte. Die es anging, verbrachten dort ihre Tage mit Hoffnungen und Ängsten, mit Reiseplänen im leeren Raum. Wenn einer erbleichte, war es Neugier auf ein Unheil, das sich heranarbeitete. Allen gab der Konsul Mut, oder wenigstens Papiere, die mehr oder weniger gültig, doch immer ein Recht auf Dasein vortäuschen. Gerade wo es verzweifelt stand, versuchte er wirklich zu retten. Zweimal fuhr er nach Vichy. Mir brachte er die Nachricht mit, daß der Minister sich für mich interessiere, mir sollte geholfen werden. (Wenn die Erlaubnis der Ausreise gemeint war, sie bekam man nie, ich auch nicht. Der Minister schied aus, bevor er gewagt hatte, seine deutschen Vorgesetzten zu erzürnen.)

Nicht dies habe ich zu bewundern. Natürlich hatte die Regierung der Kooperationisten unter ihrer ersten Mannschaft noch einen oder zwei, die zwischen Freunden und Feinden ihres Landes richtig unterschieden. Auch der Verrat will gelernt sein. Meine ergriffene Verehrung gehört der tschechoslowakischen Republik.

Hier ist ein Staat, der, weit und breit allein gelassen in einer feindlichen Umgebung – darum zuletzt auch ausgeliefert –, dennoch nichts aufgegeben hat von seiner sittlichen Reife. Die verhängnisvollen Jahre, als Hitler-Deutschland unter allgemeiner Duldung heranwachsen durfte, hat der Staat des Präsident-Befreiers Masaryk uns die Arme geöffnet. Wir – das ganze verfolgte Deutschland, das intellektuelle, das freiheitliche, waren in dem einzigen Lande nicht nur teilnahmslos geduldet: Prag empfing uns als Verwandte. Wie nahe verwandt, sollte 1938 furchtbar erweisen.

Die Tschechen haben, im Sinn ihres Staates, gewöhnlich abgelehnt, deutsch zu sprechen. Mit mir sprachen sie es. Aber als Deutschland im Unglück war – im Unglück seiner Blödheit und Verstocktheit –, da entsandten sie Untersuchungskommissionen in das unglaubwürdige Land, wo Volksmassen sich fanden um zu jubeln, wenn ein bösartiger Krüppel ihnen zuschrie: »Die Menschenrechte sind aufgehoben!« Gegenstand der Freude für alle die armen Teufel, die sonst nichts hatten als nur das bißchen Achtung vor ihrer Geburt als Menschen!

Die Prager Informatoren verstanden ausgezeichnet Deutsch, das Deutsch Hitlers, seiner Prügellager, Folterkeller, seiner moralisch verwüsteten Objekte, die noch Heil! riefen, und der anderen, ohne Zunge, Augen, Niere. Soviel der Welt bekannt gemacht wurde aus den deutschen Friedenstagen, erfuhr sie – ohne es sich nahegehen zu lassen – von Prag. Die Tschechen allein hat es nicht ruhen lassen; ihr Vorbild, ihr Erzieher hielt die Spitze ihres Staates, und war selbst nur die Vollendung ihrer Art.

Wenn je ein Mensch, hat Thomas Garrick Masaryk mir wohlgetan und geholfen. 1933, ich war schon in Frankreich, erklärte er meine Münchener Wohnung für tschechoslowakisches Eigentum und schaffte sie nach Prag. Bis 1938 haben Bücher, Bilder und der Besitz der Vorfahren ein Asyl gehabt. Was dann? Ruhe und Sicherheit über das fünfte Jahr hinaus, für uns und unsere Dinge, das war einmal, sie würden uns heute befremden. Für sein Nationalmuseum verlangte der Präsident meine alten Handschriften: mehr Ehrung als Entgelt. (Nach der bekannten Übung der Besitz-Ergreifer von 1938 sind sie – nicht wirklich, nur dem Namen nach verbrannt worden.)

1934, Deutschland hatte den 30. Juni seines Führers mit Glück bestanden, besuchte ich Prag, konnte meinen kranken Freund nicht sehen, aber sein Kanzler übermittelte mir seine Zusage, mich einzubürgern. Eine tschechische Ortschaft nahe der deutschen Grenze gewährte mir gern die Zugehörigkeit, dann nahm die Republik mich auf. Es bedurfte keiner gesetzlichen Frist, nicht einmal eines besonderen Aufenthaltes im Lande. Der Tag des Jahres 1936 ist unter meinen feierlichen. Es hinterlassen aber die wahrhaft feierlichen Augenblicke mehr Erinnerung an unser bescheidenes Los als an die empfangene Auszeichnung.

Wer war ich, daß eine fremde Nation sich meiner annahm, mich nach ihrem Konsulat in Marseille bestellte, mich in die Hand ihres Konsuls den Treueid ablegen ließ? Ich sprach die tschechischen Worte nach, falsch natürlich, denn ich kannte sie nicht. Wer war ich, daß diese Nation den Mann, verstoßen aus der seinen, ehrenvoll aufnahm und für ihresgleichen gelten ließ bis hinein in ihre eigene Verlassenheit? 1940, als der Konsul, selbst gefährdet, in Vichy für mich eintrat, hätte ich ihm sagen wollen: »Aber Landsmann! Gibt es so viel menschliche Solidarität?« Nur, daß er seine guten Werke in aller seiner nationalen Unschuld beging.

Diese Unschuld, die Witz, Klugheit, geistige Frömmigkeit vereinigt, die tschechische Unschuld ist es, die ich in einer Reihe von Romanszenen, »Lidice« genannt, habe mit Liebe bedenken wollen. Oh, unauffällig, anspruchslos. Groß auftreten, sie anreden: »Tragische Nation! Lamm auf der Schlachtbank!« stände mir nicht an, und auch ihr nicht. Im Falle Heydrich – wahrscheinlich hat seine eigene Gestapo ihn umgebracht – übertreiben die Deutschen ihre böse Besessenheit bis zum Unglaubhaften. Sie selbst übertreiben sich, mir blieb nichts zu tun übrig.

Hinsichtlich des tschechischen Volkes oblag mir nur, es leben zu sehen, wie es oft und lange gelebt hat: unter einer ungerechten Gewalt, der es begegnet mit Witz, Klugheit, geistiger Frömmigkeit, nach seiner Art. Die ländlichen Auftritte des Romans zeigen es heilig, nicht anders zu nennen als heilig – dank der unseligen Verderbtheit dieser Deutschen. Die Tücke läuft sich tot, wenn die Unschuld weise ist. Dies meine Huldigung an eine Nation, der ich nicht umsonst die Treue versprach.

Das spannende Marseille

Meine Frau löste in Nice unsere Einrichtung auf. Im gleichen Augenblick meldete das Finanzamt seine Forderung an, ich beglich sie gern. Den Staat Hitlers, der mein Guthaben stahl, hatte ich freiwillig nicht beschenkt. Hier, den jungen Advokaten, meinen anhänglichen Freund, tröstete ich mit der Hingabe von Erinnerungen. Über das Unwahrscheinliche ist man leicht getröstet: er glaubte an meine Abreise vielleicht nicht fester als ich. Mein Gefühl wollte noch immer leugnen, daß dieser Boden im Ernst für mich verloren sein sollte.

Sieben und ein halbes Jahr früher hatte ich es weniger abenteuerlich gefunden, unsere Berliner Wohnung zu verlassen, als ginge ich in das nächste Café. Das erste Exil enthüllte viel später, was es war. Dem Lande, das ich damals aufgab, hatte ich einiges vorzuwerfen. Diesem hier – nichts. Als dieses Land mich nicht mehr schützen konnte, bekam mein alter Gang durch Berliner Straßen, Februar 1933, endlich sein wahres Gesicht. Die Verbannung aus Europa war es, sie hatte ich damals angetreten.

Die Cannebiere, Hauptstraße von Marseille, wurde 1940 lebhaft kontrolliert von französischer Polizei, wenn auch in höherem Auftrag. Wen wollten sie eigentlich noch festnehmen, die Verschwörer regierten schon. Aber Papiere: Wer keine Papiere, oder nicht die richtigen hat, wird aus dem Grand Café geholt. Es gleißt mit überlebensgroßen Stukkaturen und Gemälden der weiblichen Typen, die 1890 die reizvollsten waren. Sie lächeln aus den Spiegeln, schwelgerisch umfängt ihr verjährtes Bild den Verzehrer von 1940, vor seinem prozentual herabgesetzten Alkohol, der dreimal wöchentlich erlaubt ist, – und gleich wird jemand nach Papieren fragen.

Eines schwülen Abends blieben wir zu lange auf der Straße sitzen. Wir sahen eine Truppe gegen uns anrücken, es blieb nur übrig, ihr die Stirn zu bieten. Als wir aufbrachen, hielt sie den Rand des Gehsteiges besetzt, der Offizier spähte jedem Passanten unter den Hut, der bei einigen tief im Gesicht saß. Ich fand es geraten, den Kopf höher als sonst zu tragen. Die Gelegenheit empfahl mir dringend, etwas vorzustellen, womöglich den Präfekten der Bouches du Rhône. Der Kommandant des Ordnungsdienstes glaubte es mir, er ließ von mir ab, wir waren vorüber.

Die Augenblicke von Sein oder Nichtsein sind märchenhaft, solange sie spielen: man geht ungläubig hindurch. Nachher überwiegt der Ärger über eine plumpe Falle, in die man sich um ein Haar begeben hätte. (Andere sind aus gleichen Anlässen, die sie etwas zu weit kommen ließen, ohne viel Ehre verunglückt.) Wir vertauschten das kleine Bahnhofshotel, das vielleicht unauffällig, vielleicht verdächtig war, mit dem vornehmsten der Cannebière, – es konnte auch wieder so und anders ausfallen. Vor allem bekümmerte ich mich ernstlich um die amerikanische Hilfe. Ich hätte nicht gewußt, wo anfangen, indessen ein guter Kamerad war da.

Lion Feuchtwanger ist schon lange ein amerikanischer Autor, ohne daß er aufhört, Europäer, sogar ein Deutscher des biederen Schlages zu sein. Sein Publikum in den Vereinigten Staaten hat staunend von ihm Geschichte gelernt, römische, jüdische und die großen Augenblicke Münchens, als es Weltruf erhielt durch Hitler, seinen Erfolg – und den Roman »Erfolg«, der mehr Dauer verspricht. Lion Feuchtwanger ist zuverlässig, er hat Schulung, Können und Charakter, zusammen ein seltener Besitz. Es kommt immer noch darauf an, ihn klug zu verwenden.

Er behandelte das Problem unserer Abreise wie einen seiner Romane, auf Grund sicherer Kenntnisse – der Gegebenheiten, der Personen – und im vernünftigen Hinblick auf das Abenteuer, das endlich eintreten soll. Es wäre unwahrscheinlich ohne die gewissenhafte Vorbereitung. Improvisationen verdienen keinen Glauben, zum Beispiel taugt die Fischerbarke nichts. Was für ein Roman wäre das, wenn auf hoher See unser gemietetes Schiffchen aufgehalten würde von einem feindlichen Fahrzeug – feindlich sind jetzt alle –, und die untersuchte Ladung für Nordafrika ergäbe nur drei geschlachtete Hammel, aber sechs noch lebende Emigranten. Mäßig erfunden, schwach komponiert.

Dergleichen Pläne unbestimmten Ursprungs folgten schnell aufeinander, jeder wurde fallen gelassen; Feuchtwanger hatte ihn nicht erst wichtig genommen. Er schätzte seine Freunde, die frommen und tatenlustigen Mitglieder verschiedener Sekten von drüben, Unitarier. Quäker und so. Sie bewegten sich in dem spannenden Marseille ohne persönliche Befürchtungen, aber mit der Freude am Geheimnis, Feuchtwanger, mein seriöser Mentor, hatte in dem verschwiegenen Garten, seinem Aufenthalt, den ich beinahe als einziger kennen durfte, für alle bequemen Fabeln nur sein weises Lächeln.

Er allein hat gewußt, daß Erleichterungen diesmal nicht gewährt wurden. Uns dient mehr oder weniger ein Papier, das richtig scheint; einem geübten Gedächtnis hielte es auch nicht stand. Menschen werden uns nicht schützen: die guten machen sich Bewegung, sie betätigen sowohl ihre Weltfreundschaft wie die Nächstenliebe. Uns werden sie in der Stunde der Stunden, l'heure H, keineswegs helfen. »Zwischen sieben und zehn gibt es keine Protektion« – das Wort einer Heroine, aus den militanten Zeiten des Theaters. Wenn sie sich selbst verläßt, ist sie verlassen: so auch wir.

Wir werden zu Fuß und auf eigene Verantwortung über die Pyrenäen gehen müssen. Diese und keine andere war von Anfang an die Tatsache selbst gewesen. Phantasien wichen ihr nur aus. Daß sie es nicht zu lange taten! Richtig sehen ist nicht alles, ich ließ mich dennoch hinhalten, weil ich meine Abreise aus Europa überhaupt bezweifelte – unausweichlich wie sie war. Die Geduld meines Kameraden war verdienstvoller als meine; er leistete keinen inneren Widerstand, hat aber endlich sogar länger als ich gewartet.

Über den Berg

Der Tag brach an. In Wirklichkeit war er um drei Uhr durchaus nicht angebrochen, aber der früheste Zug wurde am wenigsten kontrolliert – meinte unser Geleiter, der wackere Unitarier. Er hatte seinerzeit die vergangene Lehrzeit benutzt, verzichtete auf Abenteuer und ging sicher, oder begnügte sich mit der Hälfte. Schwerlich vergesse ich die ansteigende Straße nach dem Bahnhof, weithin nur wir, mit unseren Rucksäcken, die wir der Unbefangenheit wegen am Arm schlenkerten. Sie enthielten aber alles, was wir greifbar besaßen. Unser Gepäck sollte folgen, wenn ein ansässiger Geschäftsmann es besorgte. Früher oder später mußte auch er von hinnen. Er starb gleich ganz.

Den frischen Wind dieses Morgens fühle ich noch. So kann ich die Luft verschiedener, sehr verschiedener Morgenstunden zurückrufen, wenn ich einst aufbrach und hatte vor Freude nicht geschlafen, oder vor Unruhe nicht, vor Sehnsucht. Oder ich war wundervoll ausgeruht, weil nur das Vertrauenswürdige bevorstand, ein grüner Berg, zweitausend Meter hoch. Mein älterer Freund, damals hatte ich ältere, geleitete die bunte, sorglose Gesellschaft. Der Duft der Kräuter! Er erinnerte meine Sinne an bestandene und an vertraute Arbeiten, an ein Glück, das schon wartete, während ein abgelaufenes noch weh tat. Der kalte Hauch meines Aufbruches von Marseille befremdete eigentümlich. Ohne weiter zu insistieren, brachte er Nachricht aus künftigen Tagen, die nichts mehr von Belang zu melden hatten.

Die Bangigkeit verging, als unsere Fahrt nach der Grenze von den Amtspersonen, die dafür bestellt gewesen wären, gar nicht beachtet wurde. Bis jetzt ist Frankreich, bis hierher nichts verloren. Vorschriftsgemäß hätten wir weder in Perpignan zu Mittag essen, noch an dem nächsten Aufenthalt übernachten dürfen. Unser Dasein bestand aus illegalen Schritten, die allerseits begriffen und still gebilligt wurden. Ich glaube, was mir wohltut: ohne Geld hätten die Leute uns immer noch das Stück Brot gegeben und den Weg gezeigt. Die französische Güte, eine intelligente Güte, die auch wegsehen kann, kein Wort der Teilnahme und Demütigung verliert, Flüchtlinge für Touristen nimmt, ihnen sagt »Auf Wiedersehen«: das Beste weiß ich von ihr seit meinem letzten Tage.

Wir ergingen uns am Meeresstrand, zehn Uhr vormittags, in der Meinung, bis übermorgen hierzubleiben. Der verläßliche Beamte wurde dann erwartet. Indessen erschien unser Unitarier, infolge genauer Nachforschungen hatte er anders beschlossen: wir brachen auf, wie wir dastanden. Die Rucksäcke holen war alles. Ein Hut meiner Frau, der nachfolgen sollte, versäumte es – wieder ein Stück weniger. Ausgangspunkte unseres kleinen Ausfluges standen zur Wahl. Während unser Amerikaner den rechten erkundete und wir auch, kam er uns abhanden.

Mein Neffe Golo wollte sich auf die Suche machen, ich hielt ihn dringend zurück: zuletzt wäre jeder von uns einzeln durch die Berge geirrt. Wir fragten einen Einheimischen, der uns gleich verstand. »Nach Spanien? Hier.« Die Hand des Mannes riet uns, von der Straße abzuweichen auf einen kaum gebahnten Anstieg. Bald verlor der Weg sich im Gestrüpp. Von einem Steinblock zum anderen mußten wir die leidliche Verbindung finden. Am besten versetzte man sich in die Gewohnheiten der Ziegen, die hier sonst verkehrten. Heute, Sonntag, blieben sie zu Hause. Unterwegs waren nur wir.

Eine Wendung, die wir machten, legte unterhalb unseres Klettersteiges die bequeme Straße frei. Sie wäre länger gewesen; außerdem hätte sie uns genötigt, das französische Zollhaus zu betreten. Zwei Gendarmen gingen davor auf und ab. So gut wir sie sahen, bemerkten sie uns. Sie konnten uns anrufen. Sie wendeten uns den Rücken, und wir entschwanden.

Der Ziegensteig nach dem Exil überhob vieler peinlicher Eindrücke, er strengte körperlich an. Ich hatte seit Jahrzehnten keinen beträchtlichen Berg mehr bestiegen, war nunmehr ungeschickt und nicht jung: ich fiel recht oft auf die Dornen. In die Füße drangen sie ohnedies, fehlte noch, mit den Händen hineinzugreifen. Mehrmals unterstützte mein Neffe mich, dann überließ er es meiner Frau, die an sich selbst genug gehabt hätte. Er nahm die noch steileren Abkürzungen, kehrte aber zurück, wenn wir gescheitert auf einem Stein saßen. Er verließ uns nicht, eher machte er den Weg dreifach.

Er war ein ernster junger Mann mit wenig weltlichem Eifer, viel mehr geistigem Ehrgeiz – weshalb ich den Irrtum beging, als könnte er sich mir anschließen. Ein unerlaubter Irrtum. In meinen Jahren sollte die Frage abgetan sein, wohin die Jugend sich neigt. Zu der anderen Jugend natürlich, und wäre es die unfreundlichste. Dann haßt man einander und ist mitten im Leben vereint: eine klare, leichte Sache. Wie verhält man sich aber hinsichtlich des halbwegs Ausgeschiedenen? Schon sitzt er auf dem Stein und schöpft Atem.

Wer alt ist, weiß es nicht – will heißen, daß er nicht ganz im Ernst daran glaubt. Das Alter ist beschwerlich: noch mehr für die jüngeren, die mit ihm zu tun bekommen. Ihm unter die Arme greifen, so daß es fühlen müßte, was es nicht hören will? Das wäre nicht schonend. Allein weiterlaufen, verbietet sich auch. Übrigens trägt ein Junger an sich selbst nicht leicht, die besten am schwersten. Mein lieber Neffe hatte die französische Universitätslaufbahn vergebens versucht. Dennoch kehrte er, als Krieg war, aus der Schweiz zurück, bereit, in der tschechoslowakischen Legion zu kämpfen.

Wie geschah ihm nun? Unter dem Vorgeben, daß er nach einem Soldatenlager geführt werde, sah er sich plötzlich in dem Lager der Entwaffneten und der Lästigen. Festgehalten, bis sie der Übergabe Frankreichs nicht mehr im Wege sein konnten; nachher mochten sie zusehen, wo sie blieben; derart geriet der junge Mann endlich auf denselben Berg wie der alte. Er war besser zu Fuß, dafür mußte er durch härtere Erlebnisse gehen. Er verschwieg sie, weil er sich schämte für dieses vielgeliebte Land. Einer beim andern fanden wir kein Wort des Unwillens.

Er hätte sich beklagen können, ich nicht. Wenn ich an nichts anderem leiden wollte als an meinen persönlichen Unbequemlichkeiten, sie zählten gar nicht, das Unheil des Landes und so vieler, die ihm vertraut hatten, nahmen einem X das Recht, sich besonders zu beachten. Ich erging mich auf meinem Dornenweg noch immer wie Gott in Frankreich. Ob ich die Grenze des anderen Landes in zwei Stunden oder nie mehr überschritt, ich durfte es dem Lauf der Welt anvertrauen. Das erleichtert immerhin. Mühselig, aber mit Sorgen unbeladen, kletterte ich weiter.

Siehe, ein Zeichen. Für unseren verlorengegangenen Amerikaner war plötzlich ein anderer da. Bergab in großen Sätzen sprang er uns entgegen; sein Amt und Beruf waren gerade wir, Leute wie uns, pflegte er zu holen. Der griff mir unter die Arme, oh, er fürchtete nicht, jemand zu beschämen, weder mich noch Frankreich. Ihm war trefflich zu Mut. Diese Europäer hatten sich durch Dummheiten, die zu begreifen nicht lohnte, in eine verdammte Lage gebracht. Er half ihnen über den Berg, damit war alles in Ordnung.

Oben angelangt, die spanische Landstraße tief drunten, erklärte er uns, das übrige könnten wir allein. Was ihn betraf, er müsse noch andere heraufholen. Hauptsache sei für uns: die Straße zurück bis nach dem Zollhaus! Ganz unumgänglich, das erste Amtslokal des neuen Staates! Ich versuchte, den tüchtigen Jungen zu belohnen, bei mir herrschte die Leichtlebigkeit des Zwangsausverkaufes. Indessen versicherte er, in Amerika habe er Geld. Später hörte ich, er sei hier, wo er so viel Gutes getan, zum Konsul ernannt worden. Hoffentlich hat es für ihn nicht mit der Auslieferung an die deutsche Macht geendet. Er war ein musterhafter Vertreter des Kontinentes, nach dem es mich drängte.

Der Abschied

Der Gendarm im Zollhaus bekundete mehr Mitgefühl als Neugier, verkaufte übrigens Zigaretten. Der Weg zum Städtchen erwies sich reich an Schleifen, aber man wanderte, als wäre das Ziel ein Pyrenäenbad mit seiner entschlafenen Fremdenindustrie. Auf der französischen Seite kannte ich manche, nun gut, dies war die spanische. Angelangt, warteten wir, nicht bis das Bad bereitet wäre, sondern daß man geruhte, unsere Papiere zu prüfen.

Auch ein Pole saß da, nicht so ruhig wie man sein sollte. Die Altersgrenze, bis zu der sie noch auswandern und durch das neutrale Spanien reisen durften, betrug siebzehn Jahre. Mit allen seinen Bartstoppeln nannte er sich siebzehn. »Wenn wir noch lange warten müssen«, sagte meine Frau, »werden Sie inzwischen achtzehn.«

Er wurde es. Er wurde sogar siebenundzwanzig. Fast war er durchgelassen, da entdeckte der Beamte in dem Paß die Fälschung. Als der Pole hörte, daß er zurück müsse, weinte er wie ein echter Siebzehnjähriger. Umsonst, das neutrale Spanien wachte darüber, daß Hitler keines deutschen Soldaten verlustig gehe, und wäre es ein Pole. Ein Vernichteter, unter Millionen Gezeichneter.

Unser eigenes Papier war keineswegs gefälscht, es traf nur nicht zu. Es diente hier, es diente in Barcelona bei der deutschen Lufthansa: diese einzige Gebieterin der spanischen Lüfte beförderte uns willig nach Madrid und bis Lissabon. Papiere, echte Papiere überzeugen auch Straßenräuber und Propagandisten, die autoritären Menschenarten. Vor Papieren danken sie ab. Gerührt gedachte ich meines Freundes Feuchtwanger.

Der Gipfel des Wunders: ein richtiges Papier trotz der Dichtigkeit der Materie, aus einem Verschluß hervor strahlt es Kräfte aus. Am Flughafen Lissabon hatten wir Gründe, unser Papier zu verheimlichen. Wir behaupteten, es befände sich in unserem Gepäck – morgen sollte der Koffer eintreffen, illusorisch wie er war. Der portugiesische Herr über Sein oder Nichtsein betrachtete den Fall, er ließ ihn im Zweifel, bis wir von den zahlreichen Ausgeschifften der Lufthansa als Letzte übrigblieben. Ein deutscher Graf, der mich zu erkennen schien, hatte geschwiegen. Eine tschechische Frau, in Spanien als gefährlich für die öffentliche Sittlichkeit abgestempelt, wurde zurückgewiesen, wie an einem andern Tag der Geschicke der nicht mehr siebzehnjährige Pole. Reiseregeln: meide den Geschlechtsverkehr! Das Schlachtfeld sei dein liebstes Ziel!

Wir kamen durch. Vielleicht, daß unsere naive Unkenntnis uns vertrauenswürdig machte. Wer es wagt, papierlos aufzutreten, könnte zum Schluß das beste haben? Oder war der Herr von geradezu entsetzlichem Scharfsinn, durchschaute die dichte Materie eines vorgeschützten Koffers und gefiel sich als unsere Vorsehung? Auch ist zu bedenken, daß er endlich schlafen gehen wollte. Die kleinen Stunden, le ore piccine, brachen an.

So entließ er uns nach der Stadt, mit dem Versprechen, morgen unsere Papiere bei der Polizei vorzuweisen. Das Versprechen unterlag mentalen Vorbehalten, auch von seiner Seite. Wir selbst – ach! Dem Überschwang der papiernen Sucht begegnen zu müssen, macht treulos. Wir haben uns nie gemeldet. Für niemand war es von Nachteil. Dafür bedaure ich, daß die Papiere seither sich rächen an dem wohlwollenden Portugal. Spione Hitlers haben Papiere, so viele irgend nötig, um dem Land zu schaden.

Entlassen, wie wir waren, nahmen wir am Lufthafen das letzte Autotaxi: es hatte uns unverdrossen erwartet. War der hübsche, junge Portugiese, der sich einfand, verabredet, mit ihm, mit uns? Genug, er stieg ein. Von ihm beraten, besichtigten wir das nächtliche Lissabon. Die Hotels, unser erstes Augenmerk, gingen in das Wesenlose über, nachdem zwei oder drei sich besetzt erklärt hatten.

Der Chauffeur und der Mitreisende verzagten unseretwegen noch nicht. Mir scheint, daß ich nur fuhr, um zu fahren, durch Straßen ohne eindringliche Gegenwart, eine Seite tiefschwarz, die andere vom Mond sehr weiß. Die Bogenlampen vergesse ich, in meiner Pietät für die Häuser, die sie gern entbehrt hätten. Achtzehntes Jahrhundert, eine ernste, steife Manier. Was vorher dastand, fiel 1755 plötzlich um. Stürzen wird fortan mehr. Unvermeidlich, sooft man umkehrt, ist der große Platz mit seinen Cafés; aus Schläfrigkeit sind sie offen geblieben, auf den Terrassen lagern immer dieselben Nachtgestalten. Obdachlos, obwohl mit geblähten Taschen? Ihre Gedanken geistern – nach einem Dollarkonto jenseits? Nach Schiffskarten, die zu erringen, falschen Papieren, die für Geld an den Mann zu bringen sind?

Um die dritte Morgenstunde bekam unser Taxichauffeur es satt, vor Hoteltoren zu hupen, immer vergeblich, wie er im voraus wußte. Seine nächste Anregung galt einem Seebad, nur anderthalb Stunden entfernt, wahrscheinlich mit verfügbaren Betten. Der junge Landessohn, unser Begleiter, war geduldig mit uns die ganze Zeit umhergeirrt, ohne ein Wort davon, daß sein eigenes Hotel auf halbem Weg nach dem Seebad lag. Angelangt stieg er aus, nahm herzlich Abschied, bewegte sich heiter durch Palmen nach dem prächtigen Gebäude, dessen einwandfreier Gast er war. Der letzte Europäer ging nach Haus.

In dem unbekannten Seebad wurden wir, noch bei Nacht, vor einem altmodischen Grandhotel abgesetzt. Um unseretwillen war der Wächter auf. Wir bekamen unser Haupt hinzulegen, ja, auch kalt zu essen. Seit Mittag und Madrid wird man hungrig. Wie erfreulich, nun wieder Tag ist, in einen beliebigen alten Hof zu blicken. Verschlungene Gartenwege suchen ihn zu vergrößern und machen aus ihm das Beste. Sogleich stand fest: hier werde ich das Schiff erwarten. Die Szene soll bald von Grund auf wechseln; wohin sich vorher noch bemühen.

Eine bemerkenswerte Kolonialausstellung war damals am Meeresstrand errichtet; die Kleinbahn nach der Stadt ging vorüber, hielt eigens an – ich bin deshalb nicht ausgestiegen. Das macht der Abschied: man nimmt ihn innerlich, ist stark beschäftigt. Was sonst bedrückt hätte, wird übersehen. Die eigene Brigantine des Entdeckers Vasco da Gama lag haushoch auf dem Wasser. Wenn auch nur nachgeahmt, strahlten die phantastischen Umrisse doch von Vergoldung. Meinetwegen hätte der berühmte Reisende selbst droben gestanden und den Hut geschwenkt: meine bevorstehende Reise setzte die seine herab. War er nicht zurückgekehrt?

Meine Frau war eifrig im Kampf um die Schiffskarten. Es erforderte einige, immer dringlichere Angriffe auf Agenturen und Ämter, natürlich gewappnet mit Papieren. Ich nahm teil ohne rechte Überzeugung, als hätten wir reisen können oder nicht. Noch immer fragte ich: würden sie mich hier dulden, jahrelang, und wäre es zu wünschen? Die Dollars in meiner Tasche erwiesen sich bei jeder Rechnung unersetzlich. In Frankreich hatte ich mein übliches Einkommen gehabt, zum kleinen Teil aus Frankreich, alles aus Europa. Deutschland war so lange entbehrlich gewesen: das nunmehr geraubte Europa war es nicht.

Der Blick auf Lissabon zeigte mir den Hafen. Er wird der letzte gewesen sein, wenn Europa zurückbleibt. Er erschien mir unbegreiflich schön. Eine verlorene Geliebte ist nicht schöner. Alles, was mir gegeben war, hatte ich an Europa erlebt, Lust und Schmerz eines seiner Zeitalter, das meines war; aber mehreren anderen, die vor meinem Dasein liegen, bin ich auch verbunden.

Überaus leidvoll war dieser Abschied.


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