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Fünftes Kapitel.
Eine Nation überfallen, heißt hinter ihr zurück sein

Gewiß, das deutsche Verhältnis zum ganzen Europa ist abgeschweift von jeder Wirklichkeit. Die gesunde Vernunft beiseite, läßt es sich noch erklären. Die westlichen Mächte und Nationen waren auf diesen Krieg weder vorbereitet noch willens, ihn zu führen. Wer sich entschlossen hatte, den Krieg herauszufordern, gerade wegen seiner moralischen Unmöglichkeit, die nur ihn allein nicht abschreckte, der durfte losschlagen.

Der Angriff auf die Sowjetunion ist auch mit moralischem Irresein nicht mehr zu erklären. Der gewöhnliche Kranke behält dennoch den Sinn für seine Selbstbewahrung. Er rennt sich nicht den geschwächten Kopf ein – gegen offenkundige Tatsachen, und niemand hatte ihnen aus der Nähe aufgepaßt wie er.

Die deutsche Industrie hat für die Industrialisierung der Sowjetunion die Maschinen geliefert: ihre Techniker stellten sie auf, sie haben das Land an der Arbeit gesehen. Die Ergebnisse wurden in russischen Filmen den Deutschen vorgeführt. Die Maschinen sind bar bezahlt worden. Das ist kein ermüdetes Volk, kein verarmter Staat, so kurz nach ihrer Revolution, schon in voller Schwungkraft, um sie auszunutzen.

Die Filme zeigten uns, wie die Revolution zusehends fruchtbar wurde. Rationalisierte Produktion. Arbeit, die Elend nicht bedingt, sondern es einschränkt. Die technische Erziehung eingeordnet einer gehobenen Bildung der Menschen. Daher: Freude. Der freudige Stolz der Dörfer, die ihre Maschinen in Empfang nehmen, – ich sehe es noch. Die Freudigkeit der proletarischen Studenten, der Arbeiter, die eine selbstgebaute Untergrundbahn als ihr eigen bejubeln: wer vergißt das?

Alles stand klar wirklich vor uns, hätte niemals Mache sein können, Potemkinsche Dörfer hat kein deutsches Publikum darin vermutet. Wir erkannten auf Straßenbildern die vollen, lachenden Gesichter der Mädchen, den selbstbewußten Gang eines jeden. »Seht! Dahin haben wir es nun doch gebracht. Die Existenz hätten wir gesichert, ganz arm, ganz reich – ist nicht mehr.« Das Lebensgefühl des Sowjetvolkes stand unverkennbar hoch.

Aber der Stand ihres Lebensgefühls zeigt fehlerlos an, was von den Völkern zu erwarten ist. Mit geistiger Entmutigung, unter Zweifeln an den Einrichtungen des Landes und der eigenen Lage, werden sie weder ihrem Staat noch sich selbst ergeben sein bis in die ausgesprochene Katastrophe, bis zur letzten Entscheidung.

Das Sowjetvolk, die einfachen Individuen, ohne Wissen um die Menschheit jenseits ihrer Grenzen, fühlten sich überlegen, allein auf Grund ihres Lebensgefühls. Sie meinten richtig, ein gleich hohes könnte draußen niemand haben. Nur darum nahmen sie den Rest der Welt für veraltet. Nicht, daß es sie gedrängt hätte, ihn zu erneuern. Man hilft sich selbst, andere versuchten höchstens zu stören, das kannten sie. Man muß wehrhaft handeln, opfern, leiden, alles wehrhaft, alles über jeden bisherigen Begriff, – bevor das Glück eintritt, oder noch nicht das Glück, aber der verheißungsvolle Schein, der ihm vorausgeht.

Andere das Glück lehren wollen, wäre vergeblich, die Leiden und Opfer haben sie selbst sich abzugewinnen. Ich gestehe, daß ich die nunmehr aufgehobene Komintern als eine Geste der Revolution, nicht für mehr bewertet habe. Die Weltrevolution wird nicht gemacht: sie vollzieht sich geistig, sittlich, und auf einer weiten Skala des Erlebens. Wenn nicht alles täuscht, ist das Sowjetvolk während seiner zwanzig Jahre Aufbau mit sich allein geblieben. Es hat den Völkern, die nach seinem lebendigen Gefühl hinter ihm zurück waren, wenig Gedanken gewidmet, den Gedanken sie anzugreifen nie.

Das vorige betrifft die Anschauung menschlicher Zustände, der seelischen noch mehr als der handgreiflichen. Es ist recht eigentlich eine ästhetische Aufgabe, die meisten Politiker sind dafür schlecht geeignet, die üblichen deutschen – gar nicht. Hitler und Genossen bleiben, was sie sind, wenn sie des Menschen nicht achten: haben sie ihn doch ausdrücklich abgelehnt. Sie unterscheiden Deutsche – und den minderen Rest. (In Wahrheit unterscheiden sie nicht. Auch die Deutschen sind nur ein Rest.)

Punkt zwei: der militärische

Indessen ist es nicht das Menschliche allein: es sind drei Punkte, in denen Hitler und Genossen grob daneben raten mußten, damit ihr Angriff auf die Sowjetunion ihnen herzhaft vonstatten ging. Der zweite ist der militärische. Wo waren ihre Beobachter (solange möglich, das Wort Spion vermieden), die, in Moskau zugelassen, gewiß mehr sahen, als sie von Amts wegen durften? Sie konspirierten. Wer mit schlimmen Absichten umgeht, hat geheime Quellen – und Hintertüren. Gerade darum übersieht er das Offenkundige.

Die deutschen Beobachter haben den Roten Platz, mit dem Sarkophag Lenins und der beständigen Verehrung, die ein ganzes Volk ihm erwies, für eine Attrappe angesehen. Um so eher hielten sie jeden Aufmarsch der Roten Armee, mit aller leidenschaftlichen Teilnahme der Zuschauer, für Theater. Gutes Theater hat aber die Intensität des Lebens selbst. Die Wirklichkeit in ihren besten Stunden bekommt dieselbe Kraft und Anschaulichkeit wie gutes Theater. Hier nun war der Fall, wo die Vorführung und das Vorgeführte sich deckten.

Die Rote Armee, das sind Arbeiter und Bauern, die es unverändert bleiben auch in Uniform. Verlangt wird nicht, daß sie ihre soziale Herkunft vergessen, wenn sie Soldaten sind. Sie leisten keinen Schwur auf das Interesse anderer Leute, wenn sie ihrem Staat schwören, ihn zu verteidigen. Der Staat sind sie. Die Rote Armee, wie sie aufmarschiert, das Volk mit seinen glänzenden Augen: – alles eins.

Menschenbeobachtung beiseite, bloße militärische Horchposten müßten den Tatbestand gewürdigt haben. Sie waren verpflichtet zu sehen: die Revolution ist militärisch. Sie ist es nicht auf höheren Befehl und durch mechanische Abrichtung. So kam sie zur Welt, so beharrt sie, oder wäre verloren. Sie kann nur, bei Lebensgefahr, hoch, mit innerster Leidenschaft hoch halten, was ihr Wesen selbst ist. Ein und dasselbe Prinzip verteidigt unbeirrbar die verstaatlichten Produktionsmittel und das Volksheer.

Die deutschen Horchposten machten sich dumm. Sie wollten, dies solle eine Armee sein wie andere mehr, besonders wie die deutsche. Die war unter der Republik das vorsätzlich angefertigte Machtmittel einer Klasse gewesen. Hitler hat, um sie zu seinem Instrument zu machen, Ränke gebraucht bis nahe der Gewalt. Einst, noch an seinem Beginn, rückte er gegen die Bendlerstraße an. Die Generale verschanzten sich in ihrem Kriegsministerium und hätten geschossen. So weit geht er nicht.

Dies aber ist das Verhältnis von Staatsgewalt und militärischer Macht, das er kennt. Ein anderes begreift er nicht. Um so weniger hat er verglichen, welche Opfer das Sowjetvolk seiner Armee brachte, und was die Deutschen sich ihre kosten ließen. Um es zu sagen: nichts. Die deutsche Aufrüstung ist von anderen bezahlt worden. Geldgeber waren dieselben Mächte, die es nachher büßen mußten in dem deutschen Raubkrieg.

1929 bis 1930, auf Grund ihres zweiten Fünfjahresplanes, fing die Sowjetunion zu rüsten an. Hitler, Ende 1932 zur Macht gelangt, mußte auf nichts anderes in der Welt ein so aufmerksames Auge haben. Aus eigener Kraft allein, ohne Unterstützung von Seiten der Mächte, die den sozialistischen Völkerverband noch nicht wirklich anerkennen (einige auch formal nicht), macht der neuartige Staat sich stark. Er will vorgeschritten und muß kraftvoll sein.

Hitler, allerseits anerkannt und mit Anleihen überschüttet, merkt nichts. Denn er glaubt an die Revolution nicht. (Er will eine gemacht haben, weiß aber, ohne es wissen zu wollen, daß er im Gegenteil beauftragt war, der Revolution vorzubeugen.) Alles, was seine Erfahrung und sein Denkvermögen ihm sagen: Ein Staat mitsamt seiner Armee kann unterwühlt werden. Man überredet einige konservative Politiker, als wäre man selbst ein Erhalter, kein Vernichter, der aufzubauen nichts übrigläßt. Bewegt man jetzt noch die militärischen Befehlshaber, wenigstens neutral zuzusehen, – dann ist eine deutsche Republik bald umgebracht. Andere werden folgen.

Die deutsche »Wehrmacht« (für »Angriffsmacht«) bekam von Hitler das Versprechen eines Angriffskrieges, – von der Republik hätte sie keinen zu hoffen gehabt. Sie traute auch diesem Führer nicht. Gleichviel, das Zusammengehen der Angriffs-»Wehrmacht« mit ihm hat begonnen, zugleich der zehnjährige Prozeß der Unterordnung einer Armee unter eine Partei.

Der glückliche Tribun zog ein für alle Male seine Lehre über die Beziehungen von Staat und Heer. Bestich die Generale mit was du willst: von der Aussicht in die Geschichte zu kommen bis zu cash and carry, aber bestich sie, dann hast du sie und die wirkliche Macht.

Viel bemerkenswerter, als gerade dieses Zeitalter wahrnehmen konnte: mit dem Heer als einer Gesamtheit von Soldaten wird nicht gerechnet. Ein hoher General genügt. Zwei hohe Generale sind der Überfluß, bald schon eine Verlegenheit. Vielleicht meinte Hitler an den Befehlsstellen der Roten Armee mehr als nur die eine verschwiegene Sympathie zu genießen? Genügt hat ihm bestimmt der eine Tuchatschewski. Der wird die anderen anstecken, sie von ihrem Interesse überzeugen: das Interesse dieses Staates, dieses Volkes ist es nicht (meint Hitler).

Es scheint Wahnsinn, versteht sich aber von Seiten eines Tribunen der Gegenrevolution. Mit einem Marschall, der zufällig ohne befestigte Gesinnung ist, stürzt ein Fremder – in seiner Einbildung – den riesengroßen Verband von Volksrepubliken, einen Staat mit der stärksten, entschlossensten Führung, wie dem fremden Intriganten jeder sagen könnte. Übrigens weiß er es; er selbst möchte so stark sein wie die Sowjets, wie Stalin, sein heiß beneidetes Vorbild – von der anderen, ihm verschlossenen Front der sittlichen Welt, des zeitlichen Zustandes. Dennoch hält er »unterwühlen« immer für möglich und glaubt an den Verrat.

Seine Beobachter, von denen Moskau wimmelt (allerdings dürfen sie selten ohne Begleitung ausgehen), sollten ihm doch einiges zur Kenntnis gebracht haben. Wie ein vollendeter Volksstaat funktioniert. Daß Verräter nicht weit kämen, der klar bewußte Verrat dort nirgends, wahrscheinlich auch bei dem Marschall nicht, statthaben kann. Er würde zermalmt werden zwischen Regierung und Volk, die übermächtig sind, die im Wesen eins, dem Haupt der Minerva auf einmal entsprungen sind.

Aber dem Schreckensmann Hitler sagen seine Beobachter wohlweislich, was er hören will. Übrigens, was haben sie denn bemerkt? An der Sowjetunion konnte ihnen nur auffallen, daß ihr eigener Herr und Meister sie in dieser, jener Hinsicht noch übertraf. (Bei ihm war es schlechtes Theater: keine Wirklichkeit dahinter.)

Die Beobachter hatten von der nichtswürdigen Passivität großer Volksmassen, ihrer Gebrauchsfertigkeit für kleine, dreiste Cliquen dieselbe Vorstellung wie Hitler, wie alle deutschen Faschisten und die anderen. Um richtig zu sehen, hätten sie den Kreis ihrer Existenz durchbrechen müssen.

Der Marschall wird erschossen. Nichts wäre einfacher vorauszusehen gewesen. Auch daß die Rote Armee – das Sowjetvolk – sich nicht beifallen ließ, ihn zu rächen. Sie hätte denn Hitler mehr lieben müssen als Stalin und als sich selbst – was viel verlangt wäre. Der Schluß aber, den Hitler aus der Beseitigung seines Werkzeuges zieht, ist überraschend trotz allem: phänomenal wäre nicht zu viel gesagt. Er hält nunmehr eisern fest: die Sowjetunion ist unterwühlt.

Sie ist unterwühlt, nicht weil sein übler Streich ihm gelungen wäre, vielmehr, weil er verfehlt ist. Ein Staat, der seinen eigenen Marschall hinrichtet, ist unmöglich. Ohne Respekt vor dem höchsten militärischen Rang besteht kein Staat: nach deutschem Begriff, aber besonders nach dem geistigen Vermögen eines alten Gefreiten, der niemals Unteroffizier werden konnte. Er steht innerlich stramm vor Generalen, und wenn er sie bestäche. Er wird mehrere umbringen, aber unter der Hand, und will es nie gewesen sein. Was immer ein Marschall begangen hätte, der Staat, der ihn offen aburteilt und richtet, hat sich selbst das Urteil gesprochen: er ist unterwühlt.

Die Revolution schlachtet ihre eigenen Leute, sie verzehrt sich selbst. Da hat man die Revolution, die es mit den Massen ernst gemeint hatte! – denkt der Gegenrevolutionär, der nichts konnte als die Massen betrügen mit der Afterseite einer Revolution, anstatt des Gesichtes. Der Marschall, dies sieht er in heller Schadenfreude, war nicht der einzige Feind der Sowjets. Jetzt marschieren andere vor Gericht auf, manche die er nicht kennt. Um so weniger begreift er, daß die Sowjetunion sich der Neugier preisgibt. Sie macht Sensation, die erste erfreuliche. Sie gesteht, daß sie unterwühlt ist.

Die Moskauer Prozesse

Aber dies sind die Moskauer Prozesse, deren ganz anders gemeinten Ruhm sogar der Krieg nicht verdunkelt. Gerade die Prozesse haben erwiesen – die Zeit wäre gekommen es einzusehn –, daß die Sowjetunion für ihre Verteidigung gerüstet, moralisch gerüstet war. Noch einmal gelten die Worte des französischen Kämpfers Emile Zola:

»Wahrheit und Gerechtigkeit gehen über alles (sont souveraines), denn sie allein sichern die Größe der Nationen. Es kann geschehen, daß politische Interessen sie einen Augenblick verdunkeln, aber jedes Volk, das nicht auf sie sein einziges Daseinsrecht stellte, wäre heute ein verurteiltes Volk.«

Hier bekennt ein Demokrat, daß er die Demokratie zu Ende gedacht hat. Er wiederholt den Glauben der Französischen Revolution, solange sie wirksam war. Die neue Revolution ist effektiv, daher gelangt sie über revolutionäre Methoden zu demokratischen. Zuerst die Prozesse machten es augenfällig. Man darf nicht zugunsten einer Meinung auf die Wahrheit verzichten. Nur Mut, hier gibt es Wahrheiten, die eine Rüstung sind.

Unter den Zuschauern, die man freiwillig zuließ, befand sich ein britischer Jurist von Rang. Nachher bestätigte er, in keinem Rechtsstaat wäre das Verfahren anders verlaufen. Es ist nicht allein dies. Wären die Kompromittierten nur zu Recht verurteilt worden, der Vorgang hätte wenig Erinnerung hinterlassen. Das Eindrucksvollste ist das Hinableuchten, dem man beiwohnte, bis zu ihren tiefsten Motiven, – sie selbst hatten sich nicht gekannt, bis die Diskussion sie entblößte.

Da ist der große Dialog zwischen dem Staatsanwalt und dem Journalisten Radek: wörtlich könnte er bei Dostojewski stehen. Derselbe psychologische Kampf um den Besitz der unterirdischen Wahrheit – nicht um die Bestrafung oder die Straflosigkeit, das scheint beiderseits vergessen: nur um die Wahrheit. Der Angreifer, der Verteidiger haben zusammen den einen, zwingenden Ehrgeiz, zu wissen, was in dieser Seele war, wohin die Worte dieser Lippen, genau genommen, gezielt hatten, – und welche Wege diese Füße gegangen?

Ein Satz trifft grell in eine Windung der Seele, – dahinter starrt noch Finsternis, ist aber gewärtig, daß der Schein auch sie entdeckt. Der Ankläger mit allen seinen suggestiven Fragen ist keineswegs der Begierigste. An einen toten Punkt gelangt, würde er nach allem seine Ohnmacht eingestehen. Aber der Beklagte hilft ihm, es ist für ihn dahin gekommen, daß er den Zweifel nicht länger erträgt. Seine Schuld war, daß er irrte. Die Wahrheit! Um sie wird gerungen in einer klassischen Auseinandersetzung.

Der Verräter, Quasi-Verräter oder nur ein Unglücklicher, hatte den ersten falschen Schritt getan, noch unbewußt, infolge verführerischer Gedanken, denen er glaubte und auch nicht. Er gerät in ein Getriebe, möchte sich zurück nehmen, kann es nicht mehr. Politische Streitsucht? Man will die Revolution besser verstehen als jetzt die Orthodoxen. Man hat eine Richtung, sie trägt einen Namen.

Wenn die Richtung die einzig denkbare Fortsetzung der Revolution wäre, gut. Da sie es nicht ist, gelangt sie an die Grenze des Verrats, einige überschreiten die Grenze. Streit um Gesinnungen ist das nicht mehr, sondern ein Verhängnis von Attentaten gegen die eigene. Die armen Teufel waren selbst Revolutionäre, handelten aber gegen die Revolution wie sie ist. Daß sie so und nicht anders sein mußte, ist leicht zu sagen, nachher, wenn sie sich und das Land gut verteidigt haben wird im Krieg.

Warum bleibt nach einer großen Szene Dostojewskis der Eindruck, als wäre der Schuldige schon durch sein tiefes, abgründig tiefes Verhör gereinigt und müßte nicht erst in das Gefängnis gehen? Die Gestalten aus den Moskauer Prozessen sind getötet oder eingekerkert. Entsündigt – auf psychologischem Wege wie bei Dostojewski – waren schon in der Verhandlung, vielleicht nicht sie, aber die Revolution war es. Zuerst werden Menschen erlebt in ihren tragischen Fehlgängen: dann eine soziale Gesamtheit. Jeder starken Revolution zuvor kommt eine unerbittliche Literatur.

Gerade dies ist unter Hitler, und schon vorher, den Deutschen das Fremdeste. Sie finden keinen Zugang, ihnen bleibt nur übrig, die Revolution für verurteilt zu halten, weil einige Abgewichene sie büßen müssen. Sie glauben an keine Revolution. Was bei ihnen so hieß, 1918 und 1933, war fahrlässige Mache, war schamlos ungeglaubt. Dafür bedurfte man wahrhaftig keiner Ergründung der Seelen, die in Deutschland längst schon für Dunst gelten. Um so weniger der Kenntnis der Massen. Wozu waren deutsche Massen da?

Um sie zu betrügen, um sie zu verachten.

Die Verachtung der Massen

Das Zeitalter der Massen wird allerseits anerkannt. Es ist ein massiges Zeitalter, wer klug ist, versteht mit ihm zu leben. Den Massen muß alles versprochen werden; mit so gut wie nichts an Zugeständnissen lassen sie sich hinhalten. Immer gibt es Teile von Massen, die auch das Minimum von Ausgleich noch entbehren wollen und lieber zu den Übermächtigen stehen, als daß sie ihre eigene Kraft entdecken. Freiwillig unterworfen – zwei unvereinbare Worte stehen nebeneinander – kann man sich groß fühlen, wie das Phänomen des Faschismus zeigt und diese Deutschen der Welt zu beweisen scheinen. (Wer ihnen ihr Selbstgefühl glaubte! und daß es sie glücklich macht!)

Die Massen – gesetzt, sie hätten nicht gerade Tolstoi gelesen und den Marx schon vergessen – fordern allerdings dazu heraus, sie zu betrügen. Es ist trotzdem nicht klug, im Hinblick auf die Folgen, die furchtbar sind. Aber Massen, die nichts wollen, verdienen Führer, die nichts können – besonders nicht voraussehen. »Die dicksten Lügen werden am leichtesten geglaubt«, sprach in seinen munteren Anfängen der deutsche Führer. Das war seine ganze Psychologie der Masse, damit hatte er sie in der Tat, der Tatenmensch.

Die deutsche Republik hatte, ganz wie er, die Sozialisierung versprochen. Was eintrat, war eine Plutokratie, die keiner andern nachgab, die Masse eines mittelgroßen Landes ins Verhältnis gezogen. An ihrem Ende hatte die Republik einige der reichsten Individuen des Kontinentes, und unerhörte Massen überließ sie der öffentlichen Fürsorge. Hitler hat den Zustand beibehalten, vertieft, und ausgebaut.

Seine Kriegsrüstung, die alle mit Arbeit versorgte, ist verschwendet wie die einfache Fürsorge. Sie ist in Wahrheit unergiebig; damit sie aber nicht umsonst war, wird Krieg sein müssen. Ihre vollbrachte Arbeit kostet die Armen das Leben, ja, vielleicht wird die Kriegsrüstung endlich bezahlt mit dem Besitz der paar Reichen. (Aber er ist verschoben und international verschachtelt.) Die weitest getriebene soziale Gesetzgebung wäre billiger gewesen, – wenn Hitler bestellt gewesen wäre, den Frieden zu rüsten, nicht den Krieg.

Hier hat einer den Krieg als einzige Rechtfertigung seines politischen Daseins. Wie begreiflich, sieht er Versuche, mit den Massen, diesem streckbaren, drückbaren Objekt, anders auszukommen, für einen vergeblichen Unfug an. »Haben wir alles schon gehabt«, äußerte er über Léon Blum und seine schwachen Reformen 1936, – nicht weil sie schwach, nur weil es Reformen waren. Wie erst, wenn die Massen eine Revolution machen! Schlimmer, Intellektuelle, für ihn die unmögliche Menschenart, machen die Revolution mit den Massen, anstatt wie es richtig wäre, gegen sie!

Die Verachtung der Massen, eine Seite dieses Zeitalters, seine Kehrseite, wie der Verlauf dartun soll, spricht keineswegs für die glückliche Natur der Verächter. Ihnen wäre wohler, sie könnten achten – die Massen und sich selbst. Einer mag groß auftrumpfen und sich feiern lassen. Wirkliche Selbstüberzeugtheit war niemals glaubhaft bei den Vereinzelten, die sich anmaßen durften zu verachten: lebende Menschen und die Gattung bis zu ihrem Begriff. Das Lebensgefühl leidet. Der Zustand des Mißratenen erklärt sich in unvermittelten Depressionen, im Versagen der Selbstkontrolle, im Wüten, Verzagen, Untertauchen, in Unternehmungen ohne Maß – weil ohne Sicherheit.

Da sie anerkannt sind und es bleiben bis zu ihrem vollendeten Scheitern, drücken sie auf das Lebensgefühl der großen Mehrheit, die ihr Kreis und ihr Treiben zwangsweise miteinbezieht. Wenn es jetzt erst sänke! Ach! Schon vorher muß der Stand des allgemeinen Lebensgefühls niedrig genug gewesen sein, daß die Massen in dem krankhaften Typ Hitler ihr perfektes Muster erblicken, daß eine Nation sich ihm hingeben konnte.

Festgehalten sei, daß die Massen, eine gewisse Zeit lang, gefahrlos verachtet werden. Damit steht es, dank der fortgeschrittenen Technik des Redens und des Tötens, ganz anders als in dem 19. Jahrhundert, das die Massen noch fürchtete.

»Gegen 9 Uhr strömten die Zusammenrottungen von der Bastille und dem Chatelet zurück auf den Boulevard. Zwischen Porte Saint-Denis und Porte Saint-Martin ergab dies ein einziges ungeheures Gewimmel, dunkelblau, beinah schwarz. Wenn man Gesichter unterschied, hatten sie glühende Augen, sie waren bleich, von Hunger abgezehrt, erbittert durch Ungerechtigkeit. Indessen ballten sich Wolken; der stürmische Himmel erhitzte mit seiner Elektrizität die Menge, sie wirbelte um sich selbst, unentschlossen, weithin schaukelnd, wie ein Meer, das sich geschlossen erhebt; und man fühlte in ihren Tiefen eine unberechenbare Kraft, die Gewalt des Elementes.« (Gustave Flaubert, l'Education sentimentale, Edition du Centenaire, Seite 385.)

Dies ist ein Augenblick der kleinen Revolution von 1848, sie war nur ein Nachzügler der großen. (Der Gegensatz, liberales Bürgertum – sozialistisches Proletariat war seither herangewachsen.) Dieselbe Furcht und Bewunderung, wie sechzig Jahre vorher, geboten der Anblick der Masse und ihr Anteil am Geschehen. Wie machen es nunmehr die gebeugten Einzelnen, um zusammen ein »Element« zu bilden? Das wäre schwierig. Schon die Lautsprecher übertönen erregte Massen und hypnotisieren sie. Gegen Sturmwagen-Barrikaden?

Sie haben nicht nur gehungert, sind nicht nur hunderttausend mechanisierten Reden erlegen: Aus Hunger und vom Radio gebändigt haben sie ihren listigen Führern die Waffen gegen sich selbstgemacht. Von da an gilt sobald kein Widerstand mehr. Letztes Mittel der Verständigung: Über den Köpfen würden Bombenflugzeuge manövrieren, – feindliche wären es diesmal nicht, es wären »eigene«. Hallo! Wer flüchtet da? Verschwindet unter dem Boden? Das war vor Zeiten ein Element!

Die Massen haben sich mit der Arbeit ihrer Hände – und Köpfe – um ihr Recht betrogen. Sie sind in ihrer Selbstachtung gesunken. Sie werden, verhältnismäßig lange, kaum gefürchtet. (Deutschland kennt, in seinem Krieg gegen alle und gegen die Deutschen, eine »innere Front«, dreiviertel Millionen schwer bewaffneter Volks- und Landesverräter, falls dem Volk die Geduld ausginge.) Der Zustand dauert nicht. Es wäre zu schön für billige Staatsmänner, die mit der Technik regieren. Die Erkenntnis ist ihre Sorge nicht. Um so unerwünschter könnte sie ihnen aufgehen; aber sie werden unbelehrt dahinfahren. Die Herrenmenschen von der Kehrseite des Zeitalters sehen ihm niemals ins Gesicht.

Punkt drei: der politische

Wäre ein erniedrigtes Volk – wie jetzt diese Deutschen, wie noch andere – unlustig und nicht danach angetan, mit seinen Herrenmenschen (von der Kehrseite) aufzuräumen, sie besorgen das Nötige selbst. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion ist kein Ergebnis gediegener Überlegung: soviel scheint sicher. Aber sogar nach Aufgabe der Vernunft, im offenen Irresein, wahrt einer den Instinkt, einen lebensnotwendigen Rest von Instinkt. Geht der ganz und gar verloren, dann »sollte es sein«, und Deutungen erübrigen sich.

Die Tatsache ist, Hitler – und seine Art, die nicht deutsch allein ist – hielten eine revolutionäre Nation für angreifbar, aus keinem anderen Grund als weil sie revolutionär ist. Der einzige Umstand beseitigt ihre zahlenmäßige Überlegenheit mitsamt dem Verhältnis des militärischen Mannschaftsbestandes. Denn Revolutionen schwächen. Sie enttäuschen ein Volk, sie ermüden eine Nation. Die Sowjetunion hat in ihrem Innern mehr Feinde als sie selbst kennt. Aber Hitler kennt sie, auf Grund seiner Erfahrungen mit Revolutionen.

Seine eigene war zum Glück eine Gegenrevolution, das macht ihre Stärke. Ihm ist es gelungen, nicht nur die Deutschen zu betrügen, andere waren von ihm listig bearbeitet worden, brachen denn auch zusammen, als er über sie kam. Mit dem Lande der echten Revolution wird es dasselbe sein. Um so schlimmer für sie, wenn sie echt wäre, aber gibt es das? Jemand hat doch immer die Macht ergriffen, und einige werden reich. Umsonst bemüht man sich nicht, Führer Hitler weiß es am besten.

Bedürfnislosigkeit zur Schau tragen, wie die Herren des sozialistischen Reiches, kann er selbst und übt es gegen den Augenschein. Zehn Jahre haben alle zugesehen, wie er sich bereicherte. Die Stunde ist da, den sozialistischen Staat und seine besitzlosen Beauftragten anzugreifen: da stellt er sich nochmals vor sein Gefolge hin, es ist ehrlich wie er, es zwinkert ihm zu, und wie nennt er sich? Einen Habenichts, den Führer der Habenichtse. Wenn ehemals ein Rothschild vor allem Volk sein letztes Hemd hätte ausbessern wollen! Heute geht es. Das Zeitalter verzeichnet moralische Fakten.

Der Angriff auf die Sowjetunion soll ihn weiter bereichern. Die Reichen sollen ungemessen profitieren, die Armen nichts. Für die Deutschen bleibt es dabei, daß sie das Herrenvolk sind, mehr wird nicht vorgesehen. Wenn sie im eigenen Land von ihrer gesamten Produktion das nackte Leben, jetzt eher schon den nackten Tod haben, dann wäre es unzuträglich, sie draußen, auf eroberter Erde, zu verwöhnen. Genug, daß sie ausziehen, ein Königreich zu erobern, und selbst ein Esel sind.

Ein Volk aber, das in allem Ernst Revolutionen macht, wird untauglich für den Krieg. Es ist an seine inneren Erfolge gebunden, die Eröffnungen von Untergrundbahnen und so. Es hat Friedensgedanken, das heißt allemal, daß der Krieg kein Ausweg der Verzweiflung, daß er verschwendet wäre. Dieser deutsche Staat kann sich nur durch Krieg erhalten. Anders der Sowjetstaat, und darum wird er am Krieg zerbrechen. Was er nicht nötig hat, wird er mit ganzer Kraft nicht durchführen – wird weder angreifen, noch bis zu Ende sich wehren. Die allein wirksame Verteidigung ist der Angriff.

So viele Fehler, wie hier aufgereiht sind, stehen selten in zehn Zeilen. Aber es sind die Irrtümer, die einen Führer verführt haben, bis er richtig in sein Verhängnis fuhr. Er nahm den gewohnten Blitzzug. Vorausgesetzt wäre, daß einer, der nicht denken kann, irren kann. Er handelt ohne geistige Umwege. Er folgt Eingebungen, die wohl einmal falsch sind. Er hört auf Sterndeuter, die zufällig daneben deuten. Als letzte Sicherheit hält er abergläubische Daten ein. Den Einmarsch Napoleons in Rußland wiederholt er auf den Tag.

Wie einst den Kaiser, treibt seinen Nachahmer (von der Kehrseite) die Furcht. Er fürchtet, zu viel Land geraubt, die Kräfte seines mittleren Reiches überschritten zu haben. Daher muß er auch das größte Reich noch angehen, die stärkste Landmacht gegen sich aufbieten. Das Motiv der Furcht ist unfehlbar, hätten auch nicht zuverlässige Konstellationen die Gewähr übernommen, daß die Sowjetunion in sechs bis acht Wochen um und um zu rennen sei.

Es ist immer schon etwas, sich wenigstens zu fürchten wie ein großer Mann. An derselben Stelle einsetzen, wo vormals das Unglück begann, nicht jeder hätte es getroffen. Das Unternehmen Hitlers gegen Europa war mehr oder weniger modern herangewachsen. Mit dem Zug gegen Rußland fängt das Kostümstück an, eine historische Rolle wird übernommen, – und wer kennt in dem irrationalen Spieler, der es aus Not ist, das Dunkelste? Er wäre selbst der Letzte. Vielleicht hat er sich für stärker als Napoleon gehalten. (Durch Technik? Durch Genie?) Oder, ganz anders, hat der dumpfe Druck seiner Unmöglichkeit, der ihn niemals verläßt, hier überhandgenommen, und er leitete ein, wonach es ihn heimlich verlangte, sein Ende.

Die Sowjetunion ahmt nichts nach, keine dagewesene, widerlegte Welteroberung, auch frühere Revolutionen nicht. Die Vollendung der französischen verwirklicht sie als Berufener, aus eigener Kraft. Der Auftrag ist schwer, die Kraft muß immer gegenwärtig sein. Dort wissen sie, als wäre es gestern gewesen: Um ihren neuartigen Staat wurde, als er am Anfang und ungefestigt war, ein Pestgürtel gezogen. Das Überholte vergessen alle leicht, dem Betroffenen allein geht es nach. Den Cordon sanitaire kannte nur noch die Sowjetunion: sogar in ihren Siegen, als Verbündeter der Weltmächte, gedenkt sie seiner.

Das heißt: auf ihrer Hut war sie immer. War außerdem stolz. Wie sollte es nicht schmeicheln, den gewöhnlichen Leuten am meisten, wenn ihre inneren Einrichtungen, das Ergebnis unvergleichbarer Kämpfe, Opfer, Arbeiten, zwei Jahrzehnte lang die Welt bewegen. Der Krieg der Klassen wird in jedem Land genährt durch das Dasein eines Staates. Die ihn fürchten und verabscheuen, sind nunmehr im Klassenkampf die Angreifer.

Der Faschismus stand sogar ohne die russische Revolution zweifellos bevor. Seine geistigen Voraussetzungen (die irrationalen) waren ebenso gegeben wie die wirtschaftlichen; das geltende System hatte angefangen, der Nachhilfe durch Gewalt zu bedürfen. Die wirkliche Existenz der Sowjetunion aber bestätigte die vorhandene Neigung, sie lieferte den entscheidenden Antrieb und einen Vorwand, der sich bekennen ließ. Der Weltrevolution vorbeugen! Die Kulturwelt bewahren vor der Eroberung durch den aufständischen Barbaren, der sie versklaven würde!

Daraufhin wurde der Antibolschewismus eine Weltanschauung. Die Sowjetbürger, der bescheidenste von ihnen, durften sich etwas einbilden: der hochentwickelten Kulturwelt hatten sie die jüngste Weltanschauung beschert. Ihr Staat allein war die Sorge aller andern, – daß sie nur vermieden, zu werden wie er! Es wird bezeugt, daß in der Sowjetunion die geängstigte Kulturwelt eine beschränkte Hochachtung genossen hat.

Das Mitgefühl mit den Völkern war wohl nicht ausgeschlossen, die Begierde, das Wissenswerte von ihnen zu lernen, ist evident. Eine Gefahr entsteht gerade, wenn Nationen, die eigentlich so viel können, jetzt verstockten Regierungen hilflos ausgeliefert sind. Diese Meinung über den Rest Europas wird vorgeherrscht haben bei den Sowjetleuten. Stark zu sein, war von außen her geboten, wenn nicht die Revolution um ihrer selbst willen verlangt hätte, daß man wachsam sei.

Wen haben die politischen Grundbedingungen der Sowjetunion gleichgültig gelassen? Einen gewiß. Den Ersten, der aus dem Antibolschewismus sein ganzes politisches Kapital bezog, Hitler. Er schäumte über von Drohungen mit der Weltrevolution, er überzeugte den Kontinent, in jedem Lande die mächtigste Schicht. Sich selbst hat er nie überzeugt. Dies ist ein selten beobachteter Widerstand gegen eigene Lügen. Bei längerem Gebrauch erliegt der gewöhnliche Betrüger ihnen selbst. Nein, dieser sieht, wie die ganze Gesellschaft ihm die bolschewistische Welteroberung glaubt, und er allein bleibt gefeit.

Allerdings war der präsumptive Welteroberer ihm nach seinem wahren Namen bekannt, so viel hatte er voraus. Die anderen hätten ihn ebensowohl denunzieren können: Gerade sein Antibolschewismus hielt sie ab. Wenn sie gutgläubig waren, was nicht überall zutraf, mißverstanden sie die Wehrhaftigkeit der Revolution. Er – hat sie hartnäckig abgeleugnet. Er hat, trotz noch so vieler Zeichen, dabei beharrt, daß Revolutionen, je echter sie sind, ein Volk wehrlos machen.

Die Anspannung aller Kräfte, deren eine legitime Revolution bedarf, ihm hat sie nichts zu denken gegeben. Ihr gehobenes Lebensgefühl nichts. Die Einheit von Volk und Staat hielt er für unwahre Mache, wie sie es bei ihm und seinem Deutschland war. Die Freiheit eines Landes ohne Reiche und Arme? Aber wenn jemand nach Herkunft, Lebenslauf ... Weltanschauung keiner Freiheit traut, warum gerade dieser? Sie werden schlecht kämpfen. Gut kämpft der rabiate Gehorsam, nachdem Gewissensverweigerer an ihre Maschinengewehre gefesselt sind.

Der Führer eines Volkes durch Verhängnis, hat aus seinen Berechnungen bald dieses, bald jenes fortgelassen, aber immer die Völker. Der Krieg im Lande, den er dem Sowjetvolk aufzunötigen dachte, wäre für das deutsche Volk die unerträgliche Probe gewesen. Dem Sowjetvolk zugemutet, war der innere Krieg ernst, aber nicht neu. Die Revolution lehrt vieles, auch den Krieg im Lande.

Davon zu schweigen, daß schon das alte Rußland seine Feinde meistens bei sich zu Hause geschlagen hat. Poltawa und die Beresina sind eine Tradition. Gerade in ihrem Zustand eines erhöhten Lebensgefühls sollten Revolutionäre unfähig sein, die alten Schlachten noch einmal zu schlagen? Da scheint einer von Valmy nie gehört zu haben. Die waren auch nicht gerüstet. Der letzte Jakobiner, Clemenceau, sprach: »Fertig ist man nie, und führt doch Krieg.« So Frankreich, so die Sowjetunion.

Die Deutschen hatten sich ganz und gar auf die technische Fertigkeit verlegt. Sie ist ein leidliches Ruhekissen für Köpfe, in denen es wüst zugeht. Der politische Punkt, wenn der Angriff Hitlers auf die Sowjetunion untersucht wird, existiert nicht. Statt einer Politik läßt er Lücken, er weiß nichts, weil er nichts wissen darf. Übrigens fehlt ihm für deutsche Geschichte das Gefühl. Aber Politik wird auf Grund des Vergangenen gemacht, oder sie schwebt und fällt.

Was Rußland den Deutschen war

1817 ist das Jahr Rußlands: der ungeschwächte Widerhall gelangt bis in dieses Jahrhundert mit der Musik von Tschaikowsky, auf vielen hundert Seiten von »Krieg und Frieden«. An seinem Teil wird Rußland mit dem Herrn Europas fertig, indessen der Rest des Kontinents ihn aussichtslos ertrüge.

Das russische Beispiel, die fern vernommene Legende eines Landes, an dem der Dauersieger zerbricht, ermutigt Deutsche, die sich nicht rühren würden. Seiner eigenen Legende macht diese andere ein Ende.

Auch das ist, wie die »Franzosenzeit«, in Deutschland lange unvergessen geblieben. Zar Alexander hat auf die Deutschen, mir scheint, überzeugender als Friedrich der Große gewirkt. Er besaß, was man nicht angestrengt erringt, sondern mitbringt: Schönheit und Geheimnis. In seinem Rücken lag das Land der unermessenen Kraft. Dies der Begriff, den Deutschland den längsten Teil des Jahrhunderts von Rußland behielt. Die Könige von Preußen haben selbst keinen anderen gehabt; alle folgenden, Wilhelm I., deutscher Kaiser, noch mit dabei, haben jeden der Zaren für ihren Vorgesetzten gehalten. Die preußische Monarchie hat angelehnt an die russische als ihr Zögling bestanden.

Bismarck, der es sich versagte »in Kontinenten zu denken«, achtete Großbritannien wie eine fremdartige Macht, – Konflikte mit ihr sind immer vermeidbar. Er erklärte dem Reichstag, daß er mit dem Auswärtigen Amt in London nicht mehr in französischer Sprache verkehre. »Sie schreiben uns englisch, wir antworten deutsch.« Aber das gemeinsame Französisch gebrauchte er in seinem viel näheren Verkehr mit den Russen. Sie blieben für den Sieger in drei Kriegen die größte Landmacht, ihre Art zu sein erschien ihm liebenswert.

Er bewunderte das Reich der Zaren, das auf eine fremde Art zusammengebracht war und hielt: der Begründer des deutschen Nationalstaates hätte sie niemals zu der seinen gemacht. Aber er begriff – es war immer zu begreifen –, daß so viele Völker, ungleich von Herkunft, Sitten und Religion, nicht schlechthin gezwungen werden können, sich zu demselben Vaterland zu bekennen. Dafür hat es in dem alten Rußland (wie nunmehr bei der Sowjetunion) einer besonderen Regierungskunst bedurft. Worin besteht sie?

»Unsere Kaiserin hält sich vor Augen, daß ihr weiter Staat, wo alle Meridiane sich begegnen, Rücksicht nehmen muß auf alle die Völker unter den verschiedenen Meridianen. Die erste ihrer Sorgen war die Duldung sämtlicher Religionen. Ihr mächtiger Geist hat erkannt, daß nur die Kulte abweichen, die Moral aber dieselbe überall ist. Auf Grund der Moral hat sie ihre Nation angeschlossen an alle Nationen.«

Die Sätze sind von Voltaire, sie beziehen sich auf seine Freundin Katharina. Ausschließlich zeitliche Umstände beschränkten seine Aufmerksamkeit auf die religiöse Toleranz. Heute sähe er »unter den verschiedenen Meridianen« vor allem die gleiche Geltung der Rassen. Der preußische Gesandte, Bismarck, hat sie zu seiner Zeit bemerken können. Drill und Knute befestigen kein Reich. Dieses Reich hielt er für besiegt – in der Form der Verwaltung, wie er sie kannte. Jede spätere, angemessene, hätte er eingesehen, ich behaupte: gutgeheißen.

Das Vertrauen des Zaren, das er sogar gegen den Anschein verdienen wollte, kam unter seinen Anliegen gleich nach dem Vertrauen seines Herrn. Ein Zusammenstoß mit Rußland hatte bei ihm die Bedeutung von Selbstmord und von Lästerung. Statt dessen versicherte er sich bei Rußland.

Als das Deutsche Reich mit Rußland in Krieg geriet, war Bismarck erst sechzehn Jahre tot, – so sieht das Nachleben der Mächtigen und Wohlberatenen aus. Einer hat nur dies für die wirkliche Katastrophe gehalten. Alsbald tritt sie ein und kein Hahn kräht. Wilhelm II. hatte sich ohnehin in alles bloß hineingeredet, dann sagte er ahnungslos: »Das habe ich nicht gewollt.«

Aber ich wüßte nicht, daß in dem Deutschland von 1914 irgend jemand den russischen Aufmarsch begriffen hätte als was er war: die ungeheuerste Wendung – der deutschen Geschichte. »Hier werden Kriegserklärungen angenommen«, las man eine Inschrift am Auswärtigen Amt Berlin. Pöbel, Mob oder Populace hatten sie verfaßt, werden aber in Kriegszeiten für genehme Eigenmächtigkeiten das Volk genannt.

Hiermit war Rußland aus dem Respekt der Deutschen endgültig gestrichen. Ein Feind unter vielen, nicht der gefährlichste, zu Lande machte Frankreich mehr zu schaffen. Die schwersten Kämpfe gegen die russischen Armeen überließ die deutsche Heeresleitung den Armeen der österreichisch-ungarischen Monarchie, – die noch immer zusammengehalten haben muß, um so zu kämpfen. Den Deutschen, ihrem Hindenburg, genügte es vollauf, daß sie gleich anfangs, bei Tannenberg, russische Truppen in den Sumpf getrieben hatten.

Wenn man ihnen gesagt hätte: Tannenberg ist auch wieder eure Marneschlacht, ihr werdet dereinst teuer bezahlen, daß ihr diesen Sieg leicht fandet? Wenn man ihnen gesagt hätte: Die Ukraine haltet ihr nur diesmal noch besetzt bis an das Ende des Feldzuges, der eine Unterbrechung erleiden soll? Fünfundzwanzig Jahre nachher werdet ihr die Ukraine nicht mehr auf Übereinkunft, sondern geschlagen, in wilder Flucht räumen? Es ist wahr, daß zwischen den beiden Feldzügen, die ein und denselben Krieg bilden, aus dem russischen Reich die Sowjetunion wurde.

Was ändert das? Was hätte es dem Reichskanzler Bismarck ausgemacht? Er hat doch nicht den Hof von Sankt Petersburg verehrt. Er hat an den russischen Kern geglaubt. Er sah die Nation der Zukunft, sah sie unverbraucht und schlechthin jeder Probe gewachsen. (Den deutschen Kriegen zog er enge Grenzen.)

Nicht der kleinste Zweifel ist zulässig, daß er in der Revolution eine Enthüllung der ganzen nationalen Kraft, ihre epochale Nutzanwendung erkannt haben würde. Er wäre denn nicht derselbe Realist gewesen wie Stalin.

Es handelt sich darum, das Wesentliche der Persönlichkeiten mit einem Blick zu umfassen und über die Anwesenden Auskunft zu holen bei ihresgleichen, die waren. Wie kann man es vergessen! Die deutsche Anmaßlichkeit ist unheimlich wie der Verlust der Persönlichkeit durch Amnestie, – wenn Deutschland unterlassen konnte, über sein Erlebnis mit Rußland seinen einzigen Staatsmann zu befragen. Die Antwort Bismarcks kam aus großer Nähe, mir ist sie laut erklungen durch den Lärm der Ereignisse.

Die Katastrophe mit Rußland war immer vom Unerlaubten das Letzte. Damit sie das eine Mal zugelassen wurde, mußte das Reich Bismarcks in vollem Zerfall sein. Aufgelöst, schon nicht mehr zugegen war es, als sie ein zweites Mal, nicht ausbrach, sondern vorsätzlich entfesselt wurde.

Der Pakt

Der zugereiste Führer der Deutschen macht es meistens mit der List. Vielleicht hält er die List für eine ihrer wesentlichen Eigenschaften und zeigt ihnen, daß sie gerade ihn verdienen. Eher baut er auf ihre Dummheit: noch fester auf ihre als auf die Geneigtheit der anderen Völker, sich von ihm betrügen zu lassen.

Wundervoll bequem hatte dieser mondiale Schlaukopf es gehabt, der Welt den Antibolschewismus einzureden. Unter dem Schutz ihrer Furcht (und ihres schlechten Gewissens) durfte er, entgegen den Verträgen, Deutschland aufrüsten. Ihm war erlaubt, nacheinander das Rheinland, Österreich, die Tschechoslowakei mit seinem Militär zu versorgen. Als er bei Polen angelangt, hinkte etwas.

Sein Vorsatz, den Kontinent deutsch zu machen, ihn unter Umgehung eines wirklichen Krieges Stück für Stück sich anzueignen, fiel nachgerade in die Augen. Schon vorher war er nur mit Anstrengung übersehen worden. Daladier, Vorsitzender des Ministerrates, kehrte heim von München, wo er den verbündeten Staat des soeben dahingegangenen Masaryk verkauft hatte für einen Frieden ohne Kraft und Gewähr.

Er hat erwartet, Paris würde ihn niederschreien, sein Ende wäre da. (Er ist damit bestraft worden, daß es später kam.) Als eine gutgekleidete Volksmenge, keine Populace natürlich, ihm zujubelte, entfuhr ihm vor Schrecken die Wahrheit. »Quels imbéciles!« hat er gesagt.

Bei Polen angelangt, brauchte man kein Minister der Republik, mußte man der ganzen Selbstachtung Frankreichs bar sein, um noch zu fragen: »Mourir pour Danzig?« Indessen, Großbritannien und Frankreich, die ihm, viel zu spät, den Krieg erklärten, bekamen wenigstens bei einem schlankweg unrecht: das war er selbst, Hitler. Von so viel Duldsamkeit verwöhnt, empörte es ihn, daß diese Grenzen haben sollte. »Der Krieg ist uns aufgezwungen«, heißt noch heute seine Meinung, und wenn nicht ehrlich, was ihm nun einmal nicht gegeben, ganz erlogen ist sie auch nicht. Die ungestörte Eroberung des Kontinentes schien ihm nachgerade geschuldet.

Gesetzt, daß Frankreich auch dem Überfall auf Polen zugesehen hätte! Aber es sah zu, die Kriegserklärung blieb ohne Folgen! Es änderte nichts, auch dann wäre Frankreich angegriffen worden, sogar in demselben Jahr 1940. Nur äußerste Pünktlichkeit konnte das Unwahrscheinliche dennoch schaffen, wenn eine bekanntlich unzureichende Macht – 1914 bis 1918 als unzureichend erwiesen – sich nochmals gegen das ganze Europa vermißt. Vor allem durfte Hitler die antibolschewistische Welle nicht versäumen. Noch stieg sie an, sie zerwühlte die Länder und Heere, dieser oder keiner war sein Zeitpunkt.

Alles dies wäre erstaunlich genug. Der Widersinn, die Inkohärenz wird nur übertroffen durch den Pakt mit der Sowjetunion, eigentlich durch seine Aufnahme.

Für den Pakt ergeben sich bessere Erklärungen als für seine Aufnahme bei der scheinbar gutgläubigen Welt. Der deutsche Angreifer überbot in Moskau seine Mitbewerber aus London und Paris, erstens um des bloßen Erfolges willen. Sie sollten keinen heimbringen, als sie ihn so gut wie in der Tasche hatten.

Um den 20. August meldeten Augenzeugen, bulgarische Abgeordnete, daß sie unmittelbar vor dem Krieg in Moskau den Eindruck gehabt hätten, der Vertrag mit den Westmächten gelte für abgeschlossen. Mit einigem Nachdruck beiderseits wäre er es gewesen. Die Sowjets kannten ihren Hitler. Den Pakt mit ihm haben sie in voller Kenntnis seiner Wirkung abgeschlossen. Er schob auf, mehr konnte er gegen die Tatsachen nicht.

In seinen Krieg, als er neu war, brachte der Stratege Hitler das Prinzip der einzigen Front mit: so viel weiß man. Wenn er kämpfen mußte – lieber hätte er Europa bei vollem Frieden erobert – dann vor allem im Westen. Ihn hielt er für stärker. Die Sowjetunion kam in seinen nebligen Zukunftsbildern an die Reihe, wenn nichts mehr zu besiegen blieb. Dann fiel sie ihm von selbst zu. So die richtige Vorausschau des Strategen, der heute sieben Fronten – nicht mehr ganz beherrscht.

Das Wichtigste bleiben dennoch seine deutschen Gründe. Der Tribun, der über Deutschland 30 000 Meilen geflogen ist, um überall nur sich selbst reden zu hören, hat für deutsche Zustände nicht mehr als seine vorsätzlichen Irrtümer. Der Traumwandler Hitler indessen erfuhr auf mystischem Weg, daß mehrere Millionen Deutsche die Sowjetunion aufrichtiger liebten als ihn. Es ist nicht ratsam, einen Krieg, bevor er Übung, die eingewöhnte Form des Daseins ist, sogleich zu eröffnen gegen den großen Freund des Proletariates.

Später wird auch das hingehen. Im Siegesrausch (die Deutschen sollen sich ihm kaum überlassen haben). In der Verzweiflung (ihr schon eher). Wenn völlig aufgeklärt sein wird, daß der Krieg nur einen Inhalt, einen Sinn hat: sich selbst, – dann, dann wird es erlaubt sein, gen Ostland zu stürmen. Vorerst – der Pakt.

Seine Aufnahme bei der Welt gibt traurig zu denken. Der Antibolschewist von Beruf, alle andern hatte er gelähmt vermittels ihrer Hinneigung zu seiner politischen ... Weltanschauung. Auf einmal macht er seinen Frieden mit der entgegengesetzten, die dasselbe Recht haben soll wie seine. »Jeder bleibe, was er ist.« Er gibt seine Quittung den anderen Antibolschewisten, die ihn, den vordersten, endlich beanstanden möchten. Verspätet kommen sie mit ihrer Kriegserklärung ohnedies; um tief Ernstes, um das Leben, wird nicht gehandelt.

Welch ein beschämendes Konzert, dieses europäische! Alle gleichzeitig wissen plötzlich und verkünden, daß ihr Meister im Antibolschewismus von jeher selbst nur ein Bolschewik war, und man habe es ihm angesehen. Gar nichts hat man. Es wäre schwer gewesen. In Wirklichkeit ist er nicht dies noch das. Er will an der Macht bleiben, ohne Krieg kann er es nicht. Das normalisierte Deutschland Bismarcks, wenn es noch bestehen könnte, läge niemals in Händen wie diesen. Aufgelöst, moralisch wie geographisch ohne Gesetz und Grenze, mußte Deutschland sein, für die irrationalen Ausschweifungen, denen es sich jetzt ergibt.

Vom Tage des Paktes an, bis zu der Stunde seines Überfalles auf die Sowjetunion, hat Hitler in dem Ruf gestanden, als ordne er sich unter. Führend seien die Sowjets, die Verschwörung gegen Europa gehe von ihnen aus, auf den Trümmern der Kultur, wie sie ist (und wie ist sie?), der Freiheit, wie sie verstanden wird (will sagen unzulänglich oder verkehrt), werde die triumphierende Barbarei sich aufpflanzen:

Hitler, bisher ein Liebling Europas, schien damals zu verraten, es war recht hart. Halbfaschistische Mächte, wie die französische Republik in ihren letzten Zügen, sahen den Krieg mit ihm darum nicht lieber – unternahmen auch nichts, solange alle seine Tanks noch über die Weichsel stürmten und die Gelegenheit günstig war. Eine zweite Front in diesem stark beanspruchten Augenblick hätte ihn empfindlich gestört – hauptsächlich aus didaktischen Gründen: er hatte sie sich verbeten. (Heute hat er sieben Fronten.) Er hielt streng zu den Lehrsätzen von »Mein Kampf«. Unter den vordringlichen Tugenden dieses Tatmenschen ist die Lehrhaftigkeit.

Bei seinen unwiderstehlich Sympathisierenden hat er damals nicht viel verloren. Was unmöglich schien, die Sowjetunion sank in der Meinung noch tiefer, sie machte das Maß voll und verführte einen Hitler! Danach blieb ihr keine Tücke mehr übrig. Die Gefahr, die von ihr ausging, war unterschätzt worden!

Oder, je nachdem, fanden die Hoffnungen sich enttäuscht. Gutgläubige Menschen wurden niedergeschmettert von dem Schlag. Dies zu erleben hatten sie niemals erwartet. Ihr innerer Halt in aller Trübsal der Zeiten war die Sowjetunion allein gewesen, jetzt verriet sie die Weltrevolution an Hitler und an seinen imperialistischen Krieg.

Auf dieser Seite, der kommunistischen, ist viel mehr gelitten worden, als auf der andern. Der vorausgesetzte Verrat Hitlers wurde von seinen virtuell Verbündeten niemals völlig ernst genommen: schließlich unterscheidet man von den Feinden die Freunde, wo sie in bar zu berechnen sind. Winke an die Zuverlässigen sind nicht ausgeblieben.

Die verwandten Parteien des Westens blieben von dem fernen, rätselhaften Moskau ohne Nachricht, ohne Losung. Warum, werden sie nach allem Geschehenen wohl begriffen haben. Damals sind im Westen die und jene an Moskau verzweifelt.

Nicht gleich die Massen. Sie sind langsam, ihr Urteil wird gewöhnlich vertagt, bis die irreführenden Tatsachen sich selbst berichtigt haben. Übrigens bedarf es der geistigen Überhebung, um jemand, der viel geleistet hat, aufzugeben, sobald man ihn nicht versteht. Es waren die Denkenden von den Mitgegangenen, einzeln Gewonnenen, die ihren kritischen Kopf oben behielten. Nichts Menschliches verblüffte sie; nur ihr Pessimismus wurde bestätigt.

Die größte Revolution, gerade sie, behält die Unzuverlässigkeit allen Menschenwerkes. Sie kann abweichen, jederzeit besteht der Verdacht, daß sie sich überschlägt bis ins Gegenteil. Schon die Moskauer Prozesse nährten den Argwohn der Scharfsinnigen, die nur noch etwas scharfsinniger hätten sein müssen, oder etwas kindlicher. Ihre Aussicht, das Richtige zu treffen, hätte zugenommen. Aber ihresgleichen, Revolutionäre oder Intellektuelle, waren hingerichtet oder eingekerkert. (Den Marschall zählten sie nicht mit.) Das hatten sie nie verziehen. Die Diktatur des Proletariates, ihre nicht mühelos festgehaltene Meinung, erwies sich praktisch beseitigt. Von dem Schlagwort war die bessere Hälfte, das Proletariat, gestrichen. Übrig blieb die nackte Diktatur vereinzelter Terroristen, eines einzelnen sogar; für ihren Teil schüttelten die Kritiker der Revolution ihn von sich ab. Er war seines Hitlers wert und mit Recht zu ihm übergelaufen. Der Pakt befriedigte sie bitter; dunkle Tatbestände, die nur sie entziffert hatten, trafen allseits sichtbar nunmehr zusammen in dem Pakt.

Die Auffassung hat sich seither als fehlerhaft erwiesen. Von seiten der enttäuschten Freunde der Sowjetunion war sie kein Fehler aus falsch berechnetem Eigennutz. Sie war der Irrtum einer Menschenart, die schließlich eigene Unglücksfälle für gerecht hinnehmen würde, stände einmal fest, daß der Zusammenhang der vernünftigen Ereignisse sie will. Den Pakt hielten sie für ein unentschuldbares Unglück. Auf die geistige Untersuchung der Vorgänge gestellt – weit mehr als auf den Willen, sie zu bestimmen –, hätten sie allerdings genauer nachgraben sollen – auch aufrichtiger. »Creuse-moi ça.«

Um die auffallendsten Widersprüche eines Zeitalters aufzuklären, ist erstens nötig, daß man die gesamte Zeitgenossenschaft als eine Einheit nimmt. Sie hassen einander bis zur Vernichtung: das ist der Augenschein. Unsichtbar sind sie gleichgerichtet – nicht alle auf denselben Gegenstand, aber unfehlbar unter gleichen Voraussetzungen. Ihre Methoden sind technisch experimentell. Wie sonst hätten sie sich auf diese ihre Kriege eingelassen. Woher sonst die Nichtachtung von Tod und Leben einer Menschheit.

Durch das kriegführende Europa gehen im Querschnitt zwei Fronten, überall (ausgenommen das einzige Land der erklärten Revolution) ist die sozialistische Front durchsetzt mit der anderen, die kapitalistisch heißt. (Ihr Kapital ist fraglich. Ohne die Duldung der sozialistischen Massen, ohne ihre Mitwirkung hätte sie keines, nicht einmal ein eingebildetes.)

Aber die ganze armselige Gesellschaft – das ist der kontinentale Reichtum, mitsamt dem deutschen Monsterkonzern, der heute die geraubten Werte des Kontinentes kontrolliert, wodurch sie wertlos werden – diese schlechten Wirte glauben immer noch an die Wirtschaft allein.

Das verbindet grundsätzlich alle, die Kapitalisten, die nicht enteignet werden wollen, so sehr sie es schon sind, mit dem Sozialisten. Auch sie denken höchstens an die Enteignung: darin sind sie stramme Sozialisten. Im Drang der Umstände, hypnotisiert von dem Problem eines Besitzes oder Nichtbesitzes, das tief in den Massenmord geführt hat, sind die meisten Sozialisten ungeeignet zu bemerken, daß ihre eigenen Forderungen wirtschaftlich nur begründet, aber sittlich gemeint sind.

Der Satz, daß ein Land ohne arm und reich frei: nicht vor allem wohlhabend, sondern frei sei, ist von einem Geistlichen gefunden. Kein Mann der Wirtschaft hat ihn während dieses Krieges gesprochen, lange vorher war der Gedanke ihnen fremd oder gleichgültig geworden.

Marx hat ihn natürlich gehabt; nur die Absicht auf mehr Menschenglück vermochte seine Theorie mit Leben zu füllen. Das ist nicht durchaus eine humanitäre Absicht, es kann eine logische sein. Die Vernunft will befriedigt sein, noch eher als das Herz. Der Sowjetstaat konnte selbst ins Leben treten kraft seines geistigen Begriffes vom Menschen, seiner Absicht auf menschliche Befreiung, Veredelung. Die Wirtschaft? Sehr wichtig, – als Mittel, als Handgriff.

Die westlichen Sozialisten, genau wie ihre feindlichen Genossen vom entwerteten Kapital, sind konzentriert auf den Handgriff. Weder den einen noch den anderen gelingen Wirtschaftspläne (Planwirtschaft, Vierjahresplan, Volksfront), weil sie darüber hinaus nichts wollen noch wissen.

Die einen übersehen, was sie endlich selbst in den Abgrund gestürzt hat: Mißbrauch der Menschen für ihre eigene Bereicherung. Die anderen lassen den Menschen dahingestellt. Allenfalls folgt, was ihn angeht, automatisch, nach berichtigter Wirtschaft. Die Gleichberechtigung der Massen, eine Errungenschaft der Sowjetunion, die geistige Hebung jedes Arbeiters, ihr Ziel, hängen aber nicht gerade von gerechten Löhnen ab. Eintretenden Falles würden andere Länder den Beweis erbringen.

Wenn meine Ansicht über die Zeitgenossenschaft mich trügt, woher denn ihre merkwürdige Einmütigkeit über den Pakt? Sie hätte kopfstehen können. Sie hätte nicht einmal entsetzt sein müssen von dem Pakt, einem sittlichen Ungeheuer außerhalb des Lebensfähigen. Alle konnten ihm den Glauben verweigern. Die Heilige Allianz hat den Thron Frankreichs keinem Jakobiner garantiert. Hitler, ganz gleich, was er behauptet, hat keinem Bolschewisten sein Reich verbürgt, besonders dieser nicht ihm das seine. Beide Emissäre zweier unvereinbarer Welten hatten ihre Gläubigen gehabt.

Wo waren sie geblieben! Von der Nahezu-Gesamtheit (der Urteilenden, nicht der Massen), von allen hier wie dort, wurde Verrat angenommen, der gleichzeitige Verrat zweier Welten und ihrer Beauftragten. Das Phänomen fällt aus der Natur, die Vernunft hätte es geleugnet. Einzig die eingefleischte Überzeugung von der Allmacht des sofortigen Nutzens läßt keinen Verdacht aufkommen. Denn beide Verräter profitieren. Der erste deckt seine geplanten Überfälle gegen eine Konkurrenz, die sie stören könnte. Der zweite beschließt, die Räubereien des anderen geschehen zu lassen für den Preis des Anteils, den er sich nimmt. Beide vermehren ihren Besitz und sichern einander wirtschaftliche Nachhilfe bei diesen schwierigen Zeiten.

Die schwierigen Zeiten und wer sie erlebt, begreifen. Wie trostlos nachgiebig müssen die Gemüter sein, damit man den unsittlichen Widersinn für wahr und geschehen hält. Moskau verliert Anhänger, die aber nur zu warten brauchten, ihre eigene Vernunft zu prüfen brauchten: ihr Freund hätte sie endlich belehrt, wer er ist – und was ihnen abgeht: die Festigkeit.

Im Behaupten menschlicher Gewinne wird man fest, wenn man die politische Neuordnung – auch die wirtschaftliche – als unerläßliche äußere Formen der menschlichen Gewinne erkannt und erkämpft hat. Zuletzt gelten diese allein.

Den Pakt für echt zu halten, bestand kein Grund, außer dem einen, der das Zeitalter selbst angeht. Es hat die moralischen Werte gestrichen. Es unterscheidet sie nicht mehr, keiner öffentlichen Person, die sich diesem Zeitalter aufdrängt, wie Hitler tat, sieht es seine Minderwertigkeit an. Die Sowjets oder Hitler, nachgerade geht der europäischen Gesamtheit das Vermögen, den Abstand zu messen, aus. Sie richtet sich nach ihren, sehr gegensätzlichen, Vorteilen.

Hitler bedient seine Auftraggeber, seine Kreaturen und gemeinhin das Interesse aller, die haben oder nehmen. Weshalb er sich den Führer der Habenichtse nennt. Gestände er aber ein, er sei der Homme de main, der Habeviel, wäre auch das eine Lüge. Sein wirklicher Auftrag geht auf die umfassendste Vernichtung allein.

Das Wesen und die Berufung der Sowjets sind lebenfördernd, zufolge dem auffallend hohen Lebensgefühl ihres Landes. »Weltanschauungen« können gemacht, einer nationalen Gesamtheit können sie aufgenötigt werden: niemals ihre Zuversicht oder ihr innerer Zerfall. Indessen, wenn die sittlichen Werte gestrichen sind, sieht man einfach: zwei Diktaturen, abweichend bisher noch in den Absichten, aber mit verwandten Methoden, – und die Geste schafft das Wesen, sie entscheidet endlich. Nunmehr sind die Sowjets imperialistisch.

Die Verwechslung war von Hitler seit jeher gewünscht und herausgefordert. Der falsche Revolutionär, mitnichten der echte, gewann dabei. Sein vorgetäuschter Vierjahresplan, seine Kulturkammer gegen die Kultur, sein Volksgericht der blutigen Rache am Volk, dies und mehr der Art sollte Verwandtschaft mit den Sowjets heucheln: die Sowjets, gespiegelt im Haß und in der Furcht Europas. Hitler hat mit seinen Imitationen den Widerwillen gegen das Vorbild vermehrt. Eine durchaus schändliche Einrichtung wie seine Gestapo wirkt zurück.

Der Nutzen für Hitler? Seinen Schutzbefohlenen in ganz Europa konnte er sagen: Ich, euer Erhalter, eure Hoffnung, gebe an Energie eurem Feinde nichts nach.

Wurden irgendwo gesittete Zweifel laut an einem Regime, das durch zu viele Morde auffiel? Die Antwort war: »Man scheint nicht zu wissen, was eine Revolution ist.« Für einen Hitler war sie, was er trieb, und nicht mehr als das. Wo Leben vernichtet wird, da, glaubt er – sofern er sich selbst etwas glaubt –, sei Revolution.

Selbstüberwindung wurde nicht erfordert, als er den Pakt schloß. Der Pakt lag auf dem Wege seiner betrügerischen Angleichung an die Macht, deren bloßes Dasein ihn entlarvte, sobald man ehrlich war, ihn als sittliche Erscheinung auflöste, – übrig blieb ein Mechanismus.

Nach gelungenem Abschluß des Paktes triumphierte er unverschämt. Die Sowjets haben mit keinem Wort den Pakt weder angepriesen noch entschuldigt. Sie schwiegen, weil sie zu viel wußten. Hitler redet, um sich und andere aus den Fuchsfallen seiner Unwissenheit herauszureden.

Er triumphierte über die westlichen Demokratien, weil sie ihn um seinen Erfolg beneiden sollten. Wenn sie aber des Bündnisses mit der Sowjetunion militärisch bedurft hätten, um ihrer Arbeiter willen mußten sie es nicht haben: gerade dies war der Fall Hitlers. Er hat die soziale Stärke Großbritanniens nicht gekannt, keine Ahnung berührte ihn, daß die älteste Demokratie ihre Verbundenheit mit der neueren entdecken würde, wenn es Zeit, gerade noch Zeit wäre.

Er triumphierte auch über die Sowjets; mitleidig und höhnisch gab er zu, daß »jeder bleibt, was er ist«: der Schlaukopf er, und sie die Überlisteten. Denn er bildete sich ein, er prellte die Paktfreunde; den Pakt in Händen vergäßen sie, was sie von ihm zu erwarten hatten: den Angriff, sobald er konnte.

Die schweigsamen Sowjets hatten nach der Unterzeichnung des Paktes, am gleichen Tage hatten sie in Moskau mit dem Bau von Unterständen begonnen. Sie hielten für ausgemacht, daß sie angegriffen werden sollten und daß sie kämpfen würden. Hitler nimmt Kleinigkeiten nicht zur Kenntnis.

Von seinen Berichterstattern wimmelte es in Moskau. Sie haben die Unterstände gesehen. Der Feind, gegen den sie dienen sollten, war zu erraten, wenn er nicht sogar genannt wurde. Seine Berichterstatter werden überlegt haben, was es sie kostete, wenn sie ihren Despoten unterrichteten. Gar nichts kostete es. Er triumphierte zu sehr und setzte damals nur den ersten Fuß auf seine Via triumphalis, – die lang sein sollte und ihm bereitet war für zwei Jahre ungetrübten Größenwahns. (Wenn einer alle Vorzeichen übersieht.)

Die Unterstände von Moskau sind auch in Paris verschwiegen worden. Sie wurden nirgends erwähnt. (Ich selbst hörte erst kürzlich von ihnen.) Sie hätten die Ideen verwirrt. Die Sowjets wären nicht mehr gewesen, wie die Welt sie damals wollte, eine ärgere Spielart des Hitlerschen Gewaltstaates, sein unerreichtes Muster.

Zwei Räuber, aber der eine auch noch Kommunist: er mußte der Verhaßte bleiben. Die Verräter überall – und in Frankreich – hätten es weniger leicht gehabt, wenn der Kommunist nicht mit dem anderen auf Raub auszog, ihn vielmehr hinhielt bis zu der unvermeidlichen Auseinandersetzung.

Die Sowjetvölker wachsam gegen Hitler, das durften andere Völker nicht erfahren. Ihre Regierungen, die sie hätten aufklären müssen, waren selbst im dunkeln. Sie kannten Tatsachen wie die Unterstände gegen Hitler, aber in ihrer Lage glaubt man nicht, was man doch weiß. »Ich habe meinen Weg gewählt«, ist das Wort des einen Daladiers für sie alle. Es war der Weg des Antikommunismus, und er hat ins Verderben geführt.

Das persönliche Erlebnis

Schließlich erleben Völker nichts anderes als der einzelne. Sie werden betrogen, sie begreifen zu ihrer Zeit, will sagen nachträglich. Wenn der einzelne früher die Wahrheit findet, kommt er dennoch zu spät. Es ist dafür gesorgt, daß er sie nicht bekanntmachen kann.

Während des ersten Kriegsjahres war ich in Frankreich. Ich habe mit dem französischen Volk gefühlt – hätte auch in Deutschland, wenn es mir erlaubt gewesen wäre, das Volk in seinen wahren Gefühlen wiedererkannt. Der Feind, hier wie dort, war Hitler, seine Gewaltherrschaft, der Krieg, den er vom ersten Tag an gewollt und nötig gehabt hat. Eine unergiebige Gewaltherrschaft muß um sich greifen, damit sie zu handeln scheint.

Von den Deutschen dieses Krieges spreche ich nicht als Augenzeuge, nur aus Erinnerungen. Die Vorliebe für die Sowjetunion war in Deutschland weit verbreitet, das Verständnis für die Revolution, die Begierde, dem größten Ereignis des Jahrhunderts nahe zu sein, betraf bei weitem nicht die Kommunisten allein. Die Aufmerksamkeit wendete sich dem geistigen Vorgang zu. Hätten die Deutschen es nicht gewollt, die befohlene Dummheit zwang im Bereich Hitlers zur geistigen Flucht aus dem Lande, das nur noch eine Anstalt für Zurückgebliebene war.

Wohlverstanden, die denkenden Köpfe, die um ihrer Selbsterhaltung willen den Moskauer Sender hörten, wurden abgeschlagen. Das Beil hat nicht verhindert, daß andere es herausforderten. Welch eine unabweisbare Nötigung hat sie bewogen! Wahrhaftig, ihre berühmten Vorgänger im Zeitalter der anderen großen Revolution, Kant, Schiller, Klopstock, Hölderlin, wagten so viel nicht wie jetzt ein deutscher Arbeiter.

An der Wende der Zeiten sind die Denkenden eine Saat, über das Feld gestreut. Deutsche Arbeiter, die unter Hitler auf Moskau horchten, russische Bauern, als sie unter dem Zaren einander Tolstoi vorlasen, beide halfen den Entscheidungen, zu reifen. Früher oder später wäre auch Hitler gefallen – ohne Krieg. Sein Krieg war nichts als ein Aufschub. Er hielt ihn für das sichere Versprechen seiner eigenen Dauer. Eins sagte ihm sein übrigens schwacher Instinkt: anzufangen bei der Sowjetunion verbot ihm die deutsche Lage.

Daher der Pakt.

Er war am ersten Tag bestimmt, gebrochen zu werden, die Sowjets rechneten damit. Inzwischen behielten sie Zeit, sich zu rüsten. Sollten sie angegriffen werden, dann lieber von einem verwegenen Sieger, nach zwei Jahren glücklicher Eroberungen. Sie kannten die Sieger, die an nichts mehr zweifeln, – obwohl eigentlich die Furcht vor der immanenten Rache ihnen keine Ruhe läßt, bevor sie auch das letzte der kontinentalen Reiche unschädlich gemacht. (Als ob damit die Furcht beruhigt wäre. Jenseits der Meere warten die beiden größten Reiche.)

Die Sowjets haben mit dem Pakt nur für das Bedürfnis der Stunde gesorgt. Wer nüchtern und klug ist, arbeitet nicht auf Vorausbestellung und bindet sich an keinen selbstverfertigten Leitfaden »Mein Kampf«. Wahrscheinlich beschließen die Sowjets von Schritt zu Schritt, aus dem vorigen erfahren sie etwas über ihren nächsten. Dennoch werden sie in dem Pakt wenigstens den einen Nachteil schon beim Abschluß mitberechnet haben. Er verwunderte ihre Freunde, anderswo und in Deutschland. Er enttäuschte schlechthin alle. Die Leidenschaften wurden erbittert. Die einzeln Überzeugten – mehr von sich als von der Sowjetunion überzeugt – bekamen mit ihren trübsten Vorhersagen recht.

So stand es für eine Weile in der Tat. Jeder Beobachter, jeden Ortes in Europa, konnte die Wirkung der jähen Annäherung Hitler – Stalin feststellen. (Annäherung! Sie haben einander nie gesehn, das Bedürfnis muß durchaus gefehlt haben. Eher sind sie einander ausgewichen. Merkwürdig; blieb aber unbeachtet.) Der eine gewann an Achtung nichts, der andere verlor.

Indessen kommt es in dieser Stunde und für die folgenden mehr auf die Armeen als auf die Völker an. Die deutsche Angriffs- oder Wehrmacht soll nunmehr der Roten Armee begegnen, nicht feindlich, vielmehr vertraulich. In Polen werden sie zusammen arbeiten, was ungewollt – auf der deutschen Seite ungewollt – den Verkehr der Mannschaften und der Offiziere ergibt.

Nach den Ereignissen ist es leicht zu sagen, wer von beiden für den anderen anziehender sein mußte. Inzwischen ist der Pakt dahingefallen, – hinfällig war er immer. Der Angriff liegt weit zurück, Schlachten haben ihn gebrochen. Die deutschen Heere, deren Ruf als stärkste Landmacht verloren ist, klammern sich an die allerletzten Reste ihrer Eroberungen – vergebens. Die deutschen Gefangenen in der Sowjetunion aber bilden 1943 ein Nationalkomitee für das befreite – von seinen Schändern befreite – Deutschland. Im Vorsitz, als Gleicher unter Gleichen, ein emigrierter Schriftsteller mit mehreren Generalen.

Wie wenig deutsch hätte gerade dies angemutet, ohne die Berührung der deutschen Heere mit der Sowjetunion! Daß wir das Erstaunlichste nie voraus erraten, während es doch das Natürlichste ist! Wir hätten auch wissen sollen: Wenn den deutschen Heerführern die Mannschaft knapp wird, werden sie russische Gefangene in deutsche Uniformen stecken, und sie vortreiben in die Schlacht gegen ihr Land. Mehr als sie zu erniedrigen, können sie mit den roten Soldaten nicht anfangen.

Der Feind – der Feind, den die deutschen Soldaten bekamen, ohne daß er es gewesen war – zwingt sie keineswegs, ihre eigenen Leute zu töten. Er bekehrt sie – nicht gerade zum Sowjetismus. Er stellt ihnen frei, ein freies Deutschland ins Leben zu rufen.

Dies und einiges darüber mußten wir entziffern in dem Pakt selbst. Er enthielt es: gerade darum war er voll Andeutungen und ein Reiz der Gemüter. Ich erlebe nicht anders als die Völker; sie haben zweifellos gefühlt wie ich, in Anbetracht des Paktes. Er ist unter den Anstalten zum Selbstmord, die der deutsche Führer getroffen hat, die bedeutendste, auf weite Sicht konnte sie unmöglich fehlschlagen. Den Pakt zu schließen, war ein Geständnis. Als er ihn brach, ergab er sich in seine tödlichen Folgen.

Nicht, daß ganze Völker den wörtlichen Ausdruck ihres tiefen Wissen fänden, oder inständig darum bemüht wären, wie ich es sein mußte. Der Augenschein des Verrates, dem sie beiwohnten, ließ das tiefe Wissen nicht zu Worte kommen; die wenigen, deren Beruf das Wort ist, erlangten damals schwer genug die Sprache wieder. Die Nachricht von dem Pakt – dem Verrat, der Katastrophe – hatte mich erschüttert wie jeden. Die beiden Tage und Nächte, die folgten, sind unter meinen denkwürdigen.

Die ruhelosen Überlegungen zweier Tage und Nächte zeigten mir allerdings den Sinn des Vorgangs, wie die Handelnden ihn meinten. Daß ihr Friedensschluß trüge. Daß Hitler seine Lehre von der einzigen Front durchführe, bis er sie werde büßen müssen. Daß er nicht wage, seine proletarischen Massen gleich anfangs gegen die sozialistische Union von Völkern zu schicken. Er schickte sie dennoch: als Freunde, das war noch gefährlicher.

Hiermit endeten meine Entdeckungen, die übrigens nahe lagen. Sie haben nicht nur mir viel Mühe gemacht. Wir wissen nichts, oder höchstens, wohin ihre Rolle die Handelnden verweist. Zu welchem Ende sie wirklich handeln werden, bleibt der Phantasie überlassen, da sie selbst es nicht wissen und oftmals erst erfahren, wenn es geschehen ist. Am 21. des ersten Kriegsmonats konnte ich meinen Aufzeichnungen hinzufügen:

»In Polen ist sein Paktgefährte für Hitler eine Unbequemlichkeit geworden, anstatt eine Erleichterung. Auf seinem Wege stehen Sowjetdivisionen. Die polnischen wären ihm lieber. Warschau für ihn zu erobern, wenn er es nicht selbst kann, das haben sie vergessen. Indessen haben die Sowjetdivisionen die deutschen überholt im Wettlauf nach der ungarischen Grenze. Nicht Hitler – die Sowjets halten die Gegend, wo die drei Grenzen, Ungarns, Polens, Rumäniens, sich treffen. Der Einmarsch des berühmten Eroberers in ein Land, wo Petroleum fließt, stößt auf unvorhergesehene Hindernisse. Wenn dies nicht die Absicht des Paktes war, sein Ergebnis ist es jedenfalls.«

Tatsachen festgestellt, mehr oder weniger anerkannt, – gleichwohl blieb bei der Mitwelt, ihren öffentlichen Exponenten, der Pakt in Kraft, sie wollte ihn vollgültig für die Dauer des Krieges. Die Sowjets sollten ohne Vorbehalt, ohne Witterung für den anderen Täter, geschweige Selbstbesinnung, zur Mittäterschaft an einem imperialistischen Raubkrieg übergegangen sein. Wen die Unterstände in Moskau, ihr Bau am Tage des Paktes, nicht nachdenklich gemacht hatten, dem sagte das Auftreten der Roten Armee in Polen ebensowenig.

Gewiß darf von den Dirigenten der Öffentlichkeit, die auch die Geschichte zu dirigieren meinen, niemals erwartet werden, daß sie politisch-militärische Vorgänge ins Menschliche übersetzen und unterscheiden, was mit den Leuten vorgeht. Das gäbe ihnen das peinliche Gefühl, die Geschichte zu »romancieren«. Strategie, hohe Diplomatie, wer immer mit ihnen befaßt ist, weiß: er bearbeitet kein literarisches Gebiet. Die Psychologie des Alltags und gemeinen Mannes spielt wahrhaftig nicht hinein, es wäre denn in der Form des Nervenkrieges, der allerdings für die ungeschulte Phantasie seiner Erfinder zeugt.

Man bestimmt vielleicht, was die dirigierte Geschichte aus der Unzahl sterblicher Objekte machen wird: nichts Gutes meistens, allzuoft Leichen. Man bestimmt es, ohne daran zu denken. Sonst müßte man auf die bescheidene Wirklichkeit eingehen. Man hätte bewegliche Gesichter vor Augen und Szenen des kleinen Lebens, die immer wechseln. Nichts davon. Die Geschichte ist kein Roman.

Für mich ist sie gerade das, ein Roman. Sie fällt nirgends aus dem täglichen Leben, das den Vorwand für die Erkenntnis des Menschen hergibt. Die Geschichte ist keineswegs die Geschichte von Staaten, Machthabern und Millionen Dummköpfen, die nicht wissen, wie ihnen geschieht. Zuletzt stellt sie sich als der Lebensweg des einzelnen heraus: rätselhaft wie er, und ebenso ordinär. (»Einzig in der Geschichte«, die jetzt gebräuchliche Wendung, einzig ist gar nichts.) Wer die wirkliche Geschichte der einzelnen, die eine Masse sind, plant? Niemand.

Von dem Pakt 1939 bis zu dem deutschen Nationalkomitee in Moskau 1943 führt eine weite Strecke, obwohl gradlinig. Sie von Anfang bis Ende zu berechnen, fehlte mir der Scharfsinn, und die augenscheinliche Aussicht war lange verborgen hinter einem Getümmel von Ereignissen. Für meinen Teil habe ich nur vermocht, die einfach erste Wirkung des Paktes auf die wirklich Beteiligten – die Soldaten – zu sehen, sie aber deutlich.

Die deutschen Soldaten haben anfangs in Polen mit den Rotarmisten eines Umgangs gepflogen. Es kam vor, daß er angenehm war. Lehrreich war er immer. Ein Jahr, dann gestaltete der Verkehr sich blutig; der Überfall war geschehen. Leidenschaft und Fanatismus haben miteinander nichts zu tun. Die Rote Armee verteidigte ihr Land und ihre Revolution. Die deutschen Heere befolgten nach Kräften den Auftrag, beide zu vernichten. Je weniger sie ihre Taten begriffen, um so verantwortungsloser wüteten sie gegen ein Volk, das sie hätten lieben können. Aber man hatte ihnen gesagt, die Russen wehrten sich mehr als Tiere, weil sie weniger als Tiere seien. Worte eines vertierten deutschen Schriftstellers, sie machten ihren Weg.

Als die Rote Armee von der Verteidigung zum Angriff schritt, wurden die geschlagenen deutschen Soldaten instruiert über die »Minderwertigkeit der slawischen Rasse«. Der Anlaß war der rechte, nicht um Glauben zu erzeugen, aber um Fanatisierte, die sich fürchten, jedes Verbrechens fähig zu machen. Die Geschlagenen von Stalingrad und Kiew wissen genau, was sie tun, wenn ein Mann allein hundert russische Kinder tötet. Ein gefangener deutscher Unteroffizier hatte sich den Anschein gegeben, als vermöchte er zwischen seiner kriegerischen Tätigkeit und Mord durchaus nicht zu unterscheiden. Angesichts des Galgens hat er seinen Richtern über sein wirkliches Lebensgefühl, einen wahren Abgrund, die Auskunft erteilt. Das psychologische Verfahren aus den Moskauer Prozessen: auch auf Deutsche angewendet, wirkt es Wunder.

Als belanglos, oder aus Schamgefühl, ließ er weg, ob er schon am Anfang, in Polen, dabeigewesen war. Dort ging zwischen den deutschen Soldaten und Rotarmisten diese und jene Szene vor, – damals konnten sie erfunden sein, mit der Zeit sind sie glaubhaft geworden. Die deutschen Generale, die jetzt, unter dem Vorsitz eines emigrierten Schriftstellers, das Nationalkomitee für ihr – sie hoffen, freies – Deutschland bilden, denken gewiß zurück.

Der Zusammenhang ist deutlich. 1939 wollte Hitler mit seinem Pakt beide vergeblich betrügen, die Sowjets und die deutschen Soldaten. Nach wirksamer Belehrung erinnern 1943 deutsche Soldaten sich des alten Paktes – und machen ihn selbst.

Auch ich erinnere mich. Am 26. September 1939 entwarf ich dies Gespräch.

Fortsetzung des angenehmen Verkehrs

Die Sowjetsoldaten plaudern mit den deutschen Gemeinen und niederen Chargen. »Hör einmal, Väterchen, hier habt ihr aber gehaust! Nun ja, niemand will Prügel bekommen, und bevor ich alle viere von mir strecke, soll er selbst dran glauben.«

Der deutsche Gefreite: »Du bist ein kluges Kind, die leben nicht lange. Meinst du, wir haben Lemberg zum Spaße erobert? Hätte ich gewußt, daß wir es, kaum drinnen, an euch abtreten sollten und hundertfünfzig Kilometer zurückgehen?«

Der Sowjetgefreite: »Dann hättest du dich nicht so schrecklich geplagt. Du siehst gar nicht gut aus. Schone dich, Väterchen! In Lemberg haben wir euch beizeiten abgelöst, die Stadt steht noch. Hier, wo ihr gehaust habt, liegen die Häuser am Boden und kein Geschöpf Gottes, weder das Vieh noch die Christen, haben Gliedmaßen zum Umherkriechen. Begreif doch, mein Lieber, daß du dir vergeblich Mühe machst!«

Der deutsche Gefreite: »Ein deutscher Soldat begreift nicht, sondern gehorcht. Ist es bei euch anders?«

Der Sowjetgefreite: »Wir versuchen zu begreifen – besonders versuchen wir zu begreifen, warum man sterben muß. Ist es zwecklos, dann sind uns Lebende lieber als Tote.«

Der deutsche Gefreite: »Wieso?«

Der Rotarmist: »Weil wir aus ihnen Kommunisten machen können.«

Der Hitlersoldat: »Auch was. Aber ich sage nichts. Mein Führer ist einverstanden. Ich denke wie mein Führer. Ihr macht aus den Polen sogenannte Kommunisten, wir echte Kadaver. Jeder von uns beiden bleibt was er ist, Freundchen.«

Der Rotarmist: »Was ist denn aber aus dir geworden, mein Liebling? Ich bin besorgt um dich. Dein angenehmes Gesicht ist verfallen. Du könntest dich die letzten Wochen ununterbrochen im Branntwein gewälzt haben, zusammen mit Frauenzimmern. Kommst du tatsächlich aus dem Krieg?«

Der Hitlersoldat: »Besieh dir die Flecken an meiner Jacke! Hast du schon mal Blut gesehen? An deiner ist nichts.«

Der Rotarmist: »So muß man es machen.«

Der Hitlersoldat: »Auf unsere Kosten.«

Der Rotarmist: »Vielleicht begreifen wir unsere Leitung. Ihr versucht es nicht erst. Mögt schließlich recht haben. Eure hohen Herren sorgen sich um euch noch weniger als ihr um sie. Seid ihr nicht Menschen?«

Der Hitlersoldat: »Wenn man wollte. Wir sollen nun einmal Soldaten sein.«

Der Rotarmist: »Ich bin ein Bauer, bin es erst recht als Soldat. Wir Arbeiter und Bauern der Roten Armee haben nur einfach einen anderen Rock angezogen. Wir beurteilen, was uns befohlen wird, und handeln zum Besten unseres Staates. Damit meinen wir die wirklichen Äcker und Weiden, die unser gemeinsames Eigentum sind. Besitzt auch, du dergleichen, mein Herzchen?«

Der Hitlersoldat: »Ich nicht. Mein Onkel war ein Erbhofbauer. Hat sich ausgeerbt, ausgebauert. Jetzt geht er in die Fabrik. Überstunden unbezahlt.«

Der Rotarmist: »Da hast du es, warum du wie ein Betrunkener die Polen kalt machst. Wozu sollen sie leben? Weißt ja selbst nicht, wofür du lebst.«

Der Hitlersoldat: »Du sprichst wie ein Pfarrer. Von der Bekenntniskirche einer oder so ein roter Kaplan. Proletarier denken sich dergleichen manchmal.«

Der Rotarmist: »Die Winternächte sind lang. Sitzt ihr nicht beisammen und lest euch vor?«

Der Hitlersoldat: »Manchmal. Den Sender Moskau haben wir auch abgehört. Was hat es geholfen, jetzt sind wir hier.«

Der Rotarmist: »Es kann sich immer noch lohnen. Das Abhören und das Kriegführen. Ist dir wohl bekannt, Kamerad, was ihr von den Polen, die ihr am Leben laßt, eigentlich wollt?«

Der Hitlersoldat: »Ihr Geld natürlich. Nicht wir natürlich, der Führer natürlich.«

Der Rotarmist: »Natürlich. Und wenn ihr das Geld, das Korn und die Kohle weggenommen habt für eure Kapitalisten, dann ist es natürlich, daß ihr auch die Menschen nach Deutschland verfrachtet. Die Arbeiter und die Bauern, als Kriegsbeute, die nichts kostet. Wo Sklaven eingestellt sind in die Betriebe, müssen eure eigenen Leute noch billiger werden. Das ist alles, was euer oberster Rat anzufangen weiß mit einem großen wertvollen Zuwachs an Bürgern der Republik.«

Der Hitlersoldat: »Oberster Rat ist gut. Du meinst wohl unsere Industriellen. Bürger ist auch gut. Ich kenne eine Republik ohne Bürger und ohne Freiheit.«

Der Rotarmist: »Wie du plötzlich redest! Väterchen, wer hat dir die Zunge gelöst?«

Der Hitlersoldat: »Bilde dir nichts ein. Ich weiß mehr als du denkst. Wir sind noch zu schwach gegen die Gewalt.«

Der Rotarmist: »Mit soviel Waffen?«

Der Hitlersoldat: »Gerade deshalb. Es schadet dem Klassenbewußtsein. Der Krieg stellt die Volksgemeinschaft her, verstehst du.« Er stößt den Rotarmisten mit dem Ellenbogen in die Seite. Er lacht bitter.

Der Rotarmist stößt zurück: »Ich verstehe, aber du sollst nicht bitter sein, Genosse.«

Der Hitlersoldat: »Ich bin über und über verdreckt, Genosse.«

Der Rotarmist: »Jetzt ist die Zeit zu baden, aber nicht im Blut. Euer Führer ist mit uns verabredet, ihr werdet auf Befehl von oben eine bequeme Revolution haben und euch reinlich fühlen.«

Der Hitlersoldat: »Wenn du da nur nicht irrst!«

Der Rotarmist: »Ich irre wohl, da die echten Revolutionen nun einmal nicht bequem sind. Die unsere war schwer, obwohl wir es nur mit einem gewalttätigen Gegner zu tun hatten. Ihr überdies mit einem betrügerischen.«

Der Hitlersoldat: »Betrogen, immer betrogen, wie kommt man da heraus!«

Der Rotarmist: »Laß dich auf die Stirne küssen, Bruderherz!«


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