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Die Rückkehr vom Hades

Zuerst erschienen in »Die Rückkehr vom Hades«, Insel-Verlag, Leipzig, 1911

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, I. Band

 

I

Pandion trat, hinter sich seinen Sklaven Orestes, aus der Weinlaube der Herberge. Die Arme gekreuzt im Obergewand, schritt er die Gasse hinab. Die weißen, kleinen Häuser reihten sich festgeschlossen, ganz kahl, und die schrägen Strahlen zerstäubten rosig darauf. Eine Herme stand vor jedem. Pandion küßte eine, die ein schönes Kind war; und die Kinder, deren nackte Sohlen noch der heiße Pflasterstein wärmte, lachten ihn aus. In der offenen Halle der Schenke, hinter den bauchig vom Boden aufragenden Ölkrügen, schwenkten bekränzte junge Leute die Schalen, daß Wein umherspritzte; sie riefen dem Fremden zu, er möge eintreten. Aber Pandion verneigte sich, die Hand auf der Brust.

»Verzeiht«, sagte er mit seiner geübten, tönenden Stimme. »Nicht Wein soll mich berauschen, der ich im Herzen den Rausch so großer Gesichte bewahre. Denn wie ihr mich seht, kehre ich zurück vom Hades.«

Da sie laut auflachten, lächelte auch er.

»Ich weiß wohl: was ich zu berichten habe, taugt nicht für eure Herrlichkeiten. Drum lade ich euch auch nicht ein, mir vor das Tor zu folgen, wo ich um mich das gemeine Volk sammeln will. Lebt wohl.«

Sie riefen ihm nach:

»Schatten, der du von den Granatkörnern der Unterwelt gegessen hast und ihr dennoch entronnen bist, laß dich vollends zum Leben erwecken mit diesem Syrakuser!«

Bei dem Namen des Weines schien der Sklave Orestes aufzuwachen. Er zog die Zimbeln hervor, schlug sie dröhnend aneinander und rief:

»Achäer! Eilt herbei, den großen Pandion zu sehen. Er kommt von den Stätten, wo eure Väter, die Helden, wohnen. Er kommt vom Hades.«

Aber Pandion winkte ihm, zu schweigen und rascher zu folgen, und er sagte:

»Diese Herren, mein Freund, können unmöglich glauben, daß ich vom Hades komme: glauben sie doch an keinen Hades. Wo sollten ihnen Helden, Ungeheuer und Götter wohnen, da sie in ihrer Brust nicht wohnen? Denn sie sind keine zornigen Kämpfer, wie die Helden, beileibe nicht von der Bosheit der Ungeheuer und unvergleichlich feiner als die Götter. Ich will zum gemeinen Volk gehn.«

»Wie du befiehlst, Herr«, sagte Orestes. Da betraten sie das dunkle Gewölbe des Tores.

»Der Wind«, sagte Pandion und bewegte die Hand von Osten nach Süden, »kommt nicht mehr schleichend über die Sümpfe herbei: er braust, und er riecht nach dem Meer. Die Herzen werden freier sein, und gern werden sie mir zuhören.«

Mächtig strahlte, tief dort unten, das große Blau durch die Scharen der Ölbäume. Sie krochen knorrig über den Acker, standen gebückt wie arme Bauern und hielten doch so reiche Kronen silbernen Laubes leicht in den götterhellen Himmel. Männer mit Hacken, Frauen, den Korb auf dem Kopf, stiegen die Erdstufen herauf. Orestes trat ihnen entgegen, er rührte die Zimbeln.

»Steht, Hellenen!« rief Pandion selbst. »Denn seltene Kunde soll euer Ohr treffen. Ich, Pandion, lebe, und dennoch sah ich den Hades. Diese Füße, die nun sich in eurem Staub abdrücken, sie beschritten noch gestern den ehernen Boden des Tartaros.«

»Was denn«, sagte einer, der aus der Stadt kam: »Wie willst du so schnell gereist sein. Hast du doch den Tag verschlafen, in der Herberge des Itys.«

»Mir lieh seine Sandalen Hermes selbst, weil ich der Helena beistand, die von Trojas Mannen noch einmal geraubt war. Denn wißt, Achäer, daß die Kämpfe eurer Väter unsterblich sind. Noch immer verblutet Patroklos, die Schiffe brennen noch immer, und rasend um die Mauern verfolgt den Schatten Hektors Achill, der Schatten. Die Schwerter schmettern in die Leiber, wie Äxte in den Baum. Zu mir! ruft Ajax und wütet. Er ist allein, den Rücken an einer Eiche, und um tausend vermehrt die Feinde ein tückischer Gott. Die Helden wanken, wehe, sie sinken – aber das Gras, das sie empfängt, belebt sie wieder. Durst brennt sie, niederknien sie am Strand des Lethe, sie trinken – und vergessen sind ihnen ihre Taten, unbekannt ihr Ruhm; noch einmal ist Troja zu erobern, noch einmal heißt's weinend sterben. Da entsprießen dem rinnenden Blut der Schatten, auf der Wiese, die ihr Kampf zerwühlte, neue Blumen.«

Pandion breitete, zum Boden geneigt, die Arme aus. Eine blonde Frau sprang zurück und beugte sich rasch über eine Blume im Gras, die funkelte, wie vom Blut der Schatten. Die Hirten in den Ziegenfellen drängten sich enger im Kreis; ihre Augen glänzten rund; und indes hinter ihnen die Böcke sich stießen, faßten die Männer, rauh aufgurgelnd, die Knittel an, wenn in Pandions Geste ein Held fiel, und sie lachten, nun Achill sie rächte.

Aus dem Stadttor sprang lärmend ein Haufe Buben. Sie glitten durch die Beine der Großen: plötzlich lauschten sie lautlos. Matronen hielten den Schritt an und setzten die Last hin. Handwerker in braunen Kitteln traten herzu.

»Willkommen!« rief Pandion und grüßte sie mit den Handflächen. »Willkommen ihr Griechen, Retter Helenas! Auch euch sah ich, auf den Feldern Elysions eure Züge an manchem Schatten, der wohl Vater oder Bruder war eines unter euch, und der sein teures Blut über die Erde Griechenlands gegossen oder das Leben im mütterlichen Meer gelassen hatte, da beim Ansturm der Feinde unsere Triremen zerbrachen. Glaubt nicht, ihr seiet den Helden unbekannt. Ich war dabei, wie der ehrwürdige Nestor Männern euresgleichen die Wange küßte und sie zum Schmause ins Zelt führte.«

Sie sahen sich an und murmelten beifällig. Aber ein kleiner, schmutziger Alter mit unruhigen Augen wühlte umher, und jetzt stieß er den Arm vor und rief kreischend:

»So sage denn nun, du Herverschlagener, wie du in den Hades gelangtest, in dessen schwarzer Luft doch die Lebenden ersticken. Denn wisse, daß alle mich kennen: Ktesippos, der ich, gleich dem großen Odysseus, den ganzen bewohnten Erdkreis bereist habe.«

Er beschwor, unter fliegenden Grimassen, die Menge mit den Händen.

»Habe ich euch nicht tausendmal, o Mitbürger, mit diesem Stock alle Länder in den Sand gezeichnet? Habe ich euch nicht belehrt? Euch Staunen und Furcht gemacht? Da seht, dies ist das Land der Pferde, wo ich im Joch laufen mußte, und dies das Land der dreibeinigen Riesen, durch das ich unter der Erde gereist bin, so furchtbar sind sie. Hier aber beginnt das Land der Kimmerier, denen man stehlen kann, was man will, denn sie sind blind.«

»Freilich hast du nichts mitgebracht«, sagte jemand; und ein anderer:

»Ktesippos ist sicherlich ein schlauer Mensch, und er ist unser Mitbürger. Woher aber kommt jener?«

Orestes schlug die Zimbeln aufeinander, um alles zu übertönen, aber Pandion gebot ihm Ruhe.

»Laß den Ktesippos reden!« rief er schallend: »Dann hört mich selbst und entscheidet, wer der bessere Mann ist!«

Alle verstummten, und der schmutzige Alte machte Bücklinge ringsherum.

»Mitbürger«, sagte er, »ihr, die gerechter und weiser seid als alle anderen Griechen, zu schweigen von den Barbaren, ihr werdet nicht zweifeln, daß ein vielerfahrener Mann wie ich auch die Pforte des Hades sah. Im Lande der lahmen Vögel steht sie. Aus schwarzem Erz ist sie erbaut; die feurig schmelzenden Stufen, die hinabführen, verschwinden in schwarzem Gewölk. Wer das Gesicht darüber neigt, wird wahnsinnig. Die Vögel, die den schwefeldampfenden Abgrund überfliegen wollten, liegen verkohlt am Rande, oder sie hocken flügellos und mit traurigem Gekrächze umher in der Einöde. Dieser Lügner aber wäre hinabgestiegen? Ich, Ktesippos, den ihr kennt, habe eilig fliehend den Mantel über den Kopf geworfen; und da diese Hand, die ihn zusammenhielt, leider unbedeckt blieb, ward sie gelähmt vom Hauch der Unterwelt und zittert noch jetzt, so daß ich nicht mehr, wie wohl in meiner Jugend, euch Männern die Bärte absengen kann und die Gemeinde für meine Verdienste mich nun ernährt.«

»Schon viele Jahre, das ist wahr!«

»Ktesippos spricht die Wahrheit, er ist mein Schwager!«

»Auch ich«, rief Pandion, »will nicht zweifeln. So hat denn Ktesippos, den ihr kennt, den Einzug zum Hades gesehen, hat Furcht gehabt, gezittert – und sogar noch heute zittert er. Ich aber, den ihr nicht kennt, Pandion, habe die Augen geschlossen und mich hinabgeworfen. Nun glaubt mir!«

Dabei öffnete er die Hände und sah der Reihe nach jedem in die Augen. Mehrere spreizten die Finger und wollten reden. Unter seinem Blick aber schwiegen sie und zogen sich zurück. Die jungen Leute klatschten in die Hände. Pandion sagte:

»Ihr spendet mir Beifall, ihr Griechenknaben, weil ihr in eurem Herzen wißt, daß ihr selbst nicht gehandelt haben würdet wie Ktesippos, sondern wie Pandion. Denn nicht werdet ihr mit lüsterner Furcht in den Adern die Welt bereisen; dem Großen, das euer Sinn kennt, Helden, Ungeheuern und Göttern, ihr werdet ihnen, und sei's um den Preis eures teuren Lebens, in die Augen blicken.«

Nun klatschten alle, Ktesippos war verschwunden, und der Sklave Orestes rührte die Zimbeln.

»Achäer!« so sang er durch die Nase, »hört an den großen Pandion, der vom Hades kommt und euch göttliche Dinge kündet!«

»Ihr werdet ihnen in die Augen blicken!« rief noch einmal Pandion. »So taten die dreihundert Jünglinge, die in den Thermopylen starben. Glaubt nicht, der Hades habe nur ein Tor; auch die Thermopylen waren eins, und jedem der Dreihundert, der es durchschritt, um zu den Schatten hinabzusteigen, erschien, da sein Auge brach, Helena.«

Leiser und eindringlich:

»Denn wißt, daß sie sich zeigt, um den Griechen an ihren großen Tagen Führerin zu sein. Sie schwebte in den Thermopylen von einem zum andern, sie machte ihre Streiche mörderisch, jeden für tausend Barbaren; und mit dem Letzten der Hellenen stieg Helena zurück zum Hades.«

Pandion reckte sich auf. Er legte stolz den Kopf in den Nacken, er lächelte langsam. Plötzlich rief er, daß alle zusammenfuhren:

»Im Hades sah ich sie. Noch einmal kämpften dort um sie die Dreihundert, gleich den Helden von Troja. Was wir als Kinder vernahmen, wovon unsere Mütter erbebt sind, daß sie uns mit Milch der Heldenliebe tränkten, das geschieht nun bei den Schatten unsterblich. Das Tor von Felsen ist aufgerichtet, ehern dunkelt es hinter den Griechen – und im fahlen Licht der Unterwelt, unabsehbar wogend um Elefanten und Dreigespanne, quillt herbei aus der Tiefe das Heer des Xerxes. Du siehst ihn, von seinem goldenen Turm herab, die Hand senken: da werfen zehntausend Sklaven sich hin, daß über die Stufen ihrer Leiber die malmenden Füße der Elefanten steigen. Leonidas aus Sparta ruft höhnend: ›Billig, fürwahr, ist Perserfleisch! Vergebens willst du damit, o Xerxes, den Tod Griechenlands kaufen!‹ Und mächtig anfeuernd die Seinen, schüttelt er die Pfeile ab, die in seinem Brustpanzer zittern. Kalogeiton, der Mann, springt vor; mit ehernem Schlage streckt er zwölf Lanzenträger hin, die ihm den Freund Pylon bedrohen.

›So schützt denn‹, ruft er, ›mit dem Wall eurer Leichen den purpurnen Elefanten, der euren König trägt. Dies lebende Herz steht vor Pylon.‹

Axomenos führt das Schwert und singt dazu:

›Frei ist Sparta. Ich schlafe auf steinernem Lager und stähle diese Glieder, damit sie hart genug sind, den Tyrannen zu empfangen.‹

Da trifft ihn ein Pfeil in den nackten Hals. Auf Aristarchos, der daheim ihm der liebste Spielgenosse war, stützt sich der Wankende und ficht und singt: ›Oh, ihr Großen der Perser, die ihr aus euren Sänften auf den Tod eines freien Griechen blickt, was nützt euch euer weiches, bemaltes Fleisch in den Stoffen der Serer, da ein Wink eures Königs es zum Aas wirft; was euer schön gesalbter Bart, dahinter schon die Schnur euch um den Hals liegt, des Winkes gewärtig eures Herrn.‹

Dein Blut, o Axomenos, springt wie ein Quell. Deine Stimme erlischt, du murmelst:

›Eure tausend Weiber, ihr Fürsten, verlassen euch mit eurem Glanz. In Sparta aber wartet des Gatten Jole, die braunäugige Blonde; und kehrt er nicht heim, werden ihre Tränen in den Knaben den Haß der Tyrannen sprießen lassen und die Liebe zum Vaterland.‹

Du sinkst, Axomenos, der Freund fängt dich auf. Vor deinem brechenden Blick aber schimmert es golden. Vorüber schwebt, mit dem hellen Haar der braunäugigen Jole, der Schatten Helenas.«

Pandion selbst erbleichte und schloß die Augen. Plötzlich warf er sich nach vorn, die Arme hinausgeschnellt.

»Aber Rache nimmt für den Freund Aristarchos!« Die Jünglinge umher atmeten wie in einem heißen Traum, und die Frauen, die geschluchzt hatten, nahmen die Hände vom Gesicht.

»Der Schmerz um Axomenos gibt ihm hundert Arme. Er mäht die Perser. Eine Gasse reißt er auf aus Leichen, und ›Griechen!‹ ruft er, ›auf den König!‹ Da stürzen sie vor, die Männer, indes die schwirrenden Perserpfeile das fahle Licht des Hades verdunkeln und die Elefanten der Satrapen die eigenen Heere zerstampfen. Des Kalogeiton furchtbare Stimme erschüttert den goldenen Turm des Xerxes; er wendet sich ab, schon hebt er die Hand, um die Flucht zu befehlen …«

Die Jünglinge um Pandion sahen einander an und lachten. Rauhe Laute der Lust stießen die Hirten aus. Eine Frau hob ihr Kind sich auf die Schulter, als sollte es in die Schlacht gehen. Im Olivenhain dunkelte es tiefer. Undeutlich schimmerten dahinter die nackten Leiber der Fischer hervor, die, vom Meer heraufgestiegen, unter der Last ihrer Netze standen. War, der dort knorrige Arme warf, ein Mensch? Auch die Stämme der Ölbäume, sturmverrenkt, arbeiteten sich ab im nächtlichen Kampf. Jenseits der Wiesen aber, im westlichen Eichenwald, flammte es schwärzlich. Pandion wies dorthin; klagend schüttelte er das Haar.

»Da scheint durch die Nacht des Hades das düstere Gold immer neuer Schilde, unendlicher Wälder von Lanzen. Apollon, der feindliche Gott, führt sie her aus den Tiefen Asiens. Schläfst du denn, Pallas Athene? Die Unsrigen rufen sich, im namenlosen Gewimmel, bei Namen. Ach! Du antwortest nicht mehr, Kalogeiton. Pylon findet dich nicht; und hundert Speere mit den Armen zusammenraffend, indes tausend Pfeile auf ihn regnen und um ihn her die Köpfe sausen, die sein Schwert durch die Luft wirft, stürzt er zusammen, Pylon, dreimal Sieger in Olympia, versinkt er, der berühmte Mann von Sparta, unter einem Gebirge aus Toten, die einander nicht kennen.«

Rings um Pandion und bis in die Tiefe der Ölbäume schluchzten Männer und Frauen, schlugen sich die Brust und schluchzten. Pandion reckte steil die Hände hinauf.

»Noch lebt Leonidas! Und mit mächtig schallender Stimme sammelt er, was übrig ist von den Männern. Sie brechen sich Bahn durch die Leichen. Das Blut fließt ihnen aus schwarzen Wunden von der Stirn bis zu den Füßen, aber furchtlos höhnen sie den Tod und die Barbaren. Sie zählen sie nicht, keiner fragt nach dem Nachbarn, der nicht kam; ragend strecken sie die Speere. Achill aber, zornig aufbrüllend über das Unglück Griechenlands, springt in ihre gelichtete Reihe, er selbst, der Pelide, und rasend von ihrer alten Leidenschaft stürzen ihm nach alle Helden von Troja. Die Erde bebt unter ihrem Toben; Felsen bersten, wie sie hindurchdrängen; und in dem ungeheuren Getümmel verhallt sogar der Schrei der Götter.«

Alle, die den Pandion hörten, schrien auf, und der Sklave Orestes lärmte mit den Zimbeln, um sie in die Schlacht zu versetzen.

»Siege, o Pallas!« rief Pandion schrill. »Helden, siegt mit Leonidas und den Seinen, wie ihr Troja besiegtet! Ach! Am Horizont stehen, neu aufgerichtet, die Zinnen der dunklen Stadt, und aus ihrem Tor quillt unauslöschlich die schwarze Flut Asiens. Diesmal unterliegst du, Bezwinger Hektors. Der Schatten Helenas entgleitet deiner sinkenden Hand. Die Helden ersticken im Gewühl wie schlechte Sklaven, und weinend aus erdrückter Brust um die Freiheit Griechenlands, enden sie unter den scheußlichen Füßen der Hekate.«

Die Gesichter um Pandion verhüllen sich mit den Händen, und eine tiefe Stille sank herab vom beschatteten Himmel.

»Die Nacht des Hades droht finsterer, und kein Held mehr, der ihr ins Auge sieht?« fragte Pandion, klagend wie ein Kind. »Wie? Nur fahle, blinde Leichen trifft ihr Blick?«

Langsam hob er die Stirn.

»Die toten Leiber quellen empor am Fels der Thermopylen. Gestützt von tausend Perserleichen, breitet der tote Leonidas die Arme vor das heilige Tor. Kämpft nun, bevor ihr eindringt, mit euren eigenen Leichen, ihr Barbaren! Unmöglich: sie vermehren sich; Tod gebiert Tod; in ihrer eigenen Nacht ersticken die Barbaren, sinken hin und ersticken; – und über sie weg tasten, düster gleißend, unkennbar einander und grausend vor sich selbst, die Ungeheuer. Geryon, der Riese, umarmt sechsfach die Toten, als bewachte er seine Herde. Die Nymphe Echidna schlingt um sie den Schlangenleib und reißt den Rachen auf. Wehe! Ein stinkender Dampf wälzt sich, funkendurchsprüht, daher, nun ihr atmend naht, Sphinx und Schimäre!

Helena flieht. Ihr leichter Schatten schwankt und kreist. Es greift, es schnappt; fünfzigköpfig reckt sich nach ihr die Lernäische Schlange. Wo sie entrann, ballt sich, vor Gier ineinandergestürzt, die Masse der Scheusäligen. Ich, Pandion, sehe ihre Not, sehe den edlen Schatten Griechenlands der Schande verfallen. Tränen überschwemmen mich, ich stürze vor, und unter meinen irdischen Tritten weichen die Ungeheuer auseinander wie dunkle Luft. Ich ziehe aus dem Gewand diesen Schleier.«

»Hier ist er!« rief der Sklave Orestes und schwenkte ihn. Aber da rief vom Waldrand über die dunkelnden Wiesen eine Stimme:

»Komödianten! Sie kommen!«

Und sogleich spaltete sich die Menge um Pandion. Die Weiber kreischten auf vor Freude, die Kinder liefen schon. Pandion rief um so lauter:

»Wie schön das Gesicht eurer Königin, noch da sie sich ängstet! Helena flieht nicht mehr, sie bedeckt die Augen. Ich aber werfe über sie meinen Schleier.«

»Sie kommen auf einem Karren, sie tragen Masken. Der ganze Wald ist hell von ihren Fackeln!«

Orestes übertäubte das Geschrei mit den Zimbeln.

»Hört doch, Achäer! Er wirft über sie den Schleier. Der große Pandion rettet Helena!«

Pandion rief jubelnd:

»Da lassen ab und sinken zurück alle Bösen. Wiederbelebt vom heilenden Gras der Unterwelt stehen die Helden auf. Aber nicht Achill noch Herakles selbst vermögen diesen leichten Schleier, den sterbliche Hände webten, von den Schultern der Helena zu heben. Sie stehen und klagen tonlos, die schwachen Schatten so furchtbarer Helden – indes ich, Pandion, mich mit Helena, zum Flug an die Oberwelt, auf Pegasus' Rücken schwinge.«

Pandion breitete die Arme aus, und das Gesicht verklärt vom letzten Widerschein des Tages, tat er Schritte, so glücklich, als entrinne er dem Hades … Aber er blieb stehen und trocknete mit dem Handrücken die Stirn. Denn nun waren die meisten von dannen, Hirten und Fischer aus dem Ölhain trabten schon dahin über die Wiese, und schon erhellte sich der Wald von rotem Licht.

»Es ist nichts«, schrie Orestes und lärmte. »Keine Komödianten sind es. Ein Bettler äfft euch. Hier aber ist Pandion, der den Hades sah, hier ist der Schleier der Helena: seht die Flecken vom Saft der Asphodelen. Wollt ihr vom Honigkuchen, womit Pandion den Kerberos besänftigte?«

Und Orestes hielt die Hörer, die sich zerstreuten, an den Mänteln fest.

»Einen Obolus! Wie? So große Dinge habt ihr vernommen und lauft schlechten Komödianten entgegen.«

Nur noch die bekränzten Herren aus der Schenke des Gyps waren bei Pandion. Sie warfen rasselnde Münzen auf Orestes' Zimbeln, und sie sagten: »Da siehst du's, Pandion; das gemeine Volk versteht dich nicht. Es begreift nicht, daß du nur um deiner hohen Kunst willen sprichst. Sie glauben noch an den Hades, die Dickköpfe, und du lügst ihnen nicht gemein genug. Nicht du: Ktesippos ist ihr Mann. Warum bliebst du nicht bei uns, den Herren? Wir würden dich reich gemacht haben.«

Und sie gaben noch mehr.

Pandion sah nieder auf seine gekreuzten Arme. Der Sklave Orestes spie die Geldstücke an gegen das Unglück, und er bückte sich vor den Herren.

»Eure Herrlichkeiten haben recht, das weiß ich wohl, ich, Orestes, der ich ein Künstler bin. Der große Pandion hat im Verkehr mit dem Göttlichen das Verständnis der Menschen eingebüßt, und er hält es mit den gemeinen Leuten. Sie aber lassen ihn stehn mit all seiner Kunst und laufen Komödianten zu. Ich empfehle mich eurem Wohlwollen.«

Auch die Herren gingen über die Wiese. Lange Schatten glitten vom Wald her. Er stand wie brennend – und hinter der schwarzen Woge des Volkes, worüber Feuerschlangen liefen, nahte der Zug des Thespis. Ein sehr dicker Mann saß, mit Zinnober bemalt, auf einem Esel, der schwenkte einen Becher und sang heiser. Den Karren zogen, hintereinander gespannt, drei Maultiere, und Männer mit Masken ritten darauf, die Fackeln hielten. Der vorderste hatte Helm und Speer. Im Karren hockten Frauen bei Kindern. Eine säugte, zwei warfen Augen und Kußhände in die Menge. Kreischen und Händeklatschen brach aus, da eine aufstand und langsam über ihrem nackten Körper den Peplos öffnete. Dazu tanzte ein Buckliger unaufhörlich; und hinterdrein trotteten zwei dürftige Gesellen, die Brot kauten.

Die Scheiben der Räder drehten sich im Grase; das Volk machte kehrt, umringte den Karren, und es drängte sich und kreischte, nun er ins Stadttor fuhr. Die Winkel der Gasse lohten auf vom Fackellicht und erloschen. Das Getrappel entfernte sich. Nun erstarb der Gesang des Silens. Pandion hob den Kopf, er atmete tief auf. Ringsum dunkle Luft; auf der Stadtmauer glomm die kleine Lampe der Wache … Da umkränzte eine der schwarzen Zinnen des Waldes ein wenig Silber, und fein und leis schwamm die Sichel des Mondes hervor.

»Wir reisen weiter«, sagte Pandion.

»Herr«, erwiderte Orestes, »im Walde sind Räuber.« Und Pandion:

»Auch sie sind Menschen, und ich werde ihnen von den Helden sprechen, denen sie wohl ähnlicher sind als die flüchtigen Einwohner dieser Stadt.«

»Herr«, sagte Orestes, »du hoffst unter den Menschen immer wieder auf die, die fern sind. Möchten die Götter dir recht geben, aber wir haben schlechte Geschäfte gemacht. Laß mich wenigstens das Säckchen mit dem Geld an der Stelle meines Leibes verbergen, die die heimlichste ist. Auch vergißt du, daß wir zwei Stunden lang gearbeitet haben und nun essen sollten vor der Wanderung.«

»Es sei« – und Pandion folgte seinem Sklaven unter das Gewölbe des Tores. Orestes setzte sich auf die Bank an der Mauer. Pandion sah dem Aufstieg des Mondes zu: wie der Wald erzen zu glänzen begann und ein bläuliches Band sacht über die Wiese floß. Da war's, als öffneten sich die Bäume, und den Mondstreifen, wie eine Straße, beschritt eine lichte Gestalt.

 

II

Sie kam langsam näher: es war eine Frau. Das Mondlicht schien durch ihr Gewand, und als sie sich auf ihren Fuß bückte, deuchte es Pandion, sie verschwinde wie eine Erscheinung … Aber sie richtete sich auf. Nun sah er ihren Hut, wie ein feines Blatt, über ihrem hohen Haar schwanken und ihr Kleid, von der Farbe der Pfirsichblüte und mit Mondsilber durchwirkt, um ihre Hüften zittern. Nun sah er ihr Gesicht … Er zauderte, er öffnete, vorstürzend, die Arme.

»Heliodora!«

Sie tat noch drei Schritte, und die Falten ihres Mantels bebten um nichts heftiger.

»Pandion«, sagte sie mit ihrer leichten Stimme, erfreut, spöttisch und ohne Staunen. Dann wartete sie. Pandion ließ die Arme sinken, er atmete rasch.

»So sehen wir uns denn wieder?« murmelte er. Ihre hellen Augen gelassen in seinen, sagte sie:

»Wie hätten wir uns nicht irgendwann begegnen sollen, die wir beide das Land der Hellenen durchwandern.«

Da er nur den Kopf schüttelte, sprach sie weiter.

»Die Nacht war süß, der Wald duftete, ich bin vom Karren gestiegen und hinter den anderen zurückgeblieben: da ist mir der Riemen der Sandale zerrissen. Sieh, mein armer Fuß blutet, kaum kann ich gehen.«

Pandion fuhr auf.

»Dein Fuß blutet?«

Er kniete hin, er nahm ihn in seine Hände.

»Und sonst trug ich diese lieben Füße über jede Baumwurzel!«

Sie ließ ihm den Fuß, aber sie lachte.

»Jetzt kennen mich längst alle Baumwurzeln, und die Gräben, und die Klippen am Meer. Du sprichst zu einer Vielerfahrenen, o Pandion.«

Da stand er auf und wandte sich ab.

»Mein Sklave soll dir die Sandalen ausbessern. Orestes!«

Er gab den Befehl, und er kehrte zurück.

»Nun wirst du bei mir ausharren müssen, schöne Heliodora, bevor du dich diesen Bürgern zeigst. Du willst für sie den Kothurn anschnallen?«

»Wie überall. Und du, großer Pandion, dessen Ruhm die bewohnte Erde durcheilt?«

»Mich hörten sie schon. Ich habe ihnen durch die Macht meines Wortes die Größe der Helden beschworen. Ich habe sie stolz gemacht, Griechen zu sein.«

Aus dem Tor trat ein Wächter.

»Ihr dort!« rief er. »Man schließt. Ihr müßt hereinkommen!«

Pandion trat ihm entgegen.

»Kennst du mich?«

»Du bist Pandion, der vom Hades kommt« – und der Wächter verneigte sich. »So bleibe denn, ich warte.«

Pandion nahm den Arm der Schauspielerin.

»Du siehst –«, sagte er und breitete die Hand hin.

Sie sah ihn an.

»Woher kommst du?«

»Vom Hades.«

Sie zog die Brauen in die Höhe, und sie nickte höflich.

»Oh! Vom Hades.«

»Und du, Heliodora?«

»Nur aus Lykene. Aber man hat mich gefeiert und geliebt.«

Er lächelte eifrig.

»Das glaube ich: geliebt.«

»Oder vielleicht –«, sie sah in die silberne Luft, »liebten sie die Nymphen und Königinnen, die ich spielte. Aber doch«, und sie blickte fein, »waren es Heliodoras Glieder und ihre Stimme, wovon alle jene göttlichen Frauen lebten.«

Der Mond erhellte grell ihr Gesicht. Bleiweiß und rosiges Wachs überzogen es wie eine geschmeidige Maske. Eine bebende kleine Nase, Safranstaub im Haar, und zwischen ihren schwarzgefärbten Rändern webten die Augen gleich hellen Meeresschleiern, einer über dem andern, wer weiß wie tief – indes die zartroten, genau umzeichneten Lippen sich kunstvoll bewegten, als wohnte auf ihnen die vielfältige Seele der Frauen. Pandion ließ ihren Arm los, er trat fort von Heliodora.

»Ein Mädchen verließ ich; und die ich wiederfinde, ist Zentaurin, galoppierend durch Wald und Dörfer, ist Faunin, die Hirten im Schlaf erscheint, und Priesterin, der mit Kränzen und Weihrauchfässern eine Stadt entgegenzieht.«

Sie lachte klingend – und brach ab.

»Du sprichst wahr: wüßtest du, wie sehr. Am Strand von Myrrhos neulich badete ich. Ein Jüngling aus der Stadt verfolgte mich in den Wellen. Auf einer Klippe fing er mich. Doch indes wir uns liebten, kam der Sturm, riß ihn neidisch von mir und schleuderte ihn gegen den Fels. Am Ufer fand ich ihn tot, den Armen, den Leib geöffnet und die Eingeweide verstreut. Grausend floh ich. Die von Myrrhos aber schrieben auf seinen Stein: Philos ist dieser, den eine Najade raubte. Sie gab ihn zurück, doch ohne Herz.«

Pandion schwieg, und er seufzte. Sie gingen langsam über die weiße Wiese zum Waldrand hin. Sie langten an und blieben stehen. Pandion nickte ihr zu.

»So störst du denn, kleine Komödiantin, die Siedlungen der Menschen auf, denen du erscheinst. Sie glauben, wenn du zu ihnen spielst, die höchsten Dinge zu fühlen. Viele Frauen leiden durch dich. Manchmal stirbt ein Knabe. Du aber gehst vorüber. Sag, bist du glücklich?«

Ihre Miene ward hart, sie sagte:

»Beantworte doch selbst die Frage, o Pandion.«

»Du willst es?«

Er richtete sich auf.

»Man hat mich göttlich genannt. Auf dem Markt von Athen bin ich bekränzt worden von Männern, die nicht spielen wie ich, sondern den Rat und die Schlacht kennen. Auch ist Laïs, die Angebetete der Stadt, mir auf das Schiff gefolgt, wie ein Hündchen. Dennoch, du magst es wissen, denke ich niemals ohne Trauer jenes Hauses, jenes Gartens. Vom Ende der Weinlaube sah man drunten das Meer.«

»Aber droben auf der Kuppe wußtest du den Eingang zum Hades. Zu oft, Pandion, spähtest du hinein.«

»Indes du, o Heliodora, den Schiffen nachsahst und dich hinausträumtest in die Welt.«

Sie betrachteten einander, spöttisch und als Feinde. Auf einmal beugte Pandion sich, die Hand auf der Brust.

»Ich klage mich an. Als ich dich liebte, hielt ich das Glück, und nie wieder werden diese Arme es halten. Du hattest Eltern, Geschwister und deine Stadt verlassen für mich. Du bereitetest mir, dem Wandernden, die einzige Stätte, wo ich geruht habe. Jung waren wir. Zwei nackte Herzen, und das Glück. Die Wände unseres kleinen Zimmers waren weiß getüncht, aber aus deinen Augen, o Helia, aus den zauberhaften Gebärden deiner Glieder strömten Bilder und Gesichte darüber hin, die Apelles nie malte.«

Sie legte den Kopf in den Nacken.

»Es ist wahr. Wenn ich, den Krug auf der Schulter, vom Brunnen kam: die Pforte knarrte, rauschend wehte das Gras, und die Sonne war mir leicht …«

»In deinem blonden Haar, die Sonne!«

»Auf der Bank am Hause aber saßest du, schreibend. Da lief ich, ließ den Krug fallen, den ich mit Mühe doch heraufgetragen hatte, öffnete, dir entgegen, die Arme und lief.«

Sie hob die Schultern, sie lächelte vertraulich.

»Dennoch glich ich nicht den Frauen, die im selben Haus leben und sterben, und du warst kein Mann wie andre.«

Er murmelte:

»Was tat ich dir?«

»Du weißt es nicht mehr? Oh, du liebtest mich sehr. Dem Hades schien ich dir entstiegen, ein Schatten, eine Göttin: Helena oder Persephone. Alle Frauen deiner Seele küßtest du auf meinen Lippen. Ich war dein Geschöpf, wie? Ein anmutiges Gleichnis. Mich verehrend, verachtetest du mich, Lieber, und ich haßte dich dafür.«

Er senkte die Stirn, er sagte von unten:

»Wie wir uns liebten! Du leugnetest, mir zum Hohn, die Himmlischen, und dennoch, stolzes Mädchen, rechnetest du dich ihnen zu. Du verabscheutest alle Göttinnen, weil ich sie kannte. Du wolltest mir nacheifern, geiztest, mehr als ich von den tiefen Dingen zu wissen, warst neidisch, böse, unruhig und voll Tränen. Auch ich haßte dich.«

Sie wiederholte mit süßer Stimme:

»Wie wir uns liebten!«

»Du erfandest, mir zu sagen, ein Waldgott habe dich besessen, während ich, über den Hades gebeugt, die unterirdischen Dämpfe atmete. War's nicht Lüge? … Du schweigst, auch jetzt noch?«

Sie wiederholte nur, mit süßer Stimme:

»Wie wir uns liebten!«

Und Pandion, aufstöhnend:

»Da sah ich, daß du eine Sterbliche warst. Du machtest mich lachen und erzittern. Ich litt Scham.« Er verhüllte die Augen mit dem Mantel. Als er ihn fortnahm, kehrten sie um. Sie gingen abwärts, dem Ölhain zu. Pandion sprach in Pausen:

»Eines Morgens dann: vom goldenen Himmel strich der Wind, und deinen Schleier, den er dir entrissen, hob er den Berg hinan. Hinterdrein lief ich, in geheimnisvoller Angst; er aber zog hinab in den klaffenden Spalt der Unterwelt. Ich sah ihn taumeln, ein bläuliches Wölkchen, und stieg ihm nach. Ich weiß nicht, wie es kam, denn niemals dachte ich dich zu verlassen. Die Götter bestimmten mir den Weg.«

Sie lachte sanft.

»Wie gut sind die Götter! Denn auch mir bestimmten sie den Weg. Die Blätter, die du beschrieben hattest, wehten davon, ich folgte ihnen; und wärst du an jenem Morgen heimgekehrt, Heliodora fandest du nicht mehr.«

»Nenne sie nicht gut, die Götter«, sagte Pandion. »Sie geben, was uns ziemt, und unser Glück ist die Notwendigkeit.«

»Doch sahst du also den Hades, du Auserwählter. Wie ist er?«

»Verlange ihn nicht zu schauen, die du immer im Licht, du Schöne, deine süßen Glieder weiden ließest. An schwarzen Wänden tastest du hin, über die es immerfort von Schatten gleitet, als liefe ein lautloses, dunkles Wasser darüber. Die stockende Luft setzt dein Atem als erster in Bewegung. Sie ist grau wie Greisenhaar, und Haine schwarzer Bäume stehen darin, an denen nie ein Blatt sich regt. Die Hände der Schatten langen nach den schwarzen Früchten und brechen doch keine. Du, der noch Kraft durch die Adern fließt, pflückst eine; und wie der sanfte Saft dir in den Leib rinnt, schmeckst du die Trauer selbst.«

»Die Helden aber und die unsterblichen Taten, mit denen du, großer Pandion, das Volk bewegst!«

In der silbern durchrieselten Dämmerung des Ölberges erkannte sie sein Gesicht nicht – und dennoch wandte er es weg.

»Ward denn Troja alle Tag erobert? Auch Armseligkeit und Ohnmacht sind unsterblich, und sie leben mitten im Herzen der Helden. Mir sagte einer dort unten, dessen Namen ich nicht weiß noch wissen will: ›Auch ich liebte Helena. Ich kämpfte, ihr unbekannt, in der Menge der Helden. Wenn ihre Augen über mich hingingen, dachte sie keinen Namen, winkten mir weder Sieg noch Tod. Und ich fiel, ohne daß es sie schmerzte oder freute … Hätte ich sie doch lieber fortgeschleppt, einen Knebel im Munde, hätte sie vergewaltigt und den wilden Hunden zum Fraß geworfen. Nun mußte ich hinab, indes sie im Licht blieb.‹«

»Das war nicht der Pelide«, sagte Heliodora.

»Nicht der Pelide«, sagte Pandion. »Denn ihn fand ich bebend vor bleicher Furcht. ›Hätte ich doch‹, so jammerte er, ›mein Leben am Herd verbracht, schmausend und kosend! Nie würde ich meine Taten gewagt haben, wenn ich ihnen schon das Gedächtnis hinzugerechnet hätte, das sie starr und ewig macht. Ich trage nun durch die Jahrtausende diesen Zorn und dies entsetzliche Herz: ich, der ein Mensch war wie ihr!‹

Er lag am Boden, wie von einer Last erdrückt, und jammerte lautlos, der schwache Schatten.

›Der Brand Trojas versehrt mich, wehe! Ich will nicht, daß Troja brenne! Ich will nicht Hektors Leiche, durch den Staub schleifend, der mein Ruhm ist! Ich will nicht Helena!‹

Da ich ihn hörte« – Pandion spreizte die Hand und sah fort –, »erfaßte auch mich Entsetzen, und ich schrie wie er: ›Ich will nicht Helena!‹ – Als ich aber die Augen öffnete, ich weiß nicht, wie es kam, fand ich mich vor ihr, und über Helenas Gesicht und Brust, hörst du es, noch blühende Heliodora, hing dein Schleier! Sie mühte sich umsonst, die Arme, ihn zu heben. Ich nahm ihn: da ist er.«

Pandion zog Heliodora auf eine Lichtung, er entfaltete den Schleier. Sie betastete ihn, und sie wich zurück, die Miene voll Grauen.

»Er ist es! So warst du wirklich im Hades?«

Pandion sah sie tief an: »Ich wußte, Weib, daß du die erste sein werdest, zu zweifeln.«

Sie neigte sich vor, noch zagend.

»Wie er schmutzig ist! Hast du ihn nicht aus einem Ameisenhaufen gezogen?«

Sie lachte klingend.

»Geh, Pandion! Wir kennen uns.«

Er sah vor sich hin, seine Stimme war dumpf.

»Ich sprach zu Helena von den Tagen ihrer großen Gewalt: sie aber verstand mich nicht. Begreift man es? Sie wußte wenig mehr vom Krieg der Völker, der für sie gebrannt hatte, und von den Helden, die hinabsanken für sie. Vergessen alle waren ihr die großen Abenteuer der eigenen Brust. ›Paris‹, sagte sie, ›betrog mich mit den Mägden, und viel Unruhe im Haushalt brachten die Kämpfe der Männer. Zurück dann bei Menelaos, spann ich, gebar Kinder, ward streng gehalten; und endlich, da von rückwärts Hermes mir die Hand auf die Schulter legte, mußte ich noch einmal von dannen. Rhyparos stand dabei und weinte.‹ – ›Wer war Rhyparos?‹ – ›Ein Hund.‹ Und sie schluchzte. Ich aber floh.«

»Was quälst du dich«, sagte Heliodora und berührte Pandions Schulter, die zuckte. »Laß die Schatten gebrechlich sein. Du weißt, mögen sie selbst sie vergessen haben, um ihre großen Stunden, und berauschest mit solcher Kunde die Herzen der Menschen, daß sie auch dich wohl groß nennen. Mehr gibt es nicht.«

Pandion lehnte sich schwer an einen Baum.

»Ich weiß vom Großen und Schlimmen. Ich erlebte die Hoheit unseres Herzens und seine Schande. Dann aber ist's bitter zurückzukehren. Warst du einmal im Hades, ist alles Schatten, und nie erblickst du deinen Gefährten. Du wünschest zu lieben; Menschen suchst du, sie zu wärmen. Aber sie scheinen dir leblos, und du selbst wurdest dir leblos wie ein Schatten, seit du die Unterwelt schautest. Götter, Helden und Ungeheuer haben deine Seele abgenutzt. In drei Tagen vielleicht empfandest du alles, was das Herz kann, und die vielen Jahre nun spielst du es den Menschen vor.«

»Es ist so gut, zu spielen«, sagte Heliodora und dehnte sich. »Auch ich bin ganz allein, wenn ich mir auf der Bühne ein Schwert in die Brust stoße oder mit einem Gott rede. Da ich das Göttliche spiele, glaube ich nicht daran. Ich glaube nur an Heliodora, eine Komödiantin, und bleibe für mich, selbst wenn ich liebe. Der Ernst des Lebens ist mir unbekannt, denn ich fand die Menschen schwach und die Dinge ohne Sinn. Spiele ich aber, sind sie sinnvoll, und ich bin stark.«

Plötzlich warf Pandion die Arme um Heliodora.

»Wie ich dich geliebt habe!«

Er flüsterte an ihrer Wange:

»Sagen wir uns ganz heimlich, daß wir uns noch immer lieben: ich und du, jeder schweifend und allein.«

Er sah sie an, weinend und lächelnd.

»Am klaffenden Spalt der Unterwelt stand eine weiße Blume. Ich stieg hinab; und ich kehrte zurück: da hatte die Blume der Wind.«

Auch Heliodora lächelte weinend – und da führte sie ihre Lippen Pandions Lippen zu. Er schmeckte Honig und frisches Gras, indes er sie küßte. Dann, ganz nahe, betrachtete er dies zurückgekehrte Gesicht, mit den Fingern betastete er seine Umrisse.

»Nun erst sehe ich dich, und du bist es noch. Helia, liebe, kleine! Aber ich? Bin ich denn nun alt?«

Sie hob die Augen zu seinen.

»Jetzt nicht mehr.«

»Aber dann können wir –«

Er griff sich an die Stirn.

»Es ist nicht aus. Wir können wieder anfangen. Wir wären nicht mehr töricht, wie damals. Wir wissen nun, daß nichts da ist als du und ich, und wie sehr werden wir einander hüten!«

Sie bewegte den Kopf spöttisch und weh.

»Du fürchtest nicht den Waldgott, der schon einmal in unsern Garten einbrach?«

»Ein Waldgott? Dich mir rauben?«

Er stieß die Hand vor sich hin.

»Es gibt keine Götter!«

»Aber du hast ihnen dein eigenes Blut geliehen, und so wird kein Haus mehr dich halten. Jedes stände zu nahe am Eingang des Hades.«

Da ließ er die Stirn sinken.

»Wohl wahr. Eine aus dem Reigen der Stunden risse uns abermals voneinander. Sie kommt und trägt den Korb mit Dornen.«

Sie nahm seinen Arm.

»Fort! Wir brauchen kein Haus. Überall um das Mittelmeer wächst der Lorbeer.«

»Und überall die Zypresse.«

»Du machst mich nicht schaudern. Noch an vielen Grabtafeln tanz ich vorbei, bevor sie auf meine schreiben: Diese hier spielte die Liebe.«

»Der Straßen sind unzählige in Hellas.«

»Und noch auf vielen begegnen wir uns: Pandion und Heliodora.«

 

III

Sie stiegen hinan und gingen über die Wiese zum Stadttor. Der Mond stand hinter den Ölbäumen, es war dunkel. Der Sklave Orestes schlief auf der Bank; Pandion nahm die Sandalen und legte sie der Freundin an. Indes er aber kniete, streckte Heliodora die Hand aus und rief:

»O sieh! Welch seltsames Wesen!«

Denn von Osten kam, mühsam hinkend, ein Mensch mit langem Haar und Schilf darin, und in nichts gekleidet als das Schilf, das ihm von den Lenden hing. Bei ihm war ein anderer, der eine Laterne trug und häßlich schrie. Jetzt erkannte Pandion ihn: Ktesippos war's, der Barbier, und er schrie, den Arm schwenkend: »Da ist er! Da ist der Gotteslästerer. Ha! Betrüger, der du das Volk verwirrst. Du willst im Hades gewesen sein? So sage denn, ob du diesen hier kennst.«

Pandion hob nur die Schultern.

»Es ist ein alter Mann. Du aber, Ktesippos, bist ein neidischer Geiferer.«

»Hörst du's, o Gott!« kreischte der Barbier, reckte die Arme hinauf und krümmte sich immerfort vor dem Greise. Der hob zitternd seinen schwarzen Stab, und aus seinem langen verfilzten Bart blies er die dumpfe Stimme.

»Sterblicher, erschaudere! Denn Äskulap bin ich, der Gott.«

Und plötzlich war der Stab eine Schlange, die zischend nach Pandion züngelte. Pandion fuhr zurück; dann aber entriß er sie dem Alten, strich ihr über das Genick, und als steifen Stock gab er sie jenem wieder.

»Du siehst wohl«, sagte er, »ich war im Hades, denn ich kenne dich.«

Heliodora stand und lachte schallend.

»Welch schöner Gott! Seine Füße sind schwarz, und Schlamm trieft herab. Schon viele Götter waren meine Liebhaber, aber noch kein so schöner.«

Da drohte ihr der Alte, und vor Wut hob er die schwarzen Füße zum Tanz. Ktesippos, hinter ihm die Laterne schwingend, daß die Schatten durcheinanderflogen, kreischte:

»Landstreicher du mit deiner Dirne! Warte! Nicht umsonst bin ich zwei Stunden weit gelaufen, den Gott aus seinem Sumpf zu holen. Seine Schlange wird dich dennoch beißen: warte!«

Und mit Geschrei stürzte er sich in das Tor. Die Leute liefen schon, so sehr lärmte er.

»Er hat ihn geleugnet, den Gott!« schrie Ktesippos. Sie aber: kaum erblickten sie den Alten, lagen sie am Boden mit Knien und Stirn. Er hörte auf zu tanzen und berührte ihre Scheitel mit dem Stab. Die Berührten standen auf, drohten dem Fremden und schrien mit Ktesippos:

»Er hat den Gott geleugnet! Faßt ihn an!«

Aber sie taten es nicht. Da ergrimmte der Gott, spie um sich, und hustend brachte er hervor:

»Schlagt ihn tot! Er hat gelästert, denn er, ein Sterblicher, war nicht im Hades. Ich aber bin unsterblich.«

Hinter Pandion raunte Orestes:

»Herr, was tust du, du bindest mit dem Gott dieser Esel an. Komm, laß uns fliehen, denn noch sind sie wenige.«

Heliodora aber sagte:

»Wir werden doch nicht einen solchen Kampf versäumen? Ich zittere danach, zu sehen, wer stärker ist, du, Pandion, oder der Schlammgott.«

Da kreuzte Pandion die Arme, umfaßte mit den Augen das Volk, das nun in Menge aus dem Tor quoll, und rief stark:

»Hellenen! Ihr kennt mich. Ich habe euch das Göttliche fühlen gelehrt, wie niemand vor mir. War ich im Hades?«

»Du warst im Hades«, antworteten sie. Aber der Alte dahinten, hohl schreiend:

»Nur ich bin Gott! Opfert ihn mir!«

Und da die Wächter mit Fackeln aus dem Tor traten, sahen alle im Feuerschein den Gott die Hände gen Himmel schütteln. Entsetzt sanken sie hin.

»Du hast mir ein Zaubermittel gegeben«, rief eine Frau, »und mich von einem fressenden Geschwür geheilt. Tod dem, der leugnet, daß du Gott bist!« Andere sprangen auf und riefen durcheinander:

»Die lieben Ohren hast du mir gesund gemacht mit dem Saft deiner Natter!«

»Ich konnte nicht gehen, und hier bin ich nun, dank diesem Ring aus Bernstein, den der Gott mir verkaufte.«

»Gott! Hilf auch mir! Auch mir!«

Und Bresthafte mit verbundenen Gliedern wühlten sich durch die Menge. Sie krächzten, aus schwarzen Mündern brüllten sie vor Gier nach dem Gott; und dazwischen gellend der Barbier:

»Tötet ihn! Versöhnt den Gott, daß er euch nicht mit Krankheit strafe!«

Pandion erhob noch einmal die Stimme über alle. »Ich kann euch weiser machen als dieser, obwohl ich kein Gott bin. Dieser aber ist ein Schwindler –«; und er reckte die geballte Faust. Da waren auf einmal alle still, man wußte nicht, ob vor Ergriffenheit oder aus Abscheu. Sogar Ktesippos brach sein Geheul ab; und nur ein Kleiderdieb rührte sich, riß einem Mann den Mantel von der Schulter und floh. Der Mann achtete gar nicht des Verlustes.

»Das ist zuviel!« rief er, rauh vom Entsetzen. »Sollen die Lippen, die das gewagt haben, noch leben? Lest Steine auf!«

»Lest Steine auf!« riefen alle, drängten rückwärts und bückten sich. Pandion, die Arme verschränkt, wartete; bei ihm aber war Heliodora: sie warf ihr Obergewand ab. Unter eng gefaltetem Hemd stand sie nun, hinein zu ihren Gliedern schien das Licht der Fackeln, und sie hob sich auf die Zehen. Die ausgebreiteten Arme bog sie weit zurück, man sah die Knospen ihrer Brüste durch das Gewebe drängen. Das Gesicht aber umherwendend mit ernster Süßigkeit, als erstaunte sie über die eigene Schönheit, tat sie einen Tanzschritt … Halt machte sie da, wie erschrocken; und das Volk, das sie schon auffliegen sah, hielt den Atem an. Sie aber: Ach, welch Schlängeln der Hüften! Wie, von den bebenden Falten liebkost, die langgewölbten Schenkel dahinglitten, in den Reigen gezogen unsichtbarer Gefährten! Seht an die rosigen Spitzen ihrer Finger die Finger eines Himmlischen rühren! Ihr Haar ist sprühendes Gold, aus dem purpurnen Mund duftet dich Ambrosia an – da erfaßt dein Auge nur noch einen Wirbel von Blüten, ja, nun Heliodora im rasenden Tanz den bläulichen Schleier um sich her schwingt, nur noch den Taumel rotweißer Blüten durch seligen Himmel.

Jetzt steht sie und atmet, und auch ihr Menschen atmet wieder. Die Frauen zuerst klatschten in die Hände. Die Jünglinge riefen: »Gegrüßt seist du!« und bogen das Knie. Sie dankte ihnen, an Pandion gelehnt, stumm und mit einem kleinen Schwellen dieser süßen Lippen. Man hörte Weinen – plötzlich aber lautes Lachen, und eine Frau rief:

»Wie er häßlich ist!«

Da merkte man erst, daß auch der Gott tanzte: plumpsend und torkelnd, mit grunzendem Gesang und von Wut geröteten Augen. Alle wandten sich ab; die Greise versteckten sich, aus Scham für den bösen und häßlichen Alten. Nur der Barbier Ktesippos, die Miene verzerrt von der Angst seines Neides, stieß die Arme bald hier, bald dort aus dem Haufen.

»Mitbürger! Griechen! Wehe! Fürchtet die Rache der Götter! Wißt ihr doch wie ich, daß dieser ein Gott ist. Denn lag nicht im Sumpf von Melargos ein Schlangenei? Und als sie es öffneten, kroch nicht ein Knabe heraus, mit einer Schlange um den Leib? Ihr habt es gesehen, das Wunder, leugnet ihr's nun? Pannichis du, und du Xantho, die ihr den Knaben auf euren eigenen Armen getragen habt!«

»Wahr!« rief Xantho. »Drum gebar auch ich dann einen so schönen Knaben, denn ich hatte einen Gott berührt.«

Zu Heliodora schlichen, hinter dem Rücken der Leute, die Komödianten. Der Silen streckte wispernd den fetten Hals vor.

»Liebes Mädchen, komm eilig fort; denn, um sie zu spielen, die Götter, betraten wir diese Stadt, nicht aber, um sie zu verhöhnen, du freche Kleine.«

Sie antwortete:

»Lauf nur zu, Vater Dionysios, denn wenn der Gott einen von uns zum Opfertier verlangt, wirst du es sein, der du das meiste Fleisch hast.«

Bei ihren Worten erblaßte der Silen, sank zusammen und verschwand hinter der Menge. Ktesippos arbeitete darin umher, seine Stimme überschlug sich.

»Wie? Und am Tage darauf war aus dem kleinen Knaben ein Jüngling geworden. Wachsen so Sterbliche? Werft euch nieder, betet an: denn am dritten Tage fandet ihr statt des Jünglings unter den Ringen der Schlange diesen Greis … Du bist Gott!« schrie er und fiel selbst bin. Die Nächsten taten wie er; wer noch lachte, hielt erschrocken ein. Etwas Schwarzes, Verkrümmtes aber kroch inmitten der Hingestreckten herbei, wie eine vom Regen schwarz und lahm gemachte Eidechse: unter schmutzig greisem Haar ein Haufe von Geschwüren, Glieder, die im Kriechen einzeln liegenzubleiben schienen, mit zwei Brüsten, durch die Schlammlache schleifend bis vor die Füße des tanzenden Gottes. Der ächzte noch:

»Tötet den Lästerer! Ich bin Gott, opfert ihn mir!«

Da hob das namenlose Wesen sein eitrig verklebtes Gesicht zu ihm – und auf einmal beruhigte sich der Alte. Er lehnte Rumpf und Gesicht zurück, entschlossen stand er da, größer fast als vorher: spie dem Wesen in die schwärenden Augen, verrieb mit dem Daumen den Speichel, und »Ich sehe! Ich sehe!« jubelte gellend die Aussätzige.

»Sie sieht, sie sieht! Wehe dem Lästerer!« Sie hoben, ohne Furcht vor der Krankheit, die Greisin vom Boden, zerrten sie dem Pandion entgegen, atemlos:

»Hier sieh diese, die der Gott geheilt hat, und dann stirb!«

»Und dann stirb!« zeterte es auf allen Seiten. Schon brachen sie herein: hundert Leiber, Fäuste, die zupackten, haßschnaubende Mienen … Pandion wich; die Wächter waren da und schlossen ihn ein. Der Hauptmann ließ die Schwerter ziehen. Er wandte sich um und sagte:

»Ich schäme mich, o großer Pandion, der du mich zu den Helden versetzt hast, für dies Schwert, weil es dich schützen muß vor einer verfaulten Hexe. Doch in diesem Augenblick ist sie stärker als du.«

Bei allem Toben schritten in Sicherheit hinter den Wächtern die Herren aus der Schenke des Gyps einher. Sie sagten zu Pandion:

»Zwanzigmal wohl hat der ungewaschene Betrüger diese Alte geheilt, immer dieselbe. Aber die Empfindungskraft und Phantasie des Volkes ist es ja, die dir gefällt.«

Heliodora, mit geschürzten Lippen:

»Sie wollen betrogen werden. Jeder, der sie betrügt, ist ihnen recht. Dennoch gibt es schlechte Komödianten und bessere.«

Und sie erwiderte das Äugeln der Herren.

»Führe ihn ins Gefängnis!« riefen die Bürger dem Hauptmann zu. »Er soll gerichtet werden.«

Die Frauen kreischten mit dem Barbier:

»Nein! Auf der Stelle muß er sterben.«

Der Hauptmann sprach rückwärts:

»Du wirst zu deiner Sicherheit die Nacht bei uns verbringen müssen.«

»Wozu denn«, sagte Heliodora. »Frage doch den Gott, wieviel er verlangt. Er hat Erfolg gehabt, mehr als Pandion; was kann er noch wollen als Geld.«

Da die Herren ihr zustimmten, ließ der Hauptmann durch einen Soldaten sich Bahn brechen. Er kehrte zurück. »Zweihundert Drachmen fordert der Gott. Willst du dich loskaufen?«

Pandion schwieg. Der Sklave Orestes tauchte auf, zitternd murmelte er:

»Ich habe zwölf Obolen, ich schwöre es, nicht eine mehr: und wenn ich sie hervorholte, müßte ich die Scham verletzen.«

Die Herren lachten. Erbitterte Stimmen aber hier und dort aus dem feurig durchzuckten Dunkel:

»Hört! Sie verhöhnen den Gott. Fort mit ihnen!«

Da rief hell Heliodora:

»Euer Gott, ihr edlen Achäer, verlangt für seine Versöhnung zweihundert Drachmen, und ich zahle sie ihm, ich, die ihr morgen auf dem Kothurn sehen sollt.«

Zu einem der Wächter sagte sie:

»Halte den dicken Mann dort auf, der sich davonmacht.« Der Silen ward zurückgebracht. Er schlug sich die fette Brust.

»Wir haben nichts. Bist du toll, daß du für diesen Fremden unsere Armut hingeben willst?«

»Oh, mein Vater Dionysios«, sagte sie, »du weißt wohl, daß du auf deinem Bauch die zweihundert Drachmen verbirgst, die mir in Lykene der alte Kimon gab, dafür, daß er mich lieben durfte.«

Und wie der Silen auch greinte, er mußte das Geld aus seinen Falten ziehen. Der Hauptmann selbst brachte es dem Gott, wendete ihn bei den Schultern um und raunte ihm ins Ohr: da machte der Gott lange Schritte.

»Zerstreut euch!« rief dann der Hauptmann. »Der Gott ist versöhnt. Wer noch murrt, ist ein Lästerer und verfällt dem Schwert.«

Die Fackelträger betraten das Tor, und alle, murrend und lachend, stoben hinterdrein, dem Grauen des Dunkels zu entfliehn.

... Stumm atmende Nacht ringsum; und Pandion fühlte auf seinem Arm den leichten Arm Heliodoras.

»Lieber«, sagte sie zärtlich, »verzeih! Verzeih meine Laune, um derentwillen du dich mit dem Schlammgott messen mußtest. Sieh, wo immer Heliodora dir begegnet, bringt sie dir Unglück. Du aber, Lieber, bleibst groß wie zuvor.«

Plötzlich schüttelte er sich ganz; er sagte erstickt:

»Groß! Wer doch vermöchte groß zu sein bei euch Menschen. Ach, hätte ich wahrhaft einen Gott gelästert und wäre unter seinem Strahl gesunken, verkohlt, vernichtet! Alles aber, was ich vom Hades heraufbringe, hat nicht so schwer gewogen wie die elenden Kniffe eines Quacksalbers; und dies Leben ist nur noch mein, weil du Weib mir's mit dem Preis deiner Liebe zurückgekauft hast. So nimm es denn, es gehört dir, und laß mich dein Sklave sein.«

»Pandion!« Die Arme weich, weich um ihn her. »Nie liebte ich dich so sehr, denn jetzt sehe ich dich schwach, und durch meine Schuld. Du mein Sklave? Sieh, ich will dir folgen: in den Wald, so finster, auf das Meer, so treulos, durch Hellas und selbst zu den Barbaren.«

»Wie wäre es möglich«, sagte er stöhnend; aber sie küßte ihm die Tränen fort, im Dunkeln glättete sie ihm mit ihren Lippen das Gesicht; und umschlungen gingen sie über die Wiese zum Waldrand, umschlungen sanken sie hin. Drüben knarrte das Stadttor und fiel zu.

Als Pandion erwachte, tauchten eben, noch schlafend, Heliodoras Züge aus den letzten Schatten. Er richtete sich empor und sah ihnen zu, wie sie sich erhellten um das sanfte Gehege der Wimpern. Er lächelte verloren … Da preßte er an seine Schläfen die Hände, auf sprang er, tat ratlose Schritte, kehrte zurück, brach in die Knie. Erste Vogelstimmen regten sich, um die Stämme glitten rötliche Lichter, kühl hauchte der Morgen; Pandion aber, angstvoll in dies stille Gesicht, sagte:

»Auf deinen Lidern, o Helena, trägst du den ganzen Trojanischen Krieg.«

Er schüttelte den Kopf, leise erhob er sich, ordnete zart über der Schlafenden seinen Mantel.

»Wie ich erschrocken wäre, wenn du jetzt aufwachtest! Wenn du mich noch hier fändest, wie du erschrocken wärest!«

Er holte den Sklaven Orestes aus seinem Busch hervor, und in den Wald hinein schritt er, ohne sich umzusehn.


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