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Zuerst erschienen in »Das Herz«, Insel-Verlag, Leipzig, 1910

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, II. Band

 

Leonhard schloß die Tür und wünschte sich, sie nie wieder zu öffnen; die Straße, die er nun ging, zum letztenmal zu beschreiten. Er fand, diese Frau habe ihm den bitteren Becher wieder einmal voll genug gegossen, auf die Neigen, die noch von den anderen darin waren. Ihrer aller Herrschbegier, ihre Sucht, einen auf die Probe zu stellen, die Ruhelosigkeit ihrer Empfindungsart und ihre Unfähigkeit, uns Freund zu sein: ihm deuchte, er habe von alledem, um die Mitte der Vierzig, zum Sterben genug. Er erinnerte sich eines einsamen Hauses am Wege nach Süden; weiß stand es vor tiefem Wald – dort ließ sich ruhen: er wollte hin! Noch nachts packte er ein. Schloß er die Lider, stand das Haus darin. Vor Jahren hatte er's besichtigt; es hatte Wasser an den Grundmauern. Er fand es noch immer leer und kaufte es.

Die Vorderseite sah weiß besonnt ins Hügelland. Aber hinten stieg er von der feuchtgrünen Terrasse in den Wald hinein, der ihn in starke Arme nahm, besänftigte und kühlte. Leonhard ging barhäuptig, ließ die Zweige ihre Tropfen an seinem Gesicht abstreifen, legte sich in Bäche, saß lange regungslos auf einem Baumstumpf, und nichts war zu hören in dieser Schattentiefe als der Laut des von Rehen abgerupften Grases. Eins der Rehe weidete so nahe, daß er es mit seinem Stock hätte berühren können. Nun hob es seine großen, schwachsichtigen Augen auf ihn, ganz unwissend, in einer Haltung, wie wenn es fröre; – und auf einmal begriff es und tat, um zu fliehen, einen Ruck, als risse es sich los … Allmählich gewöhnten sie sich an seine stille Form; und ihm war, wenn sie um ihn her die sanften Hälse wendeten, wie bei Wesen, die er behütete und die ihm vertrauten.

Den Winter erwartete er unschlüssig in seinem Zimmer; aber als er kam, war er gut und fruchtbar. Durch die Gänge, die leeren Säle klapperte, stieß und schleppte der Wind bis an Leonhards Tür. Drinnen hatte er's warm, hatte sein Bett, seine Felle, seinen Tisch mit Büchern – und sah er auf, krümmte drunten, hinter den fünf hohen Fenstern, das eisige Hügelland sich unter Sturmschlägen. Nur unwirtliche Straßen führten in die entbehrliche Welt. Leonhard beglückte es, daß er sie entbehren konnte. Er staunte, wie er nicht früher gemerkt habe, Landschaften und Bücher ersetzten die Menschen. Scham und Grauen berührten ihn bei dem Gedanken, er hätte immer weiter, unabsehbar weiter alles, was sein war, an das Lächeln und die Launen von Frauen gehängt, an die regellosen Dinge, die in ihren Köpfen geschahen. Er fühlte sich aus großer Unordnung gezogen, befestigt und verjüngt. Es ward wieder Sommer und nochmals Winter. Leonhard gab sich frei, er erlaubte sich: »Kehre zurück, du bist geheilt und vernünftig.«

Aber er blieb und wollte das Verdienst, daß er um sich erwarb, das Verdienst, entsagt zu haben, nicht vorschnell vergeuden. Er sammelte Einsamkeit und geizte mit ihr.

Schließlich bedrückte sie ihn wie ein allzu schwerer Schatz. Er lernte wünschen, ihn jemandem hinzuschütten, sich mitzuteilen, die Sicherheit und Weisheit, die geklärte Menschlichkeit, allen Segen dieser fünf Jahre auf ein anderes zu übertragen, nicht eigensüchtig und unnütz einst zu enden. Ein Kind ersehnte er.

Von fahrenden Leuten nahm er eins an, ein siebenjähriges Mädchen, schwarzlockig und feinknochig, mit Augen, die der Hunger schwermütig umrändert hatte. Die Kleine wußte nur von Hunger und Schlägen, von den Kniffen, womit man Schlägen entging, und der Kunst, Essen zu ergattern. Leonhard lehrte sie menschliche Güte kennen und versuchte, von den großen Harmonien der Natur einen schwachen, spielerischen Widerhall in ihr zu bewirken. Sie öffnete weit die Augen und schmiegte sich an ihn. Er war glücklich. Als er sie betroffen hatte, wie sie jungen Vögeln die Hälse umdrehte, weinte sie vor Reue, bis ihm bange ward. Kurz darauf sah er sie ein Kätzchen quälen. Sie lächelte dabei naschhaft. Wie er dann hervortrat, trug sie plötzlich eine innig versunkene Miene und drückte sich das Tier gegen die Wange. Vor Bestürzung schwieg er; auch vor Scham und beinahe vor Furcht.

Er lobte sie für ihre Freundschaft zu der kleinen Idiotin, die in der Küche diente. Überall kamen sie ihm zusammen entgegen; und Vinella hielt die andere umschlungen, als wäre sie ihr sonst entlaufen, und küßte ihr das Gesicht, das jene offenbar gern versteckt hätte. Leonhard fand die junge Magd einmal, wie sie auf ihre Hände weinte, und sah die Fingerspitzen alle verbrannt. Sie wollte nicht sagen, wie es geschehen sei. Da gewahrte sie Vinella und lief davon. Unruhig befragte Leonhard Vinella. Sie antwortete sicher. Sie hatte einen kleinen entschiedenen, nachsichtigen Ton und ein Lächeln, als sagte sie: »Ich weiß, was du denkst.« Er fühlte sich betreten und machtlos.

Selten bat sie, und nur um Dinge, die er sicher bewilligte und an denen ihr nichts lag. Die anderen nahm sie heimlich. Auf weiten Umwegen erreichte sie die Erfüllung von Wünschen, die sie nur faßte, weil sie den seinen entgegen waren. Nie verschmähte sie Ausflüchte, führten sie nur von dem Spazierwege fort, den er sich vorgenommen hatte. Verschwörungen zettelte sie an, damit ein von ihm bestelltes Gericht nicht auf den Tisch komme. Und er mochte erschrecken, er mochte sich fragen, was er tue: ihr Streich machte ihm größeres Vergnügen, als wenn sie ihm folgte. Ihre Schlauheit, ihre Lügen um der Kunst des Täuschens willen, unterhielten ihn. Wenn sie ihm am Halse hing, wußte er dennoch, daß er ihren Liebkosungen glauben dürfe; und daß sie ihn ehrlich hasse, kam er ihr irgendwo in die Quere. Schon war er ganz in dies Wesen eingesponnen, das versteckt und doch wahr und das unschuldig in der Tücke war. Je mehr sie heranwuchs, desto deutlicher erinnerte sie ihn an lauter schon Erlittenes. Bei ihr schien alles runder, entschiedener; er ließ in ihr noch einmal etwas über sich ergehen wie eine Zusammenfassung aller anderen; und er erlebte sie ein wenig aus der Ferne, mit einem nachprüfenden Lächeln.

Er entschuldigte sich: ›War es etwas anderes als Selbstsucht, da ich sie zu meinen seelischen Neigungen drängen, sie meiner Persönlichkeit unterjochen wollte? Vielleicht hätte eher sie das Recht, weil sie vollständiger und stärker ist als ich? Wirklich gehört ihr in meinem Leben ein gewisser Platz; und ich bin nicht sicher, daß ich einen in ihrem habe. Erziehung? Was für einen Schwärmer damals die Einsamkeit aus mir gemacht haben muß! Ich hätte also eine Tigerin zum Droschkengaul zähmen sollen?‹

Noch immer, obwohl sie nun groß war, übernachtete sie oft im Walde. In ihren flatternden seidenen Kleidern setzte sie Tieren nach und kletterte auf Bäume. Ihr Zimmer war kokett möbliert; und Spuren waren auf den weißen Fellen, dem weißen Lack, wie von Tieren, die sich gewälzt hätten. Wochenlang mochte sie nur Haselnüsse und Beeren; plötzlich kamen ihrem Gaumen die schwierigsten Gelüste, und das Haus roch früh und spät nach Festen. Vinella hockte sich beim Essen auf Leonhards Knie; schob ihm Bissen in den Mund, den sie küßte, während er kaute; gab ihm den schwarzen Wein zu trinken, in den sie kindlich ihre rote Zunge getaucht hatte; fächelte ihn mit ihrem parfümierten Fächer, bis er einschlief.

Erwachte er und sah sie nicht mehr, ward ihm beklommen und leer zu Sinn. Kein Buch ersetzte ihre Gegenwart. Er rief nach ihr, unter dem Vorwand von Geschenken. Um sie fünf Minuten länger bei sich zurückzuhalten, tat er, was er nie getan hätte. Er entließ, weil ihre Laune es wollte, seinen alten Diener. Er schoß auf die Rehe, die einst nahe um ihn her, wie in seiner Hut, geweidet hatten. Das Geld, das er seinen Neffen schicken wollte, verlangte sie für sich, und er gab ihr's. Sie hatte nie um Kostbarkeiten gebeten, außer um glitzernde. Es war ihr gleich, wem das Haus gehören sollte, durch das sie wie ein Windstoß ein und aus flog. Nur er und seine Selbstachtung, fühlte er, galten ihr als Beute. Feige, sah er, hatte sie ihn gemacht, wie jemals eine ihn feige gemacht hatte. Er tröstete sich damit, daß er's sein wolle. ›Warum war ich ehedem anders? Weil es zu meinem Glück diente. Ziel ist immer nur das Glück.‹

... In dieser Herbstnacht schlief er nicht. Die Fenster klirrten im Sturm. Fahrende Leute waren heute dagewesen. Noch spät war das Tor gegangen. Was tat jetzt sie? War sie im Walde? Hatte sie bei sich im Zimmer den zerlumpten Burschen, mit dem sie, den Handrücken auf der Hüfte, geplaudert hatte? Leonhard drückte die Augen zu und keuchte in sein Kissen. Sie war nun siebzehn. Längst schon ängstigte er sich, sooft sie das Haus verließ. Sie hing an nichts, sie war herrenlos und gesetzlos. ›Eines Tages wird sie nicht zurückkommen; und dann, was dann?‹ Lieber noch – er hielt den Atem an – hätte er gewollt, der Bursche wäre in ihrem Zimmer und sie zu Haus. Da sah er vor sich, was er dachte – und sprang auf, legte zitternd Kleider an, nahm den Leuchter. Die Tür flog zu, das Licht verlosch, er tastete sich über die weiten, wankenden Dielen bis an ihr Zimmer, horchte, spähte durchs Schlüsselloch und sah drinnen das Mondlicht sich auf den Boden werfen und wieder aufspringen gleich einem Gespenst, das tanzte. Er öffnete, sie war fort.

Er stieg die Terrasse hinab, stürzte sich in den Wald, der in Aufruhr war, wie ein Meer. Die Bäume knarrten wie Masten untergehender Schiffe. Hundert tolle Lichter, kreuz und quer, zuckten. Die Luft brannte einem die Haut und trieb einen zu rasendem Laufen und Schreien an. Leonhard schrie den Namen Vinella, schrie ihn, unerlösbar, in den Sturm. Als er sich wiederfand, saß er auf einem Baumstumpf, starrte wirr um sich und merkte am Ende, daß er erwartet habe, ihn würden Rehe ansehen.

Er kehrte um und betraf sich dabei, daß er betete: laut betete, noch einmal möchte sie wiederkommen.

»Dann lasse ich sie nicht mehr. Ich führe sie in die Welt. Sie soll den Reichtum kennenlernen. Er wird sie fesseln. Sie wird begreifen, was sie an mir hat. Sie wird mich lieben.«

Im Hause wehten alle Türen hin und her; es war ganz durchtobt. Er schloß keine, auch die seines Zimmers nicht, und zündete Lichter an, so viele da waren. Und in ihrem Schein stand dort im Spiegel zum erstenmal ein Alter! Leonhard trat schaudernd auf ihn zu, dem weißes Haar wirr um das gerötete Gesicht hing. Er blickte ihm in die wilden Augen. ›Ein greiser Wüstling‹, dachte er. ›Ich habe nicht gewußt, wie man das wird. Ich hatte von mir ein ganz anderes Bild. Wie die Namen ihren Sinn ändern, wenn sie uns selbst meinen, und die Dinge, sobald wir drinstecken!‹ Noch eben, erinnerte er sich, hatte er gehofft, sie werde ihn um seinen Reichtum lieben. ›Ist das schimpflich? Es kommt so sehr von selbst.‹ Er bedachte auch: ›Nun ich wieder liebe, stellt sich's heraus, daß ich alt bin – und da steht es nun, das Alter! Unvermittelt: denn ich war so lange schon ausgeschieden und ohne Ansprüche, zeitlos vor Einsamkeit! Warum habe ich nicht, wie andere, nach Ehren gegeizt? Sie würden mich in schmeichelhafter Weise von der Jugend entfernt, haben. Unter den Verbeugungen der Welt würde ich das Alter langsam bestiegen haben wie einen Thron – anstatt jetzt darin zu erwachen wie in einem Straßengraben. Aber ich war immer nur ein Sinnlicher. Außer den bitteren Bechern, die mir Frauen füllten, schien keiner mir trinkbar. Und wenn dieser der letzte wäre!‹ »Vinella!«

Schon merkte er nicht mehr, daß er laut gerufen hatte – und wie er an das Tischchen beim Fenster trat und das Glas mit Wein an den Mund hob, wich die Gardine zurück vor Vinella. Ihr nachsichtiges Lächeln bedeutete ihm, sie wisse, was alles er getrieben und gedacht habe. Er reckte die Arme aus: »Vinella!« Da sagte sie ruhig, ein wenig spöttisch, und als wäre es nichts: »Ich bin dein.«

Leonhard wich zurück; ihm schwindelte; ihm ward kalt. Er schloß, und tastete dabei mit dem Glase nach den Lippen, die Augen. Er öffnete sie wieder, als der Wein heiß in ihn hineinrann. Dumpf war er versichert, Vinella habe, aus der Gardine hervor, in sein Glas ein Pulver fallen lassen, und er sterbe an dem Trank. Jeder Schluck brannte ihm ungeheure Wonnen ins Fleisch. Bei dem letzten stürzte er. Noch sah er sie erschreckt seinem Körper ausweichen. Er sah noch, wie sie, im Begriff zu entfliehen, ihre großen Augen über ihn hinschickte, ganz unschuldig und in einer Haltung, als ob es sie fröre.


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