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Gretchen

Zuerst erschienen in »Das Herz«, Insel-Verlag, Leipzig, 1910

Textquelle: Heinrich Mann, Das gestohlene Dokument und andere Novellen. Aufbau-Verlag Berlin, 1957

 

I

Am Sonnabend mittag hatte Frau Heßling es immer noch nicht ihrem Manne beigebracht, daß Gretchen sich am Sonntag verloben sollte. Beim Essen war Diederich endlich guter Laune; von dem Aal, den er allein aß, warf er Gretchen ein Stück über den Tisch zu. Aber der Aal war groß und fett gewesen; im Mittagsschlaf ächzte Heßling, und nach dem Erwachen verlangte er massiert zu werden. Seine Gattin wisperte Gretchen zu:

»Nun könn' mer 'n wieder dein' Hut und Gürtel nich abluchsen. Aber Geld muß her.« Und sie gab der Tochter einen nützlichen Wink.

Herr Heßling wartete schon in wollenem Hemd und Unterhosen zwischen den Sofakissen. Er überlieferte seinen blonden Bauch der Gattin zur Bearbeitung mit den Handrücken. Angstbeklemmt blinzelte er, indes sie hackte, den drei Figuren in zwei Drittel Lebensgröße und in Bronze zu, die von der Erkerstufe mit erhabener Heiterkeit auf ihn und seine Not herabsahen: Kaiser, Kaiserin und Trompeter von Säckingen. Und während Frau Heßling sich nach allen übrigen Seiten um ihren Mann verbreitete und ihn laut tröstete, kroch Gretchen zur Tür herein, auf den Knien in ihrem weißen Kleid, umsichtig den langen Hals vorgestreckt und mit Furcht und Hohn in ihren bleichsüchtigen Augen, kroch geräuschlos zum Stuhl mit Papas Hose und griff hinein. Es hatte ein bißchen geklimpert; ihre Mutter sagte um so kräftiger:

»Nu haste's gleiche hinter dir, und morgen wollten mer nach Goschelroda machen, daß du's weißt. Der' Herr Assessor Klotzsche geht auch mit, und dich kost es nischt, Alter. Ich hab noch so viel vom Haushaltungsgeld, daß es langt.«

Heßling brummte; aber die Massage hatte ihn erweicht.

Abends am Stammtisch stand er für Deutschlands Weltmacht so sehr in Flammen, daß er zahlte, ohne den Inhalt seines Geldsacks zu beachten; und was an Gretchen neu war, entging ihm am Sonntag, wie immer. Er bekundete nur den festen Willen, nicht durch den Wald zu gehen.

»Da kommt man zwei Stunden zu kei'm Wirtshaus.«

Assessor Klotzsche gab ihm recht, und man beschritt die Landstraße: Gretchen voran mit Klotzsche. Er sah beifällig den Himmel an; sein hinterer Scheitel rutschte dabei in den Kragen.«

»T-hadelloser T-hach. Wenn auch mit Hitze verbunden.«

»Papa hat seinen Rock ausgezogen«, sagte Gretchen; und mit Senkblick:

»Wollen Sie es nicht auch?«

Aber Klotzsche lehnte ab. Er als Leutnant der Reserve kannte Schlimmeres; und er fing vom Manöver an. Er sprach sachlich und lange; das erste Haus von Gäbbelchen sah schon aus den Bäumen; Gretchen seufzte. Frau Heßling hatte alles überwacht; plötzlich gab sie einen Schrei von sich. Ein Tier! Ein Tier war in ihrer Bluse.

»Ä gräßliches Krabbeltier. Nu is es schon hier … Nee, Männe, aus 'm Halse kriegste's nich mehr raus, du drückst mir bloß die Luft ab … Nicht anstellen, das sagst du wohl. Wenn es doch aber beißt! Wir haben nun mal andere Nerven als wie ihr. Für so was hat ein Mann aber auch gar kein Verständnis, nicht, Herr Assessor?«

Klotzsche beeilte sich, das seine zu bekunden. Er wollte sogar einen Haken öffnen. Frau Heßling entzog sich ihm.

»Einer nützt nichts; es sitzt zu tief. Da hilft bloß: alles aufmachen. Gehen Sie nur ein Stückchen weiter mit Gretchen, Herr Assessor. Bei so was kann ich doch wohl bloß mein' Mann gebrauchen.«

Und sie blinzelte Diederich mit unzüchtiger Schalkhaftigkeit an. Der Assessor war errötet; Gretchen hielt den Kopf gesenkt. Sie gingen.

Klotzsche machte unsicher eine Bemerkung über fatale Lebewesen. Sonst aber sei er sehr für die frische freie Natur, besonders für Segelsport … Gretchen seufzte schon wieder. Er brach ab und fragte, ob auch sie die Natur liebe. Ja? Und was sie denn vorziehe: die Berge? die kleinen Lämmer?

»Grünen Salat«, sagte Gretchen, halb im Traum.

Sie sah selber grünlich aus und fiel vor Bleichsucht fast in Ohnmacht, wie es ihr immer geschah, wenn sie sich sehr langweilte; beim Strümpfestopfen oder in der Kirche.

»Grünen Salat?«

Ja. Denn Gretchen hatte am Morgen von ihrem Wochengeld sofort ein halbes Pfund Pralines gekauft und sie alle aufgegessen; und jetzt träumte sie von Salat mit Pfeffer und Senf.

Klotzsche war von ihrer Antwort überrascht, aber nicht unbefriedigt. Er sah sie an und rückte an seinem Kragen. Gretchen aber, mit tief herabgelassenen Wimpern:

»Was ei'm die ekelhaften Kiesel die Schuhe ruinieren! So 'ne Sohle is auch heutzutage wie aus Papier.«

Sie klagte nicht über die Schmerzen, die ihr die Steine machten; nur über die Kosten! Da entschloß sich Klotzsche:

»Krätchen …«

»Sophus …«

Als das Brautpaar Hand in Hand vor ihn hintrat, wie erstaunte der Vater! Frau Heßling lächelte sieghaft; denn daß Männe einem Reserveleutnant Krach machen werde, war nicht zu befürchten; dafür ging Männe mit einem zu schlechten Gewissen durchs Leben, weil er nicht wenigstens Unteroffizier war.

 

II

Wie Klotzsche zur Verlobungsfeier kam, hörte Gretchen ihn vor seinen Freunden ächzen, wie elend ihm doch sei; und dann flüsterten sie: vermutlich Unpassendes. Gretchens Herz klopfte. Bei Tisch spürte sie Anspielungen in jedem Wort. Klotzsche blieb schweigsam. Nur in ein Gespräch des Pastors Zillich griff er ein und erklärte, er glaube an die Auferstehung des Fleisches: mit rauher Katerstimme und so stolz, als hätte er sich gerühmt, er verdaue zwanzig Portionen Wurst mit Sauerkohl. Alle nickten ihm beifällig zu. Gretchen biß sich auf die Lippe und versteckte ihre Augen.

Dann war sie sehr verwundert, als alles so anständig blieb. Klotzsche saß jeden Tag, wenn es dämmerig ward, bei ihr im Zimmer mit dem Jugendstil und sagte von Zeit zu Zeit:

»Krätchen …«

Sie erwiderte jedesmal, in Lauten, die Gefühl in die Länge zog:

»Szaophis …«

Aber meistens dachte sie dabei an anderes. Er fragte sie, was sie in der Schule gelernt habe. Sie wagte sich mit ein paar Streichen hervor, die sie an Lehrerinnen verübt hatte; spürte aber in seinem betretenen Lachen, daß ihr Rütteln an den Autoritäten ihn für seine eigene beunruhigte, und hörte davon auf. Dann erzählte er, was sich am Morgen im Gericht begeben hatte. Und dann schwiegen sie, bis zum nächsten »Krätchen« und »Szaophis«.

Einmal begann er von der Gnade zu sprechen. Gretchen sei wohl innerlich nicht sehr fromm, das könne er sich schon denken. In ihrem Alter sei er auch nur ein lauer Christ gewesen. Gott sei Dank habe er noch den Anschluß erreicht, und zwar mit Hilfe des Herrn von Haffke, des pensionierten Generals. Man müsse heute wieder fromm sein; wenn man etwas auf sich halte, sei es auf die Dauer gar nicht zu vermeiden. Auch Gretchen werde noch die Gnade erleben: auf welche Art und Weise, könne er allerdings nicht wissen. Das sei auch gleich.

»Wenn wir erst vor Gottes Thron stehen, wird er sagen: Ja, mein Sohn, auf welchem Wege du zur Gnade gekommen bist, das is mir ganz Wurscht.«

Der Assessor ließ Gott besonders stramm und abgehackt reden. Klotzsches Augen wurden kriegerisch, und er schob den Schnurrbart höher. Draußen hustete Frau Heßling, bevor sie zum Essen rief. Gretchen seufzte für sich: ›Das Gehuste kannste dir sparen.‹

Sie überlegte:

›Klotzsche ist dreiunddreißig, und Säcke hat er auch untern Augen. Er muß doch was erlebt haben.‹

Auch erinnerte sie sich, daß eine Frau jetzt ihres Mannes Freundin sein müsse. Klotzsche durfte das keinesfalls alles für sich behalten. ›Warte nur, mei Luderchen‹, dachte Gretchen. Und dann fragte sie ihn, lieblich singend, ob er denn vor ihr noch keine geliebt habe. Klotzsche ward rot und verneinte.

»Das gloob ich dir nicht!« sagte Gretchen bestimmt.

»Denn läste's blei'm.«

Er runzelte die Stirn, aber Gretchen war nicht zu beirren.

»Heere, Sophus, nu machste mer giedigst nischt vor! Wenn ich deine Frau soll werden, denn muß ich wissen, was is und was nich is.«

Aber es war nichts: Klotzsche wußte von nichts; alles war bei ihm gleich bar bezahlt worden, war erledigt, und es gab nichts darüber zu sagen. Gretchen verzog den Mund und rieb mit den Handflächen die Augen.

»Haste am Ende gar ä Kind?«

Er sah ihren Tränen zu, schnaufte, drehte die Daumen und dachte unbestimmt an die Möglichkeit, etwas zu erfinden, das sich beichten ließe. Aber er brachte sich nicht in Bewegung. Frau Heßling hustete schon; Gretchen murmelte:

»Na, nu kriegste deine Wurst und dei Bier.«

Obwohl sie selbst neun belegte Brote verschlang, nahm sie Klotzsche seine Eßlust übel.

Nachher saßen alle im altdeutschen Zimmer bei der Gaslampe; ihr Licht glitzerte auf dem Kaiser, der Kaiserin und dem Trompeter von Säckingen. Die Mutter nähte, der Vater teilte aus der Zeitung die Hofnachrichten mit, der Bräutigam und die Braut taten nichts. Gretchen durfte, solange Klotzsche da war, keine Handarbeit machen. Aber nur der Gedanke, daß sie's nicht mußte, war erhebend; sonst langweilte man sich eher noch mehr, als wenn man stopfte. Klotzsche saß da, verdaute und sah sie an; und Gretchen verglich unter keuschen Lidern, wieviel seinem Bauch noch fehle, damit er so dick werde wie Papas. Ob auch Papa vor der Ehe nichts erlebt hatte? Er sah nach nichts aus. Und Mama kannte es nicht besser, sie war nicht modern, erkannte Gretchen. Drum ließen sie und Papa, der selbst so war, sie ruhig mit Klotzsche allein. Na, auf Klotzsche konnten sie es ankommen lassen … Was hatte Mama eigentlich vom Leben gehabt? Bloß Papa: das war wenig. Mama hatte sich immer viel zuviel gefallen lassen; und nun saß sie da, beinahe alt, und flickte immer noch Papas Hemden. Wenn sie Papa doch wenigstens einmal betrogen hätte! – Dabei maß Gretchen, voll dunkler Vorsätze, Klotzsches Bauch. Sie wunderte sich oft selbst, wie scharfsinnig und wie kühn sie jetzt war, und daß ihr die Erkenntnisse so kamen, als sei sie gar nicht Gretchen Heßling aus der Meisestraße und allen von Kind auf bekannt, sondern ein Wesen ganz für sich, von ganz woanders. Übrigens entstand diese Empfindung und alles, was Gretchen sich dachte, immer nur wie ein schwimmender, ziemlich entfernter Stern in dem Zwielicht ihres blutleeren Gehirns. Unaufhörlich gähnte sie durch die Nase, fühlte sich kalt und überraschte sich manchmal, wie sie schon den drehenden Kreisen in der Luft zusah, die immer kamen, bevor es ihr schwarz vor den Augen ward und sie in Ohnmacht fiel. ›Nee, das nu doch nich‹, dachte sie und raffte sich zusammen.

Dann gingen Papa und Klotzsche glücklich zum Bier; nun wollte sie mit Mama alles bereden. Ja, was denn? Schließlich fand sie:

»Du, Mama, muß ich Klotzsche später auch die Strümpfe ausbessern, wenn er sie schon angehabt hat? Papa gibt mir seine immer; und wenn ich sage, ich mag sie nicht riechen, sagt er, ich bin gemütlos.«

 

III

Bei Elsa Baumann fiel ihr mehr ein. Sie verhieß, wenn sie Klotzsche heiraten müsse, werde sie jeden Tag dreimal in Ohnmacht fallen, so öde sei er. Elsa belehrte sie darüber, daß er wohl mit gewissen anderen Damen auch anregend sein könne; bei Gretchen aber wolle er sich zur Ruhe setzen. Das sei immer so. Im Halbkreis der Logen, in denen sie auf den Veilchenfresser warteten, neigten lauter rosa, weiße, himmelblaue Blumen sich zueinander. Gymnasiasten spähten sehnsüchtig nach ihnen durch Operngläser; aber sie waren bei Wichtigerem.

»Wenn sie sich ausgelebt haben«, wußte Elsa, »dann kommen sie zu uns. Für uns bleiben egal die Reste. Wie sollen wir daran genug haben. Ich kann mir ganz gut denken, warum Frau Assessor Bautz verrückt geworden ist. Frau Doktor Harnisch sagt selbst, daß sie es auch noch wird. Denke bloß, in sechs Monaten ist Harnisch einmal zu ihr gekommen! Ist das nicht grauenhaft? Ihre Eltern haben ihr geraten, sie soll sich heimlich einen Geliebten nehmen.«

»Grauenhaft!« bestätigte Gretchen. Sie war völlig aufgewacht. Die beiden Mädchen sahen sich mit haßerfüllten Gesichtern an. Aber sie merkten, daß Rechtsanwalt Buck sie beobachtete, und bekamen, ohne sich darum zu bemühen, ihren blütenhaften Ausdruck wieder, den Ausdruck süßen Dahinblühens. Dann ging der Veilchenfresser an.

Nach dem Aktschluß ließ Gretchen sich kaum Zeit, die erst halb zergangenen Pralines hinunterzuschlucken.

»Dann wollen wir auch unsere Rechte! Dann wollen wir vor der Ehe auch alles dürfen. Nachher, meinetwegen, dann kann das Mopsen losgehen.«

»Lieber gleich gar nicht heiraten«, sagte Elsa. Aber hier trennten sich die Anschauungen. Gretchen bemerkte für sich: ›Nee, meine Gudeste, das sagste bloß, weil du noch kein' hast.‹ Und laut:

»Sieh mal her, was mir Klotzsche für 'n erstklassigen Ring geschenkt hat. Ein Rubin und sieben Perlen. Rot ist die Liebe, hat er sogar gesagt.«

Elsa prüfte ihn flüchtig.

»Ja, wenn wir für so was unser Lebensglück wollen verkaufen –«

»Rede doch nicht«, meinte Gretchen, »du tust es auch noch.«

»Ich, ich gehe nach Berlin und fange ein Verhältnis an.«

Trotz Gretchens Lachen blieb sie dabei. Hatte sie nicht das Zeichnen für Modenblätter, das sie in der weiblichen Fortbildungsschule erlernt hatte, wieder aufgegeben, nur weil es gegen ihre Überzeugungen ging? Denn sie war für Reform. Gegen ihre Überzeugungen würde sie niemals handeln.

... »Nu äben«, sagte Gretchen endlich. Weil gezischt ward, hatte sie diese Antwort während des ganzen zweiten Aktes zurückhalten müssen.

»Aber wie wir die vorige Sessong an der Theatertür auf Herrn Stolzeneck gelauert haben und ich schmiß ihm ein Bukett nach, wo warste da? Da hattste nischt wie Angst.«

»Wir waren noch Gören. Seitdem bin ich in Berlin gewesen, und du bist verlobt.«

Sie seufzten; und sie riefen die Zeit zurück, als sie gemeinsam Herrn Leon Stolzeneck liebten, ihm aufpaßten, ihm nachschlichen, ihm anonyme Briefe schrieben, worin sie sich über seine Kritiker entrüsteten. Auch seine Namensunterschrift hatte Gretchen, auf seiner Photographie, die sie kaufte, ihm schickte und postlagernd unter »Sphinx« zurückerbat. Voriges Jahr erst war das gewesen? »Ach Gott, es war doch schön!« Die Photographie hatte sie vor ihrer Verlobung versteckt, sobald ihr etwas ahnte.

»Ich muß sie mal wieder raussuchen. Wenn ich sie nu Klotzsche zeige, was er wohl für 'n Gesicht macht.«

Sie pruschte aus; eine alte Dame sah sich um, und Gretchen wisperte sittsam:

»Soll ich ihm erzählen, ich hätte mit Herrn Stolzeneck ein Verhältnis gehabt? … Er ist reizend. O mein Leon!« – halb entrückt und mit verschlossenen Augen. »Sieht er heute nicht wieder entzückend aus? Der Veilchenfresser ist doch das Ideal. Und so feine Manieren hat er. Denke dir jetzt mal Klotzsche! Nee, wir müßten von Rechts wegen auch alles dürfen.«

»Wir dürfen auch«, behauptete Elsa. »Wenn du dem Manne, den du liebst, dich hingegeben hast, dann mußt du nachher einfach vor deinen Verlobten hintreten und zu ihm sprechen: So bin ich nun mal, da ist nischt zu machen, ich habe mich ausgelebt und bin mir treu geblieben. Nun müssen Sie tun, mein Herr, was Sie nicht lassen können.«

Gretchens Herz klopfte vor dieser wilden Aussicht.

»Glaubste denn wirklich?« fragte sie, und sie lachte, wie über ein Märchen, worin alles gar zu glatt ging. Aber schließlich, mit Klotzsche? Schlimm war er nicht. Sie traten auf den Gang hinaus. Lauter Jugend segelte reihenweise darin umher, kicherte, tat höhnisch und schämte sich voreinander. Gretchen blieb versonnen.

»Neulich hab ich Mama zu Papa sagen hören, daß Frau Staatsanwalt Fritzsche ein Verhältnis mit Herrn Stolzeneck hat. Glaubst du es?«

»Warum nicht, wenn er doch mit Frau Wendegast was gehabt hat.«

»Ich glaube eher, daß Mama es bloß gesagt hat, weil die Fritzsche einen neuen Hut gekriegt hat und Mama nicht.«

Beim Büfett mußten sie sich durchschlängeln und flüstern. Sie tranken Himbeerlimonade und aßen Baisers.

»Und beim Theater«, sagte Elsa, »soll es keine geben, die er nicht schon – du verstehst.«

»Die gemeenen Luder«, zischte Gretchen, erbittert von Eifersucht. Sollten denn alle durch Herrn Stolzeneck glücklich werden, und nur sie nicht? Sie tat entschiedenere Schritte. Da bog Klotzsche in den Gang – und blütenhaft träumte Gretchen ihm entgegen.

 

IV

Am Morgen mußte Gretchen von Frau Heßling aus dem Bett geholt werden. Noch im Hemd lief sie an den Briefkasten.

»Was haste denn? Was soll denn drinne sein?«

Gretchen wußte es selbst nicht. Sie rekelte sich lange beim Kaffee und dem verstohlenen Roman. Vom Lampenputzen weg flatterte sie mit Petroleumhänden in die Küche und wollte wissen, was es zu essen gäbe. Bloß deutsches Beefsteak und Blumenkohl? Gretchen hatte etwas ganz Merkwürdiges erwartet.

Wie sie endlich ausgehen durfte, fühlte sie plötzlich ihr Herz im Hals schlagen; sie mußte Luft schöpfen, bevor sie sich durch die Haustür wagte. Was konnte heute alles passieren.

In den Läden vergaß sie die Hälfte, machte alle Wege doppelt – und da war die Uhr eins, und Gretchen fand sich wahrhaftig beim Theater, wo soeben die Probe aus war. Herr Stolzeneck kam die Treppe herunter; er hatte schon seinen Pelzkragen um; und er lachte laut mit der Roché und der Poppy. Die Roché klopfte ihn auf den Arm. Gretchen aber ging gerade auf ihn zu, lächelte und nickte ein wenig. Wie sie vorüber war, fühlte sie ihr Gesicht noch immer schmerzhaft verrenkt von dem Lächeln und war nicht erstaunt, daß die beiden Damen lachten. Sie lachten, bis sie keuchten. Gretchen dachte, auch das sei nun gleich, und schlich weiter. Da hörte sie hinter sich seinen Schritt. Ihre wurden auf einmal doppelt so lang. Sie flüchtete in die Anlagen, erstürmte den Stadtwall, hatte den Mund offen und entsetzte Leere in den Augen. Herr Wilmar Bautz, Koksbautz, spazierte daher; und anstatt seinen schwunghaften Gruß zu erwidern, starrte sie ihm hilfeflehend ins Gesicht.

Der Schritt des Schauspielers hörte sich näher an, noch näher. Da zuckte sie mit beiden Schultern, denn er hatte gerufen, halblaut hatte er »Fräulein« gerufen. Es war gerade wie früher, wenn Gretchen aus haltloser Albernheit und aus Sensationsbedürfnis einem Lehrer eine lange Nase gedreht hatte, und plötzlich sah sie sich vor der schaurigen Tatsache, daß er's ernst nahm, und daß die Folgen kamen.

Wohin nun? Nur der kleine abschüssige Pfad konnte Gretchen noch retten, und an seinem Ende, über dem Stadtgraben mit den Schwänen, das Bedürfnishäuschen. Ließ sich's ungesehen um die Ecke wischen? … Nein: auch auf den Pfad ohne Ausweg folgte er ihr. Sie war verloren. Nichts mehr als das Häuschen und die Schwäne dort unten, die es kühl und gut hatten. Zu den Schwänen oder in das Häuschen. Gretchen tat den letzten Schritt zum Häuschen. Aber Herr Stolzeneck sagte:

»Mein Fräulein, das ist doch nicht für Damen.«

Gretchen fuhr herum, machte »Huch«, und vor Verzweiflung lachte sie. Solche grausame Überlegenheit hatte sie noch auf keinem Gesicht gesehen. Seine Lippen arbeiteten, nun er doch gar nicht mehr sprach, mit einer Gelenkigkeit über seinen ruhigen weißen Zähnen, daß ihr schwindlig ward. Er hob ein wenig den Zylinder und kehrte einfach mit ihr um.

»Wahrscheinlich« – und er wartete verheißungsvoll, beugte sich seitwärts über sie und machte so viele Gesten, daß sie die Augen schließen mußte –, »wahrscheinlich fühlten Fräulein sich dorthin gezogen, weil Ihr Herr Vater es angelegt hat? Hab ich recht, Fräulein Heßling?«

Gretchen öffnete die Augen. Daß er sie kannte, machte die Lage etwas gesetzlicher, eine Spur weniger fragwürdig.

»Ja«, sagte sie, nicht ohne Stolz, »Papa hat sie alle angelegt. Er hat es im Magistrat durchgesetzt, wissen Sie, und dann hat er auch gleich selbst den Auftrag gekriegt. Papa versteht es« – und Gretchen nickte wichtig.

»Und obendrein hat er solch eine reizende Tochter, das ist fast zuviel für einen Menschen.«

»Das sagen Sie wohl sicher nur so«, meinte Gretchen, nahezu übermütig. Sie ward auf einmal fortbewegt wie von Flügeln. Was noch kommen wollte: nichts konnte sie mehr verblüffen.

»Mein heiliger Ernst, da können Sie ruhig Gift drauf nehmen«, sagte Herr Stolzeneck; und Gretchen, den Kopf auf der Schulter, mit Augenaufschlag:

»Wer's glaubt.«

»Sie sind mir doch schon längst aufgefallen. Sie sind doch das kleine Fräulein, das mir neulich in der Gäbbelchenstraße aus dem Fenster zunickte und das Wischtuch fallen ließ.«

Gretchen biß sich auf die Lippen.

»Ach nein, ich wohne in der Meisestraße.«

Aber er sagte unbefangen und bestrickend:

»Nun Gäbbelchen- oder Meisestraße, auf jeden Fall meine ich Sie, da können Zweifel überhaupt nicht Platz greifen.«

Und Gretchen lachte ihn, eine Träne in den Wimpern, dankbewegt an. Er wich bald aus. Sein Blick war jede Sekunde woanders, seine Hand nun am Rand des Zylinders, nun gespreizt in der Luft; und er wendete sich in der engen Taille seines Überziehers umher, der sehr lange Schöße hatte, und er lachte und machte dennoch einen bitteren Mund. Sein Gesicht hatte Gretchen sich nicht ganz so schmal gedacht, die Nase weniger eingedrückt. Aber die Locke, die der Zylinder zerquetschte, kannte sie. Der Mund blieb unheimlich, er turnte zwischen den engen Längsfäden des Gesichtes wie ein Seiltänzer. Aber was für Augen hatte Herr Stolzeneck! Ihre schwarzen Ränder und schwarzen Brauen traten ohne Übergang, wie mit einem Ruck, aus der bleichen, etwas fettigen Haut. Das war so schön, daß es weh tat. Wenn er auf Gretchen herniedersah und über seine nachtblauen Augen die schwarzen Wimpern senkte, sah es aus wie Trauerweiden über einer Wiese. ›Kleene Zwerche‹, dachte Gretchen, ›hubben drunter rum.‹ Eine schmerzliche Landschaft waren Herrn Stolzenecks Augen. Gewiß hatte er vieles Schwere erlitten. Der dunkle Drang, ihn zu trösten, erschütterte Gretchen. Da seufzte er, noch bevor sie selbst seufzte.

»Ach ja, Sie haben sich Ihre Eltern vorsichtig ausgesucht, Fräulein. Sie kennen natürlich nichts als bloß die besseren Familien. Wenn so 'ne Leute wie wir die Nase in 'ne Stadt stecken, dann rufen die Frauen über die Straße: Nachbarin, häng die Wäsche weg, die Komödianten kommen.«

»Das ist zu dumm«, behauptete Gretchen mit Nachdruck.

»Ja, das sagen Sie. Aber bitten Sie Ihre Frau Mama mal, sie soll mich einladen. An dem Tage müssen Sie wahrscheinlich doppelt so viele Strümpfe stopfen.«

Gretchen beugte die Stirn, denn es war so.

»Ich verkehre hier bloß bei der Frau Wendegast.«

»Ach ja«, machte Gretchen schnell. »Das ist so eine …«

»Sehen Sie! Weil sie mit uns Schauspielern verkehrt.«

Gretchen stammelte und verschluckte sich. Frau Wendegast war also gar keine, vor der man in die nächste Straße einbiegen mußte? Gretchen, neben der ein Schauspieler über den Wall ging, rückte unvermutet in Gesichtsweite eines Daseins, das sie so lange mit allen andern für höchst gewagt und ganz unzugänglich gehalten hatte.

Welch neues Leben! – Herr Stolzeneck sagte:

»Die Anschauungen sind gottlob nicht überall so rückständig. In Wien zum Beispiel hatte man einen tadellosen Verkehrskreis.«

»Waren Sie dort auch schon beim Theater?«

»Versteht sich, an der Burg. Ich hätte es natürlich nicht nötig, mich hier bei den Schmieren herumzutreiben; bloß daß man als Künstler den Wandertrieb mal in sich hat.«

»Es ist wohl reizend, wenn man Künstler ist?«

»Glänzende Sache, Fräulein. Aber Sie wollen wohl nicht weiter mit mir gehen? Ja, jetzt kommen die Straßen, und da könnte ein Bekannter Sie mit dem Komödianten sehen.«

Gretchens Gesicht flammte. Sie verdrehte die Augen, wollte sich wehren gegen den schrecklichen Verdacht. Aber es war die Wahrheit, und sie konnte sie nicht ändern.

»Lassen Sie nur«, sagte er inzwischen. »Ich bin nicht empfindlich. Jetzt gehen Sie getrost zu Ihrem Mittagessen, und ich will sehen, wer mir 'n Teller Suppe pumpt.«

»Ach! Haben Sie denn kein Geld?«

»Oh! Im Gegenteil!« und er lachte. »Es steckt nur grade in Geschäften. Glänzende Sache, Fräulein. Übrigens, können Sie Ihren Herrn Papa nicht mal fragen, ob er keinen Korrespondenten gebraucht? Ich stenographiere prachtvoll.«

»Aber Sie sind doch Künstler!«

»Nun ja. Erschrecken Sie nicht so furchtbar. Ich habe heute abend im ›Fallissement‹ zu spielen: man ist dann den ganzen Tag in der Rolle, wissen Sie. Im übrigen würde schon meine Herkunft mir verbieten … Denn natürlich bin ich von diskreter Geburt.«

Sie sah ehrfürchtig aus. Er sagte herablassend:

»Wir sehen uns schon wieder. Schreiben Sie mir gelegentlich, Fräulein. Sie wissen vielleicht, wo ich wohne?«

Wie oft hatte Gretchen nach seinem Fenster hinauf gelugt!

Einmal hatte sie – aber ohne Elsa Baumann würde sie es nie gewagt haben – die Treppen erstiegen und an seiner Tür vor seiner Visitenkarte eine Andacht verrichtet. Gretchens Knie wurden ganz schwach; noch weiß bei der Erinnerung, hob sie die Augen zu ihm. Aber sogleich wich er aus, rückte am Zylinder, hoffte Gretchen bald wieder zu begegnen – und war, ehe sie innerlich soweit war, elegant und leicht von dannen.

 

V

»Warum ich so spät zum Essen komm? Ja, Muttchen, die Anprobe hat bis halb eins gewährt, und dann bin ich der Frau Doktor Harnisch begegnet. Du weißt ja, was die für 'ne alte Klatsche ist.«

Frau Heßling vergaß ihren Zorn.

»Was hat sie denn gesagt?«

Gretchen brauchte gar nicht nachzudenken, bevor sie log. Sie war völlig aufgewacht. Das Leben war auf einmal schrecklich interessant; sie hatte ein Geheimnis, ein Gebiet, das nur ihr gehörte und wohin niemand sich getraute – als ob sie auf der Seite des Stadtgrabens Schlittschuh liefe, wo immer das große Loch war. Die Damen Roché und Poppy konnten bei Frau Wendegast von ihr erzählen. Mathilde Bensch konnte aus dem Fenster gesehen haben: dann wußten alle, daß Gretchen mit Herrn Stolzeneck etwas hatte. Natürlich glauben sie dann, es sei ein Verhältnis; ›ich würde es auch glauben‹, gestand sich Gretchen; und ihr war fast schon zumut, als sei es eins. Das Herz klopfte bei jeder Erinnerung an ihn. Alles, was er zu ihr gesagt hatte, kehrte abwechselnd wieder.

»Was wirst 'n egal rot?« fragte Frau Heßling. »Papa meint es doch nicht so.«

Gretchen hatte nicht einmal gehört, was Papa sagte, und errötete noch tiefer. Aber dann machte sie Mathilde Bensch mit großer Gewandtheit schlecht: für den Fall, daß Mathilde sie verklatschen wollte.

Mittendrin hörte sie Herrn Stolzeneck sagen: ›Mein Fräulein, das ist doch nicht für Damen.‹ Zu ihr hatte er das gesagt, mit eben solch flotter Stimme und perfekter Anmut wie der Veilchenfresser; zu ihr allein. Es war, als hätte Gretchen selbst mitgespielt. ›Ob ich nicht Talent hätte? Warum nicht. Weeß mersch denn?‹ Sie hörte sich im Geiste grade so fein sprechen und sah an sich dasselbe gewandte Benehmen. Was sollte sie jetzt noch mit Klotzsche! Klotzsche, der über seinem Bierbauch Daumen drehte, der immer die halben Worte verschluckte und nicht ins Zimmer konnte, ohne an den Türpfosten zu rempeln.

»Du, Mama, mit Klotzsche tanz ich aber nich auf meiner Hochzeit, er schubst ein' immer mit sei'm Bauche.«

»Sei nicht so gemütlos!« verlangte Herr Heßling aufgebracht, und Gretchen mußte sich ducken.

Klotzsche aber konnte ihr nicht mehr imponieren.

Sobald sie allein im Zimmer mit dem Jugendstil saßen, fing Gretchen an.

»Du, Sophus, daß du's weißt, mich wirste nich um den Finger wickeln, ich bin ä modernes Weib.«

Da er hierauf nicht gefaßt schien:

»Ich will alles kennenlernen. Glaube giedigst bloß nich, ich will hier immer in der Klappe hocken. Unsere Hochzeitsreise machen wir ganz gemiedlich mal nach Berlin. Nu sag ämal, ob du mich auch egal in alle Lokale mitnimmst. Schitze bloß keine Müdigkeit vor und sperr dei Mund auf!«

Klotzsche verwirrte sich unter Gretchens unnachsichtigem Blick. Aber er mußte mit seinen Berliner Kenntnissen heraus. Er tat faul und vorsichtig. Gretchen ertappte ihn:

»Die Hauptsache haste weggelassen. Na? Na? Die Amorsäle doch! Schwörste, daß de mir die zeigen wirst?«

Klotzsche zögerte, er setzte zu Einwänden an. Gretchen schnitt sie ab.

»Du bist wohl ä Philister?«

Und Klotzsche versprach, Hals über Kopf, die Amorsäle. Ihr eigener Mut berauschte Gretchen.

»Ä Philister, pfui Spinne, den nähm ich nicht. Überhaupt sollten wir Frauen alles dürfen, was ihr dürft. Ihr amüsiert euch egalweg, und kommt ihr zu uns, is nischt mehr da. Davon is dem Herrn Assessor Bautz sei Frau verriggt geworden. Seid ihr ßoo, da müssen wir uns ähm ä Geliebten nähm, und womöglich gleiche. Dir, mei Gudester, müßte das überhaupt ganz Sauce sein.«

»Nee, Krätchen, nee –«

Klotzsche erlangte Haltung.

»Das wär mir nu aber ganz und gar nicht Sauce. Da mußte dir en andern zum Manne nähm, nicht en Reserveleutnant.«

Gretchen krümmte die Lippe; aber hier, wo Klotzsches Selbstbewußtsein durch das einer Gesamtheit gestützt ward, fand sie ihn unerschütterlich.

Am nächsten Vormittag sagte sie zu Elsa Baumann, die Besuch machte, um zur Hochzeit geladen zu werden:

»Du, Elsa, ob 'ch Klotzsche heirat, muß ich mir noch sehre überlegen. Er is doch ä bißchen weit zurückgeblieben: er will nich, daß 'ch mich ausleb.«

Elsa fand Gretchens Bedenken vollberechtigt und riet ihr von Klotzsche ab.

»Ich für mein Teil geh nach Berlin und fang ein Verhältnis an«, wiederholte sie.

Gretchen verschränkte und löste die Finger, löste und verschränkte sie. Endlich, berstend vor Mitteilungsdrang:

»Soll 'ch dir was erzählen?«

Und sie sagte alles. Elsa wollte es zuerst nicht glauben; und dann begann sie zu schreien:

»O jemersch!«

»Was is denn, was lachste denn?« fragte Gretchen betroffen.

»Nichts!« und Elsa unterdrückte ihre Schadenfreude. »Ich denke bloß an Klotzsche. Dem gönne ich's.«

»Es wird ja doch nischt draus« – mit tiefem Seufzen.

»Wieso nicht? Mach dich fort mit dei'm Leon! – Ja, da kuckste. Wenn ihr aber erst durchgegangen seid, müssen sie euch wohl heiraten lassen, und Klotzsche hat's Nachsehen und alles brüllt.«

Gretchen lächelte geblendet; sie sagte nichts mehr, sie wagte kaum zu denken. Die Nacht hindurch kämpfte sie. In ihrem stürmischen Halbschlaf schimpfte Papa in Ausdrücken, die Gretchen nie gehört hatte, rang Mama die Hände wie eine Schauspielerin, und stieg Klotzsche in Uniform und hinter sich die ganze Stadt drohend vor Gretchen auf. Aber da glänzte langsam Herrn Stolzenecks Gesicht hervor – und seine Hand, die den Zylinder lüftete, wischte alle anderen Visionen weg. Gretchen stand auf und schrieb ihm. Sie fühlte das unabweisbare Bedürfnis, ihn schon heute wiederzusehen. Er werde verstehen. »Wo?« überlegte sie. Es mußte draußen und abseits sein. Nein, etwas Passenderes gab es nicht. Und dann die schöne Erinnerung, die daran hing. Die Stimme ertönte wieder, mit der er gesagt hatte: ›Mein Fräulein, das ist doch nicht für Damen.‹ Und sie schrieb:

»Wieder bei dem Häuschen.«

Sie sagte, sie brauche Benzin, bezahlte mit dem Geld einen Dienstmann und kehrte zurück: die Flasche sei ihr zerbrochen. Schon um halb war sie am Ort des Stelldicheins. Aber auch um eins kam er noch nicht. Als sie ihn um halb zwei nicht sah, weinte Gretchen. Vielleicht liebte er sie schon nicht mehr? Um zwei beschloß sie, trotzdem mit ihm zu fliehen. ›Er wird es gewiß tun, denn Papa hat Geld, und die Liebe kommt in der Ehe, sagt Mama.‹ Um halb drei war sie dafür in völliger Zerrüttung. Als sie aber um drei ihre Handschuhe ausgezogen hatte und sie glatt strich, um sie zu schonen: da stand er vor ihr und lächelte.

»Ich glaubte weiß Gott nicht, daß Sie noch da wären. Pardon, Pardon. Die Probe hat nämlich heute bis drei gewährt. Unliebsame Sache.«

Gretchens Inneres schmolz auf einmal vor Glück, ihre Miene ward gerührt. Nur die Probe! Alles war gut. Sein Blick aber wich aus, ging zerstreut umher, und Herr Stolzeneck räusperte sich oft. Er erklärte, wenig Zeit zu haben. Plötzlich wollte er mit Gretchen im Restaurant essen, besann sich sogleich darauf, daß es nicht gehe, und lachte übermäßig klangvoll.

»Es ist zwar 'ne komische Frage, aber, Fräulein, können Sie mir zufällig zwanzig Mark leihen? – Gott! Wie Sie sich erschrocken haben. Allerdings soll man 'ne Dame, die man verehrt, nicht anpumpen. Ärgerliche Sache … Na, wir können wohl umkehren: heeme laatschen, würde man hier sagen, nicht?«

Er griff heute noch häufiger nach seinem Zylinder, drehte sich rascher in der engen Taille seines Überziehers, und sein Mund turnte, auch wenn er schwieg, unablässig in seinem blassen Antlitz mit den dicken Trauerrändern der Augen.

»Haben Sie eine hübsche Hand, Fräulein!« – er blieb stehen und nahm ihre Hand an sich, als gehörte sie ihm.

»Ein feiner Ring!«

Er zog ihn ab und schob ihn sich auf den Finger.

»Finden Sie, daß er mir steht?«

Dabei lachte er; und Gretchen wurde tiefrot. Gewiß erriet er, daß sie den Ring von Klotzsche hatte, und machte sich lustig.

»Soll ich heute abend damit auftreten? Sie müssen mich sehen in dem Stück, Fräulein, es ist furchtbar unanständig. Also abgemacht, ich trete mit dem Ring auf. Adieu. Weiter dürfen Sie nicht mitkommen, sonst werden wir abgefaßt. Adieu.«

 

VI

Gretchen hatte manches einzuwenden gehabt. Überrascht sah sie ihm nach; dann betrachtete sie die Stelle an ihrem Finger, wo der Ring gesessen hatte; und dann seufzte sie beklommen. Da ging er hin und spielte in dem unanständigen Stück. Er hatte gut lachen. So waren die Männer. Daran dachte er nicht, wie Gretchen es zu Hause erklären sollte, daß sie drei Stunden zu spät zum Essen kam und keinen Ring mehr hatte. Mit bedrückter Miene zeigte sie sich und berichtete, sie sei bei Klärchen Harnisch geblieben. Klärchen sei sehr krank, auch den Abend müsse Gretchen an ihrem Bett verbringen. Sie weinte sogar; Mama mochte nur trösten. Herr Stolzeneck war nicht nett gewesen, Gretchen hatte vom Durchgehen kein Wort sagen können. Er war zerstreut und eilig gewesen. ›Hat er sich bei mir gelangweilt?‹ Ihr war sehr bange. ›Ich weiß wohl, ich bin ein dummes Ding, und er ist ein berühmter Mann.‹ Mit leidender Stimme verlangte sie Geld, um für Klärchen Tokaier zu kaufen, und dann ging sie ins Theater. Die Unanständigkeiten hörte sie gar nicht und merkte nicht, daß sie das einzige junge Mädchen war und besprochen war. Sie saß ganz vorn, und unverwandt starrte sie auf Herrn Stolzeneck. Er mußte sie sehen; aber er wollte nicht. Und an seinen Fingern staken mehrere mächtig funkelnde Brillantringe, aber keiner mit einem Rubin und sieben Perlen.

Betäubt, verlassen und arm ging Gretchen zu Bett. Sie war zu matt zum Weinen. Er machte sich über sie lustig. Morgen kam nun einfach der Ring zurück, und vielleicht lag ein Zettel dabei, worauf in genialen Schriftzügen hingeworfen stand: »Fräulein, wie haben Sie sich gestern im Theater unterhalten?« Und dann war's aus. Den ganzen Morgen schlich Gretchen zwischen ihrem Zimmer und dem Briefkasten hin und her. Also geschah nichts? Herr Stolzeneck war noch grausamer, als Gretchen ihn sich vorgestellt hätte. Er konnte sich doch denken, welche Not sie damit hatte, bei jedem Handgriff den Finger wegzubiegen. Der tat schon ganz weh. Im Zorn verfaßte sie einen Brief. Schon am Abend fragte sie auf der Post nach Antwort; aber noch tags darauf war keine da. ›Nu versteht sich. Muß ich ihn auch beleidigen, ich dummes Luder ich. Ein großer Künstler wie er, soll egal an mein' Ring denken. So was verbummelt er ähm.‹ Und sie schrieb noch einmal, sehr demütig. Da flog ihr wirklich aus dem Schalter ein Brief zu: vor Erregung griff Gretchen daneben. Die Schriftreihen zogen sich zusammen wie Harmonikafalten; sie mußte warten, bis sie wieder am rechten Fleck standen. Nun las sie:

 

»Geehrtes Fräulein!

Bezüglich bewußten Ringes handelt es sich keineswegs, wie Sie anzunehmen belieben, um Irrtum oder Vergeßlichkeit meinerseits, sondern haben Sie mir denselben ausdrücklich geschenkt. Sie sagten noch: ›Er steht Ihnen besser als mir, tragen Sie ihn zum ewigen Angedenken.‹

Ich warne Sie daher, mich wegen des Ringes fernerhin in irgendeiner Weise zu belästigen, sonst müßten Sie allerdings gewärtigen, daß ich mein schonendes Verhalten aufgebe und Ihre unerlaubten Beziehungen zu mir publik mache.

Unsere Zusammenkünfte wären leicht zu beweisen, und außerdem sind Sie nicht die erste.

Mit vollkommenster Hochachtung
Leon Stolzeneck.«

 

Jaja: die Buchstaben standen alle schön und schwungvoll da und bedeuteten wirklich dies. Nur Gretchen hatte das Herz nicht mehr am Fleck und zitterte an allen Gliedern. Der Boden war gewichen, und schaurige Abgründe verlangten von Gretchen, daß sie hineinblickte. Die Hand vor den Augen, verließ sie die Post; und draußen schlich sie an den Mauern hin, als sei sie selbst der Dieb. Er war ein Dieb! Herr Stolzeneck war ein Dieb! Das wußte keiner außer Gretchen, und gewiß wäre auch keiner darauf verfallen: ebensowenig wie auf den Gedanken, daß Herr Stolzeneck ein Gespenst sei. Zwischen Lebenden und Toten war kein tieferer Graben als zwischen ehrlichen Leuten und Dieben. Gretchen hatte bis heute von Dieben nicht den Begriff gehabt wie von Menschen, die deutsch sprächen und Bemmchen äßen. Dort oben in der alten Stadtvogtei saßen sie, eine Schildwache ging davor auf und ab, und sie gehörten gar nicht dazu. Gretchen schielte, entsetzt durch ihre neuen Einblicke, hinauf. Derselbe Herr Stolzeneck, mit dem sie über den Wall spazierengegangen war, der war also eigentlich dort oben zu Hause. Oder vielmehr, man konnte ein Dieb sein und doch nicht dort oben sitzen, sondern über den Wall Spazierengehen. Alles verwirrte sich und machte Kopfsprünge. Die sittliche Welt erlitt ein Erdbeben. Angstvoll rang Gretchen, sich aufrecht zu halten. Dieser Dieb war vielleicht nur aus der Stadtvogtei ausgebrochen und hatte Theater gespielt, um Gretchen ihres Ringes berauben zu können? Das war der Zweck des Ganzen gewesen? – Nein, so ging es wohl nicht. Verstört setzte Gretchen sich zu Tisch; wie konnten Papa und Mama nur so gemütlich sein. Wußten sie nicht, daß dergleichen vorkam? Sie versteckte ihren Finger nicht mehr, sie fand es, in der Auflösung aller Dinge, nicht mehr der Mühe wert. So, nun hat Mama es gesehen!

»Wo hast du dei'n Rink?«

»Ach!« machte Gretchen unerschrocken. »Ich hab mir die Hände gewaschen, er liegt auf dem Waschtisch.«

»Hol ihn gleiche, daß er nicht wegkommt. Man soll kein' Menschen in Versuchung führen.«

Gretchen stand auf, aber Papa rief:

»Nicht vom Tisch weglaufen!«

›Dann nicht‹, dachte Gretchen.

Nach dem Essen ging sie in ihr Zimmer, warf die Tür zu und machte Fäuste. Sie war in Empörung. Das Schicksal war gemein, und die Menschen waren gemein. Klotzsche ein duckmäusiges Trampeltier, und Herr Stolzeneck ein Dieb: das hatte das Schicksal sich für Gretchen ausgedacht. Herr Stolzeneck hätte schließlich ebensogut ehrlich bleiben können, da Gretchen doch für ihn schwärmte! Und er drohte, sie für seine Geliebte auszugeben. »Du Lumich! Aber das woll'n mer dir schon austreim.« Ein Skandal kam freilich immer heraus. Oh! Herr Stolzeneck war schlau, schrecklich schlau – und heiß wallte es zu Gretchens Herzen. Er blieb doch der einzige Mann, den sie geliebt hatte! So schön, so fein und so gewandt! War's denn wirklich so schlimm, daß er gestohlen hatte? Am Ende konnte das vorkommen. Gretchen selbst hatte sich für Spiritus und Tokaier Geld geben lassen und es sozusagen unterschlagen. Ja, sie hatte welches aus Papas Hose stibitzt … Aber das hatte Mama so gewollt. Und überhaupt war das ganz etwas anderes; das blieb in der Familie, und niemand sah es. Herr Stolzeneck aber strich dort draußen umher und stahl. Gretchen schrak zusammen: sie hatte gemeint, eine schwarze Vagabundengestalt recke sich vor dem Fenster auf und spähe in ihr geheiztes Zimmerchen … Als sie aber sah, daß es nichts war, legte sie die Hände vors Gesicht und weinte. Sie beweinte Herrn Stolzeneck, und daß er so allein von einem Ort zum andern zog und Verbrechen beging. Gewiß war ihm nicht wohl dabei; er hätte sogar lieber in Papas Geschäft stenographiert.

›Bin ich nicht schuld, weil ich Papa nichts gesagt habe? Herr Stolzeneck hatte Hunger, ich sah es doch; und wie nervös war er! Und wenn ich ihm den Ring nun schenke? So, nun gehört er ihm, und Herr Stolzeneck hat nichts getan, als was er durfte. Ich hab in Papas Hosentasche hineingelangt, das war reichlich so schlimm …‹

Aber Gretchen mochte wollen oder nicht, sie zuckte zurück. Ihre kleine zahme, behütete Sünde lief vor seiner wild schweifenden winselnd davon, wie ein Mops vor einem Wolf.

›Nee, nu aber, ich wer wohl noch verriggt? Er gehört nu ähm in die Stadtvogtei; und wenn's nich wegen dem Krach wäre, müßt 'ch ihn, weeß Knebbchen, einsperren lassen.‹

Gretchen holte ihr Anschreibebuch hervor und notierte ihre Ausgaben von dem Geld, das sie übrigbehalten hatte, als sie statt des Tokaiers ein Theaterbillett gekauft hatte. Darauf fühlte sie sich besser. Was vorhin in ihr so unheimlich weich geworden war, hatte wieder feste Umrisse. Das Gute und Tüchtige war in Gretchen wieder obenauf.

Schon war es dämmrig, und Klotzsche trat ein.

»Seit 'ner Stunde laure ich auf dich, mei' Zuckertierchen«, sagte Gretchen und fiel ihm, so sehr er auch erschrak, um den Hals.

»Du bist und bleibst doch mei' kleener einzcher Sophus.«

Und verführerisch an seinem Ohr:

»Szaophis? Ich muß dir was gestehen.«

Gretchen schloß die Augen und schluckte hinunter.

›Jetzt hätt ich ihm mehr zu gestehen, als er mir‹, dachte sie; aber sie sagte:

»Dei Ring is nämlich futsch. Wo er is, das kann ich dir nich sagen; nee, das kann 'ch nu nich. Ich weeß es nämlich selbst nich. Aber Mama hat es schon gemerkt, und wenn ich ihn nicht wiederkriege, wird sie tückisch. Sophus: koof dei'm Krätchen en andern, ähmßolchen!«

Klotzsche blinzelte, es war ihm nicht recht; aber Gretchen koste verzweifelt.

»Wir machen auch keene Hochzeitsreise nach Berlin. Nischt is mehr mit Amorsälen, ich will reine gar nischt kennenlernen, mei Klotzschechen kann nur ruhig sein. Und wenn de's mit dei'm Krätchen auche ßo machst wie Assessor Bautz mit seiner Frau: ich werd noch lang nich verriggt. I wo werd ich denn, 's war doch gemiedlos.«

Darauf entschloß sich Klotzsche, und sie gingen zum Goldschmied. Als Gretchen den Ring wieder am Finger hatte, brach sie aus:

»Dies is erscht der richtche. Er glänzt viel mehr, und der Rubin is auch größer. Da kann der Mann drinne nu sagen, was er will: der kost eichentlich 's Doppelte, und er is egal reingefallen. Na, wir werden's ihm nich unter die Nase reiben. Ach, du mei einzcher Klotzsche, ich mecht dir ja auf offner Straße ä Kuß gäm.«

Klotzsche fand Gretchen an seinem Arm ungewöhnlich schwer, aber er war stolz darauf. Ein Stück weiter verlangte sie, auf die andere Seite zu gehen.

»Da kommt die ekelhafte Elsa Baumann rangelaatscht. Daß de sie mir nicht grüßt! Das is nämlich ä ganz hinterlistches Luder. Aber ich durchschau sie. Se is mir bloß neidisch wegen mei'm Sophus.«

Klotzsche ward rot.

»Und zu unserer Hochzeit wird se nich eingeladen«, schloß Gretchen.

Eine Zeitlang blieb sie wortlos angeschmiegt. Dann, gelispelt:

»Szaophis? Jetzt fiehl ich egal so was; ich gloob, 's is die Gnade.«

»Siehste? Das hab ich mir doch gleiche gedacht, daß mei Krätchen zur Gnade kommen würde. Na, nu sag doch ämal, wie biste denn hingekomm?«

»Nee, Sophus, nee, das kann 'ch dir nu nich sagen, das kann 'ch nu nich. Ich weeß es nämlich selbst nich«, setzte sie aus Vorsicht hinzu. Aber Klotzsche war nicht neugierig.

»Na, nu haste glücklich hingefunden«, sagte er, »das ist die Hauptsache. Wenn wir erst vor Gottes Thron stehen, wird er zu uns sprechen« – und Klotzsche schnarrte abgehackt:

»Ja, mein Sohn, auf welchem Wege du zur Gnade gekommen bist, das is mir janz Wurscht.«


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