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Der Unbekannte

Zuerst erschienen in »Stürmischer Morgen«, Albert-Langen Verlag, München, 1906

Textquelle: Heinrich Mann, Das gestohlene Dokument und andere Novellen. Aufbau-Verlag Berlin, 1957

 

I

Betäubt von sechs Schulstunden trabt durch die winkeligen Straßen ein Knabe: ein gewöhnlicher Bücherträger, der hier und da ausweicht, um einen Lehrer nicht grüßen zu müssen, dann und wann errötend den Hut abreißt vor einem kleinen Mädchen, mit dem er getanzt hat. Die Gassen steigen und fallen; der Knabe bedenkt, daß er jetzt, entgegen sämtlichen Gesetzen, sich etwas Glück stehlen wird, ein Stück Marzipan kaufen wird, obwohl es ihm den Magen verdirbt, und aus der Leihbibliothek etwas holen, auf dessen Genuß schließlich auch bloß Jammer folgt. Denn das Leben ist zu sehr verschieden von dem, was er meint, was er als Ahnung in sich spürt. Die Bücher, die er sich leiht, versagen auch und brauchen eine Ergänzung: weshalb er zeichnet. Zu Hause in seinem grünen Parterrezimmer, das Efeustöcke an den Fenstern heimisch machen, wartet auf ihn ein Kasten mit Wasserfarben, etwas rauhes Papier, einige Flaschen bunter Tusche; daran denkt er mit einer so lasterhaften Gier, daß ein vorübergehender Bürger sich fragt: ›Was macht der Junge für Augen?‹

Ein zerrüttendes Laster; denn die Zeichnung, die er, gesprengt von Herzklopfen, fertiggemacht hat, er legt sie, eine Stunde später, als halbtotes Ding in das Pult. Mit jeder Minute, die der Blick in ihr wühlte, ist sie unzulänglicher geworden. Wenn er sie heute wieder hervorreißt, wird er sie nicht einmal mehr erkennen. Die Träume sind alle vergeblich. Eine Insel aus Rosenblättern trägt einen auf rätselhafte Art einen hohen Atemzug lang. Da taucht sie unter; man ertrinkt. Täglich wieder muß man ertrinken.

In der Schule gelingt es ihm manchmal, einen Lehrer so zu sehen, als hätte er noch nie mit ihm zu tun gehabt. Furcht und Haß fallen ab; er bemerkt: ›Also dies Wesen, dies arme Wesen!‹ Und der Knabe, der nichts weiß, nichts belegen kann, hält in seinem Sinn auf einmal die Gesamtheit solcher Handwerkerexistenz.

Zu Hause klappen die Türen von Besuchen. Oft ist noch des Nachts die Luft warm und dick von Menschen; Gerüche aus Bärten und Ballkleidern verwickeln sich mit denen, die der Küche entsteigen. Musik dringt in sein Zimmer und stapft durch die Dunkelheit, in der er liegt, Tanzschritte schleifen über seinem Kopf. Manchmal das Kreischen einer Frau, auf der Treppe vielleicht; eine schnarrende Offiziersstimme; auch Rütteln am Türgriff. Rüttelt ihr nur, hier ist's für euch zu Ende, ihr als Balldamen verkleideten Wirtschafterinnen, ihr uniformierten Turnlehrer. Wenn ihr wüßtet, was ihr hier, in dem kleinen dunklen Zimmer, für eine lächerliche Entlarvung erfahrt und wie euer Anspruch darauf, Eleganz, Schönheit, hohes Leben darzustellen, hier zu kläglicher Schande wird. Ein fünfzehnjähriger Pennäler, werdet ihr sagen. Jawohl; und das Tragische ist eben dies, daß er sich, begegnete er einem von euch im Flur, in fliegender Scham über den Hof retten müßte, und daß es höchst alltäglich um ihn zu stehen scheint.

Aber drinnen ist alles anders, als ihr es sehen könnt, und der gewöhnliche Bücherträger, den jeder von der Wiege her kennt, ist ein Fremder, gestern mit dem Schiff eingetroffen und jeden Tag zur Abreise fertig. Er ist irgendwie verwandt dem Albert Bishop, der, unbesorgt um Zeugnisse, ein paar Schulstunden mitmacht und, wenn er nach eigenem Ermessen genug Deutsch kann, sein Gastspiel abbrechen und das folgende Land aufsuchen wird. Für diesen Engländer muß die Welt einen andern, bunten und zauberhaften Sinn haben. Dort ist es nicht Schicksal, daß einem zwischen acht und eins nichts freisteht außerhalb der Schulmauern; die Stadt ist offen, es führen Wege, gelassen beschreitbar, über alle Grenzen hinaus; Dinge, greifbar wie ein Schulbuch, liegen in China oder Transvaal. Und in der Tat, wenn Bishop einundzwanzig ist – es gilt dann gleich, wieviel er geschwänzt, wie oft er »Ungenügend« hat; eine Sprachprüfung muß er in London bestehen, dann wird er Dolmetsch bei einer exotischen Gesandtschaft. Solche freien Lebensläufe gibt es – indes man hier um den Einjährigen dient und weiter um das Abiturium und weiter um Gott weiß was.

Denn wohin dies einmal führen soll, weiß so gut wie niemand. Es ist doch wohl ausgeschlossen, daß solch ein Mensch, der im eigenen Elternhaus vor den Leuten davonläuft, der Marzipanessen und Zeichnen wie ein Laster treibt, der das Gemeinverständliche nur halbwach über sich hingehen läßt, mit seinen Füßen überall auf leere Luft tritt, an den Menschen nicht haften kann und sich fortwährend klein machen muß, damit es nicht herauskommt, wie es anders um ihn steht: es ist doch wohl ausgeschlossen, daß er einst erwachsen, tauglich und eingereiht sein wird. Er wird nicht älter werden, als er ist: was soll er noch? Dies verträgt keine Zukunft. An seinem vorigen Geburtstag, abends im Bett, hat er mit der Hand sein Herz befühlt, tiefstill von Erkenntnis: ›Wie sonderbar, daß ich noch lebe!‹

 

II

Wo der Weg sich teilte und es rechts zum Konditor, links nach Hause ging, traf Raffael auf Albert Bishop.

»Nun? Heute hat er gesagt: Laß ihn laufen. – Ich hab gesagt, du hast Kopfweh.«

»Es ist mir gleich, was euer Lehrer sagt. Ich bin heute morgen um fünf Uhr bis nach Schlutup gelaufen, an die See. Keinen Kaffee: das ist eine Willensübung. Mehr wert als die Zahlen der Punischen Kriege.«

»Kann sein. Aber er will, daß du weggejagt wirst.«

»Das soll er tun. Er ist nicht der einzige, von dem ich Deutsch lernen kann. Jetzt gehe ich und nehme im Austausch gegen Englisch eine Stunde von einem jungen Kaufmann. Heute abend habe ich im Austausch Spanisch und Französisch … Warum schielst du nach zwei Seiten, wovor hast du wieder Angst?«

»Ich möchte … Ich vertrage den Marzipan nicht.«

»Dann ist es deine Sache, ihn nicht zu essen. Ich vertrage ein halbes Kilo. Wetten?«

»Eine Wette, bei der du Darmverschlingung kriegen kannst?«

»Ich würde gleich mit dir wetten. Du wirst selber aufpassen, daß du sie nicht kriegst.«

»Komm mit nach Haus. Was soll man anfangen? Es gibt Tage, wo das Leben übertrieben flau ist. Zu Bett gehen; weiter hilft nichts mehr.«

»Verrückt. Lauf um fünf nach Schlutup! Was hast du wieder für ein dummes Ding in der Hand? Ich lese so was nicht. Ich lese jetzt nur Altes: unsere Dichter vor Shakespeare. Das ist sehr schwierig.«

»Was sagen sie denn?«

»Sie sind sehr schwierig … Soll ich morgen früh kommen und sie dir zeigen?«

»Sonntag? Da schlaf ich aus.«

»Ich stehe früh auf und gehe zur Kirche. Montag, wenn es mir gefällt, schlafe ich bis zwölf. Adieu, bleibe vor deinem Hause stehen und höre zu, wenn ich nebenan eingetreten bin und heule: ob es nicht genauso klingt wie ein Nebelhorn.«

 

III

Es klang wirklich so, und die Ähnlichkeit beschäftigte Raffael tief. Plötzlich fiel ihm sein Malkasten ein; er dachte: ›Ist es möglich! Solche Albernheit!‹ Und er eilte heim. Ein Blick ins Pult, auf die angefangene Zeichnung? Nein, nein; aufsparen. Vielleicht war diesmal etwas daran geblieben. ›Und ich weiß weiter. Und ich habe den ganzen Sonntag. Bis morgen abend sind dreißig Stunden.‹ Eine zauberträchtige Unendlichkeit! Bloß noch das zweite Frühstück herunterholen; nichts von Belang lag zwischen ihm und dem Glück! Und er stürmte der Treppe zu.

Da, ein Rauschen droben. Ihm zuckten alle Damen der Stadt durch den Kopf, die rauschten. Welche immer nun aus dem Eintrittszimmer hervorkam, sie war furchtbar. Innerlich hatte er schon einen Satz in den Hof getan. Seine Erfahrung hielt ihn zurück: ›Wozu? Dann schäme ich mich erst recht, weil ich weggelaufen bin. Besser, es aushalten. Sich denken, es sei gar nichts: dann ist es nichts. Nachher, was auch geschehen sein mag, sitze ich wieder in meinem Zimmer.‹ Dies hatte schon mehrmals geholfen.

Jetzt aber stand dort oben und lächelte eine, gegen die, er sah es gleich, nichts half. Sich an die Wand drücken; ihr Lächeln, dies nie erlebte Lächeln, mechanisch nachzumachen suchen; nur eine Grimasse zustande bringen; Glieder und Geist erschlafft, sie über sich ergehen lassen: weiter blieb nichts zu tun beim Hereinbrechen dieser Fremden. Wie entsetzlich rasch es ging! Als ob man auf allen Seiten Feuer hatte, auflodernd, zusammenfallend. An der Seite, woher sie kam, spürte man es erst richtig, wie sie es schon drüben anzündete. Sie hatte längst den Flur hinter sich, warf die Haustür zu – und da lehnte man noch, eine verkohlende Fackel. Jetzt erst wirst du gewahr, daß dich inmitten der Feuersbrunst ein spitzer, eiskalter Schreck getroffen habe, weil sie dir in die Augen gesehen hat und dabei vielleicht etwas langsamer gelaufen ist. Wie hätte es geendet, wenn sie gesprochen hätte?

Er stieg, gesenkten Kopfes, hinauf und holte sein Brot. Feuchte Diebsaugen! Das waren sie gewesen, in gekniffenen Lidern: abgefeimt – und dann, auf einmal aufgerissen, schrecklich sanft … ›Nun schließ ich mich in mein Zimmer ein, und nichts ist geschehen. Einfach öffne ich das Pult‹ … Ihrem Mienenspiel konnte man mit dem Blick nicht nachkommen. Ihr Gesicht, schattenblaß im schwarzen Haar, bestand aus lauter kleinen weichen Mienen, die sich überkugelten …

›Die Schmiererei hier ist nicht mehr zu brauchen. Gestern wußte ich noch nicht, was es gibt … Was sie mir wohl gesagt haben würde. Mir? Oh, mir! Gott, was ist geschehen! Diesmal ist etwas geschehen! Ich kann nicht mehr!‹

Und er gab es auf, überantwortete sich mit geschlossenen Augen der Scham, der mühsam hintangehaltenen.

›Wie hab ich mich wieder benommen! Konnte ich diesmal nicht alles gutmachen? Die anderen Damen verachten mich, die Schafe. Da kommt eine Fremde, eine wirkliche Dame, geboren elegant, keine verkleidete Wirtschafterin. Niemand kann sagen, woher es sie geweht hat; morgen ist sie wieder weg; – und ich hätte dann immer denken können: Was wißt denn ihr! Da war, einen Tag, eine kleine Göttin, unsäglich rasch und klar und fein – und mit der bin ich ausgekommen, bei der hab ich mich nicht blamiert. Denn zu der gehöre ich. Mit euch weiß ich bloß nichts anzufangen … Dann hätte ich Ruhe gehabt. Und nun!‹

Er fühlte sich wieder, in voller Gegenwart, an der Treppenwand, geschlagen und blöde – und um ihn her, an ihm vorbei, ihre übergewandten Bewegungen, ihre wasserschnellen Mienen, dies helle, leichte Wesen! Er schüttelte sich, riß sich heraus – und zwei Minuten später ertappte er sich wieder mitten darin.

›Der Sonntag ist verdorben, alle Sonntage sind verdorben; ich werde nicht mehr zeichnen können. Zeichnen? Das ging wohl, solange noch nicht sie gekommen war. Da wußte man nicht, was es gibt, und konnte sich etwas einbilden. Jetzt ist es heraus, und ich bin ganz schrecklich unglücklich. Zum Staunen ist es, wie unglücklich man sein kann! So sehr, daß man es gar nicht mehr anders möchte, sich niemals mehr vom Fleck rühren möchte. Ich will, daß sie mich nie wiedersieht, daß ich hier immer sitzenbleiben und mich, allen verborgen, schämen darf, weil sie mich gesehen hat. Aber ich muß aufstehen und muß hin, wo sie ist: das ist das Schlimme. Muß groß werden, zu ihr sprechen, machen, daß sie mich liebt. Wenn es sie nicht gäbe, wäre alles gut; aber nun es sie gibt, muß ich sie lieben: wie schrecklich – und muß machen, daß sie mich liebt.‹

Auffahrend, erbittert, zu sich selbst:

»Du weißt doch, daß es unmöglich ist! Warum mutest du mir das zu?«

Und über sein Pult geworfen, das Gesicht auf den Händen, mit Flüstern, unter Schluchzen:

»Sie ist zu schön, sie hätte nicht kommen dürfen!«

 

IV

Beim Essen, um vier Uhr, sagte die Mutter einfach:

»Frau Konsul Vermühlen war auch da.«

»Ohne ihn?« fragte der Vater.

»Ja. Ich hatte sie neulich gebeten. Um zu sehen, wie sie ist … Nun, es geht. Daß sie noch kein Wort Deutsch kann, ist langweilig. Ihr Französisch ist auch nur schlecht. Ein bißchen Komödiantin scheint sie zu sein, das sind sie dort unten wohl alle. Daß sie dadurch größeres Vertrauen einflößt, kann man nicht sagen.«

»Vermühlen wird wissen, was er getan hat«, vermutete der Vater. Die Mutter dagegen:

»Meinst du?«

Ein Seitenblick auf Raffael, und sie verstummte.

Raffael dachte, hinter seinen gesenkten Augen: ›Sie bleibt in der Stadt. Als sie die Treppe herabkam, war es also nichts Einziges: so wird sie noch oft herabkommen, gerade wie alle anderen Damen. Natürlich. Daß sie heute mittag um ein Uhr plötzlich von irgendwo hergeweht sein und um halb zwei wieder verschwinden sollte, das konnte auch bloß ich glauben. Was ist es mit mir, wenn ich auf so etwas verfalle und gar nicht mehr davon wegfinde? Nein, ich bin nicht in Ordnung …‹

Da fragte der Vater nach den Erlebnissen in der Schule. Die Mutter fiel ein:

»Ach ja. Du bist nach Hause gekommen, wie Frau Konsul Vermühlen wegging. Hast du auch anständig gegrüßt?«

»Nein. Ich habe sie nicht gesehen«, sagte Raffael fest und sah die Eltern nacheinander an. Das war keine Lüge: es war eine Abwehr, und sie kam ihm zu. Eine Frau Konsul Vermühlen hatte er nicht gesehen; und was er gesehen hatte, war seine Sache – oh, nur seine!

 

V

Er wußte: ›Ich muß sie wiedersehen!‹ und ›Es ist schrecklich, daß ich das muß.‹

Er schlich gegen Abend, mit einem angstvollen Druck im Unterleib, vors Tor. Von weitem schon sah er auf dem Balkon der Vermühlenschen Villa, zwischen rotem Weinlaub, zwei Gestalten, von denen die eine an der anderen lehnte. Raffael kehrte um, dumpf, ausgelöscht – und dadurch beinahe beglückt. ›Gott sei Dank, ich brauche nichts zu tun.‹

Wie er aufwachte und es Sonntag war, kam ihm an seine Malerei nicht einmal eine Erinnerung; er ging auf die Straße, trieb ratlos im Zuge der Kirchgänger mit und gelangte mit Herzklopfen hinter einen Pfeiler in der Jakobikirche. Hier hätte sie sein müssen – aber nach langem Warten kam nur ihr Mann. Wie denn? Es war gar nicht Frau Konsul Vermühlen, sie, die Raffael erblickt hatte! Die war längst abgereist, aus der Welt verschwunden! Zerstört entkam er; – und erst am Nachmittag, als in einem Buch die Bartholomäusnacht erwähnt ward, sah er: ›Sie konnte nicht dabei sein, weil sie katholisch ist. Ehe ich auf so etwas Einfaches stoße, muß ich durch das Verrückteste hindurch. Ja, nun ist es schön: sie gehört nicht dazu; zu keinem hier gehört sie. Hier weiß niemand, was in ihrem Kopf ist; was sie früher »dort unten«, wie Mama sagt, mit ihren Augen aufgenommen hat und mit ihren Ohren. Sie kann hier nur in einer Hilfssprache stammeln, und die, aus der sie übersetzt, hört keiner. Ach, ich selbst nicht! Wenn sie gestern – ist's möglich, war es erst gestern? – etwas zu mir gesagt hätte, ich würde es nicht verstanden haben! Stelle dir das vor: sie – sie hättest du nicht verstanden! Und sie nicht dich! Sie kann also nicht erfahren, daß wir etwas miteinander zu tun haben; daß wir – aber bis da hinab reiche ich selbst nicht, es ist zu tief – Verwandte sind? Nein, sie wird mich nicht kennen, niemals. Wie das schlimm und süß ist!‹

 

VI

Am Montag nach der Schule strich er, sorgenvoll ausspähend, in den Hauptstraßen umher. Da trat sie aus einem Laden; Raffael starrte auf sie hin, gelähmt, zum Sterben bereit, wenn sie ihn sähe. Aber sie sah nicht, und eine Weile darauf folgte er ihr im Gedränge des Marktes. Sie hatte eine Magd hinter sich, die wendete sich einmal nach ihm um. Einmal auch machte sie selbst Miene, den Hausflur zu betreten, worin er sich versteckt hielt und durch den Türspalt lugte. Nein, sie hatte sich geirrt und setzte ihren Weg fort; und er ergab sich in das Nachschleichen und in immer neue Aufregungen.

Auch am Dienstag ergab er sich darein, an allen Tagen; und wenn er, kaum rechtzeitig, zum Essen heimkam, war er erschöpft, wie nach dem Überstehen großer Gefahren. Unter seinen Lidern bewegte sich, auf deutlich zu verfolgenden Hintergründen, ihre Gestalt, nacheinander von allen Seiten, mit den Falten des Rockes, die sich veränderten, mit ihren Fußstapfen auf dem feuchten Pflaster! Nun sah er von ihrem Gesicht bloß, braunblaß, die halb weggebogene Muschel einer Wange; und neben der Hüfte erschien die Innenfläche einer Hand und das genaue Spiel der Fingerchen mit den kleinen hellen Nägeln in der dunklen Haut. Da wendete sie sich um, bezahlte einen Verkäufer – und kam, beide Augen groß und schwarz, gerade und unentrinnbar auf Raffaels Versteck zu. Er entwand sich dem Alp.

Nachgerade wußte er alle Häuser, die sie betrat, jeden Besuch, den sie machte, und auf Wochen im voraus die Gesellschaften, in die sie gehen sollte. Seine Eltern, gleichfalls geladen, hatten davon gesprochen. Er hatte spioniert. Der Abend war da, Raffael lag im Bett, Papa und Mama fuhren soeben davon. Die Räder ihres Wagens hatten sich noch nicht zum erstenmal umgedreht, da riß er schon wieder seine Kleider vom Stuhl. Er entwendete aus der Küche den Hausschlüssel, stürzte vor das Stadttor und stand im Schatten eines Baumes, nah und ungeahnt, während ihr kleiner, seidener Fuß mit festem, schlankem Tritt in die Kutsche schlüpfte. Dann lief er mit, nahm Abkürzungen, kam rotgefleckt und fliegenden Atems vor dem Festhause an, hielt sich, verborgen im Rudel des gaffenden Volkes, zum zweitenmal dem Feuerregen ihres Anblicks hin – und hatte schließlich, zurück auf seinem Lager, in den ausgestreckten Gliedern noch immer das Gefühl des Sausens durch Märchenreiche.

 

VII

Nur in den Stunden zwischen acht und eins durfte er von ihr nichts wissen. Es waren die verschlossenen Stunden; höchstens ein Abenteurer wie Albert Bishop durchbrach das Gesetz und erfuhr, wie in dieser Zeit die Welt aussah. Die Welt hätte den stolzen Raffael nicht versucht – die ganze Welt nicht; aber auf einem Balkon, ein paar Schritte breit, oder in dem Spalt, der sich, einen Windzug lang in einer Gardine öffnete, konnte eine Gestalt erscheinen: und das nötigte ihn zu Wagnissen. Er durfte aus ihren frühen Tagesstunden nicht fern sein. Daß in seinem Kopf ihr Morgenbild fehlte, hielt er nicht aus. Wieviel Pein, welchen Zauber konnte sie in das Zeitmaß gießen, das er verlor, täglich verlor. Allmählich hatte er in der Schule ein so erdrückendes Gefühl vergeudeten Lebens, als seien seine Adern offen und alles flösse davon.

Endlich entschloß er sich und schilderte dem Ordinarius die entsetzlichen Zahnschmerzen, die er ausstehe. Vor Aufregung sah er in Wirklichkeit schmerzverzerrt aus und ward weggeschickt. Es war zehn Uhr, als er vor das Tor gelangte, im Hintergrund des bereiften Gartens stand die Terrassentür der blassen Sonne offen, und Gesang scholl heraus. Sie sang und ging im luftigen Zimmer umher! Hatte er denn erwartet, sie werde hinter dem wattierten Fenster beim Lampenputzen sein? »Oh, ich weiß doch …« Er stahl sich durch das Gitter, über die Wege und, am Rande der Terrasse, hinter den Steinkrug, woraus schwarze Reben mit Schneepelzen hervorkrochen. Von da sah er alles: ihre winzigen Gesten an den Dingen im Zimmer; den Feuerschein vom offenen Kamin in ihren Augen und den Sonnenschein auf ihrem Haar; bei ihren wilden kleinen Wendungen das langsame Schwanken ihres dicken weißen Gewandes, das sie mitzureißen schien, und ihren ausgestoßenen Atem, sooft sie sich der Tür näherte: ihren tönenden Atem.

Mitten im Lied brach sie ab, zog einen Schlüssel aus der Tasche und entnahm einer Schieblade einen Gegenstand, den sie in die beiden aneinandergebogenen Handhöhlungen legte und lange betrachtete. Dabei stand sie gegen die Wand gewendet, als wollte sie sich vor einer Überraschung hüten. Raffael spähte hin und konnte den Gegenstand nicht erkennen. Inzwischen hörte er das schwache Knarren der Gartentür. Sie aber regte sich nicht und sah in ihre Hände. Jemand mußte über den Schnee herbeikommen. Raffael sah Konsul Vermühlen, und sein Herz fing zu klopfen an; jetzt wird er sie ertappen. Konsul Vermühlen bog um das Haus und schloß auf; seine Frau hatte immer noch nichts gemerkt. Raffael öffnete, verzerrten Gesichts, den Mund, um ihr zuzurufen. Da schrak sie auf, warf den Gegenstand in die Schieblade, riß den Schlüssel heraus und war plötzlich, laut singend, drüben beim Kamin. Die Tür öffnete sich vor Konsul Vermühlen, und Raffael ließ sein Herz los, das vom Laufen jäh in einen ganz langsamen Schritt verfiel. Er dachte, ermattet lächelnd, nun sei er, einen Augenblick lang, ihr unbekannter Verbündeter gewesen. Ihr Mann aber sei ihr Feind gewesen.

 

VIII

Von da ab kam ihm ein gehässiges Interesse für den Mann. Er sah ihm zu, wenn er vor der Börse stand, und schlich um die Gruppen der Kaufleute herum, bis er verstehen konnte, was Konsul Vermühlen sagte. Jetzt schwänzte er seinetwegen die Schule, erwartete ihn morgens neben seinem Gartengitter, folgte ihm vor sein Kontor, zu seinen Geschäftsfreunden und bis an seinen Weinkeller. Auf der Straße, im Trottoir, ward der hölzerne Deckel aufgehoben, der Geruch von weingetränkten Fässern schlug herauf; und Konsul Vermühlen stieg selbst zu den Küfern hinunter, die einen violetten Strom durch große Trichter spülten. Einmal band er den Lederschurz vor, den die Küfer trugen – und Raffael stand droben hinter der Haustür und wünschte inständig, jetzt möchte sie vorüberkommen und ihren Gatten als Handwerker sehen, wie er mit seinen krummen Beinen an den Fässern herumkletterte, das Haar voll von Spinnengeweben und die Finger ganz blau.

Leider bürstete Konsul Vermühlen sich ab, wusch sich und war wieder ein eleganter Herr, der zu Otter & Co. ging, um seiner Frau einen Fächer zu kaufen. Raffael machte auch das mit; er war hinter Konsul Vermühlen in den Laden getreten, entschlossen, irgend etwas zu verlangen und sodann nicht zu finden, was er suchte. Indes bekümmerte man sich gar nicht um ihn, so viel war mit Konsul Vermühlen zu tun. Er war sehr wählerisch, und dabei durfte es nur wenig kosten. Er handelte zuerst um zehn Mark und schließlich um zwei. Raffael musterte ihn mit offener Verachtung. ›Das ist seine Liebe!‹ dachte er, und er plante ungestüm: ›Den Fächer schenke ich ihr, ich! – Gleich wird der Geizhals weggehen; dann sage ich: Schicken Sie ihn der Frau Konsul für meine Rechnung.‹ In seinem Kopf war ein Gedränge von Möglichkeiten, die hundertzwanzig Mark zu beschaffen: eine immer abenteuerlicher und skrupelloser als die andere. Alles erschien leicht und glänzend. Inzwischen ließ Konsul Vermühlen etwas ganz anderes herbeibringen, und Raffael bekam Zeit, sich zu ernüchtern. ›Ich darf den Fächer nicht selbst kaufen, es würde herauskommen. Ich muß einen anderen herschicken, aber niemand darf wissen, daß er mich kennt.‹ Während er nach jemand suchte, sagte der Konsul:

»Also, das schicken Sie mir. Den Fächer überlege ich mir noch. Wenn Sie nichts nachlassen …«

Dabei wollte er weggehen, gab aber Raffael die Hand und erkundigte sich nach seiner Mama. Dann zögerte er und schien etwas anderes fragen zu wollen. Raffael ward blaß.

Der Konsul indessen wendete sich um und sagte:

»Na, ich nehme ihn.«

Und er zog Raffael mit hinaus. Er erklärte:

»Siehst du, mein Junge? Zuerst muß man immer so tun, als ob man nicht dafür zu haben ist. Bleiben sie dann doch bei dem Preis, na, dann ist es wohl der richtige.«

Er setzte hinzu:

»So kommt man durch die Welt und kriegt, was man will.«

Raffael, mit dem Arm Konsul Vermühlens auf seinen Schultern, fand sich gedemütigt. Soeben hatte er eine ganz schlimme Frage kommen fühlen, eine entscheidende. Statt dessen hatte der Konsul ihn nur benützt, um einen Verkäufer ängstlich zu machen, und gab ihm, in seiner triumphierenden Gewöhnlichkeit, Lehren, wie man auf derbe Weise glücklich ward: wie man einen Fächer recht billig bekam, und wohl auch die Frau zu dem Fächer, recht billig.

Innerlich ganz verstummt vor Scham, kam Raffael heim. Das Glück, das sich durch gemeine Machenschaften erwerben ließ, das Glück selbst war verächtlich geworden. Die Armseligkeit ihres Mannes verminderte um etwas auch sie, die fleckenlos Geliebte. Das Paar sah aus, als verspottete es Raffael, weidete sich an seinen kindischen Träumen. Er lag mit dem Kopf auf den Armen, hatte nicht den Mut, die Augen wieder zu öffnen, und dachte erstarrt: ›In was für eine Welt bin ich geraten?‹

Da ging im Flur die Glocke; »Konsul Vermühlen«, sagte Raffaels Mutter, die wohl die Treppe herabkam.

»Estela wollte Sie durchaus einmal wiedersehn, Frau Senator.«

Und eine zweite Stimme war vernehmlich – oh, eine Stimme, die auf Raffaels Herz eindrang, es ganz umflutete, als sei sein Herz selbst tönend geworden … Sie verklang – und Raffael saß da, mit halboffenen Lippen; darüber spielte, ohne daß er sie rührte, unablässig dieser Name: Estela – zitterte auf ihnen, drückte sich in sie ein wie ein Kuß. Sie hieß Estela; solch ein Glück gab es zu erleben!

 

IX

Das Glück, daß sie auf der Welt war!

Was wußte davon ihr Mann! Was ging ihn das Schicksal an, das sie von ihrer fernen Küste bis hierher geführt hatte. Nur um Raffaels willen war dies geschehen, Schicksal hatte nur er. Nur darin, daß Estela und Raffael einander begegneten, war Plan und Notwendigkeit. Er spürte manchmal eine tiefe, quälende Ahnung all der Gänge, stockenden Schritte, Umwege und des inneren Vorwärtsdrängens, wodurch es endlich bewirkt war, daß eines Tages Raffael auf der Treppe seines Vaterhauses, halb bewußtlos an die Wand gelehnt, sie hatte erblicken können!

Dies gab es nicht zum zweitenmal; nie vorher hatten zwei Wesen genau auf diese Wege ihre Füße gesetzt; und von der Entstehung der ersten Sterne her führte eine Linie, die nur ihnen beiden gehörte, bis zu dem Punkt, wo sie sich getroffen hatten. Raffael grübelte: ›Ich könnte in Australien zur Welt gekommen sein. Oder ich könnte Pferdekot sammeln. Wozu bin ich gerade der, der ich bin? Nur um ihretwillen! Wäre sie nicht auf der Welt, dann wäre die Welt nicht. Wenn ihre kleinen Nägel ein wenig größer wären, wäre die Welt nicht – oder wenn sie etwas weniger hell wären, auf ihren schmalen, dunklen Fingern.‹

Er hatte sie, traumweise, in sich: sie und ihr Land. Erst jetzt verstand er, warum er hier, wo er geboren war, immer als Fremder gelebt, immer mit ausgebreiteten Armen am Rande eines Meeres gestanden hatte. Sie hatte kommen sollen! Nun saß sie im Salon seiner Mutter unter zufälligen Menschen, sie, die einzig und in ihrer Einzigkeit rührend und schrecklich war. Die Damen fragten sie nach Dienstmädchen, die Herren sagten »Frau Konsul«. Sie lachte nicht einmal darüber; sie stellte sich dazu gehörig – und dennoch strafte schon der wärmere Schatten ihrer langen Wimpern sie Lügen und entrückte sie. Ihr folgte, aus seinem Versteck hinter dem Vorhang, nur ein Unbekannter: Raffael. Nur ihm war es irgendwie schon vertraut gewesen, ihr fabelhaftes Mienenspiel, das die anderen befremdete. Er trug sie, äußerte er sich auch nie, auf geheimnisvolle Art in seiner Seele, die kleinen weichen Gesten ihres Gesichts und ihrer Hände. Der Finger, der über ihr Gesicht gestrichen hätte, wäre gewiß in warmes Blut getaucht: so flüssig war ihr Gesicht. Und diese feuchten Diebsaugen, die ihre gekniffenen Lider jäh entfalteten und groß und blank darin rollten! Und der Mund, der aufbrach wie eine Blume, die Lippen, die sich bogen wie Blumenblätter, und das gelenkige Spiel der Finger an der langen Halskette! Wer durchschaute das alles; wer begriff es von innen heraus?

Daß er diesem heftigeren Geschöpf verwandt sein mußte, er, den sie für schläfrig hielten! Es kam vor, daß er ermattete, unter seiner großen Liebe seufzte, wie unter einer Last, und nicht mehr stolz war auf sein Schicksal. Fast wünschte er, er hätte keins gehabt, oder ein alltägliches, worin weder das Glück noch das Unglück so anstrengend gewesen wäre. Denn Estela, mochte sie auch von jeher auf ihn, nur auf ihn zugeleitet sein, sie kannte ihn nicht; er fand es unmöglich, sich ihr kundzugeben; er war ein Knabe von fünfzehn Jahren. Das Gefühl seiner Ohnmacht verschlang ihn. Er sah sich als Kind, dem die Welt zu erobern gegeben wäre, und das nicht einmal vor sie hintreten durfte; denn sie würde es verlacht haben. Ein ungeheurer Aufwand von Bestimmung war umsonst vertan, weil er zu jung war, weil ihre Jahre, die doch eins in der Ewigkeit waren, hier sich nicht trafen. Raffael träumte manche Nacht davon, daß er ihr auf der Straße nachgehe, sie niemals erreichen könne, und daß sein von Angst gefolterter Körper wie in dicker Luft steckenbleibe.

Wenn ihn das Unglück gepackt hielt, brachten ihm seine hoffnungsvolleren Träume nichts als Scham. In dem kleinen Hof hinter der Diele waren an dem Rebenspalier, die feuchte Mauer hinauf, im Herbst einige Trauben gewachsen, so sauer, daß man sie hatte hängen lassen. Sie waren klein und schwarz, unter dem rieselnden Regen, an den nackten Reben; – für Raffael aber schwollen sie zu samtenem Gold, das die Polster großer, sanfter Blätter überall bestrahlte. Er stand, kalt vom Regen angesprüht, auf der Schwelle und blinzelte durch kaum geöffnete Lider nach einem tief und heftig blauen Fleck dahinten; der dehnte sich ihm zu einem südlichen Meer, dessen Rebengestade entlang segelten sie, Raffael und Estela, mit Schwanensegeln … bis die Mägde in der Waschküche ihn anriefen und ihm das mit Waschblau gefärbte Wasser ihres Kübels ins Gesicht spritzten.

Da fühlte er sich auf einmal gewürgt von Ekel und gehetzt von Schande, weil er noch immer am Leben war, nicht Kraft hatte, ein Ende zu machen, und es ertrug, daß Tag für Tag die Geliebte ihn erniedrigte. Sie hätte ihn erhöhen sollen, und Tag für Tag machte sie ihn niedriger. Ihr unbekannt und mit Furcht vor ihrem Lächeln waren seine Träume hinter ihr, wie herrenlose Hunde, die an einem Rocksaum riechen. Schicksal hatte er nie gehabt, und hatte sich eins erlogen. Nun brach es zusammen. Er lag, hingeworfen, und suchte wiederzufinden, wie dies aus ihm hatte werden können.

Das Unglück, daß sie auf der Welt war!

 

X

Unter solchem Jammer und Frohlocken ward es Frühling. Die Gesellschaften hörten auf; und nicht mehr durfte Raffael im Tanzsaal seines Hauses die geliebte Gestalt über das Parkett gleiten sehen, an vier Fenstern vorbei, flüchtig wie ein hereinverirrter Vogel – und durch das fünfte würde sie sogleich hinausflattern und davonschießen in die Nacht … Nein, sie kehrte um, kam zurück, als zöge Raffaels Blick sie an – und als wüßte sie von ihm in seinem Versteck, trug sie immer das stolze und weiche Lächeln, das Bewunderung uns auferlegt.

Aber auch in den Straßen fand Raffael sie nicht mehr; sie machte keine Spaziergänge; und sie ging nicht mehr singend in dem geöffneten Terrassenzimmer umher. Nur in dem Stück Garten hinter ihrem Hause belauschte er sie manchmal. Er hatte sich auf den Baugrund hinter ihrem Gitter geschlichen; eine Rotdornhecke war zwischen ihnen; und Raffael empfing mit Lust die Stacheln in seinem Gesicht, um, wie sie vorbeiging, in ihres sehen zu können. Er fand es müde, etwas geschwollen; und wie leidend schienen ihre Hände! Sie schritt, als machte es ihr Mühe, und setzte sich, als habe sie Überdruß an allem. Einmal, wie er schon längst auf sie wartete, kam sie plötzlich, frisch wie früher, auf ein eben erblühtes Maiglöckchen zugelaufen. Bevor sie sich aber ganz gebückt hatte, richtete sie sich, schmerzlich, und als besänne sie sich, wieder auf und starrte mutlos wie ein enttäuschtes Kind vor sich hin auf den Kies. Raffael, der es mit ansah, hätte beinahe laut aufgeschluchzt. Er faltete die Hände und erhob sie, gefaltet, gegen die Reglose. Ein solcher Sturm von Zärtlichkeit, daß er das Bewußtsein schwinden fühlte, erschütterte ihn, und er fiel auf die Knie, mit dem Gesicht in das Laub. Es raschelte; sie sah auf, tat ein paar Schritte hinter einer kleinen Eidechse und ging, ohne Raffael bemerkt zu haben und mit einem Kopfschütteln, als sei alles rätselhaft und vergeblich, langsam zurück ins Haus.

 

XI

So war sie denn unglücklich, auch sie! Raffael kämpfte, heimlich und atemlos, weil er sich nicht freuen wollte. Ihr Unglück brachte sie ihm über alle Hoffnung nahe; und sie hätte es verstehen können, wenn sie in sein Zimmer geblickt und ihn in Tränen gesehen hätte. Aber lieber sollte sie nichts von ihm wissen und glücklich sein!

An einem dieser heftig bewegten Tage sagte Raffaels Mutter bei Tisch, sie sei bei Frau Konsul Vermühlen gewesen. Raffael wußte es schon und wartete angstvoll.

»Nun?« fragte der Vater.

»Denke dir nur, er schont sie noch immer nicht. Sie sagt es selbst – was ich übrigens komisch finde.«

»Von ihm ist das aber doch …«

Mit einem Blick auf Raffael endete das Gespräch.

Vor Aufregung begriff er gar nichts. Erst als er allein war, entdeckte er: ›Er schont sie noch immer nicht: das ist ihr Mann. Er fügt ihr Böses zu, schlägt sie vielleicht, hat es schon immer getan – und ich wußte es nicht. Hätte ich nicht wissen sollen, daß er ihr Feind ist? Aber ich sehe nichts; auf das Einfachste verfalle ich nie. Natürlich hat sie ihn gegen ihren Willen heiraten müssen; was kann er anders sein als ihr Kerkermeister, dieser graue Witwer, der sie sich zufällig genommen hat und geradesogut eine Frau aus Lappland geholt haben würde. Witwer ist er: nun wird alles klar. Auch seine erste Frau wird er mißhandelt haben, und jetzt ist die Reihe an Estela!‹ Er sprang auf, tief ergriffen, feierlich vor Empörung. Solch ein Mensch war das! Sie war gefährdet durch den Menschen. Sie brauchte einen Beschützer. Nicht länger war Raffael der unbeteiligte Sehnsüchtige hinter den Türen. Er war dazu bestellt, über sie zu wachen. Oh! Jener sollte nicht ungestraft die Hand aufheben gegen sie! Raffael sah sich herzustürzen, mit ihm ringen. Er blieb auf seinem Weg um den Tisch keuchend stehen, ganz in Schweiß, und starrte auf einen Fleck … Ermattet kehrte er aus seiner Entrücktheit wieder.

Kurze Zeit darauf hieß es beim Essen:

»Sie ist schlimm daran, hat Doktor Nissen gesagt. Jetzt soll sie Spazierengehen.«

Und Raffael ging mit ihr, wenn sie, auf ihren Mann gestützt, die Felder entlang wanderte, hinter den grünen Hecken. Er ging oft ganz dicht neben ihr; zwischen ihnen war nichts als der niedrige Busch; und um nicht darüber hinauszuragen, mußte er sich krümmen. Nach wenigen hundert Schritten blieb sie jedesmal, schwer atmend, stehen; und Raffael ließ sich mit Schmerzen vom gebückten Schleichen auf den Ackerboden gleiten.

Sie zog, sobald sie stehenblieb, ihre Hand aus dem Arm ihres Mannes. Raffael sah es mit Spannung und Freude. Sie schwieg; und in ihrem leidenden Schweigen schien ein Vorwurf zu sein für den Mann – der ihn fühlte und, die Stirn gerunzelt, von ihr wegsah.

Raffael dachte: ›Vielleicht will er sie beerben, und gibt ihr ein schleichendes Gift ein. Daß ich nichts weiß und nichts tun kann! Die anderen haben es viel früher gesehen, wie es um sie stand. Viele Wochen sind es her, da sagte Mama, als sie von Vermühlens kam: Es ist schon so weit, wer hätte das von ihm gedacht. – Ich habe mir nichts dabei denken können und es wieder vergessen. Jetzt stimmt es, alles. Und das, was sie einmal versteckte, als er ins Zimmer kam! Sie hat Heimlichkeiten vor ihm, er ist ihr Feind. Alles ist klar; ich sehe es nun besser als die anderen; aber tun? Tun kann auch ich nichts. Wenn ich jetzt über die Hecke spränge, ihn mit Prügeln davonjagte und sie – ja, wohin mit ihr, da sie nicht laufen kann? Übrigens würde er die Bauern dort drüben zu Hilfe rufen. Das geschriebene Recht ist auf seiner Seite.‹

Nur wenn er allein ging, auf dem Stadtwall, neben den Schwänen her, die gelassen durch den Kanal ruderten: die Pappeln schimmerten und raschelten droben im Licht, den Wiesenabhang sprenkelten Blumen, ein Vogel zwitscherte müde, und die Mittagsstunde war menschenleer, dann sah Raffael alles geschehen, was er sich wünschte. Konsul Vermühlen war nicht mehr der Stärkere; weder Menschen noch Gesetz retteten ihn; ganz glatt sank er vor Raffael dahin. Ein schneller Wagen stand bereit, und Raffael trug Estela hinein, die ihn köstlich drückte, ohne daß nur sein Atem rascher ward. Alles geschah in einer seltsam leichten Luft und mühelos; der Sieg war wie lautloser Fall von Rosen; glänzend breiteten Estela und Raffael umeinander die Arme.

War er aber das nächstemal als versteckter Lauscher hinter dem Paare her, dann verkehrten sich seine einsamen Triumphe wieder in Scham. ›Da steckst du und weißt genau, daß du keinen Finger rühren wirst. Nur weit vom Schuß kommst du in Stimmung, du Elender.‹ Er suchte nach verletzenden Worten für sich; und am Ende fand er mitleidige. ›Als ob bei dir jemals etwas zur Wirklichkeit werden könnte. Du bist immer nur halbwach, stehst in der Luft, kannst nicht tauglich werden und nicht erwachsen. Quäle dich nicht mit vergeblichen Ansprüchen. Warte einfach ab, bis du stirbst.‹

Das schien nun ganz nahe; er fühlte sich schwerkrank. Seine Rauschzustände rieben ihn auf, die Rückfälle in Ohnmacht zerschmetterten ihn. Der Anblick der Geliebten durchtränkte ihn mit ihrer Mattigkeit; er schlich nur noch dahin, mit umränderten Augen, die ungesund glänzten, und das Gesicht blaß und in die Länge gezogen, wie von Fieber. Er ward untersucht und hoffte sehr, er sei in Lebensgefahr. Aber es war alles in Ordnung.

Inzwischen ward es ein früher, warmer Sommer. Estela schleppte sich allein, denn ihr Mann war verreist, die kurze Strecke bis ins Gehölz. Raffael war ungesehen ihr Begleiter und fiel von Frost in Hitze, weil er immer drauf und dran war, sich ihr als Stütze anzubieten, und jedesmal im Losschießen, wenn innen die Geste schon begonnen war, von Lähmung gepackt ward. Im Gehölz setzte sie sich langsam auf eine Bank, um die Ginster stand; und Raffael lehnte, kurz hinter ihr, an einer Buche und atmete schwer wie sie. Es war schwül, und das Laub, heller als der Himmel, leuchtete unheimlich. Estela machte einmal einen angstvollen Ruck zum Aufspringen, und Raffael griff sich ans Herz. Sie beruhigte sich; er sah sie, und sein Kopf ward schwer, in Träumerei sinken. Er sah, in einer großen inneren Stille, ihr abgemagertes Gesicht ergebungsvoll geneigt, ihren Körper kraftlos und als entglitte er ihr, in dem weiten Kleide hingebreitet. Er fühlte sich sanft vergehen mit ihr, seine Wange an ihrer kleinen runden Stirn, die so arm und heiß war – und einige große Regentropfen fielen als Tränen der Dinge, des Lebens selbst, von Blatt zu Blatt und auf ihre beiden Scheitel.

 

XII

»Du bist noch kein einziges Mal mit nach Schlutup gekommen«, sagte Albert Bishop auf dem Heimwege von der Schule. »Überhaupt wirst du immer mehr zur Schlafmütze.«

Raffael schwieg.

»Dabei hast du gestern die Schule geschwänzt; ich weiß es, weil ich zufällig dort war. Was tust du also mit deiner Zeit? Ich will dich zwar nicht nach deinen Geheimnissen fragen.«

Raffael unterlag einer plötzlichen Wallung; es schoß aus ihm heraus, so heftig, daß die Kräfte ihm versagten und seine Stimme bebte:

»Ich liebe eine Frau, Bishop. Ich liebe sie so furchtbar, daß gewiß noch niemand so geliebt hat. Man kann sich das nicht vorstellen, und es gibt auch keine Worte dafür: aber ich liebe sie, ich liebe sie.«

Er hielt inne und sah erschreckt den andern an. Der aber lachte nicht, wendete ihm nicht einmal das Gesicht zu, und war ganz rot. Da wiederholte Raffael langsamer und genoß die lauten Worte:

»Ich liebe sie, ich liebe sie.«

Bishop bemerkte kurz: »Ich halte nichts von Liebe. Hast du die Frau schon geküßt?«

»Was denkst du?« stotterte Raffael.

»Nun, um so besser. Ich werde nie jemand küssen, außer meinen Eltern und meiner Schwester. Ich finde das unmännlich.«

Raffael entschuldigte sich.

»Sie ist sehr, sehr unglücklich. Sie wird von ihrem Mann geschlagen oder vergiftet, ich weiß nicht. Sie war früher so schnell; jetzt ist sie so schrecklich sanft. Ihre Hände, und ich glaube alles ist geschwollen; und sie kann kaum noch gehen.«

»Und was tust du dabei?«

»Ich?«

»Ja, du. Von deiner Liebe wird sie wohl nicht wieder gesund?«

›Tun …‹ dachte Raffael gramvoll. Aber er äußerte möglichst frisch:

»Ich habe schon ihren Mann ermorden wollen.«

»Das ist nicht richtig«, bemerkte Bishop. »Es würde dich zuviel kosten. Die Frau muß gerettet werden; aber du darfst dich nicht opfern statt ihrer. Denn so viel ist sie schwerlich wert.«

»Wie kannst du das wissen?« sagte Raffael gelassen und stolz.

»Das weiß ich; weil keine einzige Frau wert ist, daß wir uns opfern. Aber es ist ganz einfach, was du tun mußt. Du mußt sie ihrem Manne wegnehmen«, erklärte Bishop bestimmt. Und Raffael mit geheimem Hohn:

»Meinst du?«

Die Erinnerung aller seiner verschwiegenen Niederlagen engte ihn ein und trieb ihn in eine verzweifelte Prahlerei.

»Glaube nur nicht, du seist der erste, der auf den Gedanken kommt. Ich beschäftige mich schon längst mit der Ausführung. Mehrere Matrosen sind meine Freunde, die werden mit ihrem Boot in den Kanal fahren, bis vor die Gartentür der Frau, und sie abholen. Nur den Kapitän muß ich noch gewinnen. Das ist nicht leicht, ich kann es nicht selber tun. Du begreifst, ich bin hier zu bekannt, und wenn ich sage, ich will mit Frau Konsul Vermühlen entfliehen –«

»Frau Vermühlen heißt sie? Und wie heißt der Kapitän?«

»Kapitän Nevermann.«

»Und sein Schiff?«

»Die ›Newa‹.«

»Gut. Ich gehe sofort und spreche mit dem Kapitän. Du kannst auf mich zählen. Hast du Geld?«

»Jawohl. Und die Reise habe ich umsonst, weil mein Vater Reeder des Schiffes ist.«

»Also, alles in Ordnung. Adieu. Übrigens: weiß die Frau von der Sache, und ist sie einverstanden?«

»Natürlich«, stieß Raffael hervor und ging rasch und glücklich heim. Alles, was er gesagt hatte, deuchte ihm möglich. Warum sollte der alte Nevermann ihm nicht helfen? Er würde wohl sagen: »Na denn man jü.« Matrosen kannte Raffael genug, von der Taufe der »Newa« her, zu der Papa ihn mitgenommen hatte. Der Kanal floß zwar nicht an der Vermühlenschen Gartentür vorbei, aber das ließ sich irgendwie anders machen. Und Estela? Wie sollte sie nicht wollen, wenn man sie aus den Händen ihres Mörders befreite! Alle Hindernisse fielen um bei Raffaels Ansturm. ›Muß ich sie vorher benachrichtigen? Meinetwegen: morgen.‹

Aber am Nachmittag sah er, und Schrecken lähmte ihn, Kapitän Nevermann in das Kontor treten. Papa saß am Fenster; jetzt stand er auf … Raffael ging hinüber in sein Zimmer und tat, als ob er arbeitete. Er litt heftige Angst und begriff sich wieder einmal nicht. Konnte man solch ein Phantast sein! Und diesmal hatte seine Phantasie ihn hineingeritten, dank dem kindischen Engländer. Bishop hatte dem Kapitän natürlich sagen müssen, wer die Reisenden seien; und zu dieser Stunde war Nevermann bei Papa, und es gab keine Rettung mehr. Papas Zorn war nicht das Furchtbarste – aber später, das sah Raffael voraus, würde er lachen und alles dem Konsul Vermühlen erzählen. Estela erfuhr es … Raffael rang die Hände, unter Schweißausbrüchen. Er konnte nicht länger stillhalten, lief hinunter, horchte am Kontor. Papa sprach von Geschäften; Kapitän Nevermann mußte fort sein. Raffael ging zur Haustür: da trat der Kapitän aus dem Kontor. Raffael lief einfach davon. Nach einer Strecke setzte er, in dem Drange, das Gesicht des Kapitäns zu sehen, alle Scham hintan und drehte sich um. Nevermann kam schaukelnd auf ihn zu, schmunzelte in seinen vergilbten Weißbart und erhob drohend einen dicken, rissigen Finger. Raffael flüchtete weiter.

Bei Tisch saß er mit gesenkten Lidern, der Aufregungen müde und in das Kommende ergeben. Es ward halb fünf, und Papa war noch nicht da. Nun trat er eilig ein. Er sagte, noch während er sich setzte, und strich dabei über Raffaels Hinterkopf:

»Mein lieber Freund, ich habe in dieser Zeit gar zu viel in den Kopf zu nehmen, sonst hätte ich daran gedacht, dich auf die ›Marie Behrens‹ zu setzen, die vorgestern nach Oporto abgegangen ist. Dann hättest du deine Seereise gehabt. Kapitän Nevermann sagt mir, daß du gern einmal eine Seereise machen möchtest. Warum hast du übrigens kein Vertrauen zu mir und wendest dich nicht ohne weiteres an mich?«

Und bei Raffaels erschütterndem Schweigen:

»Du könntest natürlich mit Nevermann bis Kronstadt fahren; deine Ferien fangen nächste Woche an. Aber er geht weiter nach Archangelsk, und du hast nicht gleich Rückfahrgelegenheit. Ich kann dich noch nicht allein in Petersburg herumlaufen lassen, das wirst du einsehen. Für dieses Mal müssen wir uns also mit Travemünde begnügen. Hoffentlich verschafft dir die Seeluft rote Backen, du hättest sie nötig.«

Wie nun unter Raffaels gesenkten Lidern zwei große Tränen hervordrangen, legte der Vater ihm nochmals die Hand um den Hinterkopf.

»Deswegen brauchen wir doch nicht weich zu werden, mein Lieber. Fassen wir uns, bitte!«

Die Mutter fragte, sehr gütig:

»Warum weinst du, Raffael?«

Auch der tüchtige alte Kapitän hatte Mitleid gehabt, hatte die Hauptsache verschwiegen und Raffael geschont. Raffael hatte sich mitten in Kampf phantasiert, in Spannung gelebt und vermeint, daß alle über ihn herfallen würden, Estela aber – denn ganz, ganz heimlich hatte er auch dies erträumt würde in seine Arme sinken. Nein, nichts geschah: er hatte es immer gewußt, und dies sollte endlich die letzte Bestätigung sein, die er sich holte. Ihm blühte keine Wirklichkeit; und die Wirklichen gingen über ihn hinweg, wie Lebende über einen Schatten.

 

XIII

Gleich nach Beginn der Ferien ging es an die See; Vermühlens waren schon dort – und der Strand, die Kurpromenade, das Feld mit dem Leuchtturm, das Städtchen: dies alles war nur der Garten, der die Geliebte enthielt, und an dessen Gitter kaum sich Raffael zu zeigen wagte.

Er saß weitab im Sande, wenn sie ins Bad ging. Sie ging über die Brücke zur Badeanstalt; und plötzlich schien das Gewimmel der anderen Gäste ins Stocken zu kommen, zu verstummen, und um die Eine her ein feierlicher Raum zu entstehen. Raffaels Herz klopfte, und die kleine Silhouette dahinten im leeren Himmel war – wie begeisternd unbegreiflich! – die Welt und ihr Sinn und ihre Herrlichkeit!

Er saß und wartete. Ihn forderte keine Pflicht. Die Luft war still und gelind. Man spürte seinen Körper nicht; man war ganz Gedanke an sie. Es war, als werde sie nun kommen und sich neben dich niederlassen; und das sei das erste, was geschehe, und zwischen diesem Augenblick und jener ersten Begegnung auf der Treppe liege nichts, es sei zusammen nur ein Augenblick. Man war neu, hatte nichts versäumt, und alle Hoffnungen standen frei.

Da kam sie; und man erinnerte sich und ward kleinlaut. Mit jeder Luftschicht, die zwischen ihr und dir selbst hinweggenommen wurde, entwich dir etwas Illusion. Von der Müdigkeit ihrer Schritte auf dem langen Brettersteg fühlte man nun wieder das eigene Herz gehemmt. Man sah wieder ihre Züge, die Adern ihrer Hände – und von jedem einzelnen an ihr glaubte man schon einen Schmerz erfahren zu haben. ›Wieviel habe ich durch dich schon erlebt, wieviel! Aber du weißt es nicht, meine liebe Estela, du weißt es nicht.‹ Das mußte man sich wiederholen, sonst wäre man bitter geworden und hätte es ihr vorgeworfen, daß sie sich noch zeigen, es noch weitertreiben möge.

Sie wußte nichts und durfte nichts wissen! Raffael machte sich einen schmerzlichen Genuß daraus, sie zu schonen wie ein Heiligtum, ihr seinen Anblick zu ersparen, der wider seinen Willen sie hätte trübe berühren können. Er drehte sich solange um eine Strandhütte, bis sie vorbei war, ohne daß ihr Blick, der lässig aus dem leeren Grau des Meeres tauchte, von ungefähr ihn getroffen hätte. Beim Mittagessen zwang er sich unter Qualen, niemals den Kopf nach ihr zu wenden; denn er hätte ihre Augen herlenken können. Dafür ging er, wenn der Saal sich geleert hatte, an ihren Platz, betrachtete die Dinge, die lagen, wie ihre Hände sie gelegt hatten, schob Krumen in den Mund, die ihr entfallen waren, schüttete den Rest des Wassers aus ihrem Glas in ein Fläschchen und trug es nun bei sich, als habe es von ihren Lippen Heilkraft.

Unter den Spazierwegen bevorzugte sie den, der am Borkentempel endete. Die Hütte aus Baumrinde stand auf einer schmalen, senkrecht zu den Dünen abfallenden Hügelspitze. Aber sie kam nie bis dorthin. Wo die Steigung begann, rastete sie auf einer Bank und kehrte um. Raffael erwartete droben ihr Kommen und ihr Weggehen. Aus dem Guckloch der Hütte konnte er sehen, wie sie dasaß und unfroh vor sich hin brütete. Nachher eilte er zu ihren Fußstapfen: es waren Geschenke, die sie ihm gebracht hatte. Er küßte den schmalen Umfang ihrer Spuren. Er sammelte die Erde, die sie getragen hatte, in sein Tuch. Einmal schrieb sie mit der Spitze ihres Schirmes etwas in den Sand; und als er sich später darüber herstürzte, um es zu lesen, hieß es »morir«. Er erriet den Sinn; und er kam an diesem Abend nicht nach Hause. Er lag, mit dem Gesicht in einen Haufen vorjährigen Laubes gewühlt, und schluchzte. Noch aus dem Nachtschlaf fuhr er auf mit Schluchzen.

Ein anderes Mal aber begriff er nicht, was sie meinte. Denn sie neigte sich diesmal über ihren Leib, den sie streichelte, zärtlich, wie versöhnt mit ihren Leiden, mit dem, was in ihr vorging, und als lauschte sie darauf. Und jetzt sprach sie, ja ihre Lippen regten sich, und rätselvoll lächelnd sprach sie hinein zu sich.

An einem dritten Tage sah er aus seinem Guckloch, wie sie, frischeren Schrittes als sonst, an der Bank vorüberging und heraufkam, dem Borkentempel zu. Ihn ergriff brennende Panik. Keine Straße offen, als die, auf der sie kam. Der senkrechte Abhang gleich vor seinen Füßen. Im Augenblick, als sie die Hütte erreichte, sprang er auf der anderen Seite hinab: mehr als ein Stockwerk tief, auf die Düne. Sein Fall war unhörbar und grub ihn bis über den Kopf in Sand. Anfangs arbeitete und bald erlahmte er. Es geschah schließlich ohne sein Zutun, daß der Sand von ihm ablief und daß er entkam. Er trollte sich, gesenkten Kopfes, am Meere hin und genoß den Nachgeschmack des tollen Opfermutes, mit dem er für sie, für sie sich ins Leere gestürzt hatte, und jenes schon nahen Todes, der lautlos, ihr unbekannt und dennoch wie ein Kuß von ihr war.

 

XIV

Als am Sonnabend Raffael seinen Papa von der Bahn holte, rief Konsul Vermühlen, der auch aus der Stadt kam: »Da ist er ja, der prächtige Junge.«

Und Raffael schämte sich für den Konsul; denn er wußte genau, daß der das nur sagte, um Papa zu gefallen. Bei der Taufe der »Newa« hatte der Buchhalter aus Papas Hafenspeicher Raffael auf die Schenkel geklopft und mit lügnerischer Stimme ganz genau dasselbe gerufen: »Ein prächtiger Junge!« Die Matrosen selbst hatten eine täppische Ehrerbietung an den Tag gelegt; und der einzige, der ihn natürlich behandelte und nicht beschämte, war Kapitän Nevermann gewesen. Die andern alle, Bürger der Stadt sowohl wie Papas Angestellte, taten immer, als werde Raffael die Stellung seines Vaters erben und einer der in ihrer Mitte Mächtigen werden. Sahen sie denn nicht, was für ein Mensch er war, und daß er in der Luft stand? Der Zustand solcher ihm Schmeichelnden erfüllte Raffael mit bleierner Trauer um Menschheit und Leben.

Und nun ließ Konsul Vermühlen ihn gar nicht mehr los. Wahrscheinlich wollte er gerade etwas von Papa.

»Jetzt wollen wir erst mal ein bißchen frühstücken. Was meinst du wohl« – und er griff Raffael unter den Arm – »zu 'ner Flasche Rotspon? Und abends wird getanzt, mein Sohn. Kannst du schon tanzen? Kann er schon tanzen, Herr Senator? Er muß mal mit meiner Frau tanzen.«

Raffael verhielt sich, in aller Pein, ganz still an dem Arm des Konsuls; nur innerlich wand er sich. Er dachte an seine Küsse auf Estelas Fußspuren und hörte dabei den Konsul lachen, sah seinen Vater lächeln und fühlte sich bloßgestellt, seine Liebe entweiht und elend. Einen Augenblick war er versichert, daß man alles wisse; und gleich würde das Unsagbarste, für das er selbst in seinen Träumen keine Worte hatte, laut und wohlgelungen herauskommen aus Konsul Vermühlens Munde, nicht anders als hätte der Konsul sein Frühstück bestellt. Es schien Raffael nicht mehr, daß er gehe; Estelas Gatte schleppte ihn nur noch hin. Da sagte aber der Konsul:

»Was sie in dem Alter für leichte Beine haben! Dagegen kommt unsereiner nicht auf.«

Und da sie der Konditorei, vor der die Damen saßen, näher kamen, wollte er mit Raffael einen kleinen Wettlauf machen. Es ließ sich nichts dagegen tun; sie liefen schon durch den Kurgarten. Raffael starrte – und die Augen fühlten sich entzündet an und die Kehle trocken – auf Estela dahinten, die sich langsam vergrößerte –, und es war ihm, als laufe er, und dürfe nicht aufhören, auf einen Abgrund zu. Sollte er so untergehen? Konnte man so sterben? … Sie hatten noch fünfzig Schritte vor sich, da fuhren ihnen zwei Räder in den Weg; und einer der Herren sprang ab und redete Konsul Vermühlen an. Raffael entwischte, versteckte sich hinter dem Musiktempel, in den modrig duftenden Lebensbäumen – und keuchend und durchströmt von der Wonne des Gerettetseins bemerkte er, daß er diese tödliche Ankunft bei der Geliebten niemals für ganz möglich gehalten habe, nicht einmal in den Sekunden ihrer höchsten Wahrscheinlichkeit, und daß an das Äußerste wir Lebenden nicht glauben können, und daß im Tiefsten der Mensch sich unsterblich fühle. ›Wie vieles‹, dachte Raffael, ›lehrst du mich erkennen, meine liebe Estela.‹

 

XV

Ein entlassener Major, der dafür umsonst im Kurhaus lebte, ging zwischen den weißen Mullkleidern der jungen Mädchen umher, holte ihnen, mit Überredung und Gewalt, Tänzer aus dem, ganz drüben, verlegen zusammengeballten Haufen der jungen Leute; und die Zurückgelassenen sahen denen, die er fortschleppte, mit Angst- und Neidgefühlen nach. Dann verteilten die Kellner Getränke, die Mut machen. Die Musik spielte so keck, als wäre das Ganze ein Leichtes gewesen. Und einige ältere Herren, die nur zum Zusehen da waren, gaben ein Beispiel. Konsul Vermühlen führte mit jovialer Galanterie ein junges Mädchen nach dem andern unter den Kronleuchter und ließ es sich drehen. Um ihn her, und als machten sie ihn verantwortlich dafür, kreisten allmählich alle andern. Da klatschte der Major in die Hände und rief zur Française. Wie niemand sie kennen wollte, nahm Konsul Vermühlen seine Frau, die zwischen Müttern saß, bei der Hand und meinte:

»Dann mußt du sie anführen. Die wird dir wohl nicht schaden, meine gute Estela, denn es ist doch nur Gehen und Knicksen. Das Knicksen kannst du weglassen. Nicht, Herr Major? Das Knicksen kann sie weglassen?«

Der Major war einverstanden; und er und Frau Vermühlen gaben nun den beiden Reihen der Tänzer die Bewegungen an. Estela vollführte zuerst die Komplimente nur leicht und mit einem Lächeln, als entschuldigte sie sich. Bald neigte sie sich tiefer; ihr Lächeln ward voller, ihr Schritt glücklicher; wenn sie ihrem Gegenüber die Hand hinstreckte, flatterte ihr Spitzenärmel auf, als schüttelte sie Blüten heraus oder eine Taube. ›Ihre raschen Gebärden und leichten Mienen heben mich empor‹, spürte Raffael, ›sie füllen mich mit Sonne.‹

Er hatte anfangs hinter der Eingangstür gestanden, sich dann, weil dort zu viel Kommen und Gehen war, nebenan ins Anrichtezimmer zu den Kellnern begeben, hatte sich volkstümlich gemacht, mit ihnen gespaßt und so getan, als sei er da, eine Schaumrolle zu ergattern und keineswegs um des nach dem Saal geöffneten Spaltes willen. Als sie ihm zu lästig wurden, stahl er sich in das Spielzimmer, hinter die alten Herren, und lugte durch den Vorhang. Aber das war unerträglich aufregend, denn jeden Augenblick konnte Konsul Vermühlen hereinkommen und Raffael, wie er's ihm angekündigt hatte, zum Tanzen nötigen. So rettete sich Raffael aus dem Spielzimmer ins Freie und begnügte sich damit, durch die Jalousien der Saalfenster zu spähen. Hier draußen war es gefahrlos; dafür aber brach der Anblick der Geliebten fortwährend ab, und so viele jäh aussetzende Ekstasen machten ganz dumpf und schwach. Sie wendet dir die Schulter zu, scheint sie dir zum Kuß darzureichen: da schneidet der Fensterrahmen hinein. Man senkt den Blick auf ihr verlockend zurückgelegtes Gesicht; und kaum berührt er's, verschwindet es: als ob die Blume dem Insekt, das sich darauf niederläßt, unter den Füßen fortgeweht wird.

Auf der Jagd nach ihrem Bilde machte Raffael die Runde um den Saal, er gelangte wieder an seinen Eingang und in das Anrichtezimmer, das nun leer war. Der Saal schien jetzt matter erleuchtet im Dunst und Gedränge; und die Gestalt aus Spitzen und hellem Fleisch, der Raffael folgte, bekam, inmitten der vielen, etwas einsam Schimmerndes. Fast sah es aus, als wäre sie allein im Wald gegangen: ringsum Dunkel, und nur auf ihr das Licht eines Sternes, der hoch über ihrem Scheitel immer mit ihr ging.

Sie tanzte mehrmals und mußte wohl alles vergessen haben. Ihr Mund war in ausgelassener Bewegung, ihre Augen leuchteten, als wäre sie auferstanden … Raffael ward es bange, wie bei einem Wunder.

Da lief Konsul Vermühlen aus dem Spielzimmer herbei. Er lief, und er war erregter, als Raffael ihn jemals gesehen hatte.

»Du hast wohl deinen Verstand nicht mehr«, sagte er, »daß du Walzer tanzt. Das fehlt noch!«

Sie erwiderte, er solle sie in Ruhe lassen. Er wiederholte immer, daß Française das Höchste gewesen sei, was erlaubt sei. Walzer sei zuviel. Raffael sah: so behandelte der Mann sie; und er knirschte. Sie lehnte sich endlich selbst auf, heute hatte sie Mut. Ihre zornigen kleinen Mienen überkugelten sich in ihrem Gesicht, wie einst; sie tat, im Kampf vornübergebeugt, lauter kurze Schläge in die Luft, mit beiden Handrücken; und in den fremden, von niemand verstandenen Worten, die unter den leidenschaftlichen Windungen ihres Mundes entstanden, rollte das R. Um sie her ward wohlwollend gelacht. Zuletzt lachte auch ihr Mann. ›Er kann nicht anders vor den Leuten‹, meinte Raffael. ›Er muß ins Spielzimmer abschieben. Wenn sie nach Hause kommen, wird er sie um so mehr quälen. Wer weiß, dann gibt er ihr wieder Gift … Wenigstens jetzt ist sie glücklich.‹

Sie tanzte noch zweimal. Dann, in dem Augenblick, als ihr Herr sie allein gelassen hatte, fuhr sie im Sessel auf, furchtbar erbleicht. Sie versuchte, ihre Brust, die arbeitete, mit den Händen zu bändigen, und entsandte dabei Seitenblicke, die sahen aus, als bäte sie um Hilfe, und bäte dennoch, man möchte sie nicht ansehen. Keiner sah, nur Raffael – und da, es war klar, daß sie ihre letzte Kraft zusammenraffte, stand sie auf und ging bis an die nur angelehnte Tür zum Anrichtezimmer. Sie konnte sie nicht einmal mehr aufstoßen, wäre sicher umgefallen; Raffael war's, der sie vor ihr öffnete. Sie taumelte herein, leeren Blicks vorbei an ihm, und fiel auf den Stuhl. Es war der einzige, und er stand in der Mitte des kleinen, fast dunkeln Raumes. Da saß sie nun.

Sie war verwandelt und hatte nun Züge und Haltung, als sei sie von langem Krankenlager aufgestanden, um hier unter Raffaels Blicken zu sterben. Er stützte sich gegen die Wand, gelähmt und ohne einen Gedanken. Lange Zeit hindurch machte er sich gar nichts deutlich von der Gestalt dort auf dem Stuhl. Etwas schien zu drücken, sah er dann, auf ihre armen, sinkenden Schultern. Sie rutschte tiefer in den Sitz, ihre Brust fiel ein, ihr Leib ward herausgedrängt. Allmählich kam es ihm zum Bewußtsein, daß sie zitterte – und als er sekundenlang in einen ihrer zitternden Arme vertieft geblieben war, wie in eine ihn verzehrende Marter, faßte plötzlich sein Auge sie zusammen: zum erstenmal, nachdem es so lange von ihrem allzu großen Jammer nur einzelnes hatte begreifen können. Und die Linie dieses nach unten geschwellten Körpers mit den verkürzten, kläglich geöffneten Schenkeln, zwischen denen das Kleid in Falten hing – diese elende Linie machte die Geliebte stärker als einst ihre höchste Schönheit sie gemacht hatte, und Raffael brach zusammen.

 

XVI

Er kam zu sich, und plötzlich schüttelte ihn ein Fieber von Empfindungen. Er sprang auf, rang atemlos die Hände; er rief sich zu: ›Was tun! Unfähig bis zum letzten Augenblick!

Ein Gegengift! Warum bin ich nicht Arzt!‹

Er sah sich als Retter, hingekniet vor ihr, die die Augen aufschlug, dankbar seufzte und den Kopf auf seine Schulter neigte.

›Immer nur Phantasien. Etwas tun!‹

Aus dem Winkel heraustreten, sich ihr zeigen. Ja, jetzt galt es, sich ihr zu zeigen. Keine Ausflucht mehr. Und ehe er selbst gedacht hatte, wie eine Maschine setzte er sich in Bewegung. Unter ihren großen, starren Augen ging er schweigend und die Augen geradeaus, in dem Halbdunkel durch das kleine leere Zimmer – und das war, als wäre er, ein einzelner, zum voraus geopferter Kämpfer, vor zehntausend erbarmungslosen Blicken über ein sonnengrelles Feld geschritten.

Er erreichte den Anrichtetisch; seine Hände warfen Gläser um; er goß Wein aus einer Flasche, wunderte sich, daß das Glas niemals voll werde, und bemerkte zuletzt, daß keins dastand.

›Was nützt das, da sie doch vergiftet ist? Und wie lange bekommt sie schon Gift! Ist da nicht alles umsonst?‹

Und er wünschte, schlaff am Tisch hängend, daß sie rasch sterben möge, damit er sich nicht zu rühren brauche und nichts, nichts mehr geschehen, niemals mehr.

Gleich darauf aber stand er, ein Glas Wasser in der Hand, vor ihr und gab sich ihr preis. ›Da bin ich. Da ist der, an dem du einmal auf einer Treppe vorüberliefst, und den du seitdem nie wiedersähest.‹ Er dachte auch, mit schmerzlichem Stolz: ›Ich bin wohl verändert? Ja, das hast du aus keinem anderen gemacht. Nun weißt du alles.‹

Die Angst und die Wonne des sich Darbringenden machten seine Hand zittern, und es fiel Wasser auf ihren entblößten Hals. Sie zuckte auf, stieß fremde Worte hervor, schob ihn weg. Er ward gewahr, daß ihre Zähne klapperten.

›Und ich komme mit kaltem Wasser! Und mache mich wichtig und bilde mir ein, daß sie mich kennt. Als ob sie je wieder an mich gedacht hätte! Wußte ich das denn nicht?‹

Da bemerkte er, daß er, von ihr ungesehen, dennoch unter den Augen ihrer Seele gelebt habe; sie zur Genossin seiner Erlebnisse gemacht habe; ganz im Grunde das unvernünftige Gefühl gehegt habe, als sehe sie sich manchmal nach ihm um, als wisse sie von ihm … Nein, sie wußte nichts, hatte vergessen, daß sie ihn je erblickt hatte. Kein Hauch von allem, was in ihm gestürmt hatte, war zu ihr gedrungen. Mit keinem Laut konnte er sich ihr, denn er war ein Unbekannter, ins Gedächtnis rufen, nicht einmal mit Weinen.

Das aber nahm ihm plötzlich eine große Last ab. Er vermochte sich freier zu bewegen unter ihren Augen, die ihn gar nicht kannten; konnte handeln. Er wollte zum Arzt gehen und auf die Polizei: sie retten und sie rächen. Er war schon jenseits der Tür, wollte eben aus dem Hause: da rief die Stimme seines Vaters:

»Raffael!«

Sein Vater kam aus dem Saal.

»Bist du noch nicht im Bett, mein Lieber? Was soll denn das heißen?«

Raffael sah sich langsam um: dort stand Papa, mit gerunzelten Brauen, und sprach zu ihm wie zu einem Knaben, indes Raffael auf einem der wichtigsten und schwersten Gänge war, die ein Mann tun konnte. Mußte Papa das nicht erfahren? Papa hatte Raffael gezeigt, daß er gute Absichten habe und ihn verstehen wolle. Raffael spürte es, als ob Papa ihm über den Hinterkopf streiche. Er bemerkte auf einmal, daß sein Vater ihm, nächst Estela, der liebste Mensch auf der Welt sei, und daß er ihn gern zum Freund gehabt hätte. Es stand immer so schrecklich viel dazwischen, zwischen allen Menschen, und auch zwischen ihnen. Man mußte einmal ein offenes Wort sprechen. Ihm ward es weich zumute – und im Gefühl von Schicksal und Verantwortlichkeit, aber vor Tränen zitternd, sagte er:

»Papa, hier geschieht etwas ganz Furchtbares.«

»Etwas –: sag sofort, was du angestellt hast!«

»Ich? Gar nichts. Aber es ist furchtbar.«

»Hör mal, lieber Freund, mach einem gefälligst nicht unnötig bange. Was ist los? Willst du dich erklären oder nicht?«

»Papa, eine Dame wird hier vergiftet. Ich weiß es ganz gewiß, und wir müssen den Doktor und die Polizei holen. Sie kriegt schon seit langem Gift, und zwar von ihrem Mann.«

»Was sind das für Geschichten? Wer ist die Dame?«

Raffael schluckte hinunter, brachte aber den Namen nicht hervor. Er wies auf die Tür des Anrichtezimmers.

»Drinnen sitzt sie.«

Papa ging hinein; und einen Augenblick später kam er zurück, mit einem Gesicht, das wohl trösten wollte und sich scherzend stellte.

»Siehst du?« flüsterte Raffael mit feierlichem Grauen.

Papa sah stumm umher. Endlich äußerte er:

»Es ist gut, mein Lieber. Du kannst zum Doktor laufen. Ich hole ihren Mann heraus. Zur Polizei gehe lieber nicht, das hat keinen Zweck; aber gleich neben dem Doktor wohnt eine Frau, der kannst du vielleicht auch Bescheid sagen. Ihr Name steht auf dem Schild: Frau Schlei, Hebamme … Siehst du, jetzt geht dir ein Licht auf. Du bist ja auch kein Kind mehr. Nun, irren ist menschlich. Deswegen brauchen wir uns nicht so aufzuregen. Hörst du? Mach, bitte, ein vernünftiges Gesicht! – Was ist dir denn? Nimm dich zusammen, keine Dummheiten! Das ist doch keine Sache, um Anfälle zu bekommen und krank zu werden. Stütze dich auf mich – und tue mir den Gefallen, schreie lieber, aber mach nicht solch Gesicht. Ich weiß längst, daß deine Nerven nicht in Ordnung sind. Warum hast du kein Vertrauen zu mir? Herrgott, ist es denn so schlimm? Raffael! Raffael!«

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