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Heldin

Zuerst erschienen in »Stürmischer Morgen«, Albert-Langen Verlag, München, 1906

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, II. Band

 

Der junge Beamte streckte den Kopf aus dem Schalter.

»Kommen Sie nur alle Tage selbst, Fräulein«, rief er Grete Pinatti nach; »dann sind wir bereits ein Postamt erster Klasse.«

Grete lachte, über ihren Fächer hinweg, laut auf. Lina drehte sich ernst lächelnd um, und vor ihr machte er eine kleine scheue Verbeugung.

»Er hat Angst vor dir, er muß in dich verliebt sein«, meinte Grete. Lina verzog ein wenig den Mund, träumerisch geringschätzig.

Die heiße Luft schlich ihnen entgegen; der Platz brannte weiß im weiten Bogen der Häuser mit gebauchten Balkonen und geschlossenen grünen Fensterläden.

»Jetzt zum Bertanza«, sagte Grete; und sie betraten den dumpfigen Schatten des mit Stoffen und Schachteln vollgestopften Ladens. Während sie Bänder aussuchten, raunte Grete:

»Er hat sie wieder geprügelt; siehst du die Streifen?«

Linas tiefschwarze Augen senkten sich auf das Gesicht der Verkäuferin; dies mürrisch verschlossene Gesicht ging plötzlich auf, wie eine verzauberte Pforte unter dem Stabe der Fee, und das Mädchen lächelte: einfältig entzückt.

Nun bogen sie in die enge Gasse, es roch darin nach Wein; und da klapperte eine schmutzige Glastür, Stimmen brachen wüst heraus, und ein Betrunkener taumelte nach der Hauswand gegenüber und ließ sich mit dem Rücken daranfallen. Grete zog Lina am Arm.

»Was tust du? Nicht so nahe! Er ist böse, wenn er betrunken ist. Du hast doch gesehen, wie er seine Tochter zugerichtet hat.«

Linas Blick ließ zögernd die glasigen Augen los, die nichts begriffen; und sie seufzte. Hinter ihnen ward ein leises Räuspern vernehmlich und dann eine verschleierte Stimme.

»Eigentlich wollte ich nach der andern Seite; wenn man aber Sie des Weges gehen sieht, Fräulein Clemens: Sie haben einen Gang wie eine kleine Heerführerin, leicht und feierlich, wissen Sie. Niemand würde wagen, Ihren Arm zu berühren, aber alle müssen Ihnen folgen. Sehen Sie die Anstrengungen jenes Trunkenboldes?«

Grete jauchzte.

»Ihnen kann man begegnen, wann man will, immer sind Sie komisch!«

»Wie kommt es«, sagte der junge Mann bewegt, »daß von Ihnen, die selten lächelt, eine strenge Heiterkeit ausgeht, von der alle schüchterner und besser werden?«

Grete wollte wieder loslachen, aber es gelang nicht; sie sah beleidigt aus. Der junge Mann begann zu husten und konnte nicht mehr aufhören. »Die Nerven!« brachte er hervor. Lina sah ihm in die Augen, in die Tränen der Qual traten.

»Ich danke Ihnen«, sagte er, sobald er sprechen konnte.

»Wir wollen langsamer gehen«, bestimmte Lina. Ihr schwaches, unklares Organ klang wie das eines Knaben, der die Stimme wechselt.

Ketten bunter Früchte hingen vor den Gewölben; Mädchen in schwarzen Umschlagtüchern und mit Rosen vor der Brust drehten sich in den Hüften, bewegten Fächer und Augen; schreiend spielten die Burschen Morra; Harmonikatöne und fette Gerüche stiegen zum Himmel auf, der festlich zwischen den Dächern hinfloß. Grete flüsterte im Gedränge:

»Kein Gedanke, daß Sie mich heute in der Badehütte sehen.«

»Ich sehne mich nicht nach der Badehütte«, antwortete der junge Mann. »Ich wollte, wir könnten uns besser lieben.«

»Bequemer könnten wir's doch nicht haben«, meinte Grete erstaunt. Er drängte von ihr weg.

»Sehen Sie, Fräulein Lina, am Ende dieser engen, wimmelnden Gasse den Turm, den stillen, grauen Wachtturm am Hafen? Seit tausend Jahren steht er dort; hinter sich die Stadt, vor sich den See in seinen blauen Luftschleiern, worin der Umriß des Gebirges sich verstrickt, aus denen sonst, wie aus der Ewigkeit, Feinde auftauchten, und in die sie, abgeschlagen, zurücksanken. Wie viele Geschlechter haben dem alten Wachtturm ihr Heil verdankt! Noch das heutige geht, ohne selbst darum zu wissen, in einem zärtlichen Vertrauen durch seinen breiten Schatten hin. Auch wenn man Sie ansieht, Lina, beruhigen sich die Mienen; das Böse, aus der Ewigkeit hergefahren, weicht in sie zurück; und eine Weile spüren wir in unsern eigenen Augen, in unserer Brust eine kaum begreifliche Güte, einen wunderbaren Frieden … Sie halten mich hoffentlich nicht für verliebt?«

»Ich möchte Ihnen eine Frucht kaufen, Herr Roland, dort bei dem Alten; wollen Sie? Schon gibt es Feigen, und Sie lieben sie, haben Sie gesagt.«

Lina bot ihm die Frucht; da sah sie Grete, die abseits stand, spöttisch und doch mit einem Gesicht wie eine Ausgestoßene.

»Geben Sie sie ihr!« sagte Lina rasch. Er sah sie an; sie bat erschrocken: »Tun Sie's!«

Er eilte auf Grete zu. Wie sie ihn kommen sah, begrüßte sie mehrere Offiziere und blieb mit ihnen stehen. Roland kehrte zu Lina zurück und zu dem Alten.

Der Alte lehnte inmitten des Hafenplatzes an seinem gelben, mit Papierblumen und Fähnchen ausstaffierten Karren und begeisterte sich mit hoher, dünner Stimme für seine Ware. »Was für schöne Trauben!« schrie er fast weinend. Plötzlich aber verfiel er in Keifen, weil hinter seinem Rücken ein Junge eine wegnahm. Ein Auflauf entstand; ein Gendarm schritt ein.

Lastträger, Zolleute, Schiffer schoben sich, die Hände in den Taschen, durcheinander, verwickelten sich plump in den leichten, schwankenden Gewinden lachender Mädchen. Kleine, behende Hausfrauen auf klappenden Holzschuhen, in den Haaren noch den Staub der Woche, machten unter den Steinlauben, feilschend und jammernd, ihre Einkäufe für den Sonntag. Die blonden, langen Soldaten in ihren graublauen Joppen sprachen ernsthaft deutsch über die Köpfe der kleinen lauten Italiener hinweg. Höher als alles Volk und seinem Qualm entrückt, blickte der heilige Bischof – und sein steinernes Chorhemd flatterte – auf die im Hafen leis knarrenden Lastbarken hernieder. Da entstand auf einem der Schiffe Bewegung und Lärm: die Finanzwache zerrte einen Schmuggler aus seiner Kajüte hervor. Seine Miene war von Wut ganz zerrissen und blutig rot; er hatte die heisere Stimme eines Kettenhundes. Unversehens erschlafften seine Züge, und es war deutlich, daß er innerlich zusammenfiel.

»Warum freuen alle sich? Es ist doch traurig«, sagte Lina. Grete war wieder da, und sie lachte noch.

»Wenn das nicht komisch ist!« brachte sie hervor. »Was man heute alles sieht!«

Der junge Mann erklärte:

»Worauf man achtet und worüber man lacht in solcher Volksmenge, das ist immer traurig. Das andere fällt keinem auf. Ereignisse sind traurig.«

Lina sah ihm in die Augen und schüttelte dabei, kaum merklich, den Kopf; dann richtete ihr Blick sich, gerade und sicher wie ein Vogelflug, auf das andere Ende des Platzes.

»Dort unter dem Turm die Frau küßt das Kind, das sie trägt. Sie weiß nichts weiter, ist weit fort mit dem Kind und küßt es nur immer.«

»Niemand sieht es. Ein Haufe aber umsteht jene andere, gleich neben dem Brunnen, die ihr Kleines schlägt. Sie kann kaum noch, und sie sieht haßerfüllt aus. Hören Sie den Jubel?«'

Lina senkte den Kopf.

»Ich tue Ihnen weh«, murmelte er.

»Nein. Ich bin nur traurig für Sie.«

»Warum? Sehen, was ist; das macht stolz genug.«

»Ich möchte, daß Sie das andere sähen: das, was sein könnte und im Grunde auch ist.«

»Also Träume. O wie gern ich in sie flüchte! Jetzt werden wir die Lange Straße hinansteigen, das holprige Pflaster mit den Marmorfliesen darin; und zu beiden Seiten schlummern die bröckelnden Paläste. Die Säulen der Portale ragen vor den halbrunden Fassaden; Rosengestrüpp fällt über die Türen; in den spitzbedachten Fenstern lauert es schwarz, hinter knotigen Eisengittern; das Lämpchen unter dem Madonnenbild an der Ecke funkelt. Da sind wir. Wie manche Nachtstunde – denn ich schlafe nicht – stehe ich mit verschränkten Armen im Schatten dieses Tores und erträume mir ein glänzendes Ausundein von Menschen mit freien, edlen Geistern, leicht und klar wie die Farben, in die sie gekleidet sind, biegsam und stark wie ihre Klingen. Keine Dürftigkeit, kein Schmutz und nichts Fragwürdiges ist in den Seelen; alles verläuft rasch und gut. Welch Leben!«

»Das meine ich nicht.«

»Ich weiß. Es ist eine opernhafte Verzauberung, aus der das Elend der Mimen durchbricht, und die nichts ändert.«

»Ich meine nicht, die Menschen verkleiden, sondern sie einfach lieben, mitten im Wochentag. Können Sie das nicht? Tun Sie's! – und ich weiß gewiß, Sie werden gesund werden.«

»Wo bleibt Fräulein Grete?« fragte er unruhig. Lina hatte einen Schmerz gespürt, sie wußte nicht welchen.

»Wir wollen warten«, sagte sie sanft. Er hatte sich besonnen.

»Nein, nein … Zuerst gesund werden. Dann vielleicht würde man die Menschen lieben? Aber ich kann mich nicht umdenken. Ich fühle mich selbst nicht rein und vermag ebensowenig vom Schmutz der anderen abzusehen. Ich habe die beständige, verstehen Sie, die beständige nahe Empfindung des Stoffes, aus dem wir gemacht sind. Ich höre nicht von der Tat eines Großen, ohne mich zu erinnern, daß hier wieder mal in einem Gemengsel aus Eiweiß, Fett und Wasser – hauptsächlich schmutzigem Wasser – unfreiwillig etwas entstanden ist, das wir Geist nennen. Unsere Gerüche, ein animalischer Blick, die Bedürfnisse unserer Sinne: alles beleidigt mich bis zu Tränen; und komme ich, wie jetzt, aus einer Menschenmenge, möchte ich mich zu meiner Reinigung hier an der Landstraße in den frischen Kot legen.«

»Sagen Sie alles!« Lina sah, angstvoll atmend, geradeaus. »Sagen Sie alles!«

»Ich schäme mich vor Ihnen«, murmelte er. »Ich habe nichts erlebt. Daß man krank ist, ist das ein Grund zum Menschenhaß? Gleichwohl schmecke ich nur Bitternis, fühle nur Härten, sehe nur Düsteres. Sie ganz allein, Lina, lassen mich das Gute erleben: als habe alle, alle Güte des Menschengeschlechts sich in Ihre einzige Gestalt zusammengezogen! Aber ach, das Gefühl der Besserung, das Sie uns gewähren, täuscht uns; allesamt sind wir unheilbar. Wir wohnten soeben drei, vier Verbrechen bei, ebenso vielen Mißbräuchen der Macht und der Roheit eines Volkes, und haben doch nur einen Gang durch eine Kleinstadt gemacht. Bedachten Sie einmal, welch ein entsetzliches Zeugnis die Notwendigkeit einer Gesellschaft, einer Religion der Menschheit ausstellt? Das Tier, das Ketten braucht; das nun schon krank, verderbt und armselig ist und doch noch mit letzter Kraft dem Nebentier an die Kehle springen würde: wie es mich demütigt, wie es mich reizt! Rufen Sie sich die Gebärden der kleinen staubigen Hausfrauen zurück, die unter den Steinlauben um Pfennige kämpften: wie jedes dieser dürftigen Wesen als der Feind aller umherstrich, von niemand wissen wollte als von sich! Sie glauben nicht? Fragen Sie sich, was irgendeine vorgezogen hätte: einen Nickel zu wenig herauszubekommen, oder daß der, der ihr ihn schuldete, tot umfiele! Waren ihre Triebe nicht ganz so energisch? Dann war's Müdigkeit, nicht Güte.«

›Wie unglücklich er sein muß!‹ dachte Lina.

»Von dem Nickel lebt eins ihrer Kinder«, sagte sie. »Neulich kam zu uns eine Korbflechterin mit vier Kindern: eine, die immer auf den Straßen umherzieht. In der Küche fiel sie um; ich meinte, sie stürbe. Es war ein zweitägiger Hunger. Ihre Kinder hatten am Morgen etwas gegessen.«

Der junge Mann verzog das Gesicht, als wollte er nicht hören.

»Sie müssen hören; auch ich habe Sie angehört … Aber nun – Sie werden mich verspotten – weiß ich auf einmal nicht mehr, was ich sagen soll. Das Böse des Menschen kann man wohl aussprechen; seine Güte ist unsagbar und dabei so tief gewiß. Das Böse ist nur obenauf; es geschieht nur, weil man nicht achtgibt, sich nicht bedenkt: aus Lässigkeit, durch Irrtum. Ja, wenn ich jemand böse handeln sehe, drängt es mich jedesmal, auf ihn loszugehen und ihn daran zu erinnern, wer er ist; ich meine immer, er muß dann stutzen, erschrocken lächeln und umkehren. Wäre ich stärker! Manchmal scheint es so leicht; ich fühle mich merkwürdig frei, bin nicht mehr ein einzelnes Mädchen, die Tochter eines Winzers; mit allen Menschen eins bin ich; mit meinem einen Herzen wünschen alle die Vielen sich die Erlösung ihrer Güte, und alle die Herzen drängen mich, zu handeln, für sie alle zu handeln. Wie ich mich danach sehne! – und weiß mir doch keine Tat und kann nur weinen; weinen, weil ich so schwach bin und das Unbekannte, wonach es mich drängt, nie erreichen werde … Aber nicht von mir wollte ich sprechen. Sehen Sie dort noch eins der armen Geschöpfe herankommen, die Sie hassen wollten?«

Zwischen den Gartenmauern näherte sich watschelnd eine dicke, grausträhnige Matrone, hielt mit fetten schlaffen Händen ihren Henkelkorb und spähte trüb und mißtrauisch nach den beiden aus, die ihr entgegenkamen.

»Ich kann das nicht lieben«, murmelte der junge Mann.

»Sie kennen sich selbst nicht«, erwiderte das junge Mädchen.

Die Alte ging vorbei mit ihrem bedrückten und emsigen Gang, plump trippelnd; und ein Geruch nach Zwiebeln, Rauch und armen Kleidern stand in der Luft, durch die sie gekommen war.

»Haben Sie bemerkt, wie sie meinen Blick erwidert hat? Gehässig, diebisch, feig und böse; dann aber traf sie den Ihren! Und da entstand in ihrem Nagetiergesicht die ganze dümmliche Seligkeit, mit der die Pfründnerinnen einer erhobenen Hostie folgen … So sind wir gerichtet, Lina, und das Urteil ist gerecht.«

Er mußte stehenbleiben und husten. Inzwischen traf Grete Pinatti ein.

»Sie sollten mehr schwimmen und rudern, Herr Roland. Wozu sind Sie denn hergekommen?«

»Wenn mich solche Unterredung mit Fräulein Lina nicht gesund macht, werden auch Rudern und Schwimmen es nicht tun.«

Grete legte ihr dickes, rotes Gesicht nach oben, was wegwerfend aussah, griff an ihren kupferblonden Haarknoten und fing an, mit Lina so rasch italienisch zu reden, daß der Deutsche nicht mitkam. Wie sie an einer der Mauerpforten vorbeigingen, ward sie geöffnet, und Linas Vater kam heraus.

»Wie geht's denn? Mein lieber, lieber Herr Roland?« Er fing Rolands beide Hände in seine warme Rechte ein. »Es ist doch schön!« Und die tiefen blauen Augen des alten Herrn durchwanderten segnend und nicht ohne Pathos die Berge über den Mauern, den Himmel über den Bergen, den Wein im Garten, die Ölbäume auf den Hügeln: das Land und die Welt. Der junge Mann betrachtete ihn spöttisch.

»Und die Menschen erst!« ergänzte er.

»Gewiß! Und wir werden schon noch einer Meinung werden!«

Aber im Augenblick interessierte Grete Pinatti ihn mehr. Er umfaßte den Arm des hübschen Mädchens, und mit kleinen, vorsichtigen Schritten – denn der schwere Körper versagte sich der Begeisterung des Kopfes – ging er auf sie gebeugt und unter zärtlichem Kneten ihres Armes mit ihr weiter. Lina und Roland gewannen einen Vorsprung. Der Vater rief sie zurück und griff mit sichtlicher Besorgnis in ihr Gespräch ein, das ihm zu vertraulich schien. Er ließ Grete los, so sehr mißfielen ihm die angeregten Augen der beiden jungen Leute; stellte sich vor seine Tochter, um sie Roland zu verdecken; tanzte förmlich bei jeder Wendung des andern. Roland dachte: ›So handelt kein Philosoph und kein Verehrer der Menschheit. So benimmt sich ein ehemaliger Lebemann, dem jetzt in ländlicher Muße die Zähne ausfallen, aber der in Erinnerung an die eigene Blüte keinen Mann neben seiner Tochter sehen kann, ohne ihn zu fürchten.‹

»Sie entschuldigen, mein Lieber, ich habe mit meiner Lina etwas zu besprechen; dafür überlasse ich Ihnen die schöne Grete.«

»Der Alte merkt es schon«, raunte Grete, hinter den beiden andern. »Sie sind in Lina verliebt.«

»Kommen Sie in die Badehütte!«

»Bestellen Sie Lina hin!«

»Ich muß Sie sehen, Sie wieder küssen!«

»Geben Sie doch acht! Unsere Schatten sind uns voraus; man kann sehen, was Sie tun!«

»Sie ahnen nicht, wie es mich verzehrt; und am meisten in den Augenblicken, wo Sie mich für untreu halten. Lina möchte in mich, ich weiß nicht was für eine große Sehnsucht, was für übermenschliche Güte pflanzen; aber alles, was entsteht, ist der Wunsch, Sie zu haben, der Drang, Ihnen zu geben.«

»Ich verstehe nichts und glaube nichts. Lina ist schön und liebt Sie.«

»Liebt mich? Auch die heiligen Frauen lieben ihre Gläubigen; aber es sind ihrer zu viele. Diese Liebe verteilt sich über das Weltall und stillt keinen. Und schön? Ist sie schön? Ich weiß nicht. Mir scheint, sie hat das lange, durchsichtige, allzu seelenvolle Gesicht der Verwachsenen. Ihr Rücken ist zwar nicht erkennbar mißraten …«

»Lina verwachsen?! Sie sind lächerlich! Übrigens haben Sie selbst noch heute von ihrem Gang geschwärmt.«

»Mag sein. Mir kommt es vor, als müsse die äußerste Seelenschönheit den Körper geradeso verkrüppeln wie die letzte Bösewichterei. Lina ist mir unheimlich; ich kann sie nicht begehren.«

»Lina ist sehr gut und sehr lieb, und ich leide nicht, daß von meinen Freundinnen schlecht geredet wird.«

»Weil Sie ein anständiges Geschöpf sind.«

Er dachte: ›Ein gewöhnliches Geschöpf, nicht ohne träge Gutmütigkeit; und ein solches will ich.‹ Laut dachte er weiter:

»Ich wäre natürlich größer, wenn ich Lina lieben könnte. Aber Sie dürfen ganz ruhig sein: es geht nicht.«

Grete klappte zornig den Fächer zusammen und machte zwei raschere Schritte.

»Wir werden uns niemals verstehen«, sagte sie stark; und leiser: »Baden Sie nur allein!«

»Sie werden kommen«, murmelte der junge Mann eindringlich.

Der alte Clemens blieb vor dem Eingang in sein Besitztum stehen; er rief den Nachkommenden entgegen:

»Inwiefern werden Sie sich nie verstehen, meine Lieben?«

»Fräulein Grete«, sagte der junge Mann, »forderte mich auf, zu ihr zu übersiedeln, in das Hotel ihres Vaters. Ich erklärte, lieber im Dunkel der Langen Straße zu bleiben. Auch hänge ich an meinen nächtlichen Gewohnheiten und an dem Gang unterm Sternenhimmel, jene Hügel hinan. Von allen Seiten, in vielen Hügelfalten rauscht das Land, ein großer, mit Goldflämmchen bestickter Mantel, vom Tal auf. Durch die mondgrauen Schleier aus Öllaub schwebt ein merkwürdig einsamer Glockenklang. Wie hell und gespannt man dabei wird, ganz zusammengezogen auf sich: endlich ledig aller Bedrängnis durch Menschen, aller Verzettelung an Menschen.«

»Schlechte Gewohnheiten haben Sie da, lieber Freund. Glauben Sie mir, es ist das Gesündeste, Vorteilhafteste für uns selbst, wenn wir uns an andere verschenken.«

»Also wäre die Menschenliebe nicht uneigennützig? Ich dachte, Sie täten es um des bedürftigen Kranken willen, daß Sie ihn als Gärtner anstellen; um der Bauern, Ihrer Nachbarn willen, daß Sie ihnen eine Kooperativgenossenschaft gründen.«

Der alte Herr errötete hell.

»Die Menschen zu fördern und von ihnen geliebt zu werden, gewährt Selbstgefühl und verschafft Einfluß; ich weiß. Glücklicher als wir sind andere, denen nie das Leben ihre natürliche Güte halb erstickt hat und die sich nicht dem Schutt mit Mühe entwinden müssen: ihnen ist es leicht gemacht.«

Er faßte, ohne sie anzusehen, seine Tochter bei der Hand.

»Jung sein und in einem Olivenhain leben«, sagte Roland.

»Wir dagegen«, schloß Clemens, »müssen uns durch Lockspeisen dahin bringen, das Gute zu tun und Wohlwollen zu hegen. Nicht immer gelingt es. Sie werden mich besser kennen, mein Lieber, als ich mich selbst kenne, und ich bitte nur, beurteilen Sie mich gnädig. Adieu, adieu.«

Er kehrte nochmals um.

»Lina würde natürlich nicht so allein zur Stadt gehen; aber ihre Erzieherin, wissen Sie, ist im Urlaub, und Bewegung muß das Kind doch machen. Es ist erst fünfzehn, lieber Freund …«

Der Vater bat um Schonung.

»Da schauen Sie die Grete: bloß um ein Jahr älter, aber schon ein strammer Kerl!«

Der junge Mann sah nur, daß Lina errötet war; der Alte aber gab Grete zornige Zeichen mit den Augen, sie solle doch dableiben. Sie lachte, dankte für die Begleitung und tat, als wolle sie nach Hause eilen. Roland empfahl sich; Clemens folgte zaudernd seiner Tochter. Wie sie in der Mitte der langen Weinlaube sich nach dem Vater umsah, stand er bei den Mauerpfeilern des Eingangs mit Grete. Lina wandte rasch die Augen weg; sie war nochmals rot geworden.

Ihr erstes Erröten war geschehen, weil ihr Vater gelogen hatte. Nicht nur verreist war die Erzieherin; sie hatte gehen müssen, weil Linas Vater ihr nachstellte; und Lina litt noch unter dieser Trennung und ihrer Ursache.

›Papa lügt vor den Bauern, vor den Kunden, sogar vor Leuten, die ihn nichts angehen – sehr oft; und doch ist er der edelste Mensch, der an den Sieg der Wahrheit glaubt und mich daran zu glauben gelehrt hat. Er ist gut … Er ist gut!‹ beteuerte sie sich erregt. ›Er hat den kranken Gärtner gefördert. Der armen Korbflechterin neulich gab er mehr Geld, als er entbehren konnte; denn er ist nicht reich geworden. Wie kann er also zu eifrig auf seinen Vorteil bedacht gewesen sein? Ich weiß: manchmal verhärtet er sich. Warum mußte er Mama so unglücklich machen, ehe sie starb? Er sagte: Mama sei zu krank, eine schwerkranke Frau gebe dem Manne nichts, er schulde ihr keine Treue …‹

Lina erschrak, wie sie sich das wiederholte.

›Mamas Seele war doch damals noch da! Derselbe Papa konnte so denken, der die Mägde nicht ins Spital schickt, der sie selbst pflegt! Ist er gut oder böse?‹

Lina ging, den Kopf gesenkt, am Wohnhause vorbei, das Maisfeld entlang, unter den Kakibäumen hin. Jene andere Dame fiel ihr ein, die einst, kurz nach Mamas Tode, im Wohnzimmer lag und weinte. Lina senkte den Kopf tiefer. Nun stand Papa dort hinten schon wieder mit Grete. Lina sah im Geist einen Herrn aus der Stadt vorbeigehn und lächeln. Sie hörte, wie sie's schon einmal gehört hatte, mehrere Bauern, kaum daß sie weit genug fort waren, ihrem Vater fluchen. Sie schüttelte sich: nein, nein! Vieles, was ihr Vater tat, geschah nur wider seinen Willen, wider sein Herz. Er war aus der großen Welt entflohen, hatte die Einsamkeit, die Wahrheit und sein Herz gesucht – und er selbst war er nur, wenn er Menschen beglückte, wenn er seinem Kinde von einfacher Güte und natürlicher Alliebe sprach!

Lina schloß das Gartenzimmer auf, worin sie ihre Tage verbrachte, die Bücher führte, am Schalter die Käufer und Verkäufer empfing. Sie setzte sich und schrieb an ihre Erzieherin.

»Nun mußt auch Du bekümmert sein. Wie mich Deine Worte traurig gemacht haben, ganz traurig. Sicher ist's nicht wahr, daß immer die Straße dunkel ist und das Ende, der Tod, noch dunkler. Wie wertlos wäre es da, zu leben! Welche Aufgaben blieben uns! Und wir haben doch große Aufgaben; der Unbedeutendste unter uns kann für Großes erwählt sein. Glaubst Du das nicht, Maria? Ich fühle es so tief; weiter weiß ich nichts zu sagen. Wohl trage ich vieles im Sinn, aber es ist ein unerklärliches Labyrinth. Warst Du einmal in solch einem Zustand? Wünschen will ich ihn Dir nicht, denn oft ist er quälend, und man muß sich zusammennehmen gegen dies ewige Träumen.«

Lina stützte den Kopf in die Hand und regte sich nicht. Endlich schrieb sie weiter.

»Lies diesen Brief ruhig, Maria; ruhig und still und langsam, wie ich jetzt denke. Ich bin allein, und es ist ein wohliges Gefühl in mir, ich weiß nicht woher. Wir haben einen Gang gemacht, Grete und Herr Roland und ich. Herr Roland spricht sich jetzt freier aus; ich erkenne, daß er ein sehr guter Mensch ist, der darunter leidet, daß er nicht glauben, seine eigene Güte nicht gewähren lassen kann. Wie gern ich ihm helfen möchte! Welche Aufgabe wäre dies! Und doch möchte ich nicht vorwärts, nichts erleben. Wie wunderbar! Denke ich an Schmerzen, an Dinge, die weh taten, ist's wie ein duftiger Schleier vor mir, daß alles ruhig aussieht; und denke ich an Freuden, vergangene oder künftige, kommt mir nur ein stilles Lächeln.«

Alles war gut; Roland irrte; nur guten Menschen war Lina begegnet. Da fiel ihre erste Bonne ihr ein; jene, die sie gegen ihre Eltern aufgehetzt, die Eltern verleumdet, sich durch verbotene Vergnügungen bei ihr eingeschmeichelt, sie zum Belügen der Eltern angehalten hatte. Was für ein grauenvolles Leben damals! Das Kind, durch immer neue Verbrechen an die Verführerin gefesselt, war mit Schrecken zu jedem neuen Tage erwacht, war dumpf und sich selbst unheimlich, den Eltern ausgewichen. Als die Bonne fortging, hob sich der Alp, und bald war alles vergessen. ›Nie habe ich daran gedacht, zu gestehen und zu bereuen. Wie ist das möglich! Mama ist gestorben in dem Glauben, ich habe sie immer lieb gehabt; Papa glaubt es noch und ahnt nicht, welch schlechtes Kind ich einst war und daß ich ihn hundertfach belogen habe. Und über ihn mache ich mir Gedanken! Möchte ihn richten! Oh, er muß sogleich alles erfahren!‹

Draußen hingen die Pappeln voll Abendröte; der See grollte noch; das Ende der Wege verlor sich schon in Dämmerung, und die Hüter der Weingärten auf entfernten Hügeln begannen einander ihren klagenden Ruf zu senden. Clemens stand im Maisfelde, hatte einem verspäteten Arbeiter die Hand auf die Schulter gelegt und redete liebevoll auf ihn ein. Er kam zu seiner Tochter.

»Er wird morgen schon um fünf anfangen und andere mitbringen. Wie leicht die Menschen zu behandeln sind, wenn man gut mit ihnen ist! Laß unsere Mädchen bei der Bootstreppe baden! Nur nicht in der Hütte; die Leute sind schmutzig.«

Lina hatte nichts gehört. Sie schluckte trocken hinunter und begann ihr Geständnis. Der Vater sah sie im Halbdunkel bleich wie Nebel, mit den angstvoll erweiterten Augen, zum Umsinken erregt. Rasch legte er beide Arme um sie her, im Drang, sie zu erwärmen, ihr Kraft mitzuteilen.

»Mein Kind, mein armes, gutes Kind, das sind uralte Geschichten, die zu der Lina von heute gar keine Beziehungen mehr haben. Wenn wir so weit zurückrechnen wollten, was bliebe von uns allen übrig! Du bist zu gut, zu fein; man kann sich schließlich schaden!«

Und durch stürmisches, unermüdliches Herzen seines Kindes suchte er die eigene Furcht niederzudrücken. Aber sie stieg auf. Hatte er recht getan, der Welt, deren er selbst überdrüssig geworden war, auch dies Kind zu entziehen? Sie einsam und zu einer Ausnahme zu machen? Ihr Ideale aufzupfropfen, unter deren Früchten ihre schwanke Seele zu brechen drohte? ›Sie ist überzarten Herzens schon von ihrer Mutter her. Wie sie zittert! Wie sie sich peinigt!‹

»Lina, gute, liebe Lina, sag doch nicht mehr, daß du böse seist. Du weißt ja nichts, kennst nichts, kannst nicht ahnen, welch ein Engel du bist! – Wir wollen ins Haus gehen und essen. Mein Töchterchen ist lieb und gut.«

Die Worte, die er wiederholte, halfen ihm über seine Besorgnisse hinweg. Er blickte umher, machte heitere Bemerkungen. Plötzlich, zorngerötet:

»Ah! Das Mistvieh! Die hat's! Die hat's!«

Vor dem Drahtgitter des Hühnerhofs lag eine tote Ratte.

»Dich will ich lehren, Eier stehlen. Neulich bin ich wahrhaftig darüber zugekommen, wie eins dieser Viecher auf dem Rücken lag, ein Ei zwischen den Pfoten, und die andere zog es am Schwanz fort, wie einen Karren. Schlau seid ihr; aber wir sind auch nicht dumm. Diesmal war Strychnin in der Polenta; das wirkt besser als Arsenik. Da schau, kaum einen Brocken hat sie fressen können.«

Lina erschauerte, in ihr sprach es: ›Auch Roland wird sterben.‹

»Ich kann das nicht sehen«, stammelte sie. »Wenn du mich lieb hast, Papa, tue das nie wieder!«

Sie konnte nicht essen, konnte nicht schlafen. Sie lag auf ihrem Schlafdiwan an der Brüstung der offenen Veranda. Die schwüle dunkle Luft schlug in langsamen, schweren Wellen zu ihr herein; und ihre Gedanken schwammen auf den ebbenden Wellen angstvoll in die Nacht hinaus. Die Zypressen vorm Hause knarrten. Vom See kam das Kreischen der badenden Mägde. Dann und wann strich eine Fledermaus im Zickzack über Linas Bett hin. Lina suchte nach Trost. ›Auch ich bin schlecht; auch ich kann ohne die Wahrheit leben; und alles wäre verloren, wenn nicht Roland wäre! Ihn retten, rettet auch mich!‹ Der Gedanke erfüllte sie mit Seligkeit. Sie hing ihm lange nach, drehte sich oftmals seufzend herum. Da fiel ihr ein: ›Mein Gott, warum grade ihn? Warum nicht ebensogut jenen dem Trunk ergebenen Vater des Ladenmädchens bei Bertanza? Und die Frau, die ihr Kind schlug? Und den Knaben, der stahl, und alle übrigen, und die sorgenvolle, mißtrauische Matrone, die uns auf der Landstraße entgegenkam? Wie liebenswürdig sie war! Warum steht vor meinem Sinn nur der eine Hilfsbedürftige?‹

Ihr war der Kopf schwer. ›Das ewige Träumen!‹ dachte sie. Ein Gefühl innerer Fülle bereitete ihr Qual; die Gelenke waren empfindlich, sie mußte immer hintasten; und ihre Unruhe wuchs und wuchs.

Sie erhob sich und stieg in ihrem Hemd die Freitreppe hinab. Grüngoldene Lichtchen durchirrten die Luft und stirnten Weg und Wiese. Die lange Weinlaube war wie in Feuer gefaßt. Nun glühte es schon in Linas hängenden schwarzen Flechten. Wo sie vorüberkam, erwachte leis in den Büschen ein Zwitschern und Girren; schallend zirpte es auf den Feldern und quakte es in den Gräben; singende Menschenstimmen drangen von den Schenken am See und aus Booten zu Lina; und der Garten, den sie durchwanderte, war erfüllt von Millionen Wesen, die sie begrüßten, ihre Wangen streiften, Liebe von ihr heischten. »Euch alle hab ich lieb«, stammelte sie; und dabei war vor ihrem Sinnen das Bild des einen. Sie glühte im Dunkeln, seufzte und irrte umher, verstört, peinvoll und selig. Der Scheinwerfer, der die Ufer des Sees nach Schmugglern durchsuchte, schoß von Zeit zu Zeit sein grellweißes Licht durch den Garten. Einmal verweilte es eine Sekunde auf Lina; und sie legte die Augen in die Hand und fühlte ihr Gesicht noch heißer werden.

Sie gelangte zur Bootstreppe; die Mägde waren fort; und da streifte sie, aufseufzend, das Hemd ab und stieg ins Wasser. Welche Erleichterung! Wie sie sich geborgen fühlte in der dunklen Flut, unter dem dunklen Himmel! Sie stand vor der Weidengruppe, tauchte, übers Wasser gebückt, die Brüste ein und ließ den Seewind ihren Nacken bestreichen. Plötzlich richtete sie sich hoch auf, warf den Kopf zurück und reckte, mit einem jubelnden Stoß, beide Arme gen Himmel.

Da machte der Strahl des Scheinwerfers eine jähe Wendung und traf grell die Badehütte. Lina hörte einen Schrei; erschreckt fuhr sie herum. Die Hütte lag schon wieder, kaum erkennbar, im Dunkel, auf dem Ufervorsprung, am andern Ende des Gartens.

›Was habe ich gehört? Das war Gretes Stimme! Was tut sie hier?‹

Auf einmal sah sie Gretes Gesicht wieder, als Grete von Roland die Frucht haben wollte, die Lina ihm geschenkt hatte; hörte sich selbst sagen: »Geben Sie sie ihr!« und ward bei der Erinnerung von Zorn und Angst ergriffen. Sie erblickte Grete neben Roland auf der Landstraße, und wie er sich zu ihr neigte; fühlte sich von neuem in solcher Unruhe, wie sie's die ganze Zeit gewesen war, als die beiden hinter ihr und ihrem Vater zurückblieben.

›Er ist bei ihr! Sie sind aus dem Nachbargarten herübergestiegen und sind nun beieinander in der Hütte!‹

›Ist es möglich? Solche Gedanken kommen mir? Was geschieht mit mir? Mein Gott!‹

Sie flüchtete. Sie ergriff ihr Hemd und flüchtete in das Gebüsch hinein.

›Dennoch war es ihre Stimme!‹

›Oh, ich bin schlecht! Wenn ich nun hingehe, mich beschäme und alles leer finde: was wird aus mir?‹

›Ach, lieber jede Scham als diesen Zweifel!‹

Immer wieder trat sie, näher oder entfernter, an den Rand der Büsche und spähte nach der Hütte aus. Immer wieder entfloh sie. Endlich stand sie nahe genug, um die beiden Stimmen zu unterscheiden.

»Ganz gewiß liebst du nur mich und nicht Lina?« fragte Grete; und Roland sagte:

»Ganz gewiß nur dich.«

Lina kehrte um. Sie lief nicht mehr; sie achtete nicht mehr auf den Weg, stieß sich an Kieseln die Füße wund, zerriß sie sich an Dornen.

›So steht's mit mir: ich liebe einen Mann, das ist alles; und der liebt nicht mich … liebt nicht mich … liebt nicht mich.‹

»Was willst du?!« schrie sie zornig los, als ein großer Vogel, im Gebüsch plump aufflatternd, gegen ihre Hand schlug.

»Du liebst mich nicht! Ihr alle liebt mich nicht!« sagte sie, weh und wund, zu den Tieren, die raschelten oder riefen oder leuchteten. »Was wollt ihr von mir? Auch ich liebe euch nicht … Wie die Betrunkenen schreien!«

Ihr erschienen alle die zerstörten, fahlen oder blauroten Gesichter, mit der Flamme des Alkohols in den Augen. Sie sah wieder die gierigen, ungütigen, grausamen und stumpfen Mienen der Menschen, an denen sie heute in der Stadt vorübergegangen war. Das alles lebte dahinten weiter, war häßlich, krank und böse; denn das war es; – ›und ich bin hier und bin dasselbe kleine Mädchen, das auf sie zugehen wollte und sie durch ein Wort zur Einkehr bringen und gutmachen. Welch eine Närrin ich war! Güte? Liebe? Es gibt keine! Mein Vater ist böse. Ich bin böse. Böse sind jene beiden dort hinten. Keine Tat keines Helden vermöchte uns alle zu erlösen. Nur mein ewiges Träumen ist schuld, daß ich es glaubte – glauben konnte, mit meinem einen Herzen wünschten alle die vielen sich eine erlösende Tat. Denn es gibt keine!‹

Sie stieß gegen etwas, das klapperte, und erkannte den Teller mit der vergifteten Polenta.

›Das ist's: eine dunkle Straße, und das Ende, der Tod, noch dunkler.‹

Dabei warf sie sich, aufschluchzend, auf den Ackerrand; und zusammengekrümmt unter ihren Haaren, die Stirn in der schwarzen Erde, weinte sie. Mattes Fächeln ging über sie hin; die Erde unter ihr duftete faul; die Zypressen vor dem Hause knarrten, kurzatmig klappten in der Ferne die Wellen ans Land.

Lina lag schon längst ganz still. Etwas schrill und fein Pfeifendes kam an ihrem Ohr vorbei. Sie zuckte leise zusammen. Eine Weile später richtete sie sich auf und sah eine Ratte bei dem Teller mit dem Gift. Lina klatschte in die Hände, das Tier lief weg.

›Wie schrecklich! Kaum ist die erste fortgeschafft, und schon geht eine zweite in den Tod. Der Tod hockt dort am Boden und wartet; und sie kommen zu ihm. Ich mag in die Hände klatschen: sie kommen wieder. Ich mag den Teller wegnehmen: es wird ein anderer hingestellt.‹

Die Ratte wagte sich nochmals herbei: mißtrauisch, ruckweise stehenbleibend und umsichtig weitertrippelnd, mit dem bedrückten, emsigen und plumpen Getrippel einer armen Matrone, die daheim viele hungernde Mäuler zu stopfen hat. Lina sah: dies war jene graue Matrone von der Landstraße! Lina schnellte empor; und obwohl ihre Lippen fest geschlossen blieben, glaubte sie durch dies Emporschnellen einen Jubelruf ausgestoßen zu haben.

»Ihr sollt nicht sterben! Nicht unerlöst sollt ihr sterben!«

Sie stand da, in ihrem Hemd und ihren Haaren, auf ihren nackten Füßen, vor dem schwarzen Acker und umglüht von grüngoldenen Lichtern. Eine himmlische Leichtigkeit und Helle war in ihr; sie fühlte sich ganz frei, alle Glieder gelöst, und dehnte sie langsam, wie zum Auffliegen. Den Fuß schon erhoben, sah sie sich mit einem strahlenden und dennoch schamhaft zärtlichen Lächeln nochmals um. Hinter ihr war, in märchenhaftem, grüngoldenem Leuchten, ein unabsehbarer Zug von Menschen. Die kleinen Hausfrauen aus den Steinlauben waren da und die Schiffer; der Schmuggler, der Dieb und der Trunkene; und die Frau, die ihr Kind schlug, vereint mit der, die ihres küßte; und Linas Vater; und, Schulter an Schulter, Grete und Roland.

Lina setzte den Fuß an. Sie tat einen gleitenden Schritt, einen strengen und heiteren Tanzschritt. Sie gelangte zu dem Teller, hob ihn mit einer glücklichen, raschen Bewegung vom Boden und führte einen Bissen an die Lippen.


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