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Vierte Abteilung


 

1.

Helene war seit einem halben Jahre in Yvranches und die Schwierigkeiten, die sie bei ihrer Ankunft vorauszusehen vermocht, hatten sich, eher ihre Vermutungen übertreffend, als hinter selben zurückbleibend, eingestellt.

Kärglich war die Einschreibung von Schulkindern bei ihr ausgefallen, so zwar, daß es, wenn sie nicht kleine Engländerinnen, Töchter protestantischer Arbeiter in einer Nadelfabrik gehabt hätte, sich kaum gelohnt haben würde, ihre Schule zu eröffnen. Im Ganzen hatte sie achtundzwanzig Schülerinnen, wovon zehn auf Gemeindekosten den Unterricht erhielten; die anderen waren Töchter von Bauern, Handwerkern und Handelsleuten.

Während sie in ihrem Lehrzimmer vergeblich auf einen Zuwachs von Schulkindern wartete, hatte sie auch noch das Herzeleid, die bei den Schulschwestern eingetretenen, singend, an ihrem Schulhause vorüberziehen zu hören, nach der Kirche hin, wo der Abbé Perichard das Hochamt hielt, um den göttlichen Segen auf sie herabzuflehen.

Wenn sie auch nicht auf den Platz hinab blickte, so erkannte sie aus den Stimmen, wie zahlreich sie waren; überdies erteilte ihr, als sie zum Frühstück in ihre Wohnung hinaufging, die Großmutter in dieser Hinsicht genaue Auskunft:

»Die Kinder der Schulschwestern sind in feierlicher Prozession vorübergegangen.«

»Ich habe sie gehört.«

»Und ich habe sie gezählt; es sind ihrer einhundertsechsundzwanzig. Das ist ein Unterschied; ja, das kommt davon wenn man sich mit den Geistlichen auf einen feindlichen Fuß stellt. Alles, was in Yvranches zu den besseren Ständen gehört, ging singend mit; es war schon prachtvoll!«

Einhundertsechsundzwanzig Schulkinder mit alldem, was zu den besseren Ständen in Yvranches gehörte, einerseits; achtundzwanzig Schülerinnen mit alldem, was nichts zählte, andererseits; die Nonnen konnten auf diesen Sieg stolz sein.

Trotzdem waren sie dadurch keineswegs befriedigt; sie wollten auch diese achtundzwanzig Schülerinnen der Gemeindelehrerin nicht belassen.

Eines Tages, kurze Zeit nach der Wiederaufnahme des Unterrichtes, traf eine dieser achtundzwanzig Schülerinnen zur Lehrstunde nicht ein. Helene bedurfte keiner besonderen Achtsamkeit, um sofort einen Abgang zu bemerken.

Die Fehlende war die Tochter eines Fleischhauers, ein munteres, frisches Ding von elf Jahren, das von Gesundheit strotzte.

»Wißt ihr, wo Jeanne Chapoteau ist?« fragte Helene.

Zehn Stimmen antworteten gleichzeitig:

»Nein, Fräulein.«

»Ist sie krank?«

Alle diese Stimmen, die so schnell einen Bescheid gegeben, verstummten augenblicklich; die kleinen Mädchen senkten die Köpfe und sahen einander verstohlen an, indem sie eine gleichgiltige Miene anzunehmen suchten.

Endlich ließ sich eine von ihnen vernehmen:

»Ich weiß es nicht, Fräulein.«

Und sofort fielen zehn andere ein:

»Wir wissen es auch nicht, Fräulein.«

Helene war nicht arglos genug, um sich durch diese Antworten und unschuldigen Mienen hintergehen zu lassen: gewiß steckte etwas dahinter. Doch war sie auch zu klug, um nicht geradezu auf Auskunft über etwas, das ihr von keinem Nutzen war, zu dringen.

Nach Beendigung des Unterrichtes verfügte sie sich zu dem Fleischhauer Chapoteau, um selbst, unmittelbar, Erkundigungen einzuziehen.

Seine Frau war im Laden, eben daran, ein Stück Fleisch herunterzuhauen; sowie sie Helene eintreten sah, wäre ihr bald das Hackmesser aus der Hand gefallen; doch machte sie sich wieder an ihre Arbeit, ihr Gesicht so wenig als möglich Helenen sehen lassend:

»Sogleich, Fräulein, stehe ich Ihnen zu Diensten,« sagte sie.

Übrigens beeilte sie sich durchaus nicht und fing, nachdem sie das Fleisch abgewogen, ein ganz belangloses Geplauder mit ihrer Kundschaft an, wie wenn sie nur Zeit zu gewinnen bezweckt hätte. Dennoch trat ein Augenblick ein, wo sie sich an Helene wenden mußte.

»Ich habe heute,« sagte diese, »Ihre Jeanne nicht bei mir gesehen und komme, nachzufragen, warum sie weggeblieben. Sie ist doch nicht krank?«

»Krank? Nein … ich danke Ihnen recht sehr für Ihre Aufmerksamkeit.«

»Sie haben ihr sonach erlaubt, aus der Schule wegzubleiben?«

»Ja.«

»Darf ich um den Grund fragen?«

Anstatt etwas zu antworten, zeigte Frau Chapoteau immer größere Verlegenheit.

Helene wartete ab.

Endlich faßte die Fleischhauerin sich ein Herz:

»In der That, es ist das Beste, wenn man sich offen ausspricht. Sie sind eine rechtschaffene, höchst anständige Person, Fräulein Margueritte, für die jedermann nur Achtung hegt, und gewiß sind Sie auch zu gescheit, als daß Sie nicht für vernünftige Gründe empfänglich wären. Die Sache verhält sich so: Mein Mann war es, der Jeanne zu Ihnen in die Schule geben wollte; ich, ich rede offenherzig zu Ihnen, war für die Schulschwestern, nicht etwa, weil ich für sie eine Vorliebe hätte« – sie sprach leiser und blickte zwischen den in der Auslage hängenden Fleischstücken auf die Straße hinaus – »es ist vielmehr das Gegenteil wahr. Frühzeitig verwaist, bin ich in einem Kloster auferzogen worden: ich kenne daher die Nonnen. Aber eben weil ich sie kenne, ahnte ich, was kommen würde, durchschaute ich ihre versteckten Zurüstungen und Ränke. Alldas ist nicht ausgeblieben. Sowie man erfahren, daß wir Jeanne zu Ihnen gegeben, haben unsere sämtlichen guten Kundschaften uns Gegenvorstellungen gemacht; als diese nichts fruchteten, sind sie mit Beschwernissen herausgerückt. Nichts half; niemanden konnten wir zufrieden stellen, immer hatten wir Unrecht. Allerdings hat es nicht an Kunden gefehlt, die uns zustimmten, uns wegen unseres Entschlusses lobten; aber das waren nicht die guten und einträglichen. Was wollen Sie, wenn man ein Geschäft hat, muß man auf solche, die einem Geld zu verdienen geben, Rücksicht nehmen. Trotz alldem verharrten wir dabei, Jeanne bei Ihnen zu belassen. Aber da hat man vorige Woche Chapoteau nach dem Schlosse rufen lassen. Ich, der gleich etwas im Geiste vorging, gehe selber hin; denn ich kenne meinen Mann, der würde in seiner Hitze einen dummen Streich gemacht haben. Sie können sich leicht denken, daß die Schloßherrschaft unsere beste Kundschaft ist: durchschnittlich nimmt sie für hundert Livres Fleisch in der Woche. Die gnädige Frau zahlt mir meine Rechnung aus, dann eröffnet sie mir, daß wir voneinander scheiden müssen, da ich meine Tochter bei einer gottlosen Lehrerin aufziehen lasse, und daß sie mit Feinden der katholischen Religion nichts zu thun haben wolle. Ich sage dagegen alles, was mir nur in den Sinn kommt. Nichts greift an. Ich gehe heim und erzähle die Sache meinem Manne. Hat nicht während meiner Abwesenheit das Fräulein de la Bussonnière mir sagen lassen, daß ich zu ihr kommen soll! Es war keine Kunst, zu erraten, daß nun auch von dieser Seite etwas Schlimmes im Anzuge sei, und müssen Sie wissen, daß nach der Schloßherrschaft das Fräulein de la Bussonnière unsere stärkste Kundschaft ist. Für sich selber nimmt sie sechzig bis achtzig Livres Fleisch in der Woche und außerdem giebt sie uns auch in Anweisungen für die Armen viel zu verdienen. Ich habe richtig geraten: von dem Fräulein bekam ich das nämliche Lied zu hören; auch sie will nichts mehr mit den Feinden ihrer Religion zu thun haben. Kreuzschwere Not! Da haben wir endlich nachgegeben und heute früh unsere Jeanne zu den Schulschwestern geschickt. Was wollen Sie, vor allem anderen muß man leben; ist's etwa nicht wahr?«

Helene konnte nicht erwidern, daß sie selber auch nichts zu leben haben würde, wenn man ihr ihre Schülerinnen wegnähme; denn dieser Grund würde die Fleischhauerin sicherlich nicht umgestimmt haben. Sonach erwiderte sie gar nichts.

»Selbstverständlich,« sagte Frau Chapoteau, während sie Helene bis an die Thür geleitete, »haben wir nicht das mindeste gegen Sie; Ihnen, Fräulein Margueritte, bleibt unsere vollste Achtung, und so lange Sie bei uns etwas nehmen, sollen Sie immer die schönsten und besten Stücke haben.«

»Wenn die Dinge derart fortgehen,« bemerkte Helene mit einem trüben Lächeln, »wird bald der Augenblick eintreten, wo wir uns um keine Fleischbank mehr umzusehen haben.«

»Reden Sie doch nicht so, Fräulein; wahrhaftig, das thut mir in innerster Seele weh!« –

Helene hatte nicht Unrecht, vorauszusehen, daß die Dinge derart fortgehen könnten.

Zwei Tage später blieb eine andere Schülerin bei ihr weg, und diesmal wagte sie gar nicht zu fragen, ob sie etwa krank wäre, oder aus welchem Grunde sie nicht kam. Abends ging sie zu den Eltern dieses Kindes, welche Wagenvermieter waren.

Sie traf sie bei Tisch, den Mann, sowie die Frau, ihr kleines Mädchen zwischen ihnen.

»Zu meiner Freude sehe ich, daß Phémie nicht krank ist.«

»Nein, Fräulein, von einer Krankheit keine Spur!«

Und der Mann und die Frau starrten in ihre Teller hinein, während die kleine Phémie einen scheuen Blick nach Helenen warf.

Endlich entschlossen sich die Eltern, mit der Wahrheit, wie es die Fleischhauerin gethan, herauszurücken: ihre zwei besten Kundschaften seien nämlich das Fräulein de la Bussonnière und die Schulschwestern; sie mieteten alle Augenblicke Wagen zu Spazierfahrten, Wallfahrten und verschiedenen kirchlichen Feierlichkeiten und sie drohten, ihnen weiterzugehen, wenn sie ihr Kind fernerhin in die Gemeindeschule schickten.«

»Was für Verdrießlichkeiten wir hatten!« bemerkte die Frau. »Es thut uns wahrhaftig recht leid, unser Kind von Ihnen, Fräulein, die wir Sie so hoch schätzen, trennen zu müssen, und gar bitterlich hat die Phémie, die Ihnen so sehr zugethan war, geweint.«

Und wieder bekam Helene das, was die Fleischhauerin zu ihr gesagt, zu hören:

»Was wollen Sie, vor allem anderen muß man leben; ist's etwa nicht wahr?«

»Und ich,« sagte Helene, heimkehrend, zu sich »brauche also nicht zu leben?«

Die Frage gestaltete sich bedrohlich. Was sollte mit ihr werden, wenn ihr bloß ihre acht protestantischen Kinder verblieben?

Doch zürnte sie sich selbst, daß sie diesen Gedanken nicht aus dem Kopfe brachte: man dürfe nicht aus Furcht vor einem Schaden oder Unglücke in Übertreibungen verfallen; alle ihre Schülerinnen würden ihr gewiß nicht derart nacheinander entrissen werden.

Gleichwohl verlor sie noch eine Schülerin unter Umständen, die ihr darthaten, daß die Übertreibungen ihrer Unruhe, so weit sie auch gingen, dennoch hinter der Wirklichkeit zurückbleiben konnten.

Diese war die Tochter eines Tagelöhners, eines armen Teufels, der von der Gemeinde als Straßenarbeiter verwendet wurde, eines Vaters von sieben kleinen Kindern. Dieser Arbeiter, der nicht genug verdiente, um seine Familie zu ernähren, und der mit ihr ohne die Unterstützungen, welche er von verschiedenen Seiten empfing, am Hungertuche genagt haben würde, hatte auf Weisung des Bürgermeisters sein Mädchen in die Gemeindeschule schicken müssen, widrigenfalls ihm die Entlassung angedroht wurde. Die Gemeinde gab ihm selbst Arbeit, zahlte für sein Kind; er war ihr somit verpflichtet, und Helene vermeinte, daß dies eine Schülerin wäre, die sie zu allerletzt verlieren würde.

Dennoch sah sie eines Donnerstags deren Mutter, in ihrem Äußeren ganz verstört und Thränen in den Augen, bei ihr eintreten:

»Ach, Fräulein, mein gutes Fräulein, wenn Sie uns nicht retten, sind wir verloren!«

»Was soll, was kann ich für Sie thun?«

»O mein Gott, ich werde es nie über mich bringen, Ihnen das zu sagen.«

Und sie jammerte fort, ohne sich durch die Zureden Helenens beruhigen zu lassen.

Endlich preßte es ihr doch die Worte heraus:

»Sie müssen unser Mädel … aus Ihrer Schule … ausstoßen.«

»Wie, die Louise ausstoßen? Sie ist ja doch ein so gutes, braves Kind!«

»O Fräulein, nicht ihretwegen, sondern unserthalber bitte ich darum. Wenn sie nicht zu den Schulschwestern geht, so nimmt man uns unsere Unterstützungen und wir sind dann dem Verhungern und Erfrieren preisgegeben. Bedenken Sie doch, die schlechte Jahreszeit ist vor der Thür, und wir haben sieben Kinder.«

»Nun, so schicken Sie sie zu den Schulschwestern; ich will nicht, daß Sie Hungers sterben; leider kann ich Ihnen nicht so, wie ich möchte, zu Hilfe kommen.«

»Aber wenn wir sie zu den Schulschwestern schicken, wird der Herr Bürgermeister meinem Manne den Laufpaß geben; dann werden wir gar an den Bettelstab geraten, und wir begehren ja nichts anderes, als nur Arbeit zu haben, Fräulein, etwas zu verdienen!«

»Ich darf auch nicht Ihre Tochter, die gar nichts verbrochen hat, derart aus meiner Schule weisen.«

»O, sie wird alles, was Sie nur wollen, anstellen, selbstverständlich bloß zum Schein, damit sie von Ihnen ausgestoßen werden kann.«

Und die Unglückliche entwarf ein Bild von ihrer Lage, daß Helenen die Thränen in die Augen stiegen.

»Ich werde« – sagte sie – »mit dem Herrn Bürgermeister reden.«

»O Fräulein, thun Sie das ja nicht, oder es ist um uns geschehen; der Bürgermeister kann für uns nichts thun; die anderen sind mächtiger als er, setzen alles durch. Sie wollen, daß ich mein Mädel zu den Schulschwestern schicke; ich muß sie hingehen lassen.«

Helene schwankte einen Augenblick; aber das Mitleid, das Erbarmen behielt die Oberhand. Konnte sie, der es selbst schlecht erging, die Verantwortlichkeit für die Entbehrungen und Leiden dieser Unglücklichen, die noch elender daran waren, als sie, auf sich nehmen?

»Nun denn, wenn es schon nicht anders ist, so soll Ihr Mädchen etwas anstellen, daß ich es aus meiner Schule auszustoßen vermag.«

»Ah, Fräulein, herzinnigen Dank! Wahrlich, Sie sind eine barmherzige Schwester!«

 

2.

Nicht bloß auf die Schülerinnen Helenens, auch auf sie selbst hatte man es abgesehen.

Am ersten Donnerstage seit dem Wiederbeginn des Unterrichtes kam vor ihre Schule ein Kinderschwarm, ungefähr ihrer zwanzig, scherzend und spielend, ohne irgendeine Aufsicht seitens der Schulschwestern. Anfänglich tollten sie nur herum; doch bald klang aus dem wirren Geschrei der Name: »Courtomer« an ihr Ohr. Gleichwohl war es so undeutlich, daß sie sich geirrt zu haben wähnte. Dieser Name steckte ihr immer im Kopfe: somit konnte er ihr leicht in die Ohren klingen. Aber bald vermochte sie nicht mehr an eine Täuschung zu glauben; eine glockenhelle Stimme rief: »Courtomer Vater und Sohn«. Helene hörte nicht bloß diesen Ausruf, sondern erblickte auch noch diejenige, die, den Kopf gegen ihr Fenster emporgereckt, mit hochgerötetem Gesichtchen und spitzem Munde, aus vollem Halse geschrieen hatte. Sicherlich begriff dieses Kind nicht, weder was es sagte, noch was es that; es gehorchte einer Weisung, die man ihm erteilt hatte.

Gar nicht lange währte es, so vernahm sie nicht mehr einen vereinzelten Schrei, sondern einen ganzen Chor: nach der Melodie eines Kirchenliedes sangen sämtliche kleine Mädchen, die sich aneinandergeschlossen und wie in einer Prozession an der Schule vorbeizogen: »Courtomer Vater, Courtomer Sohn, Courtomer Vater und Sohn.« Als sie dann satt bekommen hatten, immer die nämliche Arie zu singen, verfielen sie darauf, »Courtomer Vater und Sohn«, im Wechselgesange, gleichwie in der Kirche, anzustimmen.

Aus ihrem Fenster bemerkte Helene, daß viele der am Hauptplatze Wohnenden an die Thüren getreten waren, und belustigt dem Rundgesange der Kinder zuhörten, ohne daß es jemandem beigefallen wäre, sie schweigen zu heißen, sogar nicht einmal dem Gemeinderate Fillette, der vor seinem Gasthause, einen Billardstock in der Hand, die Zahl der Zuhörerschaft verstärkte.

Der erste Gedanke Helenens war, Beschwerde bei dem Bürgermeister zu führen; dennoch stand sie nach einiger Überlegung hiervon ab. Sie wollte abwarten, ob dieser Vorfall eine Wiederholung fände. –

Helene hatte für erwachsene Mädchen des Ortes und der Umgegend eine Schule zu ihrer besseren Ausbildung allabendlich von Sieben bis Neun eröffnet, und obzwar sie hierbei auf die nämlichen Hindernisse, wie bei ihren kleinen Kindern stieß, so behielt sie doch ein Dutzend Schülerinnen beisammen, welche, eben weil sie den Mut gehabt, zu kommen, voll Lernbegierde, aufmerksam und fleißig waren. Am Tage nach der ihr zugefügten Katzenmusik, gegen die achte Abendstunde, bei Regenwetter und nächtigem Dunkel, wurden, als diese Schülerinnen eine Aufgabe, die Helene ihnen diktierte, mit allem Bedachte und Eifer niederschrieben, plötzlich die Scheiben der auf den Platz hinausgehenden Fenster eingeschlagen und die Glasscherben fielen nebst Kieselsteinen mitten in das Lehrzimmer hinein. Gleich anfangs kannten sich alle vor Schreck gar nicht aus; doch bald wurde es ihnen klar, was die Ursache dieses Begebnisses gewesen: es war ein Steinhagel, der nach den Fenstern geschleudert worden.

Diesmal konnte Helene kein Stillschweigen beobachten; es lag ein Verbrechen vor: nicht bloß waren Fensterscheiben zertrümmert, sondern auch zwei der Schülerinnen, die sich nicht wenig geängstigt hatten und höchlich erbittert waren, hatten leichte Verwundungen erlitten.

Nächsten Morgen leitete der Bürgermeister eine Untersuchung, die nicht auf das Steinewerfen beschränkt blieb, ein; ungeachtet der Gegenvorstellungen Helenens erstreckte er sie auch auf die Katzenmusik, und in dieser Beziehung verlief sie auch nicht erfolglos, wie es, zum Leidwesen der Ortsobrigkeit, die Nachforschung betreffs der Steineschleuderer gewesen.

Man hatte die Mädchen, die vor die Schule gezogen waren und dort gesungen, gesehen; man hatte fast sämtliche erkannt, und Fillette, der, sobald er lachen mußte, entwaffnet war, hatte, da es nun nichts mehr zu lachen gab, und vornehmlich, nachdem er von seinem Bürgermeister einen tüchtigen Verweis über seine strafbare Gleichgiltigkeit, die fast einer Mitschuld gleichkäme, erhalten, ungesäumt wieder die Wehrwaffen seiner gemeinderätlichen Entrüstung ergriffen.

Man ließ durch den Schardiener die Eltern und die Kinder holen und nahm beide Teile in ein Verhör. War es auch unmöglich, genau zu erfahren, wer den Kindern den Gedanken, unter den Fenstern der Lehrerin »Courtomer Vater und Sohn« zu singen, eingegeben hatte, so reichte doch die Furcht, welche der Bürgermeister einzujagen verstand, hin, daß ein derartiges Ständchen nicht wiederholt wurde. Man wollte zwar recht gern der Lehrerin etwas anthun, aber nur unter der Bedingung, daß man dabei nicht erwischt wurde.

Diese zwei Vorfälle verliefen jedoch nicht, ohne Zank und Hader in Yvranches zu erregen. Jedermann nahm Partei, je nach seinen Grundsätzen oder Verbindungen; man stritt, erboste sich, beleidigte und beschimpfte.

Wie begreiflich, mischten sich auch die Kinder darein, nicht bloß die Mädchen, sondern auch noch die Knaben, die sich auf die Seite ihrer Schwestern oder Mitschüler schlugen. Wenn die Eltern sich begnügten, mit der Zunge zu fechten, so nahmen die Kinder ihre Hände zu Hilfe. Bei ihrem Heimgange aus der Schule bewarfen sie sich mit Steinen, und jene, die in weiterer Entfernung wohnten, über Felder und durch Wälder ihren Weg zu nehmen hatten, machten auf abgelegenen Pfaden, wo niemand sie stören konnte, ihrem Streite mit Faustschlägen und Zerkratzen ihrer Gesichter ein einstweiliges Ende; mit ausgerauften Haaren, zerfetzten Kleidern und blau unterlaufenen Augen trennten sie sich voneinander.

Wer trug an alledem die Schuld?

Gegenseitig schuldigte man sich an.

Die einen behaupteten, daß die Nonnen und der Abbé Perichard alle Schuld trügen, weil von ihnen die Hetze ausgegangen wäre; es fehlte sogar nicht an solchen, welche die Schwester Philogona als Steineschleuderin gesehen zu haben glaubten; allerdings waren sie nicht ganz sicher, selbe genau erkannt zu haben; im Dunkel der Nacht ließe sich das wohl schwer sagen; trotzdem konnte es nur sie gewesen sein.

Dagegen maßen die anderen die ganze Schuld der Lehrerin bei, indem sie, über die Katzenmusik, die man ihr gebracht, erbittert, die Zertrümmerung der Fensterscheiben ausgeheckt habe, um den Bürgermeister zu einem Eingreifen anzuspornen; wenig fehlte, daß man sie nicht geradezu anschuldigte, selbst die Fensterscheiben eingeschlagen zu haben; Jemandem so Übles nachzureden, wäre ja eine Sünde; wenn man sich aussprechen dürfte … kurz und gut: man wisse schon, wie man daran sei.

Diese Keifereien und Verlästerungen brachten die Kinder nicht zur Ruhe; tagtäglich ihre Eltern über die Streitsache reden hörend, wurden sie nur immer kampflustiger widereinander; es kam darin so weit, daß der Bürgermeister genötigt war, die öffentliche Macht, über welche er verfügen konnte, nämlich den Schardiener, in Bewegung zu setzen. Zweimal des Tages, gegen Ende des vor- und nachmittägigen Schulunterrichtes, mußte dieser, »mit seinen Insignien bekleidet«, auf halbem Wege zwischen der Gemeindeschule und jener der Nonnen Schildwache stehen, um sofort wider die Kämpfenden einzuschreiten, jede Balgerei im Keime zu ersticken. Auch nützte der Bürgermeister, wie ihm denn alles einen Vorwand zur Abfassung einer Kundmachung bot, diese Unruhen aus, um eine Proklamation an seine Gemeindegenossen abzufassen, worin er, nach einer feurigen Anpreisung eines einträchtigen Zusammenlebens und -wirkens, unter schönen Redensarten bekannt gab, daß er, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit verantwortlich, Weisungen erteilte, wornach mit aller Strenge wider die Ruhestörer, wer immer sie auch sein mögen, verfahren werden würde.

Leider verdarb dieses »wer immer sie auch sein mögen,« alles. »Wer immer sie auch sein mögen« – das konnte doch ganz sicher nur auf Persönlichkeiten in bevorzugter Stellung, auf Honoratioren, Bezug haben, und nach wem anderen konnte denn der Bürgermeister damit gezielt haben, wenn nicht nach dem Pfarrer, dem Kaplan, dem Fräulein de la Bussonnière, und den so verehrungswürdigen Schulschwestern? »Wer immer sie auch sein mögen« – hierunter konnten doch nicht die Leute aus den niedrigen Ständen, welche ihre Kinder in die Gemeindeschule schickten, gemeint sein? Es war dies also wieder ein Streich, bei dem diese verdammte Lehrerin, die der Teufel nach Yvranches, um alles in Feuer und Flammen zu setzen, gebracht, ihre Hand im Spiele gehabt habe! Gar keinem Zweifel unterläge es, daß sie dem Bürgermeister dieses »wer immer sie auch sein mögen« eingegeben habe!

Gleichwohl, inmitten dieses Gehaders, verlor Helene keine Schülerin mehr; eben weil der Kampf wütig entbrannt war, hielten jene Eltern, welche den Mut gehabt, ihre Kinder in die Gemeindeschule zu schicken, an ihrem Entschlusse unerschütterlich fest.

Anstatt eine Einbuße an Schulkindern zu erleiden, bekam sie sogar einen Zuwachs, und zwar nicht an solchen, die monatlich zwei Francs zu entrichten hatten, sondern an Zöglingen, die ihr für Verköstigung und Wohnung dreißig Francs Monatgeld bezahlten; es waren zwei Töchter eines Gemüsegärtners, der, mehr als eine Stunde vom Mittelpunkte des Marktes entfernt wohnend, nicht wollte, daß seine Kinder einen so weiten Weg morgens und abends in der schlechten Jahreszeit machten; sodann die Tochter eines reichen Bauern; endlich ein verwaistes Mädchen, eine Anverwandte des Herrn Lebeurier, welche dieser bei Helenen untergebracht, vielmehr aus Interesse für die schöne, reizende Lehrerin, als für die Schule, um welche er sich eben nicht sehr kümmerte.

Außerdem erhielt sie noch eine andere Schülerin, auch in Kost und Wohnung, und diese ging, was das Merkwürdige war, aus der Schule der Nonnen zu ihr über. Es war dies das einzige Kind einer Krämerin, die sich für eine Witwe ausgab, deren Mann aber niemals zum Vorschein gekommen und die eine rätselhafte Existenz führte; die einen behaupteten, daß sie eine anständige Frau sei, die anderen, daß sie sich sehr leichtfertig benehme; beiderseits ging man von seiner Meinung nicht ab.

Helene schwankte, ob sie dieses Kind annehmen sollte; aber die Mutter bat sie, indem sie auch nachdrücklich erklärte, ihre Tochter den Rohheiten der Schwester Philogona um keinen Preis länger aussetzen zu wollen, so inständig, daß sie schließlich, überdies bestochen durch die Lieblichkeit und Artigkeit des Kindes, nachgab.

Diese kleine Rosalie, so hieß das Kind, war eine Zauberin, die sofort ihre Mitschülerinnen eben so wie ihre Lehrerin für sich gewann. Doch schon nach wenigen Tagen fragte Helene sich, ob sie wohl wirklich das wäre, was sie zu sein schien.

Ihre Schülerinnen, bisher so einträchtig, begannen sich zu zanken, gegeneinander argwöhnisch zu werden. Alle hatten Beschwerden vorzubringen, beklagten sich über ihre besten Freundinnen, mit denen sie nun ganz verfeindet waren.

Dies war doch auffällig!

Auffällig war auch die Neugierde dieser Kleinen, die überall herumschnüffelte und jedermann ausfragte.

Allerdings war sie auch geschwätzig wie eine Elster, und nichts war ihr lieber, als Geschichtchen über die Schulschwestern zum Besten zu geben; wenn Helene hätte hierauf hören wollen, würde Rosalie damit nie aufgehört haben.

Doch was mehr als alldies Helene beunruhigte, war ein geheimnisvoller Vorfall, der sich ungefähr drei Wochen nach dem Eintritte Rosaliens begab.

Es war an einem Freitage, beim Mittagmahle: sie hatte eben ihren Zöglingen eine Kohlsuppe angerichtet.

»Ich esse keine,« bemerkte Rosalie, ihren Teller zurückschiebend.

»Weshalb?«

»Weil das eine Rindsuppe ist und ich an Freitagen kein Fleisch esse.«

»Was denn nicht gar!« rief die Großmutter, welche diese Suppe zubereitet hatte, darein, »sie ist ja mit Butter eingebrannt.«

»Aber ich habe Fleisch darin gesehen!« entgegnete Rosalie.

Man sah in dem Suppentopfe nach und fand ein Stück Rindfleisch.

Wer hatte es in das Geschirr, worin der Kohl gekocht, hineingethan?

Dies verblieb unaufgeklärt.

Aber drei Tage später sprach man in Yvranches nur von den Fleischsuppen, welche die Lehrerin aus teuflischer Bosheit ihren Schülerinnen an Freitagen vorsetzte.

 

3.

Wenn Helene meistens die Hand, von der die gegen sie geführten Schläge ausgingen, nicht sah, wurde sie doch oftmals unmittelbar von dem Kaplan angegriffen, der keine einzige Gelegenheit, ihr seine feindseligen Gesinnungen zu bekunden, versäumte und sogar derlei Anlässe aufsuchte und hervorrief. Er trug durchaus keine Scheu, als der Herausfordernde, als der Angreifer zu erscheinen, sei es, daß er durch seinen heftigen Charakter hingerissen wurde, sei es, daß er es als seine unabweisbare Pflicht erachtete, in dem wider eine gefährliche Feindin begonnenen Kampfe schonungslos fortzufahren.

Am ersten Sonntage nach der Schuleneröffnung schärfte Helene ihren Schülerinnen ein, schon um Neun in die Schule zu kommen, um sich dann insgesamt mit ihr nach der Kirche zu begeben. Sie bildeten, zumal die protestantischen entfielen, keine stattliche Schar; doch nicht durch die Anzahl, sondern durch die Ordnung und schöne Haltung wollte Helene sie den Leuten bemerklich machen. Ebendeshalb hatte sie ihnen die neunte Stunde zum Eintreffen in der Schule anberaumt, obgleich das Hochamt erst um die zehnte begann. Ihr lag daran, gehörige Zeit zu haben, um ihre kleine Schar zu mustern, und jene von den Kindern, denen es an Reinlichkeit und Sorgfalt gebrach, zu säubern, zu kämmen, ihnen ein anständiges Aussehen zu geben.

Eben war sie hiermit fertig geworden, als man das erste Mal zum Gottesdienste läutete; doch brach sie nicht sogleich dahin auf, da sie den Nonnen den Vortritt belassen wollte.

Bald erschienen diese mit ihren Kindern in einer langen, so geschickt auseinandergehaltenen Reihe, daß sie den ganzen Marktplatz einnahmen; erst nachdem sie in der Kirche verschwunden waren, setzte Helene ihre kleine Schar in Bewegung. Als sie in der Kirche anlangte, saßen die Schülerinnen der Nonnen bereits auf ihren Stühlen; neben dem Taufsteine gewahrte sie den Kaplan; er schien sich dahin gestellt zu haben, um ihre Ankunft abzuwarten.

Tags zuvor hatte sie ersucht, daß man ihr einen Platz für ihre Schülerinnen anweise, und der Meßner hatte ihr in Abwesenheit des Pfarrers und des Kaplans bedeutet, daß sie selbe gleich hinter die Schülerinnen der Nonnen setzen könne. Sie schritt daher nach dieser Seite hin, als der Kaplan, ihr in den Weg tretend, sie mit der Hand, doch ohne sie anzublicken, Halt zu machen nötigte:

»Wohin gehen Sie?«

»Nach meinem Platze.«

»Sie haben keinen Platz an diesem heiligen Orte.«

»Der Meßner hat mir einen angewiesen.«

»Er war nicht berechtigt, dies zu thun.«

Dieser Wortwechsel wurde mit gedämpfter Stimme und in aller Hast geführt; dennoch wandten sich viele der bereits versammelten Gläubigen neugierig nach dem Kaplan und der Lehrerin, um etwas von dem, was zwischen ihnen gesprochen wurde, zu erlauschen.

Helene fand rasch die verlorene Fassung wieder:

»Dann belieben Sie,« sagte sie, »mir zu erklären, wohin wir uns begeben dürfen.«

Der Kaplan verwies sie nach einem Winkel des Seitenschiffes, links vom Eingangsthor, nach einer Stelle, wo an Wochentagen die Stühle, welche Sonntags in der ganzen Kirche hier und da verteilt gestanden, aufeinander geschichtet waren.

Ohne etwas zu erwidern, geleitete Helene ihre Schülerinnen dahin; sodann schickte sie sich, da dort Stühle sich nicht aufgestellt vorfanden, an, einige von den an der Mauer aufgestapelten herabzulangen.

Rasch war der Kaplan wieder an ihrer Seite.

»Hier sind keine Stühle für Sie,« fuhr er sie an.

»Nicht um mich handelt es sich, sondern um meine Schulkinder, welche wohl das Recht haben, für ihr Geld Stühle zu erhalten.«

Und sie ließ nicht ab, ihren größeren Schülerinnen Stühle hinzureichen.

Hierüber geriet nun der Kaplan außer Fassung; eine solche Widersetzlichkeit hatte er nicht vorhergesehen.

»Wenn Sie dieses anstößige Gepolter nicht unterlassen,« entgegnete er mit einer kaum vernehmlichen Stimme, so sehr schnellte er die Worte heraus, »rufe ich den Kirchendiener her, auf daß er Sie hinausschaffe.«

Helene verschmähte es, mündlich sich mit ihm auseinanderzusetzen; sie sah ihn nur groß an, nicht mit einer Miene des Trotzes, sondern von dem Gefühle ihres Rechtes und ihrer Würde emporgehoben.

Totenblässe überzog das eben erst zorngerötete Antlitz des Kaplans; aus seinen Lippen, die ein nervöses Zittern befallen, wich alle Farbe.

Zum Glück fingen die Glocken zu läuten an und ihr Schall übte augenblicklich auf den Abbé Perichard, wie wenn sie ihn zur Vernunft gebracht hätten, eine beruhigende Wirkung aus; er kehrte die Augen ab und begab sich, große Schritte machend, zum Hochaltare hinan.

Eine Lehrerin hatte sich erfrecht, dem Kaplan öffentlich entgegenzutreten, ihn zu beleidigen: dieses Weibsbild hatte also doch wirklich den Teufel im Leibe! Es gab Betschwestern, welche nur beklagten, daß der Abbé Perichard sie nicht mit Weihwasser besprengt hatte; ganz sicher würde man sie in Rauch aufgehen gesehen haben und von ihr wäre nur ein Schwefelgestank übrig geblieben; das sei ja, wie jedermann bekannt, der Lieblingsparfum der bösen Geister!

Trotz ihrer scheinbaren Gemütsruhe war Helene nicht wenig erschüttert und um so tiefer, als sie sich in diese Ruhe hineingezwungen. Während des ganzen Hochamtes dachte sie nur an die Reden und an das Benehmen des Kaplans. Weshalb war er derart gegen sie erbittert? Allerdings sah sie ein, daß er grundsätzlich ihr Gegner sein mußte, aber nicht als solcher erwies er sich, sondern geradezu als ihr Feind, und diese Feindseligkeit schien einen persönlichen Grund zu haben, wie wenn sie ihn verletzt hätte, oder er sich vor ihr fürchtete. In ihrem Winkel auf den naßkalten, klebrigen Steinen knieend, gab sie sich derlei Gedanken hin, zeitweilig von Vorwürfen, daß sie so geringe Acht auf den Gottesdienst habe, angewandelt.

Kurze Zeit darauf fand anläßlich des Namensfestes eines Heiligen eine Abendandacht, zu welcher die Schulkinder sich einfinden sollten, statt. Helene war anfänglich durchaus nicht geneigt, derselben anzuwohnen, da dies nicht obligatorisch war; doch nachdem sie bei dem gutmütigen Valpinçon sich Rat erholt und dieser ihr zugeredet hatte, daß sie zu dem bösen Spiele eine gute Miene machen solle, entschloß sie sich, auch hiervon nicht wegzubleiben.

Bei dieser Andacht, welche von dem Kaplan – denn der Pfarrer war den nächtlichen Amtsobliegenheiten, die seine Verdauung störten, gar abhold – abgehalten wurde, sangen die Gläubigen selbst Lieder, die von dem Geistlichen angestimmt wurden. Da dieselben sich in geringer Anzahl einfanden und dem Kaplan sehr daran gelegen war, daß die Kirche so viel als möglich gut besucht aussah, so zog man Helene aus ihrem Winkel herzu und räumte ihr einen Platz im Mittelschiffe ein, eine Ehre, für welche ihre Schülerinnen, die vergangenen Sonntags durch die Verweisung nach dem Winkel, den sie »die Rumpelkammer« nannten, sich sehr gekränkt gefühlt hatten, eine lebhafte Empfänglichkeit bekundeten.

Selbstverständlich beteiligte sich auch Helene an dem Gesange.

Plötzlich vernahm sie die Aufforderung des Kaplans im Flüstertone:

»Ich bitte doch aufzuhören! Sie als Lehrerin singen so falsch?«

»Ich wüßte nicht, daß ich falsch sänge.«

»Wie wenn Sie es nicht absichtlich thäten, um die Andacht zu stören!«

Helene schwieg, in der Meinung, derart einem weiteren Ausfalle zu entgehen.

»Warum lassen Sie Ihre Kinder nicht singen?« fuhr der Kaplan sie an. »Sie hätten sich schon die Mühe, sie hierherzuführen, ersparen können, wenn sie durch ihre Teilnahmslosigkeit uns ein Ärgernis bereiten sollen!«

Wenn sie sang, machte er ihr einen Vorwurf daraus; wenn sie nicht sang, rügte er es noch schärfer; sie vermochte eben gar nichts ihm recht zu thun.

Ihr däuchte es noch immer das Beste, wenn sie den Kaplan durch geduldiges Ertragen zu entwaffnen suchte; vielleicht würde er müde werden, sie fortwährend zu quälen.

Aber er erwies sich als unermüdbar: tagtäglich, bei allen Anlässen, fand sie ihn gleich schroff und hart, gleich wutentbrannt wider sie, und insbesondere trat dies bei einer Gelegenheit hervor, wobei nicht bloß ihre Eigenliebe und ihr Selbstgefühl in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Es ist bekannt, von welcher Bedeutung die erste Kommunion für die Kinder der Landleute ist: erst nach ihr hält man sie zur Arbeit an, gießt man sie in die Lehre, beginnen sie ihren Eltern etwas einzutragen; alles, was demnach diesen Zeitpunkt der ersten Kommunion hinausschiebt, wird als eine Last, welche wenige Eltern gutwillig hinnehmen, empfunden, und der Lehrer, welcher die Verantwortlichkeit für solche Verzögerung trägt, bringt sich dadurch um alles Vertrauen, wie verdienstvoll auch sein sonstiges Wirken sein möge.

In Yvranches war der Kaplan mit dem Religionsunterrichte (wie mit allen anderen beschwerlichen Amtsverrichtungen eines Geistlichen) betraut, und zu ihm mußte Helene jene von ihren Schülerinnen, die sich für die Kommunion vorzubereiten hatten, führen. Mitten im Winter und gerade zu einer Zeit, wo die rauheste Witterung war, fiel es ihm ein, diese Vorbereitung in der Schule der Nonnen abzuhalten, so daß Helene genötigt war, dahin sich zu begeben. Dies würde ihr, selbst wenn sie dort eine gute Aufnahme gefunden hätte, schon ziemlich hart gefallen sein; aber meistens ward ihr gar keine Aufnahme zu teil, das will sagen, daß man, wenn der Kaplan nicht zur bestimmten Stunde eingetroffen war, die Einlaßpforte ihr gar nicht öffnete, und sie mit ihren Schülerinnen auf der Straße der Kälte, dem Winde, dem Schneegestöber ausgesetzt, warten mußte.

Nach etwa vierzehn Tagen hatte sich Helene eine starke Erkältung zugezogen, welche, da sie sich nicht pflegte, in einen Bronchialkatarrh mit hochgradiger Heiserkeit ausartete.

Dennoch ließ sie, so strenge auch die Kälte war, und so lange sie auch zu warten hatte, nicht ab, sich zu dem Vorbereitungsunterrichte zu begeben; bloß wollte sie, um nicht in den Gliedern starr zu werden, mit ihren Kindern sich in einem Spiele herumtummeln. Allein die Schwester Philogona kam heraus und verwies es ihr, wobei alle Haare ihres Schnurrbartes – jenes vielberedeten Schnurrbartes, den Paildieu barbiert haben wollte – zu spitzen Borsten wurden, mit dem Bedeuten, daß der Lärm sie in ihrem Vortrage störe. Sonach mußte Helene stille und sich dicht an die Mauer haltend, um weniger von dem Winde zu leiden, stehen bleiben.

Krampfhaft hustend harrte sie aus, bis endlich der Abbé Perichard, der sich um eine Stunde verspätet hatte, ankam und es nun eilig hatte, sich zu erwärmen; von weitem vernahm er schon das Husten Helenens.

»Warum sind Sie nicht hineingetreten?« sagte er. »Bei dieser Kälte im Freien zu bleiben, das ist ja ein reiner Unsinn!«

»Weil man uns nicht Einlaß gewährt, bevor Sie angekommen.«

»Dann kommen Sie nur rasch herein,« entgegnete er sanfteren Tones.

Wie sie in die Pforte getreten, ging er auf sie zu und fragte sie:

»Sie zittern? Doch nicht ein Fieberschauer?«

»Ich zittere vor Kälte; weiter hat es nichts zu bedeuten.«

Heftig griff er nach der Thürklinke des Lehrzimmers, stieß die Thür auf und schritt stracks nach dem Ofen, der eine wohlthuende Wärme ausstrahlte.

»Hierher kommen Sie,« rief er Helenen zu, »hierher setzen Sie sich.«

Und er schob einen Stuhl für sie hin.

So sanft hatte sie ihn noch nie sprechen gehört, noch weniger, daß er eine Teilnahme für sie äußerte; sogar ihre Schülerinnen waren darüber ganz verdutzt. Die Schwester Philogona konnte dagegen ihre Entrüstung nicht verhehlen; sie schleuderte einen strafenden Blick der Schwester Ambroisine, die von Mitleid ergriffen, aber auch voll Verlegenheit war, zu.

An diese Nonne wandte sich der Kaplan mit den Worten:

»Sie werden doch einen warmen Thee haben? Nun, so sputen Sie sich und bringen Sie eine Tasse Thee, aber gut gezuckert, dem Fräulein Margueritte. Es ist eine Schändlichkeit, das Fräulein bei diesem Wetter draußen stehen zu lassen!«

Nach dieser Rüge verließ er das Zimmer, die Thür hinter sich zuwerfend.

Die Schwester Ambroisine reichte fast mit Zärtlichkeit Helenen die Tasse gutgezuckerten Thee's, wie der Kaplan angeordnet hatte.

Wenige Minuten später trat dieser wieder ein: Helene zitterte nicht mehr; auch ihr Husten schien gestillt zu sein.

Und er war hiermit nicht mehr der nämliche Mann: rauh und heftig war wieder seine Miene, sein Benehmen.

»Vorwärts, Fräulein Lehrerin!« sagte er, ohne ihr einen Blick zu schenken. »Sie werden doch auf Ihre Kinder Acht haben können? Also vorwärts zum Unterrichte!«

 

4.

Gar oft hatte Helene sich gefragt, was für ein Mensch denn eigentlich der Kaplan wäre, da sie sich die Widersprüche, die sie an ihm bemerkte, nicht zusammenreimen konnte. Weshalb schien er manchmal mit grimmigen Blicken sie niederschmettern zu wollen? Weshalb leuchteten dagegen wieder andere Male seine Augen so milde, wie wenn sich darin Teilnahme und Zärtlichkeit ausdrückten?

Seit er die Tasse Thee für sie angeordnet, drängten sich ihr diese Fragen noch mehr auf: wie entgegenkommend war er gewesen, als er sie leidend sah, und wie hatte er wieder so barsch sein können, sobald sie nicht mehr von Frost durchschüttelt, nicht mehr von Husten gequält war?

Es barg sich da ein Geheimnis, zu dessen Entwirrung sie nicht geschickt genug war, und die einzige halbwegs vernünftige Folgerung, zu welcher sie, nachdem sie sich mit Fragen abgemartert hatte, gelangte, war, daß man den Abbé Perichard schlecht kenne und man sich täusche, wenn man ihn für einen harten, gefühllosen Menschen halte. Hart war er nur aus Parteigeist, weil er es aus der einen oder anderen Ursache sein zu müssen glaubte; im Grunde genommen, war er ein guter, weichherziger Mensch, und wenn er seine Härte wider sie noch steigerte, so geschah es, weil er ein Ziel, nämlich: sie zum Scheiden aus Yvranches zu nötigen, verfolgte.

Solchen Gedanken hing jedoch Helene während ihrer Unterrichtsstunden nicht nach. Dann gehörte sie ihren Schülerinnen, ohne sich durch irgend etwas ablenken zu lassen, gänzlich an, indem sie ihnen all ihre Zeit, all ihr Wissen, all ihre Sorgfalt widmete. Selbst auch dann nicht, wenn sie nach beendetem Unterrichte in ihre Wohnung hinaufkam; denn da traf sie ihre Großmutter, und deren Benehmen beließ ihr nicht volle geistige Freiheit. Seit ihrem Aufenthalte in Yvranches hatte die alte Frau keine eigentliche Klage erhoben, und mit Ausnahme ihrer oft wiederholten Bemerkung: »Das ist ein rechtes Unglück, wenn man sich mit den Geistlichen auf einen feindlichen Fuß stellt,« nichts von einem Vorwurfe verlauten lassen; aber ihre resignierte Miene, ihre Seufzer, ihr stummes Dahinbrüten, oder gar die Art von wütiger Hast, mit der sie plötzlich wieder nach ihrem Strickzeuge griff, sprachen deutlich genug. Aus Bescheidenheit, aus Vorsicht, vielleicht auch aus Mitleid, redete sie nicht; doch wenn sie gewollt hätte, würde sie gar vieles, was ihr Herz bedrückte, vorzubringen gehabt haben.

Besagte Gedanken beschäftigten Helene nur dann, wenn sie mit ihren Kostzöglingen an Sonntagen nach dem Kirchensegen, an Donnerstagen nach dem Frühstücke einen Spaziergang durch Wiesen und Wälder, bald dahin, bald dorthin, machte.

Gleich anfangs hatte sie als Zielpunkt dieser Ausflüge die Straße von Condé gewählt, denn sie war vor dem Nordwinde durch eine mit Haidekraut bewachsene Anhöhe geschützt, so zwar, daß man selbst an kalten Wintertagen sich an dem mindesten Sonnenstrahle erlaben konnte. Die Straße zog sich weit hin, auf der einen Seite mit dieser Anhöhe eingesäumt, auf der anderen mit Wiesenland, von welchem sie durch Hecken von Buchs und Stechpalmen, die einen grünen, in der Winterszeit besonders den Augen wohlthuenden Rahmen bildeten, geschieden war. Sie würde niemals diesen Spazierweg, der ihr so wohl gefiel, aufgegeben haben, wenn sie nicht, um dahin zu gelangen, an dem Hause des Herrn Lebeurier hätte vorbeigehen müssen.

So lange das Frostwetter andauerte, war Helene der Gefahr, mit dem Notar zusammenzutreffen, nicht ausgesetzt; denn er blieb lieber in seinen vier Pfählen, als daß er in seinem Garten sich Bewegung machte; doch eines Tages, als die Witterung milde geworden und eine Frühlingssonne leuchtete, ward sie von ihm, wie sie um die Ecke seines Hauses bog, angehalten und er hatte sie begleiten wollen.

Von diesem Tage an schlug sie nicht mehr den Weg nach der Landstraße von Condé ein, wechselte sie überhaupt so viel als möglich in ihren Spaziergängen ab, um einer Wiederbegegnung mit ihm zu entgehen.

Dennoch gab es eine Örtlichkeit, wohin sie öfter als sonstwohin wanderte, und zwar ebensosehr, weil sie ihr gefiel, als weil sie sich dort vor den Nachstellungen des Notars gesichert glaubte. Es war ein ehemaliger, zwölf- oder fünfzehnhundert Meter von Yvranches entfernter, inmitten einer Haide gelegener Steinbruch, zu dem man nur auf mühsamen, von Wagengeleisen durchfurchten und von Rinnsalen zerklüfteten Wegen gelangte, so daß es gewiß nie dem Notar beigefallen wäre, seine tadellosen Lackstiefletten dort der Gefahr einer Schädigung auszusetzen. Kein Haus, keine Wiese, wohin Melkkühe von Stallmägden getrieben werden konnten, befand sich in der Umgegend; dürres Steppenland ringsum, nach welchem bloß dann und wann ein Hirte seine Schafe führte. Hier herrschte tiefe Einsamkeit, wüste Einöde. Helene liebte diese Einsamkeit. Während ihre Schülerinnen um sie her in der Haide spielten, konnte sie in einem Schlupfwinkel des Steinbruches, inmitten gelben oder rötlichen Geschiebes, das bisweilen ins Rollen kam, auf einem Felsblock oder auf einem Polster von Haidekraut Rast nehmend, frei aufatmen und ungestört ihren Gedanken nachhängen.

Das eine war ihr nicht minder wert, als das andere.

Wohl that es ihr, hier, nachdem sie die ganze Woche im Dunstkreise des Lehrzimmers zugebracht, eine frische, stählende Luft zu schöpfen und, nachdem sie vom Morgen bis zum Abend in anstrengender Berufsthätigkeit eingezwängt gewesen, geistige Erholung zu gewinnen, aus sich selbst herauszutreten, und in der Welt der Einbildungskraft herumzuschweifen, darin erlangend und besitzend, was ihr die Wirklichkeit niemals gewähren würde.

Eines Tages, auf der Rückkehr nach Yvranches, traf sie den Kaplan auf dem Wege nach dem Steinbruche; doch von ihm hatte sie nur rauhe Worte zu besorgen, und nicht wahrscheinlich war es, daß er ihr dahin nachging, um ihr eine Strafpredigt zu halten. Diese Begegnung war offenbar eine ganz zufällige; sie brauchte sich darüber keine Sorgen zu machen. Zweifelsohne würde sie den Abbé Perichard nicht wieder im Steinbruche erblicken!

Aber sie irrte sich hierin.

Zwei Wochen später glaubte sie hinter einem Buschwerk, in einer ziemlichen Entfernung, eine schwarze Gestalt, in einer Soutane, wie es schien, zu gewahren. Sie blickte aufmerksamer hin: es war der Kaplan, der, hinter einem dichten Gestrüpp sich unentdeckbar wähnend, wie auf der Lauer stand.

Ganz bestimmt galt ihr dieser Überwachungseifer: er vermeinte wohl, daß sie sich hier mit einem Manne ein Stelldichein gäbe?

Dieser Einfall entlockte ihr ein schwermütiges Lächeln.

Indem sie that, als ob sie den Kaplan nicht sähe, verblieb sie an der Stelle, wo sie sich niedergelassen hatte. Doch unbefangen vermochte sie nicht mehr ihren Gedanken nachzuhängen, der Tag war ihr verdorben; der Kaplan kam ihr nicht aus dem Sinne.

Die Zeit verstrich. Zwei- oder dreimal fanden sich ihre Mädchen bei ihr ein, einige Worte mit ihr austauschend und dann wieder davon hüpfend; der Kaplan rührte sich nicht vom Flecke; so oft Helene nach der Richtung seines Hinterhaltes lugte, sah sie immer die nämliche schwarze Gestalt, vom Gestrüppe halb verdeckt.

Endlich gewahrte sie doch nichts mehr und glaubte, daß er fortgegangen sei.

Allein schon nach wenigen Minuten tauchte er auf dem Wege vor ihr, langsam schreitend und wie wenn er auf sie zulenkte, auf. Plötzlich machte er Halt und hastig Kehrt; bald aber schwenkte er wieder um, kam näher und diesmal auf sie zu.

Er begrüßte sie. Noch nie hatte sie einen Mann so unentschlossen, so verlegen geschaut; doch was ihr am meisten an ihm auffiel, war, daß er sie nicht wie gewöhnlich mit strengen und grimmen Blicken maß, vielmehr schienen seine Augen glanzlos oder gar von einem feuchten Schimmer umschleiert; so hatte sie ihn selbst damals nicht geschaut, als er mit einer Tasse Thee ihr hilfreich sich erwiesen hatte.

Ziemlich lange standen sie sprachlos einander gegenüber.

Es kostete ihm eine ersichtliche Anstrengung, sein Schweigen zu brechen, aus der stummen Betrachtung sich emporzuraffen; endlich gewann er es doch über sich:

»Nun, Fräulein,« äußerte er sich mit gewohnter Schroffheit, »Sie wollen also Yvranches nicht verlassen?«

»Ich kann nicht.«

Er änderte den Ton, er stimmte ihn fast zur Weichherzigkeit herab; jedenfalls drückten seine Blicke eine Rührung, eine tiefe Bewegtheit aus:

»Sie können nicht, weil … der Wille Ihnen fehlt, und Sie wollen nicht, weil … weltliche Rücksichten Sie zurückhalten.«

»Mich fesselt meine Pflicht.«

»Ich erkenne an, daß man sich vielleicht gegen Sie nicht gut benommen hat; Sie sind kein Weib, das vor einem heftigen Auftreten zurückwiche, durch Gewaltthätigkeit zu überwältigen wäre. Aber wenn man mit aller Sanftmut, mit aller rücksichtsvollen Schonung sich an Sie wendete? Wenn man Ihnen vorstellte, daß es im Interesse … aller ebensowohl, wie in dem Ihrigen gelegen sei, Yvranches zu verlassen? Wenn ich Sie aufforderte, von hier zu scheiden? Wenn ich Sie darum bäte?«

»Sie?«

»Ja, ich bitte Sie darum; lassen Sie mich nicht vergeblich flehen!«

»Es ist unmöglich!«

»Sie erweisen mir eine … Gnade, wenn Sie gehen! O, gehen Sie, so bald als nur möglich, von hier!«

Helene hätte niemals vermutet, daß dieser so rauhe Mann fähig wäre, seiner Stimme einen so weichen, rührenden Schmelz zu geben, eine so tiefe Gemütsbewegung in Blick und Geberde zu offenbaren.

»Gewiß möchte ich,« erwiderte sie, »sehr gerne, was Sie begehren, thun; doch bei ruhigem Überdenken werden Sie selbst erkennen, daß es eine Unmöglichkeit ist.«

Eine jähe Veränderung trat in seinem Antlitze ein.

»Sie wollen nicht!« schrie er wie ein Rasender auf. »Nun gut, wir werden Ihren Starrsinn zu brechen wissen! Wir werden Sie zu Paaren treiben, forttreiben von hier … in die Flucht … von hier!« …

Die Stimme brach ihm: er stammelte nur noch wenige wirre Worte, und wie vor Helenen die Flucht ergreifend, rannte er, ganz außer sich, hinweg.

 

5.

So viel stand fest, daß Helene, je öfter sie den Kaplan sah, sich immer weniger in ihm auskannte.

Nach ihrer Unterredung im Steinbruche wurde das Rätsel, das sie vergeblich aufzulösen getrachtet, nur noch dunkler, unentwirrbarer für sie.

Weshalb stellte er sich in einen Hinterhalt, um sie zu beobachten?

Weshalb versteckte er sich?

Warum seine tiefe Gerührtheit?

Warum seine Raserei?

Wenn es sich bloß um theoretische Fragen gehandelt hätte, würde sie sich minder lebhaft mit ihnen beschäftigt haben; doch diesfalls war nicht bloße Wißbegierde im Spiele, sondern ihr Schicksal hing davon ab.

Als der Kaplan das erste Mal ihr gedroht, hatte die Ausführung nicht lange auf sich warten lassen.

Was würde jetzt sich begeben? Wie würden sich die Worte, welche die Wut ihm entrissen: »Wir werden Ihren Starrsinn zu brechen wissen,« bewähren?

Er hatte ihr bereits genug Übles zugefügt: was würde er nun ersinnen, um sie zum Fortgehen zu zwingen? Wodurch konnte er sie noch und grausamer treffen, als er es bisher gethan? –

Ohne eine Betschwester zu sein, war ihre Großmutter religiös gesinnt und ging zweimal im Jahre: am Namensfeste ihrer Schutzheiligen Justine und zur österlichen Zeit zum Empfange des heiligen Abendmahles.

Beim Herannahen dieses Namensfestes war die alte Frau zur Beichte gegangen, und der Kaplan hatte sie ihr abgenommen, war somit ihr Beichtvater geworden. Als sie, heimgekommen, ihrer Enkelin erzählte, daß sie bei dem Abbé Perichard gebeichtet habe, fühlte Helene, die den Pfarrer vorgezogen haben würde, eine gewisse Beunruhigung; doch hielt sie jede Bemerkung zurück.

Obgleich Ostern noch nicht so nahe war, sah sie fünf oder sechs Tage nach ihrem Abenteuer im Steinbruche ihre Großmutter nach der Kirche zu einer Stunde, wo kein Gottesdienst stattfand, gehen; dies wiederholte sich in der nächsten und zweitnächsten Woche.

Es war dies ein Besorgnis erregender Umstand.

Nicht mindere Sorgen bereitete Helenen der moralische Zustand der alten Frau: man brauchte sie nur anzusehen oder ihr zuzuhören, um zu erkennen, daß sie etwas Hochernstes, Wichtiges im Sinne haben mußte.

Nie noch hatte sie so oft aufgeseufzt und so merklich, daß die kleine Rosalie, der nichts entging und die alles beredete, selten unterließ, sie zu fragen, ob sie nicht krank wäre.

Nie noch hatte sie Helene mit so tieftraurigen, stumm klagenden Blicken angesehen; aus ihren schmerzlich zusammengepreßten Lippen stieß es ihr nur immer das Nämliche, die beredteste Klage heraus:

»Das ist ein rechtes Unglück!«

Helene fürchtete sich, sie zu fragen, was sie damit meine; denn sie wußte im voraus die Antwort: »Wenn man sich mit den Geistlichen auf einen feindlichen Fuß stellt;« aber die kleine Rosalie beobachtete die gleiche Zurückhaltung nicht.

»Was ist denn ein rechtes Unglück, Frau Margueritte?« fragte sie mit ihrer verschmitzten und zugleich scheinheiligen Miene.

»Das hat dich nichts zu kümmern!«

»Das kümmert mich wohl!«

»Ich sage dir: nein.«

»Und ich sage Ihnen: ja, denn erstlich thut es mir wehe, daß Sie unglücklich sind, und dann machen Sie, wenn Sie Kummer haben, die Suppe weniger gut.«

Helene ging mit sich zu Rate, ob sie mit Fragen in sie dringen sollte; aber sie stand davon aus dem Grunde, daß es unnütz wäre, Klagen, deren Stillung nicht in ihrer Macht läge, hervorzurufen, ab.

Alles, was sie vermochte, war, diesen Kummer so viel als möglich zu lindern, und dessen befliß sie sich auch, ohne zu ermüden oder sich abschrecken zu lassen, vielmehr erfinderisch in liebreichen Worten, in zarten Rücksichten; dennoch, was sie auch that, gelang es ihr nicht, die leiseste Spur von Heiterkeit um die wie im steten Schmerze verzogenen Lippen hervorzuzaubern.

Einige Wochen verstrichen derart, gleichmäßig trübe und verdüstert, und immer noch begab sich die Großmutter nach der Kirche zu Stunden, an denen kein Gottesdienst war.

Die Charwoche rückte heran, mithin der Zeitpunkt, wo Frau Margueritte das heilige Abendmahl zu empfangen pflegte. Am Palmsonntage erschien sie noch niedergeschlagener wie gewöhnlich, und als Helene nach dem Kirchensegen sich anschickte, mit ihren Schülerinnen zu dem gebräuchlichen Spaziergange aufzubrechen, preßte sie die Frage heraus:

»Wirst du frühzeitig heimkommen?«

»Wenn du es wünschest, Großmutter.«

»Ich hätte etwas mit dir zu reden.«

»Ich kann auch daheim bleiben.«

»Nein, nein, gehe nur; aber komme nicht spät nach Hause, und lasse die Kinder im Lehrzimmer zurück.«

Helene beharrte nicht auf ihrem Antrage; kürzte jedoch ihren Spaziergang ab und war schon nach einer Stunde wieder zurück.

»Da bin ich, Großmutter! Die Kinder sind unten, niemand wird uns stören.«

Gleichwohl begann Frau Margueritte nicht sofort zu sprechen; sie ließ nur ihre Augen auf dem Gesichte ihrer Enkelin herumirren, wobei sie mehrmals aufseufzte und zwischen den Zähnen murmelte:

»Ach! O du mein Gott, leider!«

Helene that nichts, um sie zum Reden zu bewegen.

Endlich wurde die alte Frau schlüssig:

»Was ich dir zu sagen habe und was mich gar so traurig stimmt, denn ich habe nicht die mindeste Ursache, mich über dich zu beklagen, ist« – sie stockte – »ist, daß wir uns trennen müssen.«

»Uns trennen, Großmutter?«

»Es ist nicht anders.«

»Was habe ich dir gethan, Großmutter? Habe ich dich irgendwie beleidigt, gekränkt?«

»Gar nichts hast du mir gethan, liebes Kind.«

»Was dann?«

»Mein Gewissen erlaubt mir nicht, an deinem Thun und Wirken fernerhin, wenn auch nur durch mein Zusammensein mit dir, Anteil zu haben.«

Bisher hatte Helene nichts von dem, was ihre Großmutter ihr ankündigte, begreifen können. Jetzt war alles aufgeklärt: was ihre Großmutter wollte oder vielmehr, was man sie wollen hieß, und wer jene, die sie bedrängten und anreizten, waren. Dieser einzige Satz, aus dem Munde einer Frau, die gar nicht faßte, was sie redete, erflossen, trug das Gepräge seines Urhebers an sich; das war nicht die angeborene, unverfälschte Redeweise eines Bauernweibes.

Da Helene nichts erwiderte, fuhr die Großmutter fort: »Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt; auch kann ich von einem Augenblicke zum andern vor Gottes Richterstuhl abgerufen werden. Ich fühle das, mein Kind, wenn ich auch darüber keine Worte verliere; meine Gesundheit ist nicht mehr so, wie sie war; mit jedem Tage geht es mit mir abwärts und zwar rasch. Wenn der Tod mich überfällt, will ich im Frieden mit dem lieben Herrgott sterben.«

»Aber, Großmutter, habe ich denn jemals irgendetwas verübt, wodurch dieser Friede dir geraubt oder gestört wäre?«

»Bei dir komme ich um mein Seelenheil, um die himmlische Seligkeit.«

»Ja, weshalb?«

»Ich komme darum.«

Helene drang in sie, sich näher zu erklären; doch die alte Frau beschränkte sich nur auf die mehrmalige Wiederholung: »Ich komme darum.«

Obgleich Helene ihre Gelassenheit bis auf das äußerste festhalten wollte, verlor sie doch hierüber die Geduld:

»Das hat dir der Herr Abbé Perichard eingeredet?« rief sie aus, »deshalb gingst du also seit einiger Zeit so oft in die Kirche? Er verweigert dir wohl, wenn du dich nicht von mir trennst, die österliche Verabreichung des heiligen Abendmahles? Sprich, ist es etwa nicht so?«

Die Großmutter antwortete nicht; traurig das Haupt schüttelnd, blickte sie die Enkelin an.

»Wie du doch über die hochwürdigen Herren redest!« sagte sie endlich, ausweichend.

Nun wollte Helene keine unmittelbare Antwort erteilen; was half es auch, eine Rechtfertigung zu versuchen?

»Und wohin willst du gehen?« fragte sie.

»Zu den Damen im St. Josefstifte, wo man mich bei der Wäsche, wie man mir bereits angeboten, verwenden wird; wenn es schon arbeiten heißt, ist es dort besser, als anderswo.«

»Wirst du dort die Sorgfalt und Liebe, die dir hier zu teil wurden, finden, Großmutter?«

»Das will ich nicht behaupten; denn wahr ist es, daß du immer gut gegen mich gewesen; aber ich werde dort im Frieden mit dem lieben Herrgott leben, und bereit, vor ihm zu erscheinen.«

Helene hätte gar vieles zu erwidern gehabt, aber sie unterdrückte es, denn sie wäre genötigt gewesen, von sich selber und von dem, was sie gethan, damit ihre Großmutter nicht vereinsamt lebe, zu reden.

»Dann scheidest du also, Großmutter, gerne von mir?«

»Schwer kommt es mir an; aber es muß sein. Und dann brauchst du mich ja nicht; ich bin dir eine Last; ich kann dir in gar nichts nützen. Wenn du allein bist, wirst du glücklicher sein.«

»Glücklich!«

»Ich will sagen, daß dir das Leben leichter fallen wird; wie würdest du es anstellen, wenn ich eine Krankheit bekäme, altersschwach oder gliederlahm würde?«

»Ich meine, daß man daran gar nicht denken soll, nur an den Schmerz der Trennung …«

»Ich denke wohl daran, aber auch für mein Seelenheil bin ich bedacht; du weißt nicht, was es heißt, wenn man fünfundsiebzig Jahre zählt und dazu von der Sorge, mit dem Tode der ewigen Verdammnis anheimzufallen, gepeinigt ist!«

Helene vermochte gegen diese Furcht vor der Verdammnis keine Einrede zu thun; sie wußte, was sie auch sagte, würde nicht imstande sein, die Unruhe und das Bangen, womit man das Gewissen dieser Greisin erfüllte, auszutilgen; ihr erübrigte nur, es mit einem Weckrufe werter Erinnerungen zu versuchen:

»Nur noch ein Wort, Großmutter!« sagte sie. »Steht das, was du zu thun im Begriffe bist, nicht im Widerspruche mit dem, was dein Sohn, den du liebtest und in den du volles Vertrauen setztest, was mein Vater gewollt, was er noch auf seinem Sterbelager als seinen letzten sehnlichsten Wunsch bezeichnet hat? Wenn du daran denkst, dich von mir zu trennen, hältst du dadurch sein Andenken wohl in Ehren?«

Diese Mahnung erschütterte die alte Frau; Thränen traten ihr in die Augen.

»O mein armer Sohn!« stöhnte sie.

Und sie begann heftig zu weinen.

Helene wähnte, daß sie gesiegt habe; sie fuhr in ihren Vorstellungen, den bewirkten Eindruck zu kräftigen, fort.

Doch bald hörte ihre Großmutter nicht mehr auf sie: anstatt ihr etwas zu antworten, brachte sie die Lippen in eine Bewegung, wie wenn sie ganz leise ein Gebet hersagte.

 

6.

Nachdem Helene einen halbwegs klaren Einblick in die Lage, welche die Großmutter ihr soeben enthüllt, gewonnen hatte, war ihr Plan gefaßt:

Der Abbé Perichard hatte einen Winkelzug ausgeführt, um sie anzugreifen, eine Verbündete zu seiner Hilfe gerufen; sie beschloß, desgleichen zu thun, um sich wider ihn zu wehren.

Denn es war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, daß sie ihre Großmutter von sich ziehen lassen könnte; beizustimmen, daß die arme alte Frau sich zu den Damen im St. Josefstifte begebe, wäre eine Feigherzigkeit, und was, ihrer Ansicht nach, noch weit bedenklicher war, ein Verbrechen, ein Verrat an ihrem Vater gewesen. Die angeführten Beweggründe ihrer Großmutter: »Ich bin dir eine Last; ich kann dir in gar nichts nützen. Wenn du allein bist, wirst du glücklicher sein,« hatten sie durchaus nicht umgestimmt und ihre Entgegnung, daß man daran nicht denken solle, war mit voller Aufrichtigkeit erteilt worden. Nur eine Betrachtnahme war für sie ausschlaggebend: der Wille ihres sterbenden Vaters, und weil dieser Wille dahin gelautet, daß sie mit ihrer Großmutter zusammenleben sollte, so mußte sie alle Mittel aufbieten, um die Trennung, welche der Abbé Perichard betrieb, zu verhindern.

»Und wann willst du, Großmutter, fortziehen?« fragte sie.

»Sobald dies möglich, denn die Stiftsdamen benötigen mich und würden, wenn ich säumte, über die mir zugedachte Stelle anders verfügen.«

»Aber wirst du mir nicht wenigstens einige Tage Zeit lassen, um mich an diesen Gedanken der Trennung, die mich ganz unvorbereitet trifft, zu gewöhnen? Du denkst doch nicht etwa, daß ich dich ohne ein tiefes Herzeleid von mir ziehen lassen kann?«

»Auch mir thut das recht weh; doch es muß sein.«

»Muß es denn augenblicklich, oder schon morgen sein?«

»Schon morgen wäre mir selber allzufrüh; denn ich will dir keine Ungelegenheiten verursachen und dich auch nicht in eine Klemme hinsichtlich deiner Zöglinge bringen; du wirst dich nach jemandem als Ersatz für mich umsehen müssen.«

»Nun dann gehe nicht fort … ich will sagen: gehe nicht so rasch von mir; man legt hinreichenden Wert auf dein Eintreten bei den Damen im St. Josefstifte, als daß diese über die dir zugedachte Stelle anders verfügten, wie du besorgst.«

»Jedenfalls will ich vor den Osterfeiertagen dort sein.«

»Also gut, vor den Osterfeiertagen; dabei bleibt es, wofern du bis dahin nicht anderen Sinnes wirst und wofern ich dich nicht zum Hierbleiben bestimmen kann.«

»Ich bliebe ohnehin gerne … ich kann aber nicht.«

»Du hast noch mit niemandem über dein Vorhaben, dich von mir zu trennen, gesprochen?«

Die alte Frau zögerte mit einer Antwort.

»Ich meine: außer mit dem Herrn Abbé Perichard,« beeilte sich Helene, die den Grund dieses Zögerns begriff, hinzuzufügen.

»Sonst mit niemandem.«

»Dann sei so gut, auch jetzt noch hierüber zu schweigen; ich bitte dich darum.« –

Helene ging hierauf in den Garten, wo ihre Zöglinge spielten, hinab; doch hielt sie sich bei ihnen nicht auf: unverzüglich trat sie den Weg zu dem Pfarrer an.

Da der Abbé Houel ihren Besuch unerwiedert gelassen, so hatte sie es nicht für nötig befunden, ihm eine neuerliche Aufwartung zu machen; sie hatte ihn in der Kirche gesehen, sowie bei dem Religionsunterrichte, zu welchem er sich dann und wann einfand, um den Kindern ein: »Recht brav, meine Lieben, fahrt nur so fort«, zuzurufen, und darauf war ihr ganzer Verkehr mit ihm beschränkt geblieben.

Die nämliche wohlgenährte, blühend aussehende Magd öffnete ihr die Thür und geleitete sie nach einer Werkstätte, aus der man das Geschnarre einer Drehbank vernahm; hier verweilte der Pfarrer, wenn er sich nicht in seiner Bücherei mit Lesen befaßte, und unterhielt sich damit, Serviettenhälter und Tabaksdosen, die er seinen Freunden spendete, zu drechseln. Eine grüne Wollschürze vorgebunden, die Rockärmel hinaufgestreift, unbedeckten Hauptes, seine Brille auf der Nase, war er eben daran, ein Loch in einen elfenbeinernen Federhalter, den er für eine Wohlthätigkeitslotterie bestimmte, zu bohren, als Helene eintrat.

»Wie,« rief er, ohne von seiner Arbeit abzulassen, aus, »Sie sind es, Fräulein Margueritte?«

»Verzeihen Sie, daß ich Sie störe, Herr Pfarrer.«

»Ich hoffe, daß Sie wenigstens keine Streitsache hierher führt!« sagte er in einem Tone der Besorgtheit.

»Leider doch.«

»Das ist recht verdrießlich; ich hatte Ihnen so sehr anempfohlen, keinen Anlaß zu einem Hader zu geben!«

»Alles, was ich nur vermochte, habe ich vermieden …«

»Ich weiß wohl; ich vermag Ihnen deshalb keine Vorwürfe zu machen … mindestens, was die Vergangenheit anbelangt; denn sollten Sie sich jetzt in einen verdrießlichen Handel eingelassen haben, so müßte ich wohl diese Anerkennung zurückziehen.«

»An mir liegt nicht die Schuld.«

»Immer liegt an uns die Schuld, wenn wir in einen Streit geraten; es ist nur Nachgiebigkeit vonnöten.«

»Hierin kann ich nicht nachgeben.«

»Sie können nicht – können nicht!« …

»Sie mögen selbst darüber entscheiden!«

»Also muß ich Sie wirklich anhören?«

»Ja, Herr Pfarrer.«

»Ist es denn von Wichtigkeit?«

»Von großer Wichtigkeit.«

»Das ist recht ärgerlich.«

»Mindestens ist es von großer Wichtigkeit für mich.«

»Nun, dann …«

Der Abbé Houel vollendete den Satz nicht; doch seine Geberde besagte klar, daß er, wenn diese Angelegenheit bloß für Helene von Wichtigkeit war, daraus wesentliche Beruhigung schöpfte.

»Ich bin bereit, Sie anzuhören.«

Und nachdem er den Staub vom Elfenbein, der sich auf seiner Schürze angehäuft, auf den Fußboden abgeschüttelt hatte, ließ er sich gemächlich in seinem Armstuhle nieder.

Ohne sich in unnütze Einzelheiten einzulassen, aber auch ohne etwas Hauptsächliches auszulassen, erzählte Helene ihm, was zwischen ihr und dem Kaplan sich im Steinbruche begeben hatte.

»Nun ja, aber inwiefern geht das mich an?« fragte der Pfarrer.

»Ich bin noch nicht zu Ende, Hochwürden.«

Und in nämlicher Weise, aber die Herzensgründe, welche sie bestimmten, ihre Großmutter bei sich zu behalten, nachdrücklich betonend, gab sie ihm auch den Entschluß, welchen diese ihr soeben mitgeteilt hatte, kund.

Als sie ihre Erzählung beendet hatte, blickte sie der Pfarrer, wie jemand, der nicht begreifen kann, daß man gerade ihn auserwählt, um ihm eine solche Geschichte vorzutragen, an.

»Und was wünschen Sie von mir, mein Kind?« sagte er ohne Ungeduld und in einem Tone des Wohlwollens.

»Erkennen Sie, Herr Pfarrer, es als wahr an, daß man bloß deshalb, weil man mit mir zusammenlebt, verdammt sein könne?«

»Nein, mein Kind.«

»Dann, Herr Pfarrer, erwarte ich von Ihnen, daß Sie dies meiner Großmutter, welche ganz verschreckt ist, sagen.«

»Das ist bedenklich. Welch eine verdrießliche Sache, mein Kind!«

Helene war auf einen derartigen Ausruf gefaßt; sie fuhr fort:

»Ich habe weder das Ansehen, noch das Recht, über ein solches Thema mit meiner Großmutter zu sprechen, wogegen ein Wort von Ihnen, Herr Pfarrer, ein einziges Wort, all ihre Angst und Pein sofort bannen wird.«

»Ich bin nicht ihr Beichtvater; ihrem Beichtvater kommt es zu, ihr dieses Wort zu sagen.«

»Sie sind der Pfarr herr in diesem Kirchsprengel!«

»Gewiß, gewiß; doch eben dies legt mir große Vorsicht auf. Sie sehen ja wohl ein, mein Kind, daß die Rechte eines jeden geachtet werden sollen, jene des Kaplans nicht minder, ja sogar besser, als jene des Pfarrers; geschähe dies nicht, so risse Unordnung und Verwirrung ein. Ich bin ein Mann des Friedens. Man sagt zwar manchmal, daß die Eintracht zwischen Pfarrern und Kaplänen nicht immer herrsche; wo dieser Fall eingetreten, ist er nur die Folge davon, daß einer von den beiden die Grenze seines Wirkungskreises nicht einzuhalten verstanden hat. Das ist, Gott sei Dank, in unserer Pfarre nicht der Fall!«

War es denn möglich, daß der Abbé Houel im vollen Ernste sprach, daß er wirklich seine Rechte von dem Kaplan geachtet glaubte, während es doch allgemein bekannt war, daß dieser der Alleingebietende, der alles that, alles entschied, im Kirchsprengel war?

»Sie haben demnach, meine Tochter,« fuhr der Pfarrer fort, »Unrecht gehabt, wenn Sie meinten, daß ich in dieser Angelegenheit vermittelnd bei Ihrer Großmutter auftreten könnte. Ihre Besorgnis, von ihr getrennt zu werden, Ihre Liebe zu ihr, haben Sie irre geführt. Ich begreife das.«

»Aber ich kann sie nicht von mir ziehen lassen!«

»Gewiß, gewiß; ich billige Ihre Gründe; nur müssen Sie auch die meinigen gelten lassen. Sie bringen es nicht über Ihr Herz, sich von Ihrer Großmutter zu trennen; ich vermag nichts zu thun, um sie zurückzuhalten, das heißt, ich vermag nur eines: Ihnen den Rat zu geben, daß Sie sich deshalb an den Herrn Abbé Perichard wenden.« »Aber der Herr Abbé Perichard war es ja, der meiner Großmutter diese Gewissensangst eingejagt hat!«

»Was wissen Sie davon? So etwas muß man nicht aussprechen: in Worten, wie in Gedanken, wie in Werken muß man das richtige Maß einhalten. Gehen Sie zu ihm; das ist mein wohlmeinender Rat. Stellen Sie ihm das, was Sie mir so beredt geschildert, vor!«

In diesem Augenblicke öffnete die Magd die Thür der Werkstätte und machte einen stummen Knicks.

Sofort stand der Abbé Houel mit einer Raschheit, die Helene ihm gar nicht zugetraut hätte, auf.

»Man zeigt mir an, daß mein Abendessen aufgetragen ist,« sagte er; »Sie wissen ja, eine gebratene Ente darf man nicht stehen lassen; sie muß heiß gegessen werden, sonst gerät das Fett ins Stocken und läßt dann Salz und Pfeffer nicht mehr gehörig in das Fleisch dringen. Also, liebes Kind, begeben Sie sich nur sogleich zu meinem Kaplan!«

 

7.

Erst als Helene, von der Magd des Pfarrers mit einer Eilfertigkeit, wie wenn auch diese von der Befürchtung, im Genusse des Entenbratens zu kurz zu kommen, angespornt worden wäre, zurückgeleitet sich in der Hausflur befand, sah sie ein, wie naiv sie gewesen, zu wähnen, daß der Abbé Houel sich entschließen könnte, zwischen dem Kaplan und ihr in das Mittel zu treten. Er hatte diese verdrießliche Sache, die ihn bedrohte, seine Ente ausgekühlt speisen zu müssen, von sich, da sie nicht in seinen Bereich gehörte, abgewälzt.

Wenigstens schuldete sie ihm Dank für seine Offenheit, denn er hätte ihr auch antworten können, daß er mit seinem Kaplan Rücksprache nehmen werde, und sicherlich hätte er es doch nicht gethan, da es ihm hierzu an Mut und an Ansehen gebrach. Dieses Beides besaß der Kaplan, nicht der Pfarrer. Wie hatte sie das nicht vor diesem Besuche erkannt, und wie gut begriff sie es jetzt!

Die Wahrheit zu sagen, hatte sie wohl eine Ahnung davon gehabt; aber eine Art von Zaghaftigkeit hatte sie abgehalten, ihr Gehör zu leihen: es war die Furcht vor dem Kaplan, und von dieser Furcht beeinflußt, hatte sie einen Umweg eingeschlagen; jetzt mußte sie gerade ausschreiten und sich an den, der alles angerichtet, wenden.

Die Magd des Pfarrers hatte die Thür hinter ihr in das Schloß geworfen; ohne zu zaudern, aber in einer peinlichen Gemütsstimmung, zog Helene die Klingel an der Wohnung des Kaplans.

Der Abbé Perichard selbst öffnete die Thür.

Wie er sah, wer vor ihm stand, prallte er förmlich zurück; doch fast augenblicklich trat er wieder vor und lud sie mit einer freundlichen Miene, ja sogar seine Lippen zu einem Lächeln verziehend, zum Eintreten ein.

Er führte sie nach dem Zimmer, worin sie bei ihrem ersten Besuche gewesen; auf dem Tische aus Tannenholz erblickte man Tintenzeug, Federn und Papier.

»Belieben Platz zu nehmen, Fräulein!«

Ihr fiel der heisere Klang seiner Stimme auf, und als sie die Augen zu ihm emporschlug, gewahrte sie, daß sein Antlitz leichenfahl war und daß seine Hände heftig zitterten.

Sie saßen einander gegenüber, der Kaplan den Rücken gegen das Fenster gekehrt, folglich sie selbst mit dem Angesichte in voller Tageshelle.

So verblieben sie sprachlos, und obgleich Helene ihre Augen gesenkt hielt, merkte sie, daß die seinigen auf ihr ruhten; bei der herrschenden Stille vernahm sie sein tiefes und gepreßtes Atemholen.

Je länger dieses Schweigen währte, desto peinvoller wurde es.

Helene sah ein, daß es ihr zukäme, es zu brechen, weil sie das Anliegen, das sie hierhergeführt, doch auch vorbringen mußte; aber sie wußte nicht, wie sie die Ansprache einleiten sollte; das Benehmen des Kaplans übte eine lähmende Wirkung auf sie aus.

Es war ihre Gewohnheit, die Augen beim Sprechen emporgerichtet zu halten und auf den, welchen sie anredete, zu heften; sie glaubte, daß sie, wenn sie derart verführe, etwas minder unbehaglich sich fühlen dürfte: sie blickte den Kaplan an.

Nie hatte sie auf seinem Antlitze einen ähnlichen Ausdruck von Sanftheit und Niedergeschlagenheit, in seinen Augen einen so tieftraurigen, erloschenen Blick geschaut, so zwar, daß sie, anstatt einige Sicherheit zu gewinnen, nur noch unruhiger, erregter wurde.

Gleichwohl mußte sie sprechen; aber weshalb drängte er, der gewöhnlich so Ungeduldige, sie gar nicht hierzu?

Ganz im Gegenteile hatte es den Anschein, als ob dieses Stillschweigen ihm wohl behagte, als ob er ein Vergnügen daran fände, es hinauszudehnen. Dennoch trat eine plötzliche Veränderung in seinen Zügen ein: seine Stirne legte sich in Falten, seine Augenbrauen schoben sich aneinander und Zorn funkelte aus seinen Blicken.

»Nun, Fräulein,« fuhr er sie an; »ich warte; wir können doch nicht stumm wie Fische bleiben! Was wollen Sie von mir? Warum kommen Sie zu mir?«

Helene konnte nicht länger zögern.

»Um mit Ihnen über meine Großmutter zu sprechen,« sagte sie.

Das Schwerste war hiermit über ihre Lippen; sie fuhr fort:

»Meine Großmutter hat soeben mir angekündigt, daß sie von mir scheiden müßte, weil ihr Gewissen ihr nicht erlaubte, an meinem Thun und Wirken fernerhin, wenn auch nur durch ihr Zusammensein mit mir, Anteil zu haben. Ich kenne meine Großmutter, ich kenne ihre Ansichten ebensowohl als ihre gewohnte Ausdrucksweise, und ich bin hier, um Ihnen mit aller Offenheit zu erklären, daß ich, wie ich sie derart sich zu mir äußern hörte, sofort begriff, daß sie nur das Echo eines anderen, daß das, was sie zu mir sagte, ihr eingeredet worden sei; weder dem Inhalte, noch der Form nach kam dies aus ihr. Doch traf mich der Schlag deshalb nicht minder hart. Meine Großmutter ist meine einzige Anverwandte; ohne sie stehe ich ganz allein, ohne Freunde, ohne jemanden, den ich liebe oder der mich liebte, in der Welt.«

»Ich glaubte,« bemerkte der Kaplan, wieder gelassenen Tones und sie scheu von der Seite ansehend, »daß Sie einen Oheim oder vielmehr eine Tante hätten?«

»Das ist richtig; aber meine Tante betrachtet als Mitglieder ihrer Familie nur solche Anverwandte, denen das Glück nicht abhold ist: ich bin ihre Nichte gewesen, ich bin es nicht mehr. Wie ich Ihnen gesagt, habe ich nur meine Großmutter.«

Der Kaplan starrte sie regungslos an; wie sie sah, daß er nichts entgegnete, nahm sie wieder das Wort:

»Wären Sie der Mann, für den ich Sie bei meiner Hierherkunft gehalten, würde ich diese Sprache nicht zu Ihnen führen …«

»Und für welchen Mann haben Sie mich denn gehalten?«

»Für einen unversöhnlichen, unerbittlichen Mann.«

»Und wer hat Ihnen gesagt, daß ich nicht dieser Mann wäre?«

»Sie selbst gaben mir dies zu erkennen.«

Neuerdings veränderten sich seine Züge, nahmen sie den Ausdruck abstoßender Wildheit an:

»Wann hätte ich Ihnen das zu erkennen gegeben? Nur heraus mit der Sprache, Fräulein!«

»Als Sie mir eine Tasse Thee durch die Schwester Ambroisine reichen ließen.«

»Damals litten Sie an heftigem Husten.«

»Ein unversöhnlicher Mann würde dies gar nicht beachtet haben; aber auch bei unserem Zusammentreffen im Steinbruche gaben Sie mir das kund, indem Sie mich … baten, Yvranches zu verlassen.«

»Vorbeugen wollte ich dem, was Sie jetzt trifft.«

»Solche Zuvorkommenheiten, wie auch andere flüchtige Wahrnehmungen, die ich machen konnte, haben mich gelehrt, daß ich mich an Ihr Herz wenden dürfe.«

Wieder blickte er sie mit tieftraurigen Augen, wie sie bereits an ihm bemerkt, an; plötzlich sprang er, sichtliche Gewalt sich anthuend, vom Stuhle auf und stoßweise brach es aus ihm hervor:

»Nein, nicht an mein Herz, nicht an mein Herz; ich muß Sie von hier hinweghaben, und Sie werden gehen!«

»Mögen Sie gegen mich unternehmen, was Ihnen beliebt; daß Sie derart wider mich handeln können, ist mir erklärlich, weil Sie mich wie eine Feindin verfolgen, doch gegen meine Großmutter, nein, Herr Abbé, werden Sie nicht feindselig auftreten! Daß ich in Ihren Augen strafwürdig erscheine, gebe ich ja zu, und dies rechtfertigt vielleicht den Kampf, den Sie unternommen, um mich von hier zu vertreiben. Aber inwiefern hat meine Großmutter eine Strafe verdient? Was hat sie verbrochen? Nichts! Warum dehnen Sie dann Ihre Verfolgung auch auf sie aus? Wie können Sie es sie für mich entgelten lassen wollen? Denn sie wird es zu entgelten haben, die arme Frau! Sie sehen doch wohl ein, daß sie in einem Kloster die Sorgfalt und Liebe, die ich ihr zuwende, nicht finden wird, und sie ist eine fünfundsiebzigjährige Greisin!«

»Wenn Sie meinen, daß sie ohne Sie sich unglücklich fühlen muß, warum gehen Sie nicht mit ihr von diesem Orte hinweg?«

»Ach! Also vernehme ich endlich, was mit dieser Trennung eigentlich bezweckt werden soll! Weil man glaubt, daß ich eher selbst von hier gehe, als daß ich meine Großmutter allein gehen ließe, deshalb will man uns trennen?«

»Gehen Sie! Gehen Sie doch auch!«

»Aber ich kann nicht gehen, kann nicht thun, wie ich will; eine Schullehrerin bin ich, als eine Schullehrerin muß ich hier bleiben.«

»Seien Sie Schullehrerin, wo Sie wollen, überall; nur nicht hier!«

»Mir steht ja die Wahl einer Stelle, die mir gefällt, nicht frei; ich bin verpflichtet, in jener, die man mir zuweist, auszuharren. Deshalb bitte ich Sie, mir nicht meine Großmutter zu entreißen. Es kostet Sie nur ein Wort, um ihrem Gewissen Ruhe und Frieden wieder zu geben. Werden Sie dieses Wort nicht sprechen?«

Nicht im Tone des Vorwurfes oder der Erbitterung redete sie, sondern bittlich, indem sie kein Auge von dem Kaplan abwandte und ihm nur ein wenig von der gerührten Stimmung, die sie erfüllte, einzuflößen trachtete.

Er sprach noch immer keine Silbe; aber die Anstrengungen, die er machte, um Stillschweigen zu beobachten, waren immer unverkennbarer; jeden Augenblick schien es, als ob er die Worte, die ihm bis an die Lippen getreten, fallen lassen würde. Zweifellos war er bewegt, tief bewegt; aber er bezwang sich, und zeitweilig konnte man glauben, daß er den Zorn, um nicht schwach zu werden, nicht zu unterliegen, zu Hilfe rief.

Als Helene dies wahrnahm, beugte sie sich zu ihm, der wieder, so schwer waren ihm die Glieder geworden, sich langsam in seinen Stuhl niedergelassen hatte, vor und faltete, ihre Augen groß und innig auf die seinigen heftend, die Hände:

»Das letzte Mal, als wir uns gesehen, haben Sie sich herbeigelassen, mir zu sagen, daß Sie mich bäten; ich, Herr Abbé, flehe Sie mit aufgehobenen Händen an, Mitleid, Erbarmen mit uns zu haben. Lassen Sie Ihre Schläge mit voller Wucht auf mich fallen, wenn Sie es für gut, für gerecht erachten; aber entreißen Sie mir nicht meine arme Großmutter, entreißen Sie, ich beschwöre Sie darum, sie nicht meiner liebevollen Zuneigung, meiner Zärtlichkeit!«

»O sprechen Sie mir nicht von Zärtlichkeit!« wimmerte er laut auf, den Stuhl, woraus er sich erhoben, zurückstoßend.

»Und weshalb sollte ich nicht davon sprechen?«

»Weil dieses Wort mir die Seele zermalmt; Sie sehen doch, daß es mich um allen Verstand bringt, Sie sehen doch, daß es mich in den Wahnsinn treibt!«

Ganz umgewandelt stand er vor ihr: ein Schauder durchbebte ihn vom Wirbel bis in die Sohlen, aus seinen Augen schlug die Flammenlohe verzehrender Leidenschaft.

Einen Schritt trat er ihr näher und, sich zu ihr hinabbeugend, raunte er in ihr einem fast bis zur Klanglosigkeit gedämpften Tone zu:

»Sprechen Sie von meinem Hasse, und wir werden uns verstehen können.«

»An diesen Haß glaube ich aber nicht.«

»Dann glauben Sie an meine – Liebe!«

Helene streckte beide Hände, wie abwehrend, vor.

»O mein Gott!« rief sie voll Bestürztheit aus.

»Haben Sie denn nicht erkannt, daß dieser Haß, mit dem ich Sie verfolgte, nichts anderes bezweckte, als das Gefühl, das mich unwiderstehlich zu Ihnen hinzog, das mich trotz allem beherrschte, unterjochte, und das mir dieses Geständnis entreißt, im Keime zu ersticken? Verstehen Sie jetzt den Kampf, den ich wider Sie geführt, und das demütige Flehen, das ich an Sie gerichtet, damit Sie von hier gehen, Ihrer Ruhe und der meinigen willen, Ihres Seelenheiles, wie des meinigen wegen? Sie haben nicht verstehen, nicht sehen, nicht gehen wollen. Nun, jetzt ist es zu spät, denn dieses entsetzliche Geheimnis, das ich Ihnen, ja mir selbst, verbergen wollte, habe ich geoffenbart, und Sie werden, sollen nicht von hier scheiden, weil ich Sie liebe – ja, ich liebe Sie, ich liebe Sie unsäglich!«

Bei den ersten Worten hatte Helene, von seinem heißen Atem angeweht, von ihm zurückweichen wollen; doch da er vor ihr, der Sitzenden, stand, zu ihr sich herabbeugte, sie fast mit seinen beiden Armen umfing, hatte sie ihn trotz alles Widerstrebens anhören müssen; bei dem Schluß seiner Rede aber richtete er sich in überwallender Leidenschaftlichkeit und schwärmerischer Verzücktheit empor, und diesen Augenblick benützte sie, um rasch sich zu erheben und aus seiner Nähe zu flüchten:

»Sie,« rief sie, »Sie, ein Priester! Ach, Unglückseliger!«

In ziemlicher Entfernung standen sie sich gegenüber. Der Kaplan that keinen Schritt, sich ihr wieder zu nähern: seine Arme sanken schlaff herab, sein Haupt neigte sich nach vorne, sein Rücken krümmte sich; er schien auf den Füßen zu wanken.

»Ich errege Ihren Abscheu?« stammelte er.

»Nein, keinen Abscheu – Mitleid.«

Das Haupt wieder emporrichtend, blickte er sie an, und Helene glaubte den Tod aus seinen Augen zu erschauen.

»Ich sehe Sie zum letzenmale,« sagte er. »Leben Sie wohl!«

Sie schritt nach der Thür.

»Nein,« rief er ihr nach »noch nicht; gehen Sie nicht so schnell von mir!«

Doch sie blieb nicht stehen und legte die Hand auf die Klinke; wie sie die Thür öffnete, erfolgte ein dumpfer Schall, wie von einem fallenden Körper; sie wandte sich um.

Der Abbé Perichard war auf die Kniee gestürzt und streckte seine beiden Hände, inbrünstig flehend, nach dem über dem Kamine hangenden Madonnenbilde aus.

 

8.

Helene verbrachte einen großen Teil der Nacht in Schlaflosigkeit, im Überdenken ihres neuesten Erlebnisses.

Wie hatte sie nicht durchblickt, nicht erkannt, daß der Kaplan sie liebte?

Jetzt traten ihr die Beweise dieser Liebe ebenso zahlreich als deutlich vor die Augen: diese Blicke, woraus heiße Sehnsucht, leidenschaftliches Verlangen flammte, dieses barsche, rauhe Benehmen wider sie, das er eigentlich wider sich selbst, wenn er gegen seine Schwäche aufkommen wollte, herausgekehrt, dieser scheinbare, erzwungene Haß, und dieser wütige Kampf, wodurch er sich selbst zu schützen suchte.

Wie hatte er leiden müssen, und wie gewaltig mußte seine Leidenschaft sein, daß er sie nun einbekannt hatte!

Allerdings war sie nicht ohne Mitgefühl für die verzweiflungsvolle Lage, in welche dieser Priester, der unentwegt den Pflichten seines Berufes bis zu ihrem Eintreffen in Yvranches nachgekommen, geraten war; wie lebhaft es aber auch war, konnte sie doch nicht umhin, vornehmlich ihrer selbst eingedenk zu sein.

Wenn er Yvranches verließ, wie aus seinen letzten Worten entnehmbar, war sie seiner los und ledig.

Wenn er dagegen blieb, so hatte sie nichts mehr zu besorgen; denn nach seinem Geständnisse würde er den Kampf wider sie nicht fortführen können, und ihre Großmutter sich auch nimmer genötigt fühlen, ihr Seelenheil im St. Josefstifte zu wahren.

Es ließ sich voraussetzen, daß ein so heftiger, leidenschaftlicher Mann wie er, nach dem, was zwischen ihm und ihr vorgefallen, sie nicht wiedersehen konnte, ihr Anblick ihm unerträglich sein mußte; wenn er der Logik seines Charakters gemäß handelte, vermochte er gar nicht anders, als die Dinge bis auf die Spitze zu treiben, wie er es stets gethan, und es blieb ihm sonach nichts übrig, als Yvranches auf Nimmerwiederkehr zu verlassen. Wenn er gesprochen hatte, so war dies zuverlässig unter der Einwirkung einer unwiderstehlichen Macht und ohne alle Hoffnung geschehen: er hatte gesagt, daß er liebe, um es eben zu sagen, nicht um Gegenliebe zu begehren. Er war nicht der Mann, den es nach Versuchungen gelüstete; er mußte, nachdem er nicht vermocht hatte, sie zum Fortgehen aus Yvranches zu nötigen, entschlossen sein, sie zu fliehen.

Dies schrieb die Logik vor; aber würde er, bei den obwaltenden, für ihn so grausamen Umständen, der Stimme der Vernunft Gehör geben und den Weg der Logik wandeln können? Sie war in Liebessachen ganz unerfahren; dennoch stellte sie sich vor, daß, wenn man liebt, die Logik und die Vernunft sich sehr schwach der Leidenschaft gegenüber bewähren dürften.

Sämtliche Folgerungen und Vernunftschlüsse waren demnach unnütz; unmöglich war es, mit Bestimmtheit vorherzusehen, was der Kaplan thun würde; dies mußte abgewartet werden.

Über dieser gewonnenen Ansicht schlief sie gegen Morgenanbruch ein.

Auch erwachte sie erst, als schon heller, lichter Tag war; doch war es nicht der Sonnenschein, der sie aus ihrem Schlafe aufgestört, sondern ein Schellengeklingel, das sie im Bette zu vernehmen durchaus nicht gewohnt war: es kam von den Pferden des Postwagens, der alle Morgen um Sieben von dem Gasthause »zum Großtürken« nach Condé abfuhr.

Aus dem Bette springend, lief Helene an das Fenster in der Meinung, daß sie sich täuschte; aber es hatte damit seine volle Richtigkeit: der Postwagen stand bespannt vor dem Thore des Gasthauses und um ihn eine kleine Schar von Reisenden, dem Zeitpunkte des Einsteigens entgegenharrend.

Als sie mechanisch ihre Augen auf dem Hauptplatze umherschweifen ließ, gewahrte sie den Kaplan, der eben aus seiner Behausung trat und mit einem Manne, der ihm ein Felleisen nachtrug, auf den Postwagen zuschritt.

Er reiste also ab!

Sie trat in ihr Zimmer zurück. – Er reiste ab! Alle ihre Folgerungen, zu welchen sie während der Nacht gelangt, erwiesen sich als richtig: er liebte sie so sehr, daß er in Yvranches nicht zu bleiben vermochte.

Der arme, junge Mann!

Während sie, sich in Hast ankleidend, diesem Gedanken nachhing, erscholl Peitschengeknalle und Eisengeklirre, wovon die Fensterscheiben erzitterten, herein; es war der abfahrende Postwagen. Er mußte an ihrem Schulhause vorbei. Auf dem Dachsitze des Wagens, der keine Überdeckung hatte, erblickte Helene den Kaplan, eben als er seine Augen auf ihre Fenster gerichtet hielt. Ihre Blicke trafen zusammen, und der Abbé, schnell mit der Hand nach seinem Hute greifend, begrüßte sie ehrerbietig; da die Pferde im vollen Trabe waren, sah sie ihn dann nur mehr von der Rückseite; er wandte sich nicht um, und bald war der Postwagen in einer Staubwolke verschwunden.

An diesem Vormittage war sie wohl recht zerstreut und während des Unterrichtes mußte sie wiederholt die Frage an die Kinder stellen:

»Wo bin ich denn stehen geblieben?«

Das war noch nie vorgekommen, und die kleine Rosalie wisperte ihrer Nachbarin zu, daß sie das Fräulein für krank halte.

Gegen Zehn ging die Thür des Lehrzimmers in aller Weite auf und würdevoll, den Rohrstock in der Hand, den Dreispitz auf dem Haupte, betrat der Pfarrer die Schwelle.

Augenblicklich waren alle Kinder auf den Füßen, ohne daß Helene es ihnen erst zu bedeuten gehabt hätte, und erwarteten ihn in ehrfurchtsvoller Haltung.

»Setzt euch, liebe Kinder!« rief der Pfarrer in wohlwollendem Tone ihnen zu. »Guten Tag, Fräulein Margueritte!«

Es war das erste Mal, daß der Pfarrer seinen Fuß in ihre bis zu dieser Stunde mit Acht und Bann belegte Schule setzte, und nicht ohne eine lebhafte Wißbegierde fragte Helene sich, was dieser Besuch wohl zu bedeuten haben möge.

»Ich will hoffen, daß diese kleinen Mädchen sich brav aufführen,« sagte er.

»Im Allgemeinen bin ich mit ihnen zufrieden,« antwortete Helene.

»Schön, recht schön; wir wollen sogleich sehen, wie es um ihr Wissen und Können steht! He! du Kleine dort hinten, sage mir, wie viele Söhne hat Jakob gehabt!«

»Zwölf.«

»Sehr brav! Und du, kleine Schelmin, wie hieß denn der Vater des Königs Salomon?«

»David.«

»Sehr brav! Fahrt nur so fort, meine Kinder, nur so fort; und Ihnen, mein Fräulein, gebührt alle Anerkennung; es freut mich recht sehr, zu sehen, daß Sie den Unterricht in unserer heiligen Schrift, welche die Grundlage alles Wissens ist, nicht vernachlässigen.«

»Möchten, Herr Pfarrer,« sagte Helene »nicht auch in der vaterländischen Geschichte, im Rechnen, in der Sprachlehre prüfen?«

»Nein, nein, das genügt; ich bin sehr zufrieden.«

Und nachdem er die Bänke der Kinder, um zu sehen, ob ihre Hände rein wären, abgegangen hatte, schritt er, von Helene begleitet, der Thür zu.

In der Hausflur angelangt, blieb er, indem er selbst die Thür des Lehrzimmers schloß, stehen:

»Sie sind« – fragte er Helene leise – »gestern bei dem Herrn Abbé Perichard gewesen?«

»Ja, Herr Pfarrer.«

»Was ist zwischen Ihnen und ihm vorgefallen?«

Diese Frage belehrte Helene, daß der Besuch des Pfarrers nichts anderes bezweckte, als ihr Anlaß, sich über den Kaplan auszusprechen, zu bieten, und dies mahnte sie zur Vorsicht. Über das Vorgefallene durfte sie sich nicht rückhaltlos äußern.

»Wir haben über meine Großmutter gesprochen,« erwiderte sie.

»Das kann ich mir wohl denken, aber was weiter? Wie hat der Herr Abbé Perichard Ihr Anliegen ausgenommen?«

»Diese Frage zu beantworten, fällt mir schwer.«

»Weshalb?«

»Weil der Herr Abbé Perichard mir keinen ausdrücklichen Bescheid gegeben.«

»Ist er unwillig, aufgebracht gewesen? Hat seine Heftigkeit ihn übermannt? Sie sehen, daß ich unverhohlen mit Ihnen spreche; antworten Sie mir in gleicher Weise.«

Helene befand sich in einer peinlichen Verlegenheit; sie versuchte einer näheren Erörterung zu entgehen:

»Aber wahrlich, Herr Pfarrer, ich fühle mich außer stande, ein Urteil über den Herrn Abbé Perichard abzugeben oder gleichsam ein Zeugnis wider ihn abzulegen; Sie erkennen doch an, daß dies unstatthaft für mich ist!«

»Und wer verlangt denn von Ihnen, daß Sie ein Zeugnis wider ihn ablegen sollen? Davon ist ja gar nicht die Rede. Es betrifft vielmehr, mein Kind, etwas Bedenkliches, Rätselhaftes, das sich ereignet hat, und was ich von Ihnen erwarte, ist, daß Sie mir behilflich sind, hierüber Aufklärung zu erhalten. Sie flößen mir so viele Achtung ein, daß ich glaube, von Ihnen nicht im Unklaren belassen zu werden, sobald Sie erfahren haben, um was es sich handelt. Ich habe nämlich von dem Abbé Perichard ein Schreiben empfangen, worin er mir anzeigt, daß er Yvranches verlasse, um nie wieder anher zurückzukehren, daß er als Sendbote unseres heiligen Glaubens, als Heidenbekehrer, sich nach Afrika begeben werde. Was ist die Ursache dieser urplötzlichen Abreise? Das suche ich zu ergründen, um ihn, wofern es möglich ist, daran zu behindern, und deshalb frage ich Sie, was zwischen dem Herrn Abbé Perichard und Ihnen vorgefallen ist. Ungeachtet seiner christlichen Tugenden ließ der Abbé Perichard bisweilen sich durch die … Heftigkeit seines Temperamentes hinreißen; er ging dann viel weiter, als er wollte, und wenn er wieder zu sich kam, that er alles, um seinen Fehler zu sühnen. Hat er sich derart gegen Sie, mein Kind, hinreißen lassen und ist seine Abreise eine Sühne? Nur das möchte ich von Ihnen erfahren; ich bin überzeugt, daß Sie ein zu gutes, edles Herz haben, um ihm einen Groll nachzutragen, und daß Sie nicht zögern werden, mir beizustehen, um meinen Kaplan zurückzubekommen.«

Die Frage, derart gestellt, machte Helenen das Antworten leichter.

»Ich habe gegen den Herrn Abbé Perichard keinen Vorwurf zu erheben!« sagte sie.

»Also verläßt er Yvranches nicht Ihretwegen?«

»Darauf, Herr Pfarrer, eine bestimmte Antwort zu erteilen, ist für mich weit schwieriger. Vielleicht hat der Herr Abbé Perichard erkannt, daß er manches Unrecht mir zugefügt, vielleicht hat er, nachdem er gesehen, daß er mich von hier nicht fortzuschaffen, wie er mir mehrmals angedroht, vermag, den Entschluß gefaßt, selbst von hier zu gehen, weil ihm meine Anwesenheit unerträglich geworden.«

»Darf ich ihm demnach nicht in Ihrem Namen schreiben, daß Sie erfreut sein würden, ihn wieder zurückkehren zu sehen?«

»O, das nicht, Herr Pfarrer! Das würde nicht die Wahrheit sein; denn ich kann kein Bedauern über diese Abreise empfinden, da sie hoffentlich mir Ruhe und Frieden eintragen wird.«

Der Pfarrer mußte sich an diesen Antworten genügen lassen. –

Welch ein Ärgernis für einen Teil der Bewohner von Yvranches, als es ruchbar geworden, daß die Schullehrerin den Kaplan zum Aufgeben des wider sie geführten Kampfes gezwungen, ihn in die Flucht gejagt habe!

Dagegen, bei der anderen Partei, welch ein Frohlocken, welch ein Siegesjubel!

»Seht Ihr nun ein, was durch ein politisches Benehmen, durch ein kluges Maßhalten zu erreichen ist?« rief Bonnot, höchlich befriedigt, aus.

»Das einzige und was alles miteinander sagt,« gab Paildieu schlagfertig ihm zurück, »ist, daß die Schulschwestern erst eingeseift sind; das Bartscheren steht noch aus!«

 

9.

Helene hatte sich in der Voraussetzung, daß die Abreise des Kaplans ihr eine gewisse Ruhe verschaffen werde, nicht geirrt.

Wohl hatte diese Abreise großes Gezeter wider sie unter der Anhängerschaft der Schulschwestern und in den Kreisen, in welchen das Fräulein de la Bussonnière verkehrte, hervorgerufen, wohl waren allerlei Pläne zu ihrem Verderben, neue Kampfmittel, um »diesen armen Abbé Perichard« zu rächen, ausgeheckt worden, aber auf das viele Schreien folgte nur ein spärliches Handeln: die Seele des Widerstandes fehlte. Und dann wagte man auch nicht mehr, sich zu sehr bloßzustellen, denn wußte man auch nicht, welche Waffen die Lehrerin gegen den Kaplan angewandt hatte, so stand doch die eine Thatsache, welche zur Bedächtigkeit und Vorsicht mahnte, fest: er, der doch ein herzhafter, entschlossener Mann war, hatte durch sie eine Niederlage erlitten. Zweifelsohne müßte man den Kampf fortführen und ihr den Aufenthalt in Yvranches unleidlich machen; nur rate die Klugheit an, sich keiner Gefahr auszusetzen; alle Schläge, die man in gedeckter Stellung ihr versetzen könnte, würde man wider sie führen; doch wenn man sich dabei eine Blöße geben müßte, wäre es vorzuziehen, ja wäre es geboten, davon abzustehen. Und da die vorsichtigen Leute gern sich einbilden, daß sie selbst dann, wenn nichts sie bedroht, eine Gefahr laufen, so war diese Abstandnahme allgemein geworden.

Dadurch war Helenen ein Aufatmen beschieden, und sie würde, da der Pfarrer, welcher der Beichtvater ihrer Großmutter geworden, von deren Übersiedlung nach dem St. Josefstifte gänzlich absah, und der neue Kaplan, der Nachfolger des Abbé Perichard, sich sehr zurückhaltend benahm, zum erstenmale seit ihrem Eintreffen in Yvranches einige Erholung genossen haben, wenn nicht eben zu dieser Zeit Herr Lebeurier stets zudringlicher geworden wäre.

Seit der Notar Helene mit der Erklärung, daß er sie nach seinem Geschmacke fände, beehrt, hatte dieser Geschmack verschiedene Wechselfälle durchgemacht. Zu gewissen Zeiten war Herr Lebeurier ganz Feuer und Flamme, wie wenn er nur für Helene lebte und nur an sie dächte; plötzlich zeigte er sich kühl, fast frostig, wie wenn er auf sie verzichtete; dann kehrte er als feuriger Werber zu ihr zurück; dann hielt er sich wieder von ihr fern, um sie neuerdings zu bestürmen.

Wenn Helene auch leicht zu erkennen vermochte, wie sehr sie für ihn bald im Werte gestiegen, bald gesunken, so erriet sie doch die Ursache dieses befremdlichen Umstandes nicht. Gleichwohl hatte es damit eine ganz einfache Bewandtnis: jedesmal, wenn der Notar von ihr abgewiesen worden, suchte er anderwärts sich hierüber zu trösten, da er, wie er selbst sagte, nicht der Mann war, vergeblich zu seufzen; wenn diese Tröstungen, durch den Reiz der Neuheit wirksam, ihren Einfluß verloren hatten, was bei ihm nicht lange ausblieb, dann unternahm er neuerliche Versuche, von denen er, wenn sie nicht sofort glückten, rasch abstand, um sie ebenso rasch, wenn das Gelüste ihn erfaßte, wieder aufzunehmen.

Diese Unbeharrlichkeit in seinen Nachstellungen verleitete Helene zu dem Glauben, daß er, endlich überdrüssig, hiervon für immer abstehen dürfte.

Aber gerade das Gegenteil trat ein: anstatt zu ermüden, wurde er angereizt, entwickelte er eine stetig wachsende Zähigkeit in Kraft und Ausdauer, wie wenn Ärger und Zorn mitgewirkt hätten. War es denn nicht auch demütigend für ihn, daß ein Mädchen, wie diese Lehrerin, und zugleich das schönste Mädchen, nach dem er jemals geschmachtet, einem Manne in seiner Stellung, der noch dazu eine behördliche Macht über sie besaß und ihr, wenn er es ernstlich wollte, empfindlich zu schaden vermochte, widerstand?

Sei es, daß solcher Ärger stieg, sei es, daß der Frühling sein Blut in stärkere Wallung brachte, sei es, daß die Tröstungen, die er in letzter Zeit gefunden, unzulänglich gewesen, so viel ist sicher, daß er eben damals, gleich nach der Abreise des Kaplans, seine Bedrängung bis zu einem noch nie dagewesenen Grade trieb. Überall war die Rede von der Lehrerin; hier wurde sie gelobt, dort getadelt; ihr Name klang ihm unablässig in die Ohren. Als Bezirksschulrat fühlte er sich hierdurch herausgefordert: allwöchentlich und sogar manchmal noch öfter nahm er jetzt die Inspektion der Schulen vor, wobei er nie unterließ, den Kindern Lehren zu geben. »Vor allem haltet euch immer und strengstens an die Gesetze der Sittlichkeit, meine Kinder; auf diesen beruht das Glück des Weibes in dieser Welt, nicht minder das Glück, die Ehre ihres Gatten und ihrer Kinder!« Solche Gemeinplätze trug er salbungsvoll vor, ohne zu schmunzeln, ohne alle Befangenheit, indem er mit einer verschmitzten Miene nach Helenen blickte, ihr zu verstehen gebend, daß dies dummes Zeug, wie es für die liebe Einfalt passe, wäre, daß er und sie längst, wie selbstverständlich, über derartige Kinderpossen hinaus seien.

Sein Auftreten in der Schule bereitete ihr eine wahre Marter; er ward ihr zum Schreckgespenste, das ihr sogar im Traume erschien; jedesmal, wenn die Thür ihres Lehrzimmers von außen geöffnet wurde, befürchtete sie, daß er käme.

Obgleich seine angeborene Geckerei, sowie seine durch unzählige Erfolge gewonnene Zuversichtlichkeit dem Notar eine Brille aus rosenrotem Glase, durch welche er alles, was seine Liebschaften betraf, anschaute, auf die Nase gesetzt hatte, konnte er doch nicht umhin, die Wirkung, welche er auf Helene ausübte, zu erkennen, und wenn er auch anfänglich kichernd sagte: »sie wird schon gelindere Saiten wie die anderen aufziehen«, so wurde er doch endlich erbittert und flocht in seine Schmeicheleien und Artigkeiten doppelsinnige Worte, Ungeschliffenheiten und Drohungen ein: sie bedürfe unumgänglich eines Beschützers; er verlange nichts Besseres, als alles für sie zu thun, aber sie müsse auch ihm nicht alles versagen; sie thue Unrecht, ihn in Verzweiflung zu stürzen; wenn sie ihn beglücke, wäre er der beste aller Männer; ließe sie ihn dagegen gar keine Gnade vor ihren Augen finden, würde ihn das ergrimmen, bis zur Raserei bringen, und dann sei er zu allem fähig, um seine Rache zu nehmen.

Wenn er derart redete, fragte Helene sich, was für einen Begriff sich wohl die Männer von der Liebe machen; sie wähnen also, daß man, weil sie lieben, auch sie lieben müsse, daß die Liebe in dem Herzen eines Weibes nach Belieben, auf Befehl, aus Berechnung, oder aus Furcht entstehe? Ihr däuchte, daß, wenn sie jemals liebte, dies unwillkürlich, ohne daß ihr bewußt wäre, was sie thäte, erfolgen müßte, und nicht weil man Liebe von ihr heischte. Übrigens war es nicht wahrscheinlich, daß dies jemals geschähe. Das einzige Wort: Liebe erregte ihr Schauder; hatte es sie nicht schon unglücklich genug gemacht? Und weshalb liebte man sie denn? Ihrer Schönheit wegen, sagte man. Darüber beschlich sie gar oft der Wunsch, daß Sorge und Kummer ihr plötzlich die Haare bleichten, ja manchmal fuhr es ihr auch durch den Sinn, diese blonden, ihr reizendes Haupt wie Strahlen umfließenden Haare, die ihr so viele Feindschaften zugezogen, kurz abzuschneiden. Hierdurch entstellt, häßlich geworden, würde sie vermutlich in Ruhe belassen werden, nicht bloß von dem Notar, sondern auch von allen jenen, die ihr die Ehre erwiesen, an ihr Geschmack zu finden, so zum Beispiel: von dem Koncipienten des Herrn Lebeurier, der nie vor ihrer Schule vorbeiging, ohne seinen Schnurrbart zu kräuseln, oder dem Steuereinnehmer, der, wenn sie ihre geringe Gebühr zu entrichten kam, immer bereit schien, ihr sein Herz und seine Kasse anzubieten; kurz: von dem ganzen männlichen Gefolge, das sich an ihre Fersen heftete, siegesgewisse oder schmachtende Blicke ihr zuwarf.

Die Zudringlichkeit des Notars blieb jedoch nicht die einzige Qual, welche Helene aus der Ruhe, die ihr die Abreise des Kaplans sichern zu sollen schien, aufstörte.

In den Worten, daß es tagtäglich mit ihr abwärts gehe, hatte ihre Großmutter den wirklichen Sachverhalt durchaus nicht übertrieben: sei es, daß die veränderte Lebensweise ihr übel bekam, sei es, daß die Gewissenspein, die der Abbé Perichard ihr eingejagt, sie tief erschüttert hatte, sei es aus irgend einer anderen Ursache, augenscheinlich war es, daß diese kräftige Gesundheit, welche sie bei ihrer Ankunft in Condé genoß und die dem Alter Trotz zu bieten schien, nicht mehr fortbestand: ihre blühende Hautfarbe war einer gelblichen Blässe gewichen, sie bekam einen krummen Rücken, schwache Füße, und schlich unsicher, wankend einher.

Helene wollte den Doktor Tarot holen lassen; aber die alte Frau ließ es nicht zu: sie hatte eine Scheu vor den Ärzten, wie sie bei dem Landvolke nicht selten ist.

»Warum willst du dein Geld für einen Arzt hinauswerfen?« sagte sie. »Ich klage ja über nichts.«

Sie fuhr in ihren Arbeiten fort und wollte sich, wie sehr ihr auch ihre Enkelin zuredete, keine Erholung, keine Ruhe gönnen.

Aber ein Morgen kam, wo sie sich nicht imstande fühlte, ihr Bett zu verlassen. Als Helene, darüber erstaunt, sie nicht zu hören, denn sie war immer die erste aus den Federn, in ihr Zimmer trat, traf sie selbe im Bette sitzend, schwer atmend, die Stirne bleich, die Jochbeingegend stark gefärbt, die Augen gerötet, im Gesichte Schmerz und Hinfälligkeit ausgedrückt.

»Es geht nicht, mein Kind,« sagte die alte Frau. »Ich habe aufstehen wollen, aber ich habe mich wieder niederlegen müssen. Alles dreht sich um mich, mir ist recht übel, und ein Stechen habe ich in der Seite, das mir den Atem benimmt.«

Bestürzt sandte Helene sofort nach dem Doktor Tarot. Dieser erklärte die Erkrankung ihrer Großmutter für eine Lungenentzündung, welche eine Erkältung zur Ursache habe. Bei einem geschwächten Wesen, das geringe Eigenwärme besitzt, hätte diese Erkältung, ob zwar leichteren Grades, ein Brustleiden herbeigeführt.

Die alte Frau mußte nun wohl sich einer ärztlichen Behandlung unterwerfen; mit Ausnahme ihrer Unterrichtsstunden wich Helene weder bei Tag noch bei Nacht von ihrem Lager.

Rasch nahm die Krankheit zu und einen beunruhigenden Verlauf an. Doktor Tarot verhehlte nicht Helenen seine Besorgnis:

»Wir können sie retten, und ich hoffe es; aber auch das Gegenteil ist nicht ausgeschlossen.«

Und da sie in ihn drang, sich näher zu erklären, so sagte er ihr, daß eine Lungenlähmung eintreten könnte.

»Aber ließe sich nichts dagegen thun?«

»Für den Augenblick nichts anderes, als was nach meiner Verordnung geschieht; ich werde abends nochmals kommen und, wenn der Zustand mir bedrohlich erschiene, einen Teil der Nacht mit Ihnen bei unserer Kranken zubringen. Wenigstens werden Sie nicht ganz allein sein und in steter Angst schweben, ohne zu wissen, was zu befürchten, was zu thun sei.«

Helene ward durch dieses Anerbieten und durch die Art, in welcher es gemacht worden, tief bewegt; sie war durch Teilnahmsbezeugungen durchaus nicht verwöhnt.

Abends traf Doktor Tarot, wie er es versprochen, ein und blieb, ohne daß Helene ihn an sein Anerbieten zu erinnern nötig gehabt hätte, bis ein Uhr morgens bei der Kranken; erst dann entfernte er sich mit dem Bemerken, daß für diese Nacht nichts zu befürchten wäre.

Am nächsten Abende fand er sich ebenfalls, um einen Teil der Nacht bei ihr zu verbringen, ein, und als Helene, so erwünscht es ihr auch war, ihn um sich zu haben, nicht abließ, ihn zum Heimgehen aufzufordern, erwiderte er, daß er gewohnt sei, spät sich zur Ruhe zu begeben, und überdies nur weniger Stunden des Schlafes bedürfe.

Gleichwie am Abende vorher, ließen sie sich in einer der Ecken des Zimmers, gegenüber dem Krankenbette, an einem Tische, auf dem eine Lampe mit etwas zurückgedrehtem Dochte und noch dazu mit einem dichten Schirme bedeckt stand, nieder, und führten ein eifriges Gespräch miteinander. Helene fragte ihn über die Lungenentzündung aus; er erklärte ihr diese Krankheit, indem er vornehmlich die schweren Fälle, welche er geheilt hatte, erörterte. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme; zeitweilig verstummten sie plötzlich, um nach dem Atemholen der Kranken zu horchen, oder standen auch auf, um an ihr Lager zu treten; sodann nahmen sie wieder ihre Plätze ein und setzten ihr Gespräch, das von einem Gegenstande zum anderen übersprang und am häufigsten auf sie selber zurückkehrte, fort.

 

10.

Fünf Abende nacheinander verweilte Doktor Tarot derart von Acht bis zur Mitternachtstunde bei der kranken Greisin und ihrer Enkelin; als dann die Krankheit in die Periode völliger Lösung getreten, fand er sich noch immer allabendlich ein; aber verblieb nur mehr zwei Stunden, von Acht bis Zehn.

Nun nahmen sie nicht mehr im Krankenzimmer ihren beständigen Aufenthalt, denn Frau Margueritte benötigte weiters sorglicher Überwachung nicht und zudem schlummerte sie frühzeitig ein, sank in den stärkenden Schlaf der Genesung, der nach mehreren in Fieber verbrachten Nächten so wohlbehagt. Sowie der Doktor sich von ihrem Befinden, nämlich der anhaltenden Besserung überzeugt hatte, gingen sie aus dem Zimmer und nach dem anstoßenden Gemache, welches Helene als Empfangs- und Speisesalon scherzweise bezeichnete. Dort verblieben sie im leisen Gespräche.

Die Zeit verging, ohne daß sie es beachteten, und sie waren, wenn sie in der nächtigen Stille von der Kirchturmuhr her die zehnte Stunde schlagen hörten, immer ganz überrascht.

»Wie? Schon Zehn!« rief Helene aus.

»Sie wandelt der Schlaf an?«

»O durchaus nicht; aber Zeit ist es, zu Bette zu gehen.«

»Das will sagen: auf und davon!«

Sie geleitete ihn die Treppe hinab, um ihm die Hausthür aufzuschließen; leer und öde war der Platz, kein Fenster ringsum mehr erhellt; der ganze Markt lag schon im Schlafe.

»Auf Wiedersehen, morgen früh!« flüsterte der Doktor, sich verabschiedend, ihr zu.

»Auf morgiges Wiedersehen, und herzlichen Dank.«

»Ich habe Ihnen, mein Fräulein, zu danken für diesen angenehmen Abend!«

Sie sperrte die Thür zu und lauschte seinen Tritten, die immer schwächer vernehmbar wurden; wie es ganz stille geworden, ging sie die Treppe hinan, und begab sich zu ihrer Großmutter, um nachzusehen, ob sie nicht irgend etwas benötige; dann entkleidete sie sich langsam, über das, was sie in den zwei so rasch verflossenen Stunden miteinander gesprochen, nachsinnend und wohl des Arztes selbst am meisten gedenkend.

Wie freundlich, wie hingebungsvoll hatte er sich bei ihrer Großmutter erwiesen! Wie gut hatte er sie behandelt, wie sorglich gepflegt! Er hatte sie gerettet!

Doch nicht bloß Dankbarkeit war es, was sie für ihn empfand; auch eine lebhafte, sehr lebhafte Zuneigung hatte er in ihr erweckt.

Ihr gefiel der schöne junge Mann mit seiner offenen Miene, seinem schlichten, anspruchslosen Benehmen, und was noch größere Geltung in ihren Augen hatte, war sein geistiges Wesen, seine Verstandesschärfe, seine Seelengüte, seine heitere Gemütsstimmung.

Die Stunden, die sie mit ihm allein verbrachte, waren voll Reizes für sie; ihr däuchte, daß sie, seit sie ihn kennen gelernt, neu auflebe.

Und indem sie vor dem Spiegel ihre Haare aufflocht, kam ihr weder der Gedanke mehr, sie abzuschneiden, noch wandelte sie der Wunsch an, daß sie plötzlich weiß würden. Regte sich in ihr etwa vielmehr ein Sehnen, nicht häßlich zu sein, nicht zu mißfallen?

Was sie sonderbar berührte und worüber sie lange nachdachte, war, daß sie, die so schnell in Unruhe oder Befangenheit geriet, nie das Mindeste hiervon empfunden, wenn sie die Augen des jungen Arztes auf die ihrigen geheftet spürte. Seine Blicke verletzten oder demütigten nicht; sie waren eine einschmeichelnde Huldigung und zwar die werteste, die ihr jemals gezollt worden.

Liebte er sie?

Hierüber hatte er ihr keine Andeutung gemacht; aber sie glaubte es, und diese Liebe, wofern sie bestand, hatte nichts Abschreckendes für sie.

Er war nicht bloß ein schöner Jüngling, er war auch ein ehrenhafter Mann; davon war sie auf das tiefste durchdrungen: wenn er sie liebte, wie sie glaubte, wie sie auch durch diesen Glauben beglückt war, hatte sie von ihm nichts zu befürchten.

Was hatte sie zu hoffen?

Hierüber war sie in voller Unkenntnis oder fehlte ihr wenigstens alle Gewißheit; jedoch war sie überzeugt, daß er ein Mann war, der sich durch sein Herz und nicht durch niedrige Beweggründe, durch Eigennutz und Gewinnsucht, leiten ließe.

Was sie von ihm in ihren langen Unterredungen erfahren hatte, war, daß er kein Vermögen besaß. Als Sohn eines kleinen Kaufmanns, dem es hart angekommen war, ihn Medizin studieren zu lassen, hatte er, vollständig mittellos, seinen Beruf angetreten und auch, seit er sich in Yvranches niedergelassen, kein Geld beiseite zu legen vermocht; aber er lebte und sogar auf einem sehr anständigen Fuße, ohne daß er bemüßigt gewesen wäre, sich mit Anlehen zu behelfen, sich in Schulden zu stürzen; es ließ sich fast mit Bestimmtheit der Zeitpunkt, wann er sich einer gewissen Wohlhabenheit zu erfreuen haben würde, berechnen.

War er bei so bewandten Verhältnissen fähig, ein armes Mädchen, das ihm nicht die geringste Mitgift zubringen konnte, aber das eine treffliche Erziehung genossen, das seine Ansichten und Neigungen teilte, das ihm gefiel, zu ehelichen? Sie schätzte ihn zu sehr, als daß sie ihn auch nur einen Augenblick lang durch die Annahme, er sei kein solcher Mann, hätte verunglimpfen mögen. Allerdings besaß sie keine große Lebenserfahrung, gebrach es ihr an einem tiefen Einblicke in das gesellschaftliche Getriebe; aber ihr widerstrebte der Gedanke, daß es nicht Männer gäbe, die, bezüglich einer Heirat, nicht vor allem für die sittlichen Vorzüge eines jungen Mädchens, für Bildung des Geistes und Gemütes, worin, ihrer Ansicht nach, weit mehr als in einem Vermögen die Grundlage eines gesicherten Glückes beruhte, empfänglich sein sollten. Und wenn es solche Männer gab, so war zweifellos Doktor Tarot zu ihnen zu zählen. Er würde sich nicht einer Mitgift wegen vermählen. Wenn er jene, welche er seiner Liebe würdig erachtet hatte, liebte, werde er sie auch würdig befinden, sie zu seiner Gattin zu erheben, ohne sich durch Rücksichtnahmen auf seinen geldlichen Vorteil oder seine gesellschaftliche Stellung abhalten zu lassen. Würde er sie lieben? Liebte er sie?

Vor dieser Frage hielt sie ratlos inne, ebensoviele Gründe zu ihrer Bejahung als zu ihrer Verneinung findend, von der einen zur anderen überspringend, ohne je zu wagen, sich für diese oder für jene zu entscheiden: seiner Liebe gewiß, wenn er eben sie verlassen hatte und wenn noch in ihrem Herzen die letzten Worte, die er an sie gerichtet, nachzitterten, ward sie hingegen von Zweifeln überfallen, wenn sie einige Stunden, ohne ihn zu sehen, verbrachte, und wenn die Stimme des kalten Verstandes jene des aufglühenden Gefühles erstickte.

Um zu wissen, ob sie ihn liebte, hatte sie kein derartiges Wirrsal zu bestehen, sich nicht in Unschlüssigkeit abzuquälen gehabt; sie erkannte sofort, daß kein Mann noch die Empfindung, die sie für ihn beseelte und beseligte, in ihrem Herzen zu erwecken vermocht hatte: überglücklich, wenn er bei ihr war, mit Wonne seinen Worten lauschend, an seinen Augen hangend, harrte sie, sowie er von ihr geschieden, mit sehnsuchtvollem Bangen seiner Wiederkehr entgegen.

Wohin sollte dies führen?

In dieser Hinsicht war sie weit weniger beherzt, und diese Frage drängte sie zurück.

Jedenfalls war sie in der Gegenwart glücklich, fühlte sie sich zu glücklich, als daß sie sich nicht daran genügen lassen, sich über die Zukunft Sorgen machen sollte.

Sie liebte ohne Vorbehalt, ohne Berechnung; sie schmiedete keinen Plan, um geheiratet zu werden; sie wartete ab, und dieses Harren war ihr zu süß, als daß sie darüber zu klagen vermocht hätte. Wer ihr vor zwei Monaten, damals, als sie in tiefer Verzweiflung, aller Hoffnung bar, sich ihr Leben nur als eine stete Marter, ohne Ruhe und Rast, ohne Lichtblicke von Teilnahme und Liebe, vorgestellt, gesagt hätte, daß sie eine solche Glückseligkeit empfinden würde! Was auch geschehen mochte, so würde sie doch Freuden, die sie nicht einmal geahnt hatte, kennen gelernt haben!

Den größten Kummer mußte ihr, wie es auch thatsächlich war, der Gedanke bereiten, daß Tarot bald keinen Vorwand mehr, um allabendlich ihrer Großmutter, die keinen Arzt mehr benötigte, einen Besuch zu machen, finden werde, und daß hiermit auch ihre abendlichen Zusammenkünfte und Unterredungen unglücklicherweise einen Abbruch erleiden würden.

In der That schien Doktor Tarot seine Besuche lange hinausdehnen zu wollen, denn er gab, obzwar seine Kranke sich für genesen erklärte, nicht zu, daß es damit seine volle Richtigkeit habe.

»Sie husten nicht mehr,« sagte er zu Frau Margueritte, »das ist wohl wahr, aber noch immer ist ein leichtes Blasen und Rasseln, das man bloß bei der Auscultation vernimmt, vorhanden und beides muß vollständig verschwunden sein, auf daß ich als Arzt Sie für genesen erkläre.«

Und jeden Abend nahm er durch das Hörrohr die Untersuchung ihrer Lunge vor.

»Es geht besser,« war dann sein Ausspruch, »die Besserung schreitet fort, aber ganz fertig sind wir noch nicht.«

Und nachdem er ein beruhigendes Mittel verschrieben, nachdem er ihr eine gute Nachtruhe gewünscht, entfernte er sich mit Helene; dann ließen sie sich einander gegenüber bei dem offenen Fenster nieder und nahmen ihr Gespräch, das durch die Turmuhr in voriger Nacht unterbrochen worden, wieder auf oder sogen, ohne etwas zu sprechen, die würzigen Frühlingsdüfte, welche ein linder Wind von den Gefilden anhertrug, ein oder verfolgten gar den Lauf eines Sternes am Himmel; sie bedurften nicht der Worte, um sich zu verstehen.

Helene setzte ein solches Vertrauen in den jungen Arzt, daß sie meist nicht einmal ihre Lampe anzündete, und mit ihm demnach im Finstern blieb ohne anderen Lichtschein, als den, der vom gestirnten Himmel fiel und der ihren Gesichtern eine sie gleichsam verklärende Silberblässe, woraus ihre Augen glutvoll leuchteten, verlieh.

Als sie eines Abends im vollen Dunkel, da weder Mond noch Sterne am Himmel glänzten, beisammen saßen, schlug es Zehn, ohne daß Tarot Lust zu haben schien, sich zu verabschieden.

»Sie haben nicht gehört?« sagte Helene.

»Ja wohl, aber es wird Sie doch nicht so sehr drängen, mich vor die Thür zu setzen?«

»O, das gewiß nicht!«

»Dann darf ich noch einen Augenblick verweilen?«

Wie hätte sie auch auf sein Fortgehen dringen sollen, da sie doch im Gegenteile wünschte, daß er gar nicht fortginge?

Sonach blieb er; aber anstatt den Faden ihres Gespräches wieder anzuspinnen, verhielt er sich schweigend und blickte, nach ihr sich vorbeugend, mit sprechenden Augen sie an. Bei der herrschenden Stille vernahm sie sein fliegendes Atmen.

Was hatte er ihr denn zu sagen, das ihm derart schwer auf dem Herzen lag und ihn nicht Worte finden ließ?

Dieser Gedanke verursachte ihr eine Aufregung und eine Bangigkeit, daß sie an allen Gliedern zu beben begann.

Ganz außer sich, schloß sie die Augen.

Plötzlich verspürte sie, daß er nach ihren beiden Händen faßte und sie an sich zog; bevor sie einen Widerstand zu leisten vermochte, lag sie in seinen Armen, an seiner Brust, leidenschaftlich umschlungen, und zwei glühendheiße Lippen preßten sich auf die ihrigen.

Vor Wonne und Seligkeit vergingen ihr die Sinne; doch bald wieder zu sich kommend, entwand sie sich seinen Armen, und fuhr taumelnd zurück.

Bei dieser Bewegung fiel ein Stuhl mit Gepolter um.

Der Arzt wollte Helene neuerdings umfangen, als sie die Stimme der Frau Margueritte vernahmen, welche, durch den Fall des Stuhles aus dem Schlafe aufgeschreckt, nach ihrer Enkelin rief:

»Helene, was ist's denn?«

»Nichts, Großmutter.«

Dann zu Tarot sich kehrend, flüsterte sie, mit beiden Händen nach ihrem Herzen, das unbändig pochte, greifend:

»Gehen Sie!«

»Aber, liebe Helene, das ist unmöglich – nicht in diesem Augenblicke!«

»Helene!« rief die Großmutter nochmals.

»Gehen Sie, ich flehe Sie darum an.«

»Nun denn, bis morgen, nicht wahr?«

»Ja … bis morgen …!«

Und Tarot schlich auf den Fußspitzen fort, während Helene, nachdem sie rasch ein Licht angezündet, in das Zimmer ihrer Großmutter trat.

 

11.

In einem kleinen Orte wie Yvranches, wo jedermann unter der polizeilichen Aufsicht seines Nachbarn lebte, hatten die Besuche, welche Tarot allabendlich Helenen machte, nicht unbemerkt bleiben können; sie fielen auf, sie wurden beobachtet und besprochen.

»Was führt denn nur den Arzt einen Abend um den anderen zu der Lehrerin?«

»Er behandelt ihre Großmutter.«

»Oho, man behandelt nicht Großmütter von acht Uhr abends bis zur Geisterstunde; das ist vielmehr eine Zeit, in der man mit großen Mädchen etwas zu verhandeln pflegt.«

»Nun, der Doktor ist noch jung …«

»Und die Lehrerin ist sehr hübsch.«

»Recht haben Sie, bei meiner Treu!«

»Das ist doch höchst anstößig!«

»Wie man nur so schamlos sein kann!«

»Muß man denn gleich das Ärgste annehmen?« –

Sowie einmal die Neugierde erregt war, überwachte man auch das Schulhaus: man verbarg sich hinter den Wagen, welche der Stellmacher immer vor seinem Thore beließ; man stand auf der Lauer bei dem Platzbrunnen und in der nahen Allee, und so erspähte man, daß Doktor Tarot tagtäglich gegen die zehnte Nachtstunde von der Lehrerin wegging und auch, was nicht minder bedeutungsvoll war, mehrere Male, anstatt den Weg nach seiner Behausung fortzusetzen, vor dem Schulhause hin- und herwandelte, wie wenn es ihm eine Freude bereitete, nach dem beleuchteten Fenster im Zimmer der Lehrerin emporzublicken.

Welch ein Gerede, welch ein boshaftes Geschwätze rief das in Yvranches hervor!

Hiervon drang auch einiges zu den Ohren des Herrn Lebeurier, und es schlug seiner Eigenliebe eine tiefe Wunde, wie es auch seine Eifersucht entflammte. Diese Lehrerin, die seiner Aufsicht unterstand, ließ sich von Tarot den Hof machen, blieb mit ihm halbe Nächte lang unter vier Augen beisammen, wogegen er kaum wenige Minuten sie im Gespräche festzuhalten vermochte! Sie sollte den Arzt ihm vorziehen? Kaum glaublich, beispiellos!

Aus Erkundigungen, die er unverzüglich einholte, drängte sich ihm die Erkenntnis auf, daß das, was er von vornherein als ganz unwahrscheinlich gehalten, dennoch sich als wahr herausstellte; aller Anschein wies darauf hin, daß sie den Arzt ihm vorzog.

Glücklicherweise brauchte er nur ein Wort zu sagen, um diesem beginnenden Liebesverhältnisse ein rasches Ende zu machen, und er besann sich nicht lange, dies auszuführen, so daß er, obzwar die Lehrstunde noch nicht vorüber war, nach dem Schulhause eilte.

Es war Tags darauf, nach jenem Abende, an dem Tarot Helene in seine Arme geschlossen hatte, und diese noch unter dem Eindrucke des Kusses, den sie empfangen und zurückgegeben, wie berauscht, verzückt, voll Zerstreutheit und Verwirrung war.

Nie war ihr der Anblick des Notars widerwärtiger gewesen; gleichwohl strengte sie sich an, eine äußerliche Fassung zu erringen.

»Sie wünschen die Kinder auszufragen?« sagte sie gepreßten Tones.

»Nicht die Kinder, sondern Sie,« entgegnete er leise; »wir haben miteinander zu sprechen.«

Und sofort verkündete er das Ende der Lehrstunde.

Nachdem das Lärmen der abziehenden Kinder verhallt war, lehnte er sich an die Lehrkanzel, eine Miene des Wohlwollens und der Treuherzigkeit, jene, die ihm bei Abfassung von Heiratsverträgen dienlich war, annehmend.

»Mein liebes Kind,« begann er. »In Ihrem eigensten Interesse sehen Sie mich heute hier; in letzterer Zeit haben Sie alle Abende dem Doktor Tarot bei Ihnen Zulaß gewährt?«

»Herr Doktor Tarot besucht meine Großmutter,« erwiderte Helene erbleichend.

»Doch nicht Ihrer Großmutter wegen bleibt er alle Abende bis Zehn und manchmal sogar noch länger bei Ihnen! Das giebt zu Gerede Anlaß, ja, giebt, um die Wahrheit zu gestehen, ein öffentliches Ärgernis, das um so größer, als« – er machte eine Pause – »Doktor Tarot erklärter Bräutigam ist.«

Helene wankte: sie mußte, um nicht umzusinken, sich an die Mauer halten.

»Jedermann weiß von dieser Heirat, die für den Monat September, nach der Ernte, anberaumt ist; seine Auserwählte ist die Tochter eines reichen Grundbesitzers in Clevilliers, die zwar häßlich wie der Teufel, aber eines Tages über zwanzigtausend Francs Rente haben wird. Man begreift demnach nicht, weshalb Tarot Ihnen so fleißig seine Aufwartung macht, und die Schlüsse, die man daraus zieht, sind nichts weniger als Ihrem Rufe günstig. Thun Sie diesen Besuchen also schnellen Einhalt, mein Kind; sie können Ihnen angenehm sein, ich begreife das, und sie sind auch harmloser Art, davon bin ich überzeugt; aber mit einem Worte: sie stellen Sie in einer bedenklichen Weise bloß und gefährden Ihre Stellung. Dies sagt nicht der Bezirksschulrat zu Ihnen, sondern der Freund … ein Freund, den sie stets voll Ergebenheit für Sie finden und den verkannt zu haben Sie bedauern werden. Ich will mich nicht weiter darüber erklären.«

Ohne ein Wort mehr zu verlieren, ging er, Helene ihren Gedanken überlassend.

Es war die höchste Zeit: sie war dem Ersticken nahe! Die Tochter eines reichen Grundbesitzers! Zwanzigtausend Francs Rente! Er! Aber nein, das war eine Arglist, eine Rache des Notars. Nur anzunehmen, daß dies wahr sein könnte, wäre strafbar, wäre ein Verbrechen gegen ihn. Und dennoch? …

Mit überschwerem Herzen, wüstem Kopfe, fiebernd, von Sinnen, quälte sie sich vergeblich mit Überdenken und Folgern ab.

Um Acht kam wie gewöhnlich Tarot an, lächelnd, voll freudiger Zuversicht. Wie gewöhnlich, untersuchte er auch Frau Margueritte, aber flüchtiger, indem er es eilig hatte, sich mit Helenen allein zu befinden. Auch sie drängte es, allein mit ihm zu sein, doch nicht aus dem nämlichen Grunde.

Nachdem er die Zimmerthür der Frau Margueritte geschlossen, kam er auf Helene mit ausgestreckten Armen zu; aber sie wehrte ihn mit einer Handbewegung ab.

»Ei, sind Sie mir denn böse?« sagte er. »Mein Herz hat mich Ihnen entgegengetrieben, sowie Ihr Herz Sie in meine Arme geführt hat!«

»Herr Lebeurier,« erwiderte sie, »war heute hier, und hat mir Ihre nahe Vermählung angekündigt.«

Der Arzt, ganz außer Fassung gekommen, fand nichts zu entgegnen: er ließ die Arme sinken und den Kopf hängen.

Helene hatte gehofft, daß er sich verteidigen, sich feierlichst dawider verwahren würde; sein Schweigen und seine Haltung vernichteten sie.

»Es ist also wahr?« lispelte sie; »Ihr Schweigen bestätigt es!«

Nun sah Tarot ein, daß er Unrecht gehabt, nichts zu erwidern; doch jetzt war es zu spät. Wenn er aber auch nicht mehr leugnen konnte, so vermochte er wenigstens sich zu verteidigen, zu erklären, die Sache in ein günstigeres Licht zu rücken. Dies versuchte er.

»Wahrlich,« sagte er, »das Leben wird einem recht verleidet. Ist es nicht ein Elend und ein Unsinn, daß man nie thun kann, was man will, wonach das Herz sich sehnt oder wofür der Verstand entscheidet; sondern daß man immer mit den gegebenen Verhältnissen rechnen und wider seinen Willen auf andauernde Vorteile bedacht sein muß! Gefühl und Geschäftsinteresse sind leider zweierlei!«

Voll Verlegenheit und Scham, unheimlich sich zu Mute fühlend, wider sich selbst empört, hielt er inne. Gleichwohl war ihm klar, daß er nach solchen Grundsätzen allgemeinen Vernünftelns etwas Persönliches und Bestimmteres vorbringen müßte.

»Mein Gott!« hub er wieder an, »es ist doch einleuchtend, daß ich, wenn ich Sie, bevor diese Heirat beschlossen worden, kennen gelernt hätte, niemals daran gedacht haben würde, zu heiraten …« (er verbesserte sich) »diese junge Person. Doch diese Heirat ist durch meine Eltern vereinbart worden, und ich kann sie nicht rückgängig machen. Man muß an die Zukunft denken; wenn auch ein Vermögen nicht glücklich macht, so verschafft es doch Achtung und Ansehen. Sie selbst …«

Sie unterbrach ihn mit einer Geberde, indem sie nach der Thür wies.

»Mögen Sie,« ereiferte er sich, »daraus entnehmen, daß meine Gefühle unveränderlich blieben, heute so sind, wie sie gestern waren.«

»Ebendeshalb dürfen wir uns nicht mehr sehen.«

»Aber ich werde Sie immer lieben, teure Helene!«

Auf ihn zutretend wehrte sie ihm weiteres Reden, bedeutete sie ihm, sich zu entfernen; er wich einige Schritte zurück, aber an die Thüre gelangt, blieb er stehen. Wie sie erkannte, daß er nicht fortgehen wollte, trat sie, ihn allein lassend, bei ihrer Großmutter ein. –

Welch' eine Nacht verbrachte sie! Ihre Jugend beweinte sie, und ihren Glauben an die Liebe, ihr Vertrauen in die Ehrenhaftigkeit, ihre Illusionen, ihre Hoffnungen: in diesem Zusammensturze blieb nichts rings um sie her aufrecht stehen.

Dennoch ging sie am nächsten Morgen in das Lehrzimmer hinab und gab Unterricht; sie wandelte wie in einem Traume, aber mit einer gewissen somnambulen Hellsichtigkeit.

So bemerkte sie denn auch die Abwesenheit einer ihrer Schülerinnen: einer kleinen Engländerin. Man sagte ihr, daß sie erkrankt wäre. Sie nahm sich vor, nach beendetem Unterrichte das Mädchen zu besuchen; es bot dies ihr ein Mittel, sich nicht mit ihrer Großmutter und den Kostzöglingen zu Tische setzen zu müssen, was ihr unmöglich gewesen wäre; sie mußte sich Bewegung machen, alle ihre Kräfte anstrengen, um Widerstandsfähigkeit zu erlangen.

Als sie bei der erkrankten Schülerin eintreten wollte, lief deren Mutter ihr entgegen:

»Ich danke Ihnen, mein Fräulein, recht sehr, daß Sie gekommen sind; aber gehen Sie nicht hinein. Rebekka hat die Blattern; ein so schönes Fräulein wie Sie soll sich der Gefahr der Ansteckung nicht aussetzen.«

Helene ließ sich durchaus nicht abweisen. Was war ihr jetzt an ihrer Schönheit gelegen?

Acht Tage später fühlte sie sich von Übelkeiten, Kopf- und Rückenschmerzen, heftigem Fieber befallen; sie mußte sich zu Bette legen.

»Vor allem lasse nur keinen Arzt kommen!« sagte sie zu ihrer Großmutter.

Allein Frau Margueritte hörte nicht darauf: der Doktor Tarot hatte sie gerettet; demnach ließ sie den Doktor Tarot rufen. Er eilte herbei und konstatierte die Blattern. Nächsten Tages waren die Erscheinungen des Ausbruches mit großer Heftigkeit aufgetreten. Es waren die zusammenfließenden Blattern, welche sich über das Gesicht, den Hals, den Oberleib, und die Schleimhäute erstreckten. Zum Glück für Helene war sie ohne Bewußtsein; Delirium wechselte mit Schlafsucht, mit Betäubtheit, ab. Die Krankheit war immerhin eine bedenkliche; jedoch traten keine anderweitigen erschwerenden Erscheinungen ein und sie nahm einen regelmäßigen Verlauf.

Als Helene sich in ihrem Spiegel besehen konnte, erkannte sie sich nicht wieder: ihr aufgetriebenes Gesicht war nur eine bräunliche Borke – ein Scheusal blickte ihr entgegen. –

Die Erkrankung Helenens hatte die Schließung ihrer Schule zur Folge gehabt, und da die Behörde keine Aushilfslehrerin für sie gesandt, waren fast alle ihre Kinder bei den Schulschwestern eingetreten, so daß sie, als sie den Unterricht wieder aufzunehmen vermochte, keine einzige Schülerin bekam.

»Das vereinfacht die Dinge!« sagte der große Politiker Bonnot. »Der Kampf gegen die Schulschwestern läßt sich einstweilen nicht durchführen; aber der Grundsatz der weltlichen, freien Schule bleibt gewahrt.«

Solche Wahrung war recht schön und gut; aber sie reichte für Helene nicht hin. Bereits hatte sie an Herrn Malatiré geschrieben, ihm ihre Lage auseinandergesetzt, und wenige Wochen darauf empfing sie die Kunde ihrer Ernennung nach Lafresnaye, einem Dorfe, woher die Courtomers eigentlich stammten.

»Vielleicht und bis zu einem gewissen Grade« – schrieb ihr der Schulinspektor in einem vertraulichen Briefe – »dürften Sie Gründe haben, eine Stelle an einem Orte, wo Sie Nachstellungen, die ich nicht näher bezeichnen will – genug: wenn ich Ihnen sage, daß ich alles weiß – ausgesetzt gewesen, nicht anzunehmen, wenn ich Sie nicht in Kenntnis setzte, daß Guiscard von Courtomer diese Gegend verlassen, sich in England mit einem wenig empfehlenswerten Weibe, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit einer Kunstreiterin, um alles zu sagen, vermählt hat, von dieser, wie man erzählt, mit der Reitpeitsche durchgebläut wird, und daß seine Familie die gerichtliche Ungiltigkeitserklärung seiner Ehe auf Grund ihrer heimlichen Schließung begehrt.«

Nicht bloß Guiscard hatte ihr nachgestellt; aber Helene brauchte nur in ihren Spiegel zu blicken, um einzusehen, daß sie auch von seinem Vater, dem Marquis von Courtomer, nichts zu befürchten hätte, und sie nahm die Stelle in Lafresnaye an. Sie begab sich mit ihrer Großmutter dahin, glücklich, von Yvranches zu scheiden und nicht mehr einer Begegnung mit Doktor Tarot, der sich eben vermählt hatte, oder mit dem Notar, der, sobald er sie auf der Straße erblickte, den Kopf abwandte, ausgesetzt zu sein.

In Lafresnaye angekommen, stattete sie ihren ersten Besuch der Marquise von Courtomer ab; diese erkannte sie nicht sofort.

»Wie, mein armes Kind, Sie sind es? Wie freut es mich, Sie zu sehen, ich will sagen: Sie wieder zu haben! Wenn die Schönheit des Gesichtes zerstörbar, so ist die Schönheit der Seele unvergänglich, und diese ist Ihnen, dessen bin ich sicher, verblieben. Sie sollen recht oft bei mir einsprechen, dann werden wir über den Herrn Grafen miteinander reden, und die weitere Ausbildung Adelaidens lege ich wieder, das ist selbstverständlich, in Ihre bewährte Hand. Kommen Sie mit mir; ich will Sie sogleich zu dem Herrn Marquis geleiten.«

Dies war eine Probe; sie fiel, wie Helene vorausgesehen, und sogar noch vollständiger, aus. Als sie in den Salon trat, traf sie den Marquis im Zwiegespräche mit dem Grafen Pretavoine; weder der eine, noch der andere erkannte sie; erst nachdem die Marquise ihren Namen genannt, blickten die beiden mit einer Regung des Abscheues sie an. –

Seit einem Jahre lebt und wirkt Helene in Lafresnaye, und sie hat ihre Schule über sämtliche im Bezirke emporgebracht; dort hat sie auch gefunden, was sie seit dem Ableben ihres Vaters vergeblich ersehnt: Ruhe und Frieden.

Niemand blickt sie mehr an, niemand befaßt sich mehr mit ihr; von allen Versuchern befreit, verdient sie redlich ihr Brot, lebt sie in Ehren ihrer Pflicht.

 

Ende.

 


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