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Einleitung


Unter den zeitgenössischen Romanschriftstellern Frankreichs, welche eine außerordentliche Beliebtheit sich in allen Schichten seiner Bevölkerung errungen und bewahrt, im Bürgerhause, wie in der Bauernhütte, im duftgeschwängerten Putzstübchen der Salondame, wie in der nackten Dachkammer der Handarbeiterin gleich hochwillkommen sind, deren Name fast mit Erfolg gleichbedeutend geworden ist, giebt es wenige, beinahe möchte man sagen: keinen, von dem Hector Malot an Beweisen der Schaffensthätigkeit – die Anzahl der Bände seiner Romane ist einem halben Hundert ganz nahe! – überboten wäre. Seine sämtlichen Arbeiten, deren jeder eine mehrmalige Auflage zu teil geworden, zeugen aber auch von einer echten, starken Begabung, tragen den Stempel hoher Originalität in Inhalt und Form, wenn auch nicht – was wieder zu viel gesagt wäre – in gleichem Grade, doch ohne allzu merkliche Abweichungen von einander, an sich.

Hector Malot gehört nicht zu jenen Romanciers, denen der Schall der Reclametrommel ein Bedürfnis, die ihren Ehrgeiz darein setzen, daß das Publikum auf dem Laufenden über ihre geringfügigsten Handlungen und Thaten erhalten bleibe. Seine Ruhmliebe steht tief unter seiner Arbeitsliebe, und diese ist so groß wie seine Wahrheitsliebe; den Verirrten und Gemütskranken in seinen Romanen ruft er zu: »Geht in euch, läutert euch, gesundet am Busen der Arbeit!« – Noch niemals hat er zu prunken versucht, indem er seine Pflugsterze mit schmucken Bändern oder Geflitter umwand; er pflügt, säet aus, vor den Klatschrosen mehr Scheu empfindend, als er Gefallen daran findet, weil sie einem Getreidekörnlein den Platz zum Aufkeimen entziehen und sein Verlangen nur darnach steht, eine reiche Ährenlese zu bieten. Er freut sich im Stillen seines erworbenen Rufes, ist vollauf damit befriedigt, von gebildeten, anständigen Leuten gelesen, gelobt und geliebt zu werden, und man kann auch nicht umhin, ihn lieb zu gewinnen, wenn man ihn gelesen, so sympathisch ist sein Talent, das auch ein gesundes in litterarischer und moralischer Beziehung ist.

Man fühlt aus dem Stile seiner Arbeiten, ferne von jeder Geziertheit, einen Mann heraus, der mit Herzenslust an das geistige Schaffen geht, freudig hierfür seine Kräfte einsetzt, nicht etwa einen Gleichgiltigen, der über Mühe und Plage klagt, oder einen Gelangweilten, der selbst das, was er schafft, gering achtet. Seine Personen kommen und gehen voll munterer Beweglichkeit und sicherer Gewandtheit, sprechen sich frisch und frei aus, weder um Worte noch um Antworten verlegen, sondern schlagfertig in Rede und Widerrede; sie sind ebenfalls bei guter Gesundheit, und hiervon teilt sich etwas dem Leser mit. Aus den Büchern Malot's weht ein kräftiger Hauch, der an die erfrischende, stählende Luft in Gebirgen, oder an die salzhaltige Luft am Meeresstrande gemahnt.

Vornehmlich in sittlicher Hinsicht ist das Talent Malot's ein gesundes: nicht scheut er vor der Schilderung der Laster zurück, noch geht er ängstlich gewagten Scenen aus dem Wege; aber er wählt nicht, wie manche andere, grundsätzlich und ausschließlich gewisse anrüchige Stoffe und angefaulte Persönlichkeiten. Bei ihm befindet man sich nicht in verderbter Spital- und Kerkerluft. Wenn er derartiges behandelt, so zeigt schon die Art, wie er es angreift, den Eindruck, den er davon empfindet; er wühlt nicht mit lüsterner Feder im Schlammboden gewisser Entartungen und Verderbtheiten umher; dem Leser drängt sich nicht erst die Frage auf, ob er durch seine Schilderung einen heilsamen Abscheu vor dem Schlechten einflößen will, oder ob, im Gegenteile, die beigefügten sittlichen Erläuterungen blos dastehen, um dem Wohlbehagen an der Ausmalung des Lasters als Freibrief zu dienen. Er achtet seinen Leser wie sich selbst; es ist dies eine Eigenschaft, welche heutzutage keine allgewöhnliche ist.

Übrigens predigt Malot auch nicht, sondern er erzählt, und dies mit einer außerordentlichen Leichtigkeit, aber ohne sich dadurch zur Weitschweifigkeit hinreißen zu lassen. Scharfe Beobachtungsgabe, lebenswahre Auffassung und Darstellung der Charaktere und Situationen, dramatische Führung der Gespräche, Witz und Humor, gelegentlich in ausgiebigem Maße verwertet, gesunder, praktischer Sinn bekunden sich in jedem seiner Romane. Mögen sie auch verschiedenen Wertes sein, doch wohnt ihnen der gemeinschaftliche Zug inne, daß man, wenn man sie gelesen, sie nicht vergißt, ihr Inhalt mit seinen Hauptscenen im Gedächtnisse haften bleibt, wenngleich Malot Sensationsauftritte, theatralische Knalleffecte und prunkrednerische Phrasen verschmäht, nur selten spannende Verwicklungen, romantische Abenteuer bringt; wenngleich fast kein einziger seiner Romane derart ist, daß sein wesentlichster Inhalt sich nicht in wenigen Zeilen wiedergeben ließe. Woher erklärt sich dann das Anregende und Fesselnde seiner Erzählungen, ihr großer und nachhaltiger Erfolg?

Wie Malot voll Kraft und Leben strotzt, so belebt er auch, was er berührt: er versteht es, nicht nur die Haupthandlung, sondern auch ihre Einzelnheiten mit lebensvoller Wahrheit zu durchdringen; er erzählt wie jemand, der das, was er schildert, an seinen Augen vorüberziehen sieht. Ein wahrheitsliebender und trotz seiner Fruchtbarkeit äußerst gewissenhafter Arbeiter, macht er sorgliche, eingehende Studien, bevor er etwas schreibt, macht er Reisen, um die Länder und Leute, die er in seinen Romanen vorführen will, genau kennen zu lernen. So ist er auch nach Rom zu dem Behufe gereist, um der Feierlichkeit bei einem in den römischen Grafenstand erhobenen Franzosen, deren Kenntnis er für seinen großen Roman: »Die Eheschlachten« benötigte, anzuwohnen. Während seines Aufenthaltes in der »ewigen« Stadt wurde ihm auch der päpstliche Segen zu teil. Nachdem ihm der Zutritt bei Pius IX. gewährt worden, drang dieser in ihn, daß er sich eine Gnade erbitte. Malot, ein überzeugungstreuer Freidenker, geriet dadurch in eine peinliche Verlegenheit, wußte nicht sogleich, was er antworten sollte; da verhalf ihm der Papst aus der Klemme, indem er ihm ganz unerwartet den Segen erteilte mit den Worten: »Nun, ich segne Sie unter allen Umstünden ( quand même)!« –

Hector Henri Malot erblickte am 20. Mai 1830 zu La Bouille im Departement Seine inférieure, wo sein Vater die Stelle eines Notars bekleidete, das Licht des Tages. Zu Rouen begann er seine Schulstudien, zu Paris vollendete er sie, studierte sodann die Rechte, um einem Herzenswunsche seines Vaters zu entsprechen, und trat als Gehilfe bei einem Notar ein, heimlich sich schon mit der Absicht tragend, Schriftsteller zu werden. Den inständigen Bitten seiner Mutter, die ihren Sohn mit aller Zärtlichkeit liebte, gelang es, seine Absicht, die rasch zum festen Entschlusse herangereift war, an entscheidender Stelle durchzusetzen; doch erklärte der Vater, seinen Lieblingswunsch vereitelt sehend, ihm geradezu: »Nun gut, schriftstellere; aber sieh zu, daß du dich durchschlägst, denn von mir bekommst du keinen Heller!« Die Mutter sorgte dafür, daß es ihm nicht an Geldunterstützung gebrach, wie sie auch das gute Einvernehmen zwischen Vater und Sohn bald wiederherzustellen verstand.

Der junge Schriftsteller begann bei verschiedenen kleinen Zeitschriften eine mühselige Thätigkeit, die ihm nur einen geringen Verdienst eintrug; auch versuchte er sich mit Hilfe eines Mitarbeiters auf dramatischem Gebiete. Inmitten dieser Strebungen und der hierin erlittenen Enttäuschungen lenkte er in die Bahn eines Romandichters ein, arbeitete er unermüdlich an dem Romane: »Die Opfer der Liebe«, dessen erste Abteilung: »Die Liebenden« gegen Ende des Jahres 1858 erschien und ein großes, gerechtes Aufsehen in den litterarischen Kreisen erregte. Hiermit war seine Entpuppung zum Romanschriftsteller in glänzender Weise erfolgt. Nichts kam der innigen Befriedigung, der Seligkeit seiner Mutter gleich; leider war es ihr nicht lange mehr vergönnt, sich an dem aufsteigenden Glücksgestirne ihres Sohnes zu laben. Noch erlebte sie das Erscheinen seines zweiten Romans: »Jakobs erste Liebe«, als sie plötzlich durch eine hitzige Krankheit hinweggerafft wurde. Der Schmerz Malot's über diesen Verlust flößte seinen Freunden ernste Besorgnisse ein. Durch gesteigerte Arbeitsthätigkeit suchte er sich aus seiner Verzweiflung emporzuringen, neuen Mut zu gewinnen. Seinen ersten Roman hatte er seiner Mutter zugeeignet mit den Worten: »Es liegt mir daran, dieses Buch unter deine Obhut zu stellen, weniger um seines Wertes willen, als weil es mein schriftstellerisches Erstlingswerk ist. Am Vorabende des ersten Auftretens, wie am Morgen vor einer Abreise oder einer Schlacht muß ein Kuß, einer Mutter gegeben, Glück bringen!« Diese Zueignung trägt das Datum des 4. Dezember 1858, und fürwahr – sie hat ihm Glück, reiches Glück gebracht.

In dem Zeitraume eines Vierteljahrhunderts gab Hector Malot folgende Romane, welche seinen Ruf fest begründeten und stetig erhöhten, heraus: »Die Gatten«, »Die Kinder« (zweite und dritte Abteilung seines Werkes: »Die Opfer der Liebe«), »Ein Schwager«, »Romain Kalbris«, ein treffliches Lesebuch für die reifere Jugend und übersetzt bei Eduard Hallberger in Stuttgart erschienen, »Frau Obernin«, »Ein gutes Geschäft«, »Ein Pfarrer vom Lande« mit der Fortsetzung: »Ein Wunder«, eine köstliche Satire auf die Priesterherrschaft und auf den Aberglauben, »Erinnerungen eines Verwundeten«, während des deutsch-französischen Krieges geschrieben, worin er seinen Landsleuten gegenüber nichts beschönigt und den Deutschen bezüglich ihrer Überlegenheit in der Kriegführung und der verständigen, humanen Behandlung der Verwundeten volle Gerechtigkeit widerfahren läßt; »Eine Heirat unter dem zweiten Kaiserreiche«, »Die schöne Frau Donis«, »Clotilde Martory«, Werke, durch welche er sich die höchste Erbitterung der Bonapartisten zuzog; »Juliette's Heirat,« »Eine Schwiegermutter«, »Charlottens Gatte«, »Die Tochter der Schauspielerin«, »Arthur's Erbschaft«; »Die Weltherberge« in vier Bänden: »Oberst Chamberlain«, »Die Marquise de Lucillière«, »Ida und Carmelita«, »Therese«, in der letzten Kaiserreichsepoche während der Belagerungszeit und in den Tagen der Commune großenteils zu Paris spielend; »Die Eheschlachten«, in drei Bänden: »Ein gutherziger Jüngling«, »Der Graf des Papstes«, »Durch Priester verheiratet«, anticlerikalen Inhaltes und hochinteressanter Handlung; »Cara« (Universal-Bibliothek Nr. 1946. 1947.) mit satirischen Streifzügen in das Gebiet der »Halbwelt«. Im Jahre 1878 veröffentlichte er den eigens für sein Töchterchen Anna geschriebenen Roman: »Sans famille« (»Ohne Familie«), für welchen die französische Akademie ihm den Preis Montyon zuerkannte. Mit diesem Werke erreichte er auch bisher den größten buchhändlerischen Erfolg, indem der Absatz 100,000 Exemplare überstieg; auch wurde es fast in alle Sprachen übersetzt.

Vom Jahre 1879 bis zur Gegenwart erschienen seine Romane: »Le docteur Claude«, eine sehr dramatisch bewegte, fesselnde Studie mit einer prachtvollen Gerichtsscene; »La Bohême tapageuse« (1880), worin die Verderbtheit, welche gegen Ende des zweiten Kaiserreiches geherrscht, an den handelnden Personen mit einer Anschaulichkeit, die vollste Anerkennung verdient, dargelegt ist; »Une femme d'argent« (1881), ein Werk, mit dem wir uns am wenigsten zu befreunden vermocht, wogegen wir die im nämlichen Jahre veröffentlichte »Pompon« für seine anmutigste und originellste Schöpfung erachten; »Séduction« (1881), den wir der deutschen Lesewelt in sorgfältiger Übersetzung unter dem Titel: »Im Banne der Versuchung« anbei darbieten; »Les millions hônteux« (»Die ehrlosen Millionen«) (1882), worin das finanzielle Streber- und Schwindlertum sein Brandmal erhielt; »La petite soeur« (»Das Schwesterchen«), eine rührende Geschichte, deren Erfolg jenem der »Pompon« gleichkam; (1883) »Paulette«, ein Werk voll reizender Details, abwechselnd humorvollen und rührenden Inhaltes, behandelt das künstlerische und häusliche Leben eines Malers, aus dessen Wirrsal und Düster seine Tochter als helle, makellose Lichtgestalt hervortritt; »Les besoigneuses«, (»Die Bedürftigen«) (1884) »Marichette»Micheline,« ein Roman, der zur Beliebtheit von »Sans famille« gelangt; (1885) »Le sang bleu«, (»Blaues Blut«) und endlich: »Le lieutenant Bonnet,« eine Schilderung des jetzigen Soldatenlebens, die, in alle bedeutenden und geringfügigen Einzelheiten der verwickelten, schwierigen Lage, worin der Offizier sich in einer Garnisonsstadt befindet, einweihend, neuerdings ein glänzendes Zeugnis von jener Wahrheitsliebe und gründlichen Beobachtung liefert, deren Stempel sämtliche Romane Malot's tragen.

Trotz solcher erstaunlicher Fruchtbarkeit macht Hector Malot, wie bereits erwähnt, es sich mit dem Lösen seiner Aufgaben keineswegs leicht, scheut er keine Mühe, keine Geldopfer, um sich die nötigen Sachkenntnisse anzueignen. Aber er arbeitet auch neun Monate des Jahres hindurch regelmäßig einen Tag wie den andern von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends in dem schönen Landhause, das er zu Fontenay-sous-bois, am Saume des Forstes von Vincennes, in der Nähe von Paris bewohnt. Zurückgezogen von dem Lärme der großen Welt, schafft er emsig in seiner stillen Häuslichkeit, die ihm unsäglich wert, im Kreise seiner Familie, zugleich ein vortrefflicher Gatte und Vater. Durch das Ableben seiner Gattin Anna im Jahre 1880 Witwer geworden, vermählte er sich 1881 mit Martha Oudinot, der er auch seine »Pompon« gewidmet und die bis zu einem gewissen Grade seine Mitarbeiterin geworden; ihr geistvolles, gemütreiches Wesen, sowie ihre litterarischen Neigungen bereiteten ihm das Wiederaufblühen ehelichen Glückes. Sie begleitet ihn auch auf den Reisen, die er alljährlich für die Dauer von drei Monaten entweder in seiner Heimat selbst oder in das Ausland unternimmt.

Wie schon aus seinem Romane: »Erinnerungen eines Verwundeten« erhellt, ist Malot, wenn auch ein Patriot, doch kein »Chauvin«; dies bezeugt auch, daß im Lehrplane für seine Tochter Anna, die durch das Kammermädchen ihrer Mutter, eine gebürtige Sächsin, deutsch verstehen und reden lernte, die Kenntnis der deutschen Litteratur aufgenommen ist.

Hector Malot hat sich niemals um eine Gunsterweisung und Auszeichnung seitens der Regierungen seines Landes beworben; er ist nicht Ritter der Ehrenlegion geworden, er ist ein Volksmann in der lautersten Bedeutung dieses Wortes. Der einzige offizielle Lohn, welchen er empfing, ist jener, den die französische Akademie ihm für seinen Roman: »Sans famille« zuerkannte.

Sein Äußeres, sein ganzes Auftreten macht sofort einen gewinnenden Eindruck. Er ist von mittlerem Wuchse, breitschulterig, überhaupt kräftig gebaut. Aus seinem lebensfrischen, vollen Antlitze mit hoher, kuppelartiger Stirne, welches ein langes, dunkles, hier und da von Silberfäden durchzogenes Kopf- und Barthaar umrahmt, leuchten zwei graublaue Augen, welche den Grundzug seines Wesens unverkennbar ausdrücken. Einfachheit und Biederkeit, Freimut und Herzensgüte – mit diesen vier Worten ist Hector Malot als Schriftsteller wie als Privatmann am kürzesten und am treffendsten gekennzeichnet.

Gloggnitz, 10. Dezember 1885.
Moritz Smets.

Im Banne der Versuchung.



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