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Zweite Abteilung


 

1.

Die letzten Personen, welche Helene nach dem Begräbnisse in das Schulgebäude zurückgeleitet hatten, waren soeben weggegangen. Man hatte sie umarmt; man hatte ihr die Hand gedrückt; man hatte einige Worte des Trostes und der Ermutigung an sie gerichtet und sich dann auf das schleunigste entfernt; denn was sollte man eigentlich diesem armen Mädchen sagen? was vor allem ihm antworten, wenn es um etwas ansuchte? Dieser unglückliche Herr Margueritte hinterließ nichts, was man so nichts nennt; seine Tochter ging demnach einer gräulichen Not entgegen, und es ist immer ratsam, sich vor den Armen und Elenden in Acht zu nehmen; man weiß nicht, was für Gedanken ihnen durch den Kopf fahren, was für Hilfeleistungen sie beanspruchen könnten. Es ist auch ratsam, sich vor sich selber, vor einer Anwandlung von Gerührtheit in Acht zu nehmen, denn solchenfalls geht man bisweilen Verpflichtungen ein, welche man später bereut.

In dem Salon, worin Helene, das Antlitz von Thränen gerötet, das Herz von Verzweiflung zusammengekrampft, mühsam sich aufrecht erhaltend, neben dem Kamine stand, befanden sich um sie nur noch ihre Großmutter, welche, einen Rosenkranz um ihre Finger geschlungen, für ihren armen Sohn betend in einer Ecke saß, und die Tante »Dasunddas«, welche auf einem Lehnstuhle sich breit machte.

Diese Beiden machten jetzt ihre ganze Familie aus, denn dieser Oheim und ihre acht Vettern, die eine Entfernung von drei Meilen abzuhalten vermochte, ihrem Vater nach dem Friedhofe das Geleit zu geben, galten ihr als keine Verwandten mehr.

Die Tante »Dasunddas« hatte sich eingefunden, denn sie war immer bereit, gleichviel wohin zu fahren; dagegen hatte sie, wegen eines Neffen, es nicht für nötig befunden, sich eine Trauerkleidung anzuschaffen. Dies wäre mit Unkosten verbunden gewesen, und sie hatte sich demnach begnügt, einen anderen Anzug so viel als möglich schwarz aufzuputzen; sogar dies brachte für sie eine Verspätung mit sich, so daß sie eben erst, als der Leichenzug sich in Bewegung setzte, vor das Trauerhaus angefahren kam.

Sowie sie allein sich befanden, erhob sich die Tante aus dem Lehnstuhle mit den Worten:

»Jetzt, Nichte, ist der Augenblick gekommen, über ernste, wichtige Dinge miteinander zu sprechend«

Helene blickte sie an, ohne zu verstehen, was sie meinte. Der Augenblick, über ernste, wichtige Dinge zu sprechen? Was für ernste, wichtige Dinge konnte es geben? Für sie war nur eines von Wichtigkeit: an ihren Vater zu denken, von ihm zu reden.

»Wenn ich,« fuhr die Tante fort, »gekonnt hätte, würde ich die Cocotte besser angetrieben haben, um schon vor Anfang des Leichenzuges eingetroffen zu sein; aber das dumme Vieh hängt so sehr an ihrem Füllen und ich wollte ihr nicht wehe thun, und dann, ein bißchen früher oder später, das verschlägt ja eben nicht viel.«

Sie machte eine Pause in Erwartung, daß Helene ihr etwas erwidere; als aber diese ihre Lippen nicht öffnete, ergriff sie wieder das Wort: »Wenn man ins Unglück gerät, dann findet man wieder seine Familie! Ist's nicht so, Nichte?«

Das war eben keine sehr zärtliche Rede; aber von der Tante »Dasunddas«, welche durchaus nicht zu den Gefühlsmenschen zählte, ausgegangen, konnte sie doch nicht verfehlen, auf Helenens Gemüt einen tieferen Eindruck zu machen.

»Gewiß, wenn das möglich wäre, möchte ich dir gerne anbieten, zu uns zu kommen; aber es ist nicht die Möglichkeit.«

»Das ist mir nicht in den Sinn gekommen, Tante.«

»Es ist wegen deiner Vettern; dieser Bursche, du weißt ja, wird man nicht so leicht Herr, das sind gar dreiste Gesellen, lustige Brüder«, – sie sagte dies mit stolzer Genugthuung, denn sie brüstete sich mit ihren Söhnen, wie mit allem, was ihr angehörte, ihren Mann einzig und allein ausgenommen – »und dann andererseits verstehst du ja gar nichts von der Landwirtschaft; du bist ein Fräulein, eine gebildete Person, das Dorf und die Feldarbeit würden dir nicht behagen. Mein Gott! ich mache dir darüber keinen Vorwurf. Ein jedes nach seiner Weise! In der Stadt bin ich, die ich doch daheim in allem und jedem die erste, auch nicht an meinem Platze. Das, was ich also damit sagen will, ist ganz einfach, dir zu erklären, daß du nicht zu uns kommen kannst.«

»Aber, Tante, mir ist es ja niemals in den Sinn gekommen, daß ich bei dir Aufnahme finden könnte,« entgegnete Helene verletzt, daß die Tante »Dasunddas« ihr derart die Thüre wies, sogar ehe sie noch um Einlaß gebeten hatte.

»Mir ist es aber wohl in den Sinn gekommen; ich hätte gerne gehabt, daß es sich ermöglichen ließe; gleich anfangs hatte ich auch gemeint, daß es möglich wäre, mein Mann könnte es dir nicht anders sagen, wenn er hier wäre; denn als ich das Unglück erfahren, war das erste, was über meinen Mund gekommen: »Wenn wir diese arme Helene zu uns nehmen könnten!« und erst als Franz mir erwidert: »Und die Burschen?« habe ich begriffen, daß es nicht anginge, daß er Recht hatte, wie immer.«

Helene trachtete darnach, daß dieses Gespräch, das sie in so vielfacher Weise verletzte, ein Ende nehme; sie empfand das Bedürfnis, allein, alles Zwanges ledig zu sein, ganz ihrem Schmerze sich hingeben zu können, ganz ihrem Vater anzugehören.

»Ich danke dir, Tante, für deine gutmeinende Absicht,« sagte sie »aber wie der Onkel ganz richtig bemerkt hat, ist sie nicht ausführbar.«

»Leider, mein armes Kind; ich bedauere das wahrlich; aber was in Betreff deiner nicht möglich, läßt sich bei der Schwägerin machen.«

»Bei der Großmutter?«

»Ganz richtig; sie war vor sechs Wochen noch bei uns daheim, sie kann dahin zurückkehren; sie hat jahrelang da gelebt, sie kann noch einmal da leben; die Thüren stehen ihr offen; ich bin auch erbötig, sie sogleich mit mir zu nehmen, und ich spreche im Namen meines Franz, sowie im meinigen.«

Seit dieses Gespräch begonnen, hatte die alte Frau ihr Rosenkranzbeten unterbrochen und horchte, den Kopf etwas in die Höhe hebend, aber zaghaft hin, gleich als ob sie befürchtete, daß man ihr vorwerfen könnte, sich in etwas, das sie nichts anginge, zu mengen; wie sie jedoch vernahm, daß es sich um sie handelte, richtete sie ihn ganz empor und hörte, sich weiter keinen Zwang anlegend, aufmerksam zu.

»Ich danke dir recht sehr, liebe Schwägerin,« sagte sie sodann.

»Du weißt ja, daß es gerne geschieht,« bemerkte die Tante, innerlich frohlockend. »Dein Platz an unserem Tische wartet auf dich; wir werden unser früheres Leben wieder aufnehmen.«

»Wenn das dein Wunsch ist, Schwägerin!..«

»Na, ob das mein Wunsch ist!«

Um diesen Ausruf, der ihr entschlüpft war, abzuschwächen, fügte sie rasch hinzu:

»Unsere Pflicht und Schuldigkeit ist es.«

Allein zur großen Verwunderung der Tante »Dasunddas« trat Helene dieser Abfindung, die so arglos zu sein schien, entgegen.

»Verzeihe, Großmama;« sagte sie gelassen, aber zugleich mit Nachdruck; »es ist also dein Wunsch, daß wir uns trennen?«

»Mein Wunsch wäre es nicht, mein gutes Kind, aber …«

»Dann giebt es kein Aber, Großmama; du hast auf nichts anderes, als auf deinen Wunsch Rücksicht zu nehmen.«

»Ist aber das eine Albernheit!« platzte die Tante »Dasunddas« los.

»Worin erblickst du eine Albernheit, Tante?«

»Darin, daß man, wenn man nicht genug für sich selber hat, so viel, als für zwei ausreicht, zu haben wähnt. Während der Einsegnung und des Ganges nach dem Friedhofe habe ich mit Leuten, welche den Stand der Dinge deines Vaters kennen, unter anderen auch mit dem Notar Herrn Griolet gesprochen; nun, er hinterläßt nichts, dein armer Vater, weniger als nichts!«

»Was weiter?« warf Helene ein mit dem Kopfe emporfahrend, um ihr derart begreiflich zu machen, daß sie nicht den leichtesten Anwurf wider das Andenken ihres Vaters zulassen würde.

»Nichts weiter, als die Frage, wie du, wenn du nichts hast, um deinen Lebensunterhalt zu bestreiten, auch noch deine Großmutter erhalten willst?«

»Durch Arbeit.«

»Bevor du auf dich nimmst, für jemanden zu sorgen, solltest du wissen, ob du selber dein Auskommen haben wirst; darauf darfst du nicht rechnen, daß dir von alldem da etwas abfallen wird; denn es sind Schulden zu bezahlen. Ich sage das nicht um meinetwillen; dein Vater hat immer das, was ich ihm geliefert, mir beglichen, wie es sich geziemt; doch sonst ist an Gläubigern kein Mangel. Wenn dieselben befriedigt sein werden, was wird dir dann bleiben? Das ist es, was du wissen solltest, ehe du davon sprichst, deine Großmutter zu dir zu nehmen; nichts wird dir bleiben!«

»Ich habe dir bereits gesagt, daß ich arbeiten will und werde.«

»Das ist recht schön und gut. Wir sind auf der Erde, um unser Brot zu verdienen; aber weißt du denn auch, ob du imstande sein wirst, es für dich und deine Großmutter zu verdienen? Du gehe dahin, sie gehe dorthin; du sorge für deinen Teil und lasse sie für den ihrigen sorgen! Das ist der Rat, den ich dir gebe, und, noch besseres als das, ich komme dir zu Hilfe, indem ich die Schwägerin mitnehme.«

»Ich habe dir für deine Absicht, Tante, bereits gedankt; aber mein innigster Wunsch ist, die Großmama bei mir zu behalten, und ich bitte sie, daß sie mich nicht verlasse.«

Sie trat auf diese zu und umarmte sie:

»Sage, Großmama, der Tante, daß du Vertrauen zu mir hast und überzeugt bist, daß ich es dir an nichts fehlen lassen werde.«

Die alte Frau schwankte einen Augenblick, indem sie zaghaft ihre Schwägerin ansah.

»Ich kann auch noch arbeiten, mein Kind,« bemerkte sie.

»Dann werden wir zusammen arbeiten, Großmama.«

»Wenn du dich auf sie verläßt!« sagte die Tante mit einem Achselzucken.

Helene warf sich in die Brust und ihrer Tante einen stolzen Blick zu:

»Ich verlasse mich, Tante, auf mich. Ich werde für die Großmutter arbeiten, und nicht sie wird eine Arbeit für mich zu leisten haben. Mein Vater meinte, daß seine Mutter schon zu viel gearbeitet hätte; es ist meine Pflicht, seine Ansichten und Wünsche in Ehren zu halten. Indem ich diese Sprache gegen dich führe, spreche ich in seinem Namen.«

Einen Augenblick lang war die Tante darüber betreten gewesen; doch gewann sie rasch ihre sichere Haltung wieder.

»Wenn das, was dein Vater gesagt hat, andeuten soll, daß ich meine Schwägerin zu viel habe arbeiten lassen, so ist das ein Unsinn!«

»Tante, ich kann dir nicht gestatten, in solchem Tone über meinen Vater zu sprechen!«

»Bah, was ich einmal gesagt, bleibt gesagt. Dreißig Jahre lang habe ich meine Schwägerin aus Barmherzigkeit bei mir behalten, und das ist setzt mein Dank dafür!«

»Aus Barmherzigkeit!« rief die Großmutter aus.

Doch Helene fiel ihr in die Rede:

»Großmama,« sagte sie, »ich bitte dich, lasse nur mich diese Sache mit der Tante ausmachen! Und meine Antwort ist, daß wir, damit sie künftighin ihre barmherzigen Absichten nicht mit Undank vergolten nennen könne, uns für dieselben höflichst bedanken.«

»Wie es beliebt, Fräulein Nichte; was ich that, thun wollte, sollte dir eine Erleichterung in deinem Unglücke verschaffen, wie man das seiner Familie schuldig ist. Nach der Aufnahme aber, die ich damit bei dir gefunden, sind wir miteinander fertig und ich gehe.«

Und sie machte einen Schritt gegen die Thüre; doch kehrte sie wieder um und wandte sich an ihre Schwägerin:

»Du aber lasse dir, wenn du am Hungertuche nagst, nur nicht beifallen, zu mir zu kommen und mich zu bitten, daß ich dich aufnehmen möge; dann würde es zu spät sein. Ob einem darüber nicht die Galle steigen soll! Zu viel gearbeitet, zu viel gearbeitet! O du mein himmlischer Vater! Na, guten Abend, Ihr miteinander!«

Und diesesmal ging sie, ohne wieder umzukehren, wutentbrannt von dannen. Als sie hierher kam, hatte sie sicher darauf gerechnet, daß ihre Schwägerin eine Brut junger Truthennen ihr aufziehen würde; denn sie gab unbedingt zu, daß sie hierfür niemanden Geeigneteren finden könnte, und nun mußte sie auf diesen Vorteil verzichten wegen dieses »naseweisen, hochmütigen und albernen Dinges, dem, wenn es in Not und Elend verdürbe, umkäme, nur geschähe, was es verdiente.« –

Nachdem die Tante sich entfernt hatte, blieben Helene und ihre Großmutter ziemlich lange beisammen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln; nach all den Gemütserschütterungen an diesem Morgen und in den letzten Tagen war Helene nahezu erschöpft, und der eben stattgehabte Auftritt gab ihr den Rest.

»Wir würden vielleicht doch besser gethan haben, den Vorschlag der Tante anzunehmen,« äußerte sich endlich die Großmutter, wie sich selber eine Antwort erteilend. »Ich würde meine Arbeit gehabt haben; an Kraft fehlt es mir noch nicht.«

»Nein, Großmutter, wir würden nicht recht gethan haben, denn wir hätten dann nicht den Willen Papa's in Ehren gehalten.«

»Aber wovon leben, mein Kind?«

»Ich werde arbeiten; sei ohne alle Sorge!«

»Und wie wirst du das anfangen?«

»Das weiß ich noch nicht; aber ich werde eine Arbeit finden; es gilt nur, darnach zu suchen, und ich werde unverzüglich suchen. Der Gedanke, daß ich meinen armen Papa zu ersetzen habe, wird mir Kraft und Stärke verleihen.«

 

2.

Für Helene wären einige Stunden der Ruhe und Sammlung, in welchen sie sich ihrem Schmerze völlig hätte hingeben und ausweinen können, das größte Bedürfnis gewesen; denn ihre stets zurückgedrängten Thränen drohten sie zu ersticken; seit zwei Tagen ging sie umher, sprach und handelte sie wie unter einem gräßlichen Alpdrücke, wie in einem Traumzustande, aus dem sie nicht aufzuwachen vermochte, in einer Art von Delirium mit Gedanken und Bildern, die sie halb verrückt machten oder unsäglich bestürzten.

Aber eben diese Stunden der Sammlung konnte sie nicht finden, denn sie mußte jedermann Rede stehen, Antwort geben, sich mit allem befassen, alles entscheiden, sie, die bis zu diesem Tage sich um nichts zu kümmern gehabt hatte.

Und ihre Entscheidungen, die sie ganz unversehens zu fällen hatte, betrafen nicht bloß die Gegenwart, sondern erstreckten sich auch in die Zukunft; sie galten nicht bloß dem, was sie kannte, sondern auch noch dem, wovon sie gar keine Kenntnis hatte.

Welche Angelegenheiten hinterließ ihr Vater zur Ordnung und Schlichtung? Wie war überhaupt die Sachlage beschaffen? Sie besaß davon keine Ahnung. War sie gänzliche Zerrüttung? Der Ruin? Waren Schulden zudem vorhanden? Wie würde sie selbe je abtragen können? Und doch war sie auf das festeste entschlossen, selbe, es koste was es wolle, der Ehre ihres Vaters halber, vollständig zu tilgen.

»Ich hinterlasse dir nichts,« hatte ihr Vater zu ihr gesagt.

Aber wie sah es um dieses Nichts aus? War es eigentlich ein geringfügiges Etwas? Oder stand wirklich gar kein Barvorrat zur Verfügung?

Das mußte sie so schnell als möglich erfahren; sie hätte es sogar schon vor dem Begräbnisse wissen sollen, denn bei der Besprechung der Anordnungen mit den Leuten der Leichenbestattungsanstalt befand sie sich in einer peinigenden Unschlüssigkeit, sich befragend, ob sie auch das, was sie bestellte, zu bezahlen vermöchte.

Der Notar Griolet hatte ihr zugesagt, daß er nach dem Leichenbegängnisse kommen werde, und sie erwartete ihn; allerdings würde er das, was nicht vorhanden war, auch nicht ihr aufzufinden verhelfen; aber er würde ihr eine Anleitung geben, ihre Angelegenheiten in die Hand nehmen, und dies Wäre schon ein wesentlicher Punkt: mindestens würde ihr hierdurch eine genaue Kenntnis verschafft werden.

Es war der Herr Notar ein pünktlicher Mann. Die Pünktlichkeit und die Sorgfalt für seine Bekleidung waren seine zwei Haupteigenschaften. Zum Begräbnisse hatte er sich ganz schwarz gekleidet; doch sofort nach seiner Heimkehr dieses feierliche, für einen Notar vorschriftgemäße Gewand, vor welchem er einen Schauder empfand, abgelegt, um wieder in seinen gewöhnlichen Anzug: einen blauen Gehrock, eine hellfarbige Halsbinde und ein Phantasie-Beinkleid von ungewöhnlichem, auffälligem Stoffe und Schnitte hineinzukommen.

An diesem Tage wählte er mit sorglichem Bedachte ein ganz neues Beinkleid aus, denn es galt, einem schönen Mädchen Besuch zu machen, und es lag ihm sehr daran, vor diesem zu seinem besten Vorteile zu erscheinen. Hierfür war nun ein wohlgeratenes Beinkleid, sagte er bei sich, indem er sich auf gewisse Erinnerungen, die er mit großem Wohlgefallen anführte, berief, ein entscheidender, den Ausschlag gebender Umstand. Auch genossen in Condé die Beinkleider des Herrn Griolet eine gewisse Berühmtheit, wenigstens unter den Männern, die, wenn er irgendwo eintrat, sich in eine Ecke begaben, um halblaut darüber zu spotten und ihren Scherz zu treiben:

»Haben Sie das Beinkleid des Notars gesehen?«

»Na ob! Wer sollte etwas so Außergewöhnliches übersehen können!«

»Für wen er sich doch derart herausstaffiert hat?«

»Sie wollen sagen: lächerlich gemacht hat?« –

Und man befliß sich, dies auszuforschen.

Wenn eine Frau das Unglück hatte, ihre Augen zufällig, ohne etwas hierbei zu denken, nach der Seite, wo der Notar sich befand, zu wenden, so wurde sie sofort die Zielscheibe mehr oder minder witziger, aber gepfefferter Spöttereien:

»Würden Sie das geglaubt haben?«

»Wahrhaftig nicht, und dennoch erklärt sich alles, wenn man ihren Gatten ansieht.«

»Meinen Sie, daß der seltsame Schnitt seiner Unaussprechlichen bloß ihre Blicke anzieht?«

»Wir wollen das hoffen!«

»Ich bedauere ihren Gatten.«

»Ich den Griolet vielmehr; in seiner bauschigen Hose steckt nur ein Windbeutel!«

»Ah so! Große Prahler, schlechte Zahler!«

»Dann wäre die Frau am meisten zu bedauern?«

»Sie haben es getroffen!« –

Mit der Miene eines Siegers fand sich Herr Griolet im Schulgebäude ein: er dachte sich nicht, daß dieses schöne Mädchen, für das er sich so sehr bemühte, Augen haben könnte, um dies nicht zu ersehen; er sagte sich nicht, daß diese Augen sich nur in Thränen baden könnten.

Wenigstens hatte solcher Eigendünkel das Gute, daß er ihm eine Geduld, alles anzuhören, und eine Bereitwilligkeit, alles zu prüfen, einflößte, woran es ihm sicherlich für eine arme Waise, welche schielte oder höckerig war, gemangelt hätte.

Helene konnte gar nicht genug sich gegen ihn aussprechen; anstatt über die verworrenen Erklärungen, die sie ihm gab, die Geduld zu verlieren, ließ er sich selbe noch in aller Weitläufigkeit wiederholen.

Zwar war er überrascht, daß diese schönen Augen, worein er die seinigen versenkte, so wenig ausdrucksvoll wären und so matt schienen; aber wenigstens war der Klang ihrer Stimme ein Reiz, eine wahrlich bezaubernde Musik; reizend waren auch ihre Lippen und die Flechten ihres blonden sich von ihrem Trauergewande glanzvoll abhebenden Haares; bewunderungswürdig war das Profil ihres Antlitzes, unvergleichlich an Reinheit der Umriß ihres Hauptes, und die Schultern, die Büste, die Hüften, die Hände und die Füße! Er würde den ganzen Tag geblieben sein, um ihr zuzuhören unter der Bedingung, sie immerfort betrachten zu dürfen.

Helene ward durch diese Geduld, diese Beflissenheit, sich ihr zur Verfügung zu stellen, gerührt; aber gleichzeitig fühlte sie sich auch durch dieses beharrliche Anblicken unangenehm berührt. Konnte er denn nicht mit ihr sprechen, ohne seine Augen derart auf sie geheftet zu halten? Gleich anfangs hatte sie, in ihre Gedanken vertieft, in ihren Schmerz versunken, der Stetigkeit dieses Blickes, der nicht von ihr abwich, gar keine Beachtung geschenkt; doch nach und nach wurde sie beunruhigt, verwirrt, ohne daß sie begriff, weshalb ein Gefühl von Unbehaglichkeit, von Scham sie beschlichen; diese Augen, die sie unablässig auf sie, bald auf ihre Haare, bald auf ihren Mund, bald auf ihr Leibchen gerichtet traf, übten eine lähmende Wirkung auf sie aus; sie hätte gerne einen Schleier über ihr Antlitz senken oder gar sich vom Haupte bis zu den Füßen in einen Mantel einhüllen mögen; auf solche Art blickte ein anständiger Mann nicht ein sittsames, tugendhaftes Mädchen an, nicht mit dieser Glut, wie wenn er darnach entbrannt wäre, es zu entkleiden.

Griolet hatte wohl die Wirkung, die er erzeugte, wahrgenommen, nicht aber ihre Ursache erraten können. Weshalb hatte sie anfangs so ungezwungen, so offenherzig, auf nichts anderes bedacht, als das zu sagen, was sie zu sagen hätte, mit ihm gesprochen, und weshalb zeigte sie sich nun so verlegen, fast ärgerlich?

Das war unerklärlich; denn man konnte doch nicht mehr Liebenswürdigkeit, als er gegen sie entfaltete, aufbieten; sie mußte ja klar erkennen, daß er sie reizend, mehr als reizend, unwiderstehlich fand.

Hatte denn er etwas an sich, was ihr mißfiel? Das war doch höchst unwahrscheinlich; denn auch er war ein reizender, geradezu unwiderstehlicher Mann; davon war er aus das tiefste überzeugt: man hatte es ihm oft genug gesagt und ihm auch oft genug bewiesen, auf daß er in dieser Hinsicht nicht von dem leisesten Zweifel angewandelt werden konnte. Er einem Weibe nicht gefallen! Was denn nicht noch! Das war die reinste Unmöglichkeit!

Sicherlich hatte er irgend eine Ungeschicklichkeit begangen, war ihm irgendein unüberlegtes Wort, irgendein Vorwurf gegen ihren Vater, den sie so innig zu betrauern schien, entschlüpft; allein wie er sich auch den Kopf hierüber zerbrach, vermochte er dennoch weder eine solche Ungeschicklichkeit, die er sich übrigens auch gar nicht zutraute, noch eine solche tadelnswerte Bemerkung ausfindig zu machen.

Inmitten derartigen Überdenkens waren seine Augen zufällig oder vielmehr infolge einer angenommenen Gewohnheit auf sein Beinkleid hinabgeschweift, und hiermit ging ihm ein Licht aus. Unbestreitbar war dieses Beinkleid sehr hübsch, von sammetartigem Stoffe und ließ, was noch weit wesentlicher, seine starken Waden erkennen, während es auf seinen fleischigen Schenkeln wie angegossen saß; aber unglückseligerweise war es rot getupft, und dieses Rot hatte etwas Verletzendes für sie. Es war auch von seiner Seite eine Ungeschicklichkeit, die schwarze Kleidung, die er vormittags getragen, abzulegen; er hätte in dieser hierher kommen sollen, um sich in Übereinstimmung mit ihr zu befinden; in der Übereinstimmung, im Einklange beruht alles! Weil er diesen Grundsatz außer Acht gelassen, hatte er die Wirkung, den Eindruck, woran er gewohnt war, nicht ausgeübt. Durch diese roten Tupfen waren ihre Augen abgelenkt worden: das hatte sie anfangs zerstreut, sodann befangen, endlich reizbar gemacht; ihre Feinfühligkeit hatte daran Anstoß genommen, und zwar um so größeren, als diese Widersinnigkeit gegen die teilnahmsvolle Zuneigung, die er ihr bezeugte, gröblich abstach.

Helene, welche anfangs die Unterredung durch Eingehen auf alle Einzelheiten, die ihr irgendwie ersprießlich sein zu können schienen, sehr weitläufig gemacht hatte, faßte sich kürzer, sowie sie die Art des Gefühles, welches diese Blicke entflammte, erkannt zu haben glaubte, und steuerte unverzüglich dem Schlusse zu.

»Nun was raten Sie mir?« fragte sie.

»Ratschläge vermag ich Ihnen in diesem Augenblicke nicht zu erteilen. Zuvor muß ich einen klaren Einblick in die Verlassenschaft gewinnen, wissen, wie viele Mittel uns zu Gebote stehen, welche Lasten vorhanden find; das wird uns das Inventar lehren, und wir werden zu dessen Aufnahme schreiten, sobald die durch das Gesetz vorgeschriebenen Fristen verstrichen sind, nämlich in drei Tagen. Seien Sie versichert, daß ich keine Verzögerung eintreten lassen werde; mir liegt zu sehr am Herzen, die innige Teilnahme, welche Sie mir einflößen, zu bekunden. Hierauf werden wir uns auch beeilen, vom Familienrate Ihre Entlassung aus der vormundschaftlichen Gewalt zu erlangen, und dann, aber erst dann, nämlich nach gewissen Fristen, welchen wir uns unterwerfen müssen, werden Sie ersehen, wie Ihre Lage beschaffen ist, und welchen Entschluß Sie zu fassen haben.«

»Dieser Entschluß ist im voraus gefaßt; denn ich weiß, weil es mir mein armer Vater gesagt hat, vorher, daß aus dieser Verlassenschaft mir nichts zufallen wird. Mein ganzes Begehr ist, daß sie mir gewähre, zu bezahlen, was an Schulden vorhanden; wenn sie hierzu nicht ausreichte, würde ich die Gläubiger bitten, mir eine bestimmte Zeit zuzugestehen, um mir das, was ich ihnen schuldete, erwerben zu können.«

»Aber es besteht ja die Rechtswohlthat des Inventars!«

»Und worin besteht diese?«

»In einer gesetzlichen Verfügung, welche dem Erben den Vorteil einräumt, zur Bezahlung der Verlassenschaftsschulden nur soweit, als das durch das Inventar festgestellte Verlassenschaftsvermögen hinreicht, verpflichtet zu sein, und sogar der Tilgung jeder Schuld sich entschlagen zu können, indem er das gesamte Erbgut den Gläubigern überläßt.«

»Das werde ich niemals thun. Die Schulden meines Vaters sind mir heilig; ich werde sie tilgen, wie er selbst sie getilgt haben würde.«

»Und womit, mein Fräulein?«

»Mit Arbeit. Mein Vater hat mich, Gott sei Dank, nicht derart auferzogen, um untauglich zu allem Schaffen und Wirken zu sein; ich vermag einen Beruf anzutreten; ich kann Erzieherin oder Schullehrerin werden; und diesem Berufe will ich mich mit voller Hingebung widmen.«

Der Notar schüttelte den Kopf:

»Dies ist einer so distinguierten, so hübschen, so schönen Persönlichkeit, wie Sie sind, eben nicht sehr würdig.«

»Und weshalb nicht, Herr Notar?«

»Ich will sagen, daß Sie als Erzieherin in einem Pensionate oder in einer Familie sich das harte Joch der Knechtschaft auferlegen, und als Schullehrerin in einem abgeschiedenen Dorfe sich in eine Verbannung begeben, welche für ein Wesen, das, wie Sie, an das geistige, gebildete Leben in den Städten gewöhnt ist, nicht anders als peinlich, höchst peinlich sein kann. Ich habe Ihnen soeben von der innigen Teilnahme, die Sie mir einflößen, Ausdruck gegeben; vergönnen Sie mir, Ihnen zu beweisen, daß dies keine leeren Worte in meinem Munde sind. Ich weiß nicht, wie die Verlassenschaft Ihres Herrn Vaters sich gestalten wird, und ich will hoffen, daß selbe Ihre Befürchtungen widerlege; aber wenn dem auch nicht so wäre, so könnte ich, falls Sie wirklich nach einer Arbeitsthätigkeit Verlangen trügen, Ihnen die Mittel bieten, daß Sie diese Stadt nicht zu verlassen brauchen. Sie sollen eine schöne Handschrift haben; jedenfalls würden Sie sich eine solche – davon bin ich überzeugt – leichtlich aneignen; alsdann vermöchte ich Ihnen und zwar in Ihrer Wohnung Ausfertigungen, anders gesagt: Abschreibereien, zuzuweisen, woraus sich für Sie ein täglicher Verdienst von fünf oder sechs Francs ergäbe, und somit wäre Ihnen die Verbannung in ein Dorf durch eine leichte und verschwiegen bleibende Arbeit – denn ich selbst könnte sie Ihnen zuweisen – erspart.«

Aus Verlegenheit und Scham vermochte Helene sogleich nichts zu entgegnen; doch endlich erhob sie sich mit den Worten:

»Ich danke Ihnen, wie es sich geziemt; übrigens ist die Verbannung auf ein Dorf für mich durchaus nicht peinlich; denn ich werde dort mit meiner Großmutter, die vom Lande ist und den Landaufenthalt als ein Bedürfnis empfindet, leben.«

»Ich bin zu weit und vor allem zu rasch vorgegangen!« dachte sich der Notar.

Und ohne seines Antrages mehr zu erwähnen, erhob auch er sich, um seinen Abgang zu nehmen.

Als er durch den Hof schritt, bückte er sich mehrere Male, um sein Beinkleid, das in anmutigen Falten um seine Stiefletten hinabhing, zu betrachten.

»Du verwünschtes Beinkleid,« sagte er bei sich, »und doch steht es mir ausgezeichnet gut!«

 

3.

Das von Herrn Griolet selbst, der bei keiner einzigen Sitzung fehlte und sich stets als ein vollendeter Notar betrug, aufgenommene Inventar hatte das vorhergesehene Ergebnis. Die Passiva verschlangen die Activa; wenn etwas für Helene, nach der öffentlichen Versteigerung der beweglichen Habe, blieb, so waren es höchstens etliche hundert Francs, und auch das war nicht sicher, denn das Erträgnis einer solchen Versteigerung läßt sich im voraus nicht mit einiger Bestimmtheit berechnen.

Übrigens hatte Helene diese Versteigerung gar nicht abgewartet, um solche Schritte, die sie der Erreichung ihres Zieles näher brächten, ihr die Stelle einer Lehrerin eintrügen, zu thun. An dem Tage, an welchem ihre Großmutter und sie die Wohnung in der Schule zu räumen hatten, mußten sie ja irgendwo ein Obdach und Hilfsquellen, wenn auch noch so spärlicher Art, erlangt haben, um nicht dem Elende preisgegeben zu sein.

Lange in ihren schlaflosen Nächten und zwar von jener Abendstunde an, als sie die Stimme ihres Vaters, der sie beim Namen rief, vernommen zu haben glaubend, aus dem Schlummer aufgefahren war, hatte sie über den Entschluß, den sie fassen sollte, nachgesonnen. Sollte sie als Erzieherin in ein Privathaus oder als Unterlehrerin in ein Pensionat eintreten, oder sich wohl dem Unterrichte in der Volksschule widmen?

Wäre sie allein gewesen, so würde sie in eine Familie oder in ein Pensionat eingetreten sein; denn sie war durch den Schlag, der sie getroffen, tief erschüttert und niedergedrückt, und derart würde sie eine gewisse Erholung, mindestens eine relative Beruhigung über das, was Nahrungssorgen und Lebensnöten anbelangt, gefunden haben. Allerdings hätte sie sich dadurch keineswegs eine angenehme, behagliche Existenz gegründet; aber die Zeit, wo sie Annehmlichkeiten erhoffen durfte, war vorüber; sie hatte an ihrer Seite einen so aufmerksamen, in allem, was sie beglücken oder ihr eine Freude zu bereiten vermochte, so zuvorkommenden Vater gehabt; jetzt mußte sie sich zufrieden geben und durfte sich nicht beklagen, wofern sie nur das schlimmste nicht zu befahren hatte.

Aber sie war nicht allein: sie hatte ihre Großmutter bei sich. Was würde die arme Frau machen, während sie selbst in einer Familie oder in einem Pensionate Unterkunft genösse? Würde sie auch als Erzieherin oder Unterlehrerin genug verdienen, so daß ihre Großmutter mit dem, was sie ihr abträte, zu leben imstande wäre? Dagegen nahm sie als Lehrerin in einer Dorfschule ihre Großmutter zu sich, und sie lebten dann miteinander. Die arme Großmutter, mit der die Tante »Dasunddas« so hart verfahren, war an Entbehrungen gewöhnt, und sie selbst, die bisher so zärtlich behandelt, verhätschelt worden, würde sich auch daran gewöhnen.

So triftig ihr auch die Gründe, sich für die Volksschule zu entscheiden, schienen, so wollte sie doch nicht einen so wichtigen Entschluß fassen, ohne bei einigen Personen sich Rat erholt zu haben.

Und dann, wie war ihre Ernennung zur Volksschullehrerin zu erlangen? Hierüber befand sie sich völlig im Unklaren. An wen hatte sie sich zu wenden? Welche Ansprüche vermochte sie geltend zu machen?

Die Anzahl der Personen, welche sie um Rat fragen konnte, war ziemlich beschränkt, denn sie kannte entweder gar nicht oder nur sehr oberflächlich die alten Kameraden, welche ihr Vater in Condé wiedergefunden hatte.

Ein Professor an der Stadtschule war es, dessen Rat sie einholte, doch nicht Radou, der sie seit dem Begräbnisse nicht mehr angesprochen, sich im Gegenteile, sowie er sie gewahrte, mit gesenktem Kopfe und gekrümmtem Rücken schleunigst aus dem Staube machte, sondern ein hochbejahrter Kollege Radou's, welcher ihr, wenn sie ihn auch viel weniger als diesen kannte, dennoch größeres Vertrauen einflößte.

»Die Tochter eines Direktors eine Schullehrerin!« ereiferte sich Professor Bonjean dawider; doch nachdem die erste Regung der Überraschtheit vorüber, erklärte er, daß sie einen verständigen Entschluß gefaßt habe und, da sie schon zu irgendeiner Arbeitsthätigkeit genötigt wäre, es für sie unter den obwaltenden Umständen nichts Besseres als den Beruf einer Schullehrerin gebe; das zeuge von Mut, wäre würdig, ehrenwert, und andererseits wäre es auch kein schlechtes Geschäft, denn die Zukunft gehöre dem Volksunterrichte.

Wie entschlossen Helene auch war, hatte sie gleichwohl der Aufrichtung und Ermutigung bedurft: dieser Ratschlag riß sie aus allem Schwanken.

Aber es reichte nicht hin, zu wissen, was sie thun wollte; sie mußte das auch bewerkstelligen können; die Behörde ernennt die Volksschullehrerinnen.

Auch dafür fand sie eine Stütze in dem Professor, der ihren Entschluß gut geheißen und der sehr gerne bereit war, bei dem Schulinspektor ein Wort für sie einzulegen.

»Man schuldet schon etwas der Tochter eines Mannes, wie Herr Margueritte war, und gewiß wird die Behörde sich glücklich schätzen, diese Schuld an Sie abzutragen; ich werde Ihnen morgen sagen, was Herr Malatiré mir geantwortet hat.«

Das war eine wohlthuende Rede für Helene: ihr Vater schützte sie noch im Grabe. Und sie begann Hoffnung zu fassen; würde sie sich auch um keine gute Stelle bewerben können, so hätte sie sich schon damit begnügt, wenn man ihr nur eine solche, die für ihre Großmutter und für sie den Lebensunterhalt sicherte, verliehe.

Aber die Dinge nahmen keinen so raschen Fortgang, wie sie es sehnlichst wünschte, und der für sie sogar eine Lebensbedingung war.

Vor allem wünschte der Inspektor sie zu sehen, und als sie vom Professor Bonjean, der sie vorzustellen übernahm, begleitet, sich zu ihm begab, erteilte er ihr keine Zusage, sondern vielmehr nur Ratschläge.

Herr Malatiré war ein schüchterner und ängstlicher Mann, der in einer Untergeordnetheit, worin er alle Unabhängigkeit des Denkens, alle Kraft, in irgendeiner Sache den ersten Schritt zu thun, eingebüßt hatte, gelebt zu haben schien. Seine hauptsächlichsten, am häufigsten wiederkehrenden Redensarten lauteten: »Wenn ich mich derart ausdrücken darf« und: »in einem gewissen Maßstabe«, denen er von Zeit zu Zeit: »bis zu einem gewissen Grade« hinzufügte; auch war es bei ihm eine stete Gepflogenheit, sofort, wie er Weiß gesagt, Schwarz zu sagen, und erklärte er sich, wenn es durchaus nicht zu umgehen war, sich für etwas zu entscheiden, weder für Weiß, noch für Schwarz, sondern für Grau, und auch das noch bereitete ihm ein entsetzliches Unbehagen, da er am liebsten sich zu gar nichts verbindlich machen wollte.

In eben dieser Weise verfuhr er bei Helene.

»Gewiß,« sagte er, »wäre ich sehr glücklich, für die Tochter eines so ausgezeichneten, so verdienstvollen Mannes, wie Herr Margueritte war, etwas erwirken zu können; aber wir vom Lehrfache sind gar unvermögende Leute, wenn ich mich derart ausdrücken darf. Allerdings vermag ich Sie vorzuschlagen, und das werde ich thun, denn man zieht unsere Vorschläge in Betracht, mindestens in einem gewissen Maßstabe und bis zu einem gewissen Grade. Jedoch ganz unmöglich ist es mir, Ihnen eine bestimmte Zusicherung zu erteilen, daß Ihre Ernennung erfolgt, wie Sie es doch wünschen, und mit jener Raschheit, die Ihnen ebenfalls höchst erwünscht ist. Ein schnelles Verfahren liegt nicht in der Gewohnheit der Behörde. Man liebt, die Sachen hinauszuschieben. Mein Gott! solches Verzögern ist nötig; ich erkenne das selbst an, und Sie sehen doch wohl ein, daß ich damit keinen Tadel gegen die Behörde ausgesprochen haben will; weit entfernt ein solcher Gedanke von mir!«

»Aber was dann?« fragte der Professor.

»Das Fräulein benötigt irgendeines einflußreichen Gönners, der sich ihrer Sache annähme.«

»Ich kann ebensowenig auf jemanden in dieser Hinsicht zählen, als ich Ansprüche besitze,« bemerkte Helene niedergeschlagen. »Ich habe nichts geltend zu machen, wie ich auch keine andere Stütze als den Namen meines Vaters habe.«

»Das ist schon viel, zweifelsohne, viel wert; aber thatsächlich hat es doch keinen rechten Wert, oder vielmehr ist es nicht ganz hinreichend. Nein, wessen es bedürfte, das wäre jemand von Rang, der in der Lage, zu handeln und zu sprechen. Mein Gott! ich habe ja dem Fräulein keinen Rat zu erteilen; ich würde mir solche Freiheit nicht erlauben.«

»Aber ich bitte Sie darum,« sagte Helene.

»Nun also, wenn ich an Ihrer Stelle, mein Fräulein, mich befände, würde ich folgendes thun – selbstverständlich will ich damit durchaus nicht Ihren Entschließungen vorgreifen, und andererseits maße ich mir auch nicht an, daß die Ansicht, welche ich äußern will, die beste sei – doch würde ich folgendes thun: Ich würde mich bei dem Herrn Grafen Pretavoine vorstellen und ihn bitten, mir seine Unterstützung zuzuwenden. Kennen Sie den Herrn Grafen Pretavoine?«

»Nein.«

»Das thut nichts, oder vielmehr, das ist wichtig; kurz: es wäre das beste, wenn Sie ihn kennen würden; aber ob zwar Sie ihn nicht kennen, können Sie sich doch an ihn wenden; er ist Mitglied des Generalrates unserer Stadt und kraft dieser Würde stellt er uns gerne, das heißt: wenn es ihn in keine schiefe Stellung bringt, seinen Einfluß zur Verfügung. Dieser Einfluß ist ein sehr mächtiger, denn wenngleich er nicht mehr Deputierter ist, bei der letzten Wahl dem Herrn Mérault unterlag, so gilt er doch alles in der Präfektur, bei dem Präfekten ebensowohl, als in der ganzen Beamtenwelt, wie auch bei der Geistlichkeit, dem Bischofe … und überall. Vom Papste zum Grafen ernannt, mit der ersten Adelsfamilie in unserer Gegend durch seine Ehe mit dem Fräulein Roche-Odon verbunden, reich durch seine Mutter, vermag er alles. Wenn er Ihre Ernennung will, wird er sie durchsetzen; wenn er sie nicht will, wird er sich ihr widersetzen und sie zu verhindern wissen.«

»Ich werde zu ihm gehen,« sagte Helene.

»Nun würde ich,« fuhr der Inspektor fort »wenn ich Sie wäre, auch Herrn Louis Mérault, unserem Deputierten, einen Besuch machen; aber selbstverständlich, ohne daß der Herr Graf Pretavoine davon erführe, denn in solcher Lage muß man, wenn ich mich derart ausdrücken darf, zu Winkelzügen seine Zuflucht nehmen. Der Herr Graf Pretavoine ist der Führer der klerikalen Partei; Herr Louis Mérault der Vertrauensmann der fortschrittlich gesinnten. Wer kann sagen, welche von diesen beiden Parteien morgen die Oberherrschaft, die Regierungsgewalt in Händen hat! Demnach ist es das beste, mit beiden gut zu stehen; nur muß man sich sorglich hüten, weder bei der einen noch bei der anderen sich bloßzustellen, sodaß man ungefährdet eine Schwenkung machen kann. Gegenwärtig besitzt der Herr Graf Pretavoine den weit größeren Einfluß und vermag somit für Ihre Ernennung den Ausschlag zu geben. Übrigens, was kann Ihnen daran gelegen sein, ob Sie selbe der klerikalen oder fortschrittlichen Partei zu verdanken haben! Sie gehören doch keiner Partei an, wie? Was Sie wünschen, ist, sich durch Schulunterricht Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ach, es ist ein großer Jammer, daß die Politik sich in unsere innersten Angelegenheiten einmengt, daß sie uns zu keiner Ruhe und Sicherheit gelangen läßt. Ach, diese Meinungen!«

Und dieser sogar in seinen Bewegungen schüchterne Mann streckte mit einem kräftigen Rucke, welcher von langen Jahren des Druckes zeugte, die Arme gen Himmel empor.

»Der Jammer ist,« bemerkte Professor Bonjean schmunzelnd, »daß man immer eine Meinung hat, haben soll!«

»Aber nein oder vielmehr ja; kurz: das beste ist vielleicht, mehrere Meinungen zu haben. Doch um auf die Angelegenheit des Fräuleins zurückzukommen, muß ich Sie in Kenntnis setzen, daß der Herr Graf Pretavoine gegenwärtig auf seinem Schlosse Rouvraye verweilt; dagegen Herr Mérault infolge der Kammersitzungen sich in Paris befindet, und ich weiß nicht, ob er so bald nach Condé kommen dürfte.«

 

4.

Wenn Helene den Grafen Pretavoine nicht kannte, hatte sie doch wenigstens oft über ihn sprechen gehört, und zwar nicht erst, seit sie sich in Condé befand, sondern auch schon, bevor sie dahingekommen war; denn ihr Vater war sehr wißbegierig nach dem, was in seiner Geburtsgegend vorfiel, und außer den zwei im Bezirke erscheinenden Blättern: »Der Leuchte des Thales« und »Der Weckstimme von Condé«, deren treuer Abonnent er war, besaß er noch Korrespondenten, welche ihn auf dem Laufenden über das, was die Blätter nicht berichteten, erhielten.

Nun gehörte zu dem, was diese beiden Blätter verschwiegen hatten – das klerikale aus Ehrfurcht vor einem Grafen von Papstes Gnaden, welcher der Führer der religiösen Partei in diesem Landstriche war, das liberale aus Besorgnis vor einem kostspieligen Verleumdungsprozesse, der es, da es nicht reich war, zu Grunde gerichtet haben würde – die Heiratsgeschichte dieses jungen Mannes mit der Enkelin des Grafen von Roche-Odon und die mehr oder minder komischen Unfälle, die für jenen aus dieser Ehe erwachsen waren.

Doch eben weil die Blätter in dieser Hinsicht sich stumm verhalten hatten, strotzten die Briefe, welche Herr Margueritte empfing, von umständlichen, in die kleinsten Einzelheiten eingehenden Berichten, in Umlauf gekommenen Gerüchten und losen Neckereien.

Vielleicht giebt es in entlegenen Gegenden Mädchen von neunzehn Jahren, welche in dem Wahne leben, daß der Storch die Kinder bringt; Helene zählte zu ihrem Glücke keineswegs zu solchen heuchlerischen Einfalten; sie war von einem verständigen Vater, der sittliche Unverdorbenheit und geistige Beschränktheit nicht für gleichbedeutend erachtete, erzogen worden, und wenn sie nicht alles, was die Briefe besagten, verstanden, wenn sie vornehmlich nicht alles, was man zwischen den Zeilen lesen mußte, erraten, so hatte sie doch genug verstanden und auch erraten, um mehr als einmal über diesen vielbesprochenen Grafen Pretavoine und über die Gräfin, seine Gemahlin, oder vielmehr über die Gräfin, welche wider ihren Willen und aus kindlicher Ergebenheit verheiratet, denjenigen, den man ihr aufgedrängt, nicht – wie es allgemein hieß – als Gatten anerkennen gewollt und nur dem Namen nach seine Frau war, ihren Gedanken nachgehangen zu haben.

Lag denn hierbei nichts vor, was die Neugierde eines jungen Mädchens reizte und beschäftigte?

Von seiner Gattin, welche keine einzige Gelegenheit, ihm öffentlich ihren Haß und ihre Verachtung zu bezeugen, vorübergehen ließ, verschmäht, tröstete sich der Graf, indem er mit einer Geschicklichkeit, welche den Neid des durchtriebensten Juden erregen konnte, den großen Besitzstand des Grafen von Roche-Odon verwaltete. Vormals belastet, war dieser Besitz unter der Gebahrung des Grafen Pretavoine schuldenfrei und einträglich geworden; er verstand, aus demselben ein Einkommen, welches der alte Graf von Roche-Odon nie für möglich gehalten hätte, zu ziehen. Allerdings war dieser Greis der gerechteste und gütigste Herr gegen seine Pächter oder Holzabnehmer, wogegen Graf Pretavoine schroff und strenge, für Mitleid unzugänglich war, und sich ebensowenig rühren als berücken ließ. Einzig und allein auf seinen Vorteil bedacht, kümmerte er sich um die Rechte anderer nicht. Um diesen Bodenbesitz und das in Wertpapieren bestehende Vermögen, welches er von seiner Mutter geerbt, zu verwalten, brachte er allmonatlich zwölf oder vierzehn Tage im Schlosse Rouvraye zu, wo er keinen von den Freunden des Großvaters seiner Gattin – er selbst hatte keine Freunde! – sondern bloß solche Leute, mit denen er geschäftlichen Verkehr pflog oder anbahnen wollte, empfing.

Solcherart war der Mann, zu welchem Helene, dem Rate des Herrn Malatiré entsprechend, als Bittstellerin sich verfügen sollte, und das war abschreckend genug, auf daß sie sich all das, was sie über ihn in besagter Hinsicht gelesen oder gehört, in das Gedächtnis zurückrief.

Was war er, genau genommen, in Wahrheit?

War er der Selbstsüchtige, der Schurke, der Scheinheilige, wie seine Gegner sagten? War er der Großherzige, der Biedersinnige, der Fromme, wie seine Anhänger behaupteten?

Vielleicht weder das eine noch das andere, und wahrscheinlich ein Mann, wie andere mehr.

Jedenfalls nahm sie sich vor, die Augen gut aufzuthun, auf ihrer Hut zu sein.

Und schon am Tage nach ihrem dem Inspektor abgestatteten Besuche trat sie ihren Gang nach dem Schlosse Rouvraye an.

Den ganzen Abend vorher hatte sie geschwankt, ob sie ihre Großmutter ansprechen sollte, sie zu begleiten, und das Für und Wider dieser Frage erwogen; dafür sprach, daß die Anwesenheit ihrer Großmutter ihr eine festere Haltung gab, dawider, daß es, wenn zwei in Trauer gekleidete Frauenspersonen sich derart vorstellten, den Anschein gewinnen könnte, als ob sie das Erbarmen desjenigen, zu welchem sie als Bittende kamen, erpressen wollten.

Diese Erwägung entschied ihren Beschluß; sie fand sich wohl darein, eine bittliche Aufwartung zu machen, aber sie vermochte nicht, sich bis zur Bettelei zu erniedrigen.

Allein wollte sie gehen: es war das erstemal, daß dies ihr, die niemals ohne ihren Vater ausgegangen war, widerfahren sollte; doch dieses Grundes wegen durfte sie sich nicht abhalten lassen. Wie viele Dinge würde sie jetzt thun müssen, die sie niemals gethan und auch niemals thun zu müssen vermeint hatte?

Und dann konnte man bei dem Grafen Pretavoine ohne Zagen auftreten, denn »er war ja fast wie ein Beichtvater;« wenn auch nicht streng gläubig, war sie doch christlich erzogen, und hatte stets Ehrerbietung für fromme, gottesfürchtige Leute gehegt.

In solchen Gedanken legte sie die kurze Strecke zwischen Condé und dem Schlosse Rouvraye zu Fuß zurück. Es hatte in der Nacht gefroren und die Straße war trocken, was ein günstiger Zufall für sie war und ihr gestattete, wohlanständig zu erscheinen. Hätte es in der Nacht geregnet, so wären die Wege durchweicht, schlammig geworden, und sie würde ihren Besuch haben verschieben müssen.

Es war nicht mehr die Zeit, wo eine bewunderungswürdige, in sechs Reihen angelegte Eichenallee von dem alten Schlosse zur Landstraße führte und unter dem Dache dieser hundertjährigen Bäume sich ein Teppich von Gras und Moos, der den Bewohnern von Condé zum Spaziergange und zur Erholung diente, ausbreitete. Nachdem Aurelian Pretavoine die Verwaltung des Besitzstandes des Grafen von Roche-Odon in die Hände genommen hatte, war es ihm gelungen, dem alten Herrn die Bewilligung, diese Allee niederzuhauen, abzudrängen, und hatte er dadurch einige hunderttausend Francs, die seiner Ansicht nach wohl diesen Schatten auswogen, herausgeschlagen. Sodann den abgeholzten Grund schmälernd, hatte er ihn zu beiden Seiten mit einer Reihe von Pappelbäumen einsäumen lassen und den übrigen Teil zum Anbau von Feldfrüchten, woraus er sich auch noch einmal einen erheblichen Nutzen versprach, überwiesen. Durch diese Umänderungen aber war der Boden aufgewühlt worden, waren Erhöhungen und Senkungen entstanden, so daß an Regentagen der Weg, der zum Schlosse führt, für Fußgänger kaum benützbar ward.

Auf dem durch den Frost hart gewordenen Erdreiche dahinschreitend, gelangte Helene ohne Hindernis, das will sagen: ohne naß zu werden oder sich zu beschmutzen, an die Wolfsgrube, welche die Allee von dem im Stile Lenôtres angelegten, mit Hagebuchenhecken, kurzgeschnittenem Strauchwerk, Lauben, Steintreppen, Springbrunnen, Urnen und Standbildern ausgestatteten Garten scheidet, und hier hielt sie einen Augenblick an, um das Schloß, das, auf einer kleinen Anhöhe gelegen und im reinsten Stile des siebzehnten Jahrhunderts ausgeführt, vor ihr emporragte, zu betrachten. Übrigens hatte sie eben jetzt keine große Empfänglichkeit für baukünstlerische Schönheiten; sie dachte vielmehr an den, der gegenwärtig dieses Schloß bewohnte.

Also war ein Sohn kleiner Bürgersleute und Krämer, der in einem Dorfe seine Kinderjahre armselig verbracht hatte, dahin gelangt, in diesem Schlosse, nachdem er sich mit der Erbin des hochadeligen und mächtigen Geschlechtes von Roche-Odon, dessen Ahnen, urkundlich verbürgt, bis auf Rollo, den Eroberer der Normandie, zurückreichten, vermählt hatte, als Herr zu gebieten, und solcher außerordentlicher Erfolg war der Sieg der Willenskraft und Ausdauer; er hatte gewollt, dieser Sohn eines elenden Dorfkrämers und das Glück sein rastloses Streben belohnt.

Welch ein Beispiel für sie bei dem Eintritte in ein neues Leben, in ein Leben der Arbeit!

Was sie begehrte, war keineswegs die Verwirklichung ehrgeiziger Träumereien, weder ein Vermögen, noch eine vornehme Heirat, noch eine bevorzugte Stellung, noch selbst das Glück, sondern bloß eine Vermittlung, um ihren Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen und ihrer alten Großmutter ein ruhiges Leben verschaffen zu können.

Sollte denn dies unmöglich sein?

Jedenfalls fühlte sie in sich einen hinreichend festen und standhaften Willen, auf daß ihr nicht der Mut schwand.

Beherzt trat sie ein und fragte den Portier, der einen der beiden Pavillons, die das große Gitterthor flankierten, bewohnte, ob sie den Grafen Pretavoine zu sprechen vermöge.

Der Portier bejahte es und zog die Glocke, um einen Besuch anzumelden.

Helene empfand doch einige Aufregung, als sie den großen hochgewölbten Vorsaal, wo ein Diener ihrer harrte, betrat.

Ohne sie um etwas zu befragen, geleitete dieser Diener sie in einen Salon, worin mehrere Personen saßen: zwei Geistliche, welche leise miteinander sprachen, Bürger und Bauern im Sonntagsstaate; man konnte glauben, bei einem Staatswürdenträger, bei einem berühmten Advokaten oder bei einem in die Mode gekommenen Arzte zu sein.

Jedermann blickte sie an, musterte sie neugierig vom Haupte bis zu den Füßen, die Geistlichen tauschten ersichtlich einige Bemerkungen über sie aus; doch niemand richtete an sie ein Wort. Sie ließ sich in einer Ecke nieder, um abzuwarten, bis sie an die Reihe käme.

Wie es bei den Ärzten, wo es nicht Brauch ist, daß ein Berufsgenosse zu warten habe, geschieht, traten die Geistlichen, als die Thür, welche aus dem Wartesalon in den Empfangssaal führte, aufgethan wurde, zuerst vor und ein, aber nicht miteinander, jeder allein, und zwar hatte der Ältere den Vortritt; nach ihnen folgten jene, die früher, als Helene sich eingefunden hatten.

Diese bereitete sich inzwischen inmitten des Gehens und Kommens der Bittsteller auf ihre Rede vor, indem sie jedesmal, wenn die Thüre sich öffnete, an dem, was sie Vorbringen mußte, Kürzungen vornahm, um nicht einen so vielfach in Anspruch genommenen Mann lange zu behelligen, zu ermüden.

Endlich kam an sie das Eintreten.

In einem sehr großen Saale, der durch sechs hohe und breite Fenster sein Licht empfing, befand sich ein Mann, dessen Aussehen ihr so jugendlich und so wenig bedeutsam vorkam, daß es ihr Mühe kostete, gleich anfangs zu glauben, daß er dieser Graf Pretavoine, von dem sie so viel sprechen gehört und den sie sich ganz anders vorgestellt hatte, wäre. Gleichwohl war er es wirklich: ein hübscher junger Mensch, gar nicht übel gewachsen; seine schlanke Taille trat durch einen sich enge anschließenden und zugeknöpften schwarzen Rock noch deutlicher hervor; sein Kopf, der keine auffälligen Merkmale geistiger Überlegenheit wies, stak in einem steifen Stehkragen mit vorne etwas herabgebogenen Ecken, um den sich eine Halsbinde von königsblauer Seide, welche durch eine silberne Nadel in Gestalt einer Lilie zusammengehalten wurde, schlang.

Als er Helene herantreten sah, verneigte er sich und lud sie mit einer Handbewegung nach einer Ecke des Saales ein, in welcher ein sehr breiter chinesischer Wandschirm eine Art Abteilung bildete, worin man besser unter sich war und vornehmlich sich vor der Kälte und Zugluft bei einem ungeheueren Kamine, dessen Feuerböcke mit brennenden Scheiten hochbeladen waren, geschützt befand.

»Frau oder …?« Mit dieser Frage begann Graf Pretavoine seine Ansprache.

»Helene Margueritte, die Tochter des Herrn Margueritte, welcher Direktor der Stadtschule in Condé gewesen,« lautete die Antwort.

»Ich hatte nicht die Ehre, Ihren Herrn Vater, mein Fräulein, kennen zu lernen; aber aus all dem Schönen und Guten, was ich über ihn vernommen, erkenne ich, daß sein Tod ein schwerer Verlust für unsere Stadt ist.«

Mittlerweile waren sie hinter den Wandschirm getreten; er bedeutete ihr, auf einem Sofa, das neben dem Kamine stand, Platz zu nehmen, während er selbst sich in einem Armstuhle vor einem mit Papieren bedeckten Tische niederließ.

»Wollen Sie nun, mein Fräulein, mir zu wissen thun, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft.«

Man konnte sich nicht leutseliger, entgegenkommender erweisen; vor allem hatte das, was er über ihren Vater gesprochen, Helene wohlig berührt.

Sofort trug sie ihr Anliegen vor und zwar zwangloser, leichter, als sie gedacht hatte; fließend sprach sie, weder um Gedanken, noch Worte verlegen, das, was sie sagen sollte, auszudrücken.

Gleichwohl verspürte sie, je mehr sie mit der Sprache herausrückte, immer weniger die Ungezwungenheit, die sie zum Beginne gehabt; die Art, in welcher Graf Pretavoine sie ins Auge faßte und seine Blicke aus ihr ruhen ließ, störte sie; es überkam sie eine Empfindung, die mit jener, welche sie bei dem steten Anstarren des Notars Griolet ergriffen, ziemliche Ähnlichkeit hatte.

Jedoch aus Furcht, sich in der Rede zu verwickeln oder gar stecken zu bleiben, oder nicht zu sagen, was sie zu sagen hatte, sprach sie, die Augen nach dem Kamine gekehrt, ohne sie zu dem Grafen emporzurichten. Trotzdem, wie sie es auch zu verwinden suchte, fühlte sie diese Blicke, welche, den schwarzen Schleier, der ihr Antlitz umhüllte, durchdringend, an ihr herumforschten.

Sie hätte so sehr gewünscht, daß er sie unterbreche, daß er sie befrage; aber ganz im Gegenteile ließ er sie fortreden, ohne ein Wort zu sagen, ohne eine Geberde zu machen; sich nach ihr hinneigend und nicht von dieser Haltung abweichend, blickte er sie nur immer an. Sie fühlte diesen Blick vom Wirbel bis zu den Sohlen hinab über sie gleiten und sofort wieder emporschweifen, um sich auf ihrem Antlitze festzusetzen: es lag darin etwas wie eine Art körperlicher Berührung, so lebhaft war der Eindruck für sie.

Dennoch gelangte sie mit dem, was sie zu sagen hatte, zu Ende, und nun, da ihr nichts mehr zu sprechen erübrigte, mußte sie wohl die Augen zu demjenigen, an den ihre Rede gerichtet gewesen, erheben.

Er gab keine Antwort: ziemlich lange währte es, daß er in seiner die Augen von ihr nicht abkehrenden Haltung verblieb.

Es hatte den Anschein, daß er sie ein Examen bestehen lassen wollte, wie wenn er, je nachdem dieses ausfiel, seine Entscheidung zu treffen, seinen Schutz zu gewähren oder zu versagen hätte.

Und sie harrte.

Endlich ergriff er das Wort:

»Sie haben, mein Fräulein, also auch Ihre Zeugnisse?«

»Ja, Herr Graf.«

Lächelnd setzte er hinzu:

»Ich bin überzeugt, daß dieselben ganz rechtmäßig erworben, wohl verdient sind, ob zwar Richter ihre Unparteilichkeit und ihren Kaltsinn nicht immer beibehalten sollen, wenn sie sich gewissen Kandidaten gegenüber befinden.«

»Ich versichere, daß mein Vater keinen Schritt zu meinen Gunsten gethan; viel eher würde er bei jenen, welche mich geprüft, auf strenges Urteil gedrungen, als um Nachsicht gebeten haben.«

»Auch davon bin ich überzeugt; auch war es keineswegs das, was ich sagen wollte, sondern ich meinte bloß, daß die Ohren es nicht so strenge nehmen sollen, wenn die Augen bezaubert sind.«

Es war nicht das erste Mal, daß Helene eine derartige Artigkeit zu hören bekam; aber aus diesem Munde erregte es ihr Befremden. Wie! An so etwas dachte dieser einflußreiche Mann, auf den sie ihre ganze Hoffnung gesetzt hatte!

Sie antwortete nichts, da sie nicht wußte, was sie sagen sollte, oder vielmehr nicht wagte, das, was sich ihr aus die Lippen drängte, zu sagen.

Er fuhr fort:

»Seien Sie, mein Fräulein, versichert, daß ich bereit bin, alles zu thun, wodurch ich Ihnen eine Gefälligkeit zu erweisen imstande bin, und daß ich, damit wir – denn ich betrachte Ihre Sache wie meine eigene – einen recht günstigen Erfolg ernten, weder Zeit, noch Mühe, noch Schritte sparen und den geringen Einfluß, den ich haben mag, nach meinen besten Kräften aufbieten werde.«

Sie atmete erleichtert und zeigte, die Augen emporschlagend, ihr Angesicht von einem Schimmer freudigen Dankgefühles erhellt.

Künftighin – dachte sie dabei – werde sie sich in Acht nehmen müssen, um sich nicht durch jede alberne nichtssagende Schmeichelei einschüchtern und zurückschrecken zu lassen!

»Aber damit meine Schritte,« sprach Graf Pretavoine weiter, »ihre volle Wirkung üben können, möchte ich sie auf etwas Sachliches, das meine Anempfehlung rechtfertigte, stützen. Offenbar haben Sie als die Tochter eines Vaters, wie der Ihrige war, die besten Rechtsansprüche geltend zu machen; dennoch wünschte ich ebensolches Sachliches, wovon ich sprach, hinzu.«

Sie blickte ihn an, da sie nicht begriff, was er meinte.

»Sie haben den Gedanken gehabt, sich mit Ihrem Anliegen unmittelbar an mich zu wenden, und ich kann nur dem Himmel danken für diese so glückliche Eingebung, die mir das Vergnügen bereitete, die Bekanntschaft eines so einnehmenden, anziehenden Wesens, wie Sie sind, zu machen.«

Wieder senkte sie die Augen, doch mit minderer Verwirrtheit, als das erstemal; denn diese Ausdrucksweise einer dem weiblichen Geschlechte huldigenden Höflichkeit schien ihr wirklich alles anzüglichen Inhaltes bar und deshalb keiner Beachtung wert zu sein.

»Ich möchte sehr gerne,« sagte er, »einen Brief von Ihnen haben, den ich vorweisen könnte, und der auch eine Art von Zeugnis wäre. Wollen Sie mir einen solchen Brief schreiben?«

»Ich werde mir die Freiheit nehmen, selben Ihnen zu senden.«

»Weshalb damit warten? Könnten Sie ihn denn nicht sogleich, hier, mir schreiben?«

»Aber ich besorge, Ihre Zeit allzusehr in Anspruch zu nehmen; noch mehrere Personen harren des Empfanges.«

»Dieser Leute wegen mögen Sie ganz unbesorgt sein; sie werden sich schon gedulden; meine Zeit ist Ihnen, unbedingt Ihnen geweiht. Belieben Sie also hier Platz zu nehmen, ich bitte.«

Und er deutete auf einen Stuhl vor dem Tische.

Helene setzte sich, seiner Aufforderung entsprechend, doch ohne ihren Schleier zu lüften, an dem Schreibtische nieder.

Inzwischen war Graf Pretavoine um den Tisch herumgegangen und hatte sich gegenüber dem Platze, welchen Helene einnehmen sollte, gesetzt, so zwar, daß er sie vor sich, unter seinen Augen hatte.

Sie langte mit ihren behandschuhten Fingern nach einer Feder.

»Das ist gewissermaßen auch eine Schreibaufgabe!« sagte er scherzenden Tones. »Werden Sie nicht Ihre Handschuhe ausziehen? Das würde doch zum Schreiben bequemer sein.«

Ohne etwas zu erwidern, streifte sie den Handschuh von ihrer Rechten.

»Nur einige Zeilen,« bedeutete er ihr; »Sie ersuchen mich, Ihr Anliegen zu unterstützen, das reicht hin.«

Während er dies sprach, neigte er sich über den Tisch und betrachtete ihre Hand, die sie auf die Schreibmappe gelegt, eine Hand mit feinen schlanken Fingern; trotz der rötlichen Farbe, die von jugendlich frischem, reichlichem Blute zeugte, eine zierliche Hand.

»Und den Schleier,« sagte er, »schlagen Sie ihn nicht zurück? Er wird Sie behindern.«

Sie zögerte einen Augenblick; doch däuchte es sie, daß sie mit der Ablehnung dessen, was er begehrte, eben diesem eine unschickliche Bedeutung beimäße, und sie hob den Schleier, indem sie ihn seitwärts schlug; dies gethan, begann sie zu schreiben.

Allein wie sehr sie sich auch befliß, konnte sie doch nicht umhin, die beiden Augen ihres Gegenüber auf sie geheftet zu fühlen, bald auf ihr Antlitz, bald auf ihre Hände, welche sie brannten, wie wenn sie den Strahlen eines Brennspiegels ausgesetzt worden wären.

Sie beeilte sich, mit den wenigen, so kurz als möglich gefaßten Zeilen zu Ende zu kommen.

»Ist es so genehm?« sagte sie, indem sie ihr Schreiben dem Grafen hinreichte.

Er nahm es in die Hand, las es durch, betrachtete es dann genau, und rief endlich voll Bewunderung aus:

»Allerliebst! Meisterhaft! Ich hatte sie bloß um ein Muster der Schrift, nicht auch des Stiles ersucht.«

Daraufhin erhob sie sich.

»Wie?« sagte er, »Sie wollen sich schon entfernen?«

Aber ungesäumt verbesserte er, was diese wenigen Worte allzu stark andeuteten, dadurch:

»Wenn Sie die Güte haben, nächsten Sonnabend wieder zu kommen, werde ich Ihnen die Antwort, welche ich zweifelsohne bis dahin erlangt habe, bekannt geben.«

Zugleich eine feierliche, andächtige Miene, welche von der Erregtheit, die kurz vorher aus seinen Augen geleuchtet, auffällig abstach, annehmend, sprach er salbungsvoll:

»Beten wir, mein Fräulein, zu Gott, auf daß er unser gemeinschaftliches Vorhaben mit seinem Segen begnade!«

Und ohne aus seiner würdesteifen Haltung zu fallen, geleitete er Helene bis zur Saalthür.

 

5.

Helene kehrte ganz wirr, sich fragend, was sie denken solle, nicht wagend, sich für eine Ansicht zu entscheiden, ja nicht einmal sich gewisse Fragen zu stellen, nach Condé zurück.

Zweifelsohne gehörte es zu den Gewohnheiten des Grafen Pretavoine, sich so und nicht anders zu geben.

Sie war im Unrechte, weil sie sich stets einbildete, daß man sie förmlich mit den Blicken verschlang; man sah sie eben an, wie andere, weiter nichts. Ihr armer Vater hatte ihr solche Gedanken in den Kopf gesetzt, indem er ihr so oft gesagt, daß sie schön sei. Gar so schön gewiß nicht, und der Beweis hierfür, daß Radou von ihr ganz abgesehen hatte. Es gab vielleicht Tage, wo sie recht hübsch aussehen mochte, aber auch solche, wo sie gar nichts Reizendes an sich hatte. Und dann haben die Männer keine so große Empfänglichkeit für die bloße Schönheit!

Wahrlich, es wäre eine thörichte Eitelkeit von ihrer Seite, zu glauben, daß ein Mann wie der Graf, weil er sie mit so eindringlichen Blicken betrachtete, strafbare Absichten hegen konnte.

Was für Absichten überdies? Er hatte sie eben zum erstenmale gesehen; er würde sie am nächsten Sonnabende zum letztenmale sehen, und damit wäre es aus zwischen ihnen.

»Beten wir zu Gott, daß er unser gemeinschaftliches Vorhaben mit seinem Segen begnade!«

Nur an diese Worte allein, welche den Schluß ihrer Unterredung gebildet, durfte sie sich erinnern. Entschieden war er der rechtschaffene Mann, wie ihn seine Freunde rühmten.

Dies sagte sie ihrer Großmutter, als sie ihr über ihren Besuch Bericht erstattete; von den Blicken, die ihr so peinlich geworden, erwähnte sie nichts.

»Ich habe,« erwiderte die alte Frau, »seine Mutter gekannt, wie sie noch Krämerin in Hannebault war; er ist ein Mann, der daran zurückdenkt, daß seine Familie nicht immer in glücklichen Umständen gelebt hat!«

Lange hatte Helene geschwankt, ob sie an Louis Mérault, den Deputierten von Condé, schreiben sollte, wie Herr Malatiré es ihr angeraten; nach ihrer Empfindungsweise lag darin eine Doppelzüngigkeit, die sie anwiderte, und vor ihrem Gange nach dem Schlosse Rouvraye war sie schlüssig geworden, solch einen Brief nicht abzusenden.

Aber von dort heimgekehrt, und wenn sie sich auch wiederholt einredete, daß sie ihr Vertrauen in den Grafen Pretavoine setzte, entschied sie sich dennoch dafür, ihm zu schreiben. Nur gestand sie, anstatt Winkelzüge zu machen, die volle Wahrheit ein: sie hatte sich um die Unterstützung des Generalrats-Mitgliedes beworben, wie sie sich jetzt um jene des Deputierten bewarb. Dieses Bekenntnis war vielleicht unklug; dennoch konnte sie nicht umhin, es abzulegen.

Sodann harrte sie dem Sonnabend entgegen.

Wenn sie bei ihrem ersten Gange nach Rouvraye erregt gewesen, so war sie es in noch weit höherem Grade, als sie zum zweitenmale sich dahin begab.

Wie oft sie sich auch vorsagte, daß dies unvernünftig, lächerlich wäre, gewann sie doch keine Beruhigung, und anstatt rasch dahinzugehen, blieb sie von Zeit zu Zeit plötzlich stehen, ohne sich eigentlich einen Grund hierfür angeben zu können.

Endlich gelangte sie an den Pavillon des Thorhüters, dann in das Schloß, und sofort führte man sie in den Wartesalon, wo sie diesmal niemanden vorfand, was sie etwas betreten machte; es schien ihr eine Notwendigkeit, sich erst zu erholen und vorzubereiten.

Hierzu hatte sie keine Zeit; kaum war sie eingetreten, als Graf Pretavoine die Thüre des großen Saales öffnete und lächelnd auf sie zuschritt.

Zu ihrem Befremden sah sie, daß er ihr die Hand darreichte.

Was sollte sie thun?

Sie streckte die ihrige aus; er ergriff sie, drückte sie sanft, und ließ sie lange, gewiß länger, als man es bei einer Fremden zu thun pflegt, nicht los.

»Treten Sie nur ein,« sagte er, »ich wartete bereits auf Sie.«

Und indem er ihr den Vortritt einräumte, geleitete er sie hinter den Wandschirm, wo er sie auf dem Sofa Platz nehmen hieß.

»Sie müssen,« sagte er, »bei der rauhen, garstigen Witterung ganz erstarrt sein; wärmen Sie sich doch die Füße, nur näher an den Kamin; wir werden dann erst sprechen, denn wir haben miteinander … etwas zu besprechen …«

Und er ließ sich an ihrer Seite nieder.

»Aber Sie wärmen sich ja nicht,« bemerkte er dringlicher und wie wenn ihm sehr daran gelegen, daß sie ihre Füße näher an das Feuer rückte, wodurch sie genötigt gewesen wäre, ihr Kleid etwas emporzuheben.

»Mir ist nicht kalt,« entgegnete sie.

»Gestehen Sie vielmehr, daß es Sie drängt, zu erfahren, was ich Ihnen mitzuteilen habe; ich begreife das, und beginne damit ohne weiteren Verzug. Nun, wir haben große Wahrscheinlichkeit für das Gelingen …«

»Ach, Herr Graf, wie soll ich Ihnen danken!«

»Nur nicht so eilig! Für eine Danksagung liegt noch gar kein Anlaß vor; erst muß ich noch einige Fragen an Sie stellen, denen Sie eine aufrichtige Beantwortung zu teil werden lassen wollen; versprechen Sie mir dies?«

»Die vollste Aufrichtigkeit verspreche ich Ihnen.«

»Sie erkennen doch an, daß ich durch die Unterstützung Ihres Anliegens für Sie bis zu einem gewissen Grade Bürgschaft geleistet habe: es ist demnach nur billig, daß ich erfahre, wozu ich mich verbindlich mache und bis wie weit ich mich einlassen kann. Also diese Absicht, in das Lehrfach zu treten, ist bei Ihnen eine festbeschlossene und unerschütterliche?«

»Eine festbeschlossene, ja, Herr Graf, und eine um so unerschütterlichere, als ich keine Aussicht auf ein anderes Hilfsmittel habe; es ist demnach nicht nur ein Wunsch, sondern auch eine Notwendigkeit.«

»Das heißt … Sie werden beistimmen, daß ich mit mehreren Persönlichkeiten höheren Ranges in dem von Ihnen gewählten Berufe über Sie Rücksprache gepflogen, um nähere Auskünfte zu erlangen … und diese Persönlichkeiten haben auf einen gewissen Heiratsplan angespielt. Dieser Plan besteht also?«

Eine Weile benahm ihr das Schamgefühl fast allen Atem: das erste Mal war es ein physisches Examen, dem er sie unterzogen hatte; jetzt stellte er eine moralische Prüfung an, die nicht minder sie verwirrte, nicht weniger peinlich sie berührte.

»Bemerken Sie wohl,« fuhr er fort, »daß ich einen solchen Plan natürlich finden würde; widernatürlich wäre es, daß ein so reizendes Wesen, wie Sie, nicht geliebt würde.«

Diese Worte beschleunigten ihre Erwiderung:

»Dieser Plan besteht nicht,« sagte sie.

»Gleichwohl hat man einen Professor an der Stadtschule mir genannt.«

»Wenn ich einen Professor heiraten sollte, so würde ich nicht Volksschullehrerin zu werden trachten.«

»Nur einstweilen … in Ermangelung des … Besseren …«

»Auf eine Heirat, welche nicht stattfindet, habe ich nicht zu warten!«

»Aber hat sie nicht stattfinden sollen?«

»Mein Vater hat solchen Wunsch gehegt.«

»Und Sie?«

Dabei blickte er ihr forschend in das Gesicht; sie aber schlug ungescheut ihre Augen empor und sagte, auch ihn fest ansehend:

»Ich, nein.«

Sie glaubte zu bemerken, daß er hierüber eine gewisse Befriedigung durchschimmern lassen habe; doch zweifelsohne hatte sie sich getäuscht. In welcher Hinsicht konnte es für den Grafen Pretavoine eine Bedeutung haben, ob sie den Wunsch, Radou zu heiraten, gehegt hatte oder nicht.

Er selbst beantwortete diese Frage, die sie sich ganz leise stellte:

»Möge Sie, mein Fräulein, ein derartiges Verhör nicht Wunder nehmen! Wir, die Verteidiger der Religion und der Moral, stellen in Betreff der Erziehung Anforderungen, welche leider nicht die allgemein geläufigen sind. So wird, meiner Ansicht nach, ein weibliches Wesen, welches verheiratet ist und Kinder hat, niemals eine gute Lehrerin oder Erzieherin sein; denn es wird nicht jene unbedingte und ausschließliche Hingebung, die seine Mission erfordert, besitzen; nicht bloß für den Priester und die Nonne ist das Gelübde der Keuschheit unerläßlich, sondern auch für alle jene, welche sich einem Werke der Selbstverleugnung, der Entsagung, dem sie sich vollständig hinzugeben haben, weihen, und man giebt sich eben nicht vollständig hin, wenn man einen Gatten zu lieben und Kinder zu warten hat. Jetzt sehen Sie doch wohl ein, was meine Fragestellungen mir eingegeben hat?«

Sie bejahte es mit einer Neigung des Kopfes: die Zuversichtlichkeit kehrte ihr zurück. Wie sollte sie nicht Vertrauen in den Mann, der eine solche Sprache führte, setzen?

»Andererseits haben mich zu dieser Frage auch Pläne, mit denen ich mich Ihretwegen trage, bestimmt. Es wäre Ihnen ja höchst erwünscht, sich aus Condé nicht entfernen zu müssen?«

»Meiner Großmutter wegen würde ich mich allerdings dadurch glücklich fühlen.«

»Nun! Ich habe die Hoffnung, daß Sie, wenn meine Schritte gelingen, hier sogar, in Bourlandais, wo wir bisher nur eine gemischte Schule haben, und wo wir eine öffentliche Lehranstalt für Mädchen errichten würden, angestellt werden. Freilich wäre es eine Stelle, die eben nicht viel eintrüge, eine sehr bescheidene für ein Wesen, wie Sie …«

»Dennoch würde ich mich so glücklich schätzen!«

»Wirklich, würden Sie sich glücklich schätzen?«

Er brach ab und blickte sie in einer so sonderbaren Weise an, daß es sie eiskalt überlief.

Er rückte ihr näher, ganz nahe, so nahe, daß er an sie streifte; sie wollte zurückweichen, aber bereits und unwillkürlich war sie bis an das äußerste Ende des Sofas gelangt.

»Und auch ich,« sagte er, sich zu ihr hinneigend, »würde mich über eine solche Vereinbarung sehr glücklich fühlen; gleich anfangs ist von den Schulschwestern die Rede gewesen, aber die Stelle trägt ebensowenig ein, daß ich wohl imstande sein werde, jene abzuhalten und Ihnen den Vorzug einzuräumen. Sie mögen hieraus ersehen, welche Sympathie Sie mir eingeflößt und welche Teilnahme ich für Sie hege. Erst seit kurzer Zeit kennen wir uns, aber Sie übten sofort einen tiefen Eindruck auf mich durch Ihre Schönheit, durch Ihre Reize aus …«

»Mein Herr …«

»Ei! Es sollte Sie in Verlegenheit setzen oder Sie gar beunruhigen, weil ich meine Bewunderung für diese Schönheit ausspreche? Ist es denn das erste Mal, daß man hiervon gegen Sie eine Erwähnung macht?«

»In diesen Ausdrücken … in dieser Lage, ja, Herr Graf!«

»Dann hat Ihre Schönheit bis zu diesem Tage bei niemandem das nämliche Gefühl, wie bei mir entflammt … und ich bin dadurch beseligt. Erkennen Sie doch, daß volle Aufrichtigkeit aus mir spricht, wenn ich sage, daß ich glücklich sein werde, Sie in meiner Nähe, in Bourlandais, wo wir uns oft, sehr oft sehen werden, zu haben. Sie wissen, daß ich allmonatlich etwa zwei Wochen in Rouvraye zubringe; es wird einen großen Reiz für mich haben, hier ein so bezauberndes, so verführerisches Mädchen, wie Sie, zu treffen, ein Mädchen, so zartfühlig, so hoch gebildet …«

»Aber es ist ja unmöglich …«

»Und weshalb unmöglich?« rief er, ihr in die Rede fallend, lebhaft aus. »Nichts ist unmöglich bei Vorsicht und List. Diese beiden erforderlichen Eigenschaften werden wir haben; ich verspreche es Ihnen. Ich lebe hier sehr zurückgezogen, und nur zu gewissen Stunden empfange ich solche, die mit mir in Geschäftsverbindungen stehen oder ein Gesuch bei mir anzubringen haben; die übrige Zeit bin ich völlig ungebunden. Diese Zeit wird uns gehören, wenn Sie es wünschen. Meine Lage ist Ihnen bekannt; Sie wissen, wie trostlos sie ist. Wäre es nicht eines Weibes von Herz würdig, deren Bitterkeit zu lindern? O unsäglich dankbar würde ich derjenigen, die hierzu bereit wäre, sein und immerdar bleiben! Wollen nicht Sie dieses Weib, dieser gute Engel sein?«

Kaum waren diese Worte über seine Lippen, so schlang er seinen rechten Arm um ihre Hüfte und faßte mit seiner Rechten nach ihrer Hand, die sie entgegengestemmt, um sich seiner zu erwehren.

Doch mit einem Satze stand sie auf den Füßen, und ihre ganze Kraft aufbietend, entrang sie sich seiner Umschlingung.

Auch er war aufgestanden und suchte, mit beiden Armen sie umfangend, sie an sich zu ziehen; doch auch diesmal riß sie sich los.

»Lassen Sie mich!« schrie sie verzweiflungsvoll auf, indem sie umherblickte, wo hinaus sie sich retten könnte.

Aber er stand vor ihr, jeden Ausweg ihr versperrend.

»Weshalb dieses Entsetzen?« sagte er. »Was sehen Sie denn so Gräßliches, so Abstoßendes an mir, statt meine innige Ergebenheit für Sie zu erkennen? Diese innige Ergebenheit allein soll Sie weicher stimmen, gutwilliger machen; was Sie sich sagen sollen, ist, daß Sie einen Freund erwerben können, einen Freund, der ganz Ihnen – Sie verstehen mich? – ganz Ihnen zu eigen sein wird!«

»Um welch einen Preis, o mein Gott! Ich bin ein armes Mädchen, aber ich bin ein ehrbares Mädchen!«

Sie stieß diese Worte mit so überzeugender Beredtheit hervor, daß er einsah, allzuweit sich vorgewagt zu haben und abwiegeln zu müssen.

»Worin kann denn die Freundschaft, die ich Ihnen anbiete, Ihrer Ehrbarkeit einen Abbruch thun? Auf welch einen Gedanken haben denn Sie verfallen können? Ich will hoffen, daß Sie, wenn Sie ruhiger geworden, nochmals alles überdenken und klüger mich wieder besuchen werden. Darauf harre ich, und dann werde ich meine Schritte fortsetzen; diese werden – ich gebe Ihnen mein Wort – den gewünschten Erfolg haben, wenn anders Sie … guten Willens sind.« –

 

6.

Das Haupt stolz in den Nacken werfend, begab sich Helene hinweg. Festen Schrittes stieg sie die Freitreppe hinab, ging sie durch den Garten und an dem Pavillon des Thorhüters vorüber.

Doch wie sie in die Allee kam und somit glaubte, daß man sie nicht mehr zu sehen vermöchte, sank sie auf den Stumpf einer Eiche, der noch nicht weggeführt worden war: es ward ihr ganz schwach ums Herz, die Scham drückte sie nieder.

Dieser Mensch!

Und sie hatte ihn für einen frommen, gottesfürchtigen Mann gehalten!

Mit welcher Schlauheit hatte er dieses Gespräch geführt! Um sie nicht zu erschrecken und seinen Zweck zu erreichen, hatte er zuerst von dem tiefen Eindrücke, den sie durch ihre Schönheit auf ihn gemacht, von dem Reize, den ein so bezauberndes Mädchen ausübte, gesprochen; sodann war er zu dem Versprechen: »Meine Zeit wird ganz Ihnen gehören«, übergegangen, hatte den Einwendungen, die sie dagegen erheben könnte, durch: »Nichts ist unmöglich bei Vorsicht und List,« vorzubeugen gesucht, klar und deutlich den Preis, für welchen er seine Unterstützung gewährte, mit: »Sie werden einen Freund erwerben, der ganz Ihnen zu eigen sein wird,« angegeben und mit einer Drohung: »Sie werden klüger mich wieder besuchen, dann werde ich meine Schritte fortsetzen, und diese werden den gewünschten Erfolg haben, wenn anders Sie guten Willens sind,« geschlossen.

Kein Wort, das nicht seine berechnete Tragweite hatte, und das nicht tatsächlich zwanzigmal, hundertmal mehr besagte, als es sagen zu wollen schien, und zwar derart, daß man nur, wenn man die Reden aneinanderreihte, ihren vollen Sinn, ihre richtige Bedeutung erkennen konnte.

Also war er keineswegs der Großherzige, der Biedersinnige, wie seine Anhänger behaupteten, wohl aber der Schurke, der Scheinheilige, wie seine Feinde, die ihn nicht einmal in seiner wahren, ganzen Gestalt kannten, sagten.

Er habe mit mehreren Persönlichkeiten höheren Ranges im Lehrfache über sie Rücksprache gepflogen, hatte er erwähnt. Nun, wenn es sich wirklich so verhielt, dann mußte er wissen, daß sie ein ehrbares Mädchen war, und dennoch hatte er sie wie eine Dirne behandelt!

Ein Schwäche überfiel sie und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Niemand sah sie inmitten der Wiese, worin einige Ochsen ruhig weideten; sie konnte weinen und ungestört sich ihrem Schmerze hingeben.

Dies war die erste Prüfung, die sie in ihrem neuen Leben zu bestehen gehabt, und wie niederschlagend war sie, ach, herzbrechend!

Der Schauder vor der Gegenwart drängte sie in die Vergangenheit zurück.

Wer ihr gesagt hätte, damals, als sie die Schwachheit hatte, sich mit ihrer Schönheit zu brüsten, daß ein Tag erscheinen würde, wo sie darunter so grausam zu leiden hätte! Häßlich, wäre sie nicht einer solchen Beschimpfung ausgesetzt gewesen.

Und ihr armer Vater, er, der auch so stolz auf diese Schönheit war! Mindestens das Gute haben die Toten in ihren Gräbern, daß sie das Elend und die Schmach, wovon jene, die sie zurückließen, so viel, so unsäglich viel zu erdulden haben, nicht sehen können. Als er sich dem Tode verfallen fühlte, war er ihretwegen in Verzweiflung geraten, untröstlich gewesen; doch sicherlich hatte er sich nicht gedacht, was über sie kommen würde, bereits über sie gekommen ist.

Sie würde lange – so sehr entkräftet, verzagt war sie – derart hingebrütet haben, wenn nicht die Kälte sie eindringlichst an die Wirklichkeit gemahnt hätte. Sie durfte nicht sich ihrem Schmerze überlassen, sie mußte ihn überwinden; nicht der Verzweiflung zu unterliegen, in Mutlosigkeit zu versinken, sondern sich aufzuraffen, beherzt zu kämpfen, galt es. Weinen und Seufzen war eine Herzenserleichterung, die ihr nicht gegönnt war.

Sie machte sich nach Condé auf den Weg und kehrte nach dem Schulgebäude heim.

»Nun, mein Kind?« fragte sie die Großmutter, die ihr entgegengetrippelt kam.

»Großmama, wir dürfen uns auf den Herrn Grafen Pretavoine nicht verlassen.«

»O du mein Gott! Und weshalb denn nicht?«

»Er will eine Lehrerin in Bourlandais anstellen, aber er beansprucht von ihr gewisse … Bedingungen, welche … ich nicht zu erfüllen vermag!«

»Ich glaubte doch, daß du imstande wärest, alles zu thun, was man von einer Schullehrerin verlangen könnte.«

»Alles doch nicht, Großmama.«

»Das ist ein rechter Jammer! Was soll aus uns werden? Während deiner Abwesenheit war der neue Direktor hier; wir haben ihm diese Wohnung in zwei Wochen zu räumen.«

»Nun, Großmama, dann werden wir in zwei Wochen fortzuziehen haben.«

»Aber wohin?«

»Vierzehn Tage haben wir vor uns, und indessen werden wir schon etwas finden. Gewiß wird Herr Mérault nicht solche Schwierigkeiten erheben, wie es bei dem Herrn Grafen Pretavoine der Fall gewesen.«

»Ja, wenn er nur in Condé wäre; aber leider ist er in Paris.«

»Leider!«

Dieses »Leider« sagte sie aber nicht aufrichtigen Sinnes: wer konnte denn wissen, ob der Deputierte, wenn er sie sah, nicht die nämliche Sprache, wie der Generalrat, mit ihr führen würde! Noch morgens wäre ein solcher Gedanke ihr nicht gekommen; doch jetzt hielt sie alles für möglich, befürchtete sie alles.

Vierzehn Tage nur mehr! Und dann, wohin gehen? Was thun?

Eine Täuschung war ganz und gar unmöglich; einen Widersacher, einen Feind würde sie nun in dem Grafen Pretavoine haben, und er würde für ihre Abweisung sich ebenso einsetzen, als er seinen Einfluß für ihre Anstellung aufgeboten hätte, wenn sie klüger – wie er sich ausdrückte – hätte sein wollen.

Würde der Einfluß des Deputirten jenen des Generalrates überwiegen?

Und überdies, würde er ihr diesen Einfluß gewähren?

Sie hatte nicht lange auf den Beweis, daß ihre Befürchtungen in Betreff des Grafen Pretavoine nur allzu begründet wären, zu warten; denn als sie dem Inspektor einen Besuch machte, empfing er sie in einer Weise, der man sofort die Befangenheit, wie er sich ihr gegenüber stellen sollte, anmerkte.

»Sie kommen,« sagte er, »mir über Ihren Besuch bei dem Herrn Generalrate Bericht zu erstatten? Nun, ich weiß ohnehin bereits, was vorgefallen ist.«

»Wie …!«

»Das will sagen: bis zu einem gewissen Grade. Ich bin mit dem Herrn Grafen Pretavoine zusammengetroffen; er hat mir mit seiner gewohnten Offenheit nicht verhehlt, daß er nicht eben sehr zu Ihren Gunsten gestimmt sei; das will sagen: daß er Ihnen nicht geradezu abgeneigt, aber kurz und gut: daß er nicht für Sie eingenommen ist. Er hat mit aller Anerkennung, mit größtem Lobe sich über Sie ausgesprochen, Ihre vornehme Erscheinung, Ihren edlen Anstand, Ihre Kenntnisse, Ihre Bildung betont. Nur findet er, daß Sie an alldem zu viel besitzen, um Lehrerin an einer Landschule sein zu können. Dies erscheint Ihnen vielleicht nicht verständig geurteilt, aber es zeugt gerade von richtigem Verständnisse, wenigstens in einem gewissen Maßstabe und von einem gewissen Gesichtspunkte, wohlgemerkt: von dem seinigen, aus; denn, was mich anbelangt, so begreifen Sie doch, daß ich deren mehrere habe. Ich finde, daß er Recht hat, und andererseits finde ich, daß Sie nicht Unrecht haben.«

»Ich kann doch nicht Unrecht haben, wenn ich mir redlich mein Brot verdienen will!«

»Das ist eben Ihr Gesichtspunkt, und ein vortrefflicher dazu, ich erkenne es an; aber er ist nicht der seinige, der auch in seiner Art vortrefflich ist, ich verhehle es Ihnen nicht; er besorgt nämlich, daß sie eben Ihres vornehmen Anstandes und Ihrer höheren Bildung wegen sich in einer Dorfschule nicht am passenden Platze, sich, wenn ich mich derart ausdrücken darf, herabgesetzt finden würden.«

»Ich werde mich dort am passenden Platze finden, wo ich mir meinen Lebensunterhalt erwerben kann.«

»Ja, ja, das ist Ihr Gesichtspunkt, aber nicht der seinige; und so vermag ich den meinigen nicht recht herauszufinden, Denn ich erachte Sie im Rechte und andererseits auch ihn; Alles ist eben relativ in dieser Welt. Wahrhaftig, es ist recht ärgerlich, es thut mir sehr leid, daß Sie ihn von Ihrer vollständigen Eignung nicht überzeugt haben, denn Sie müssen einsehen, daß ich, wenn der Herr Graf Pretavoine sich gegen Sie erklärt, nichts für Sie zu thun vermag; ich wäre nur dann nicht ganz unvermögend, wenn Herr Mérault sich zu Ihren Gunsten aussprechen würde.«

Unter solcher gewundener Form trugen diese Worte das echte Gepräge des zaghaften, ängstlichen Wesens des Herrn Malatiré.

Zum Glück empfing Helene kurz darauf einen Brief des Deputierten Mérault, der sie mit einiger Hoffnung erfüllte.

In der Schreibweise eines Abgeordneten, der zu einem Wähler spricht, verhieß er, das Ansuchen, das sie an ihn gerichtet, sich angelegen sein zu lassen und es an berufener Stelle zu befürworten; er wisse, daß Herr Margueritte ein hochachtbarer Mann gewesen, der seiner Geburtsgegend alle Ehre gemacht, und er würde sehr erfreut sein, die Achtung und Teilnahme, die er zu seinem Leidwesen dem Vater zu bezeugen nicht vermocht, der Tochter zuwenden zu können.

Wer in einer unglücklichen Lage ist, wägt Kundgebungen des Mitgefühls eben nicht bedächtig ab; dieser Brief nach dem Modell derjenigen, mit welchen Abgeordnete die unzähligen Ansuchen und Beschwerden ihrer Wähler abzuthun pflegen, geformt, flößte Helenen und vornehmlich ihrer alten Großmutter Beruhigung und Vertrauen wieder ein.

Jedenfalls half er ihnen, das notgedrungene Verlassen ihrer Wohnung im Schulgebäude zu ertragen, ohne sich allzusehr zu grämen.

Wenn sie genötigt waren, ein am äußersten Ende der Andon-Vorstadt gelegenes, nur aus einer kleinen Küche und einer einzigen Kammer bestehendes Quartier zu mieten, so nahmen sie dies ohne Klage hin, indem sie sich sagten, daß dieser Aufenthalt von keiner langen Dauer sein, in einigen Monaten, vielleicht schon in einigen Wochen sein Ende haben werde.

Von den Fahrnissen des Herrn Margueritte hatten sie zwei Betten samt dem Bettzeug, drei Stühle, einen Tisch, etwas Wäsche und einiges Küchengeräte behalten können, und das reichte für sie hin.

Aber was vielleicht noch weit mehr als dieser Hausrat ihnen gestattete, bessere Tage abzuwarten, war eine Summe von zweihundertfünfzig Francs, welche nach vollführter Versteigerung und nach Tilgung aller Schulden, sowie der mit jener verbundenen Auslagen sich für Helene ergab; sie und ihre Großmutter befanden sich dadurch für einige Monate außer Gefahr, Hunger leiden zu müssen.

 

7.

Ein Kapital von zweihundertfünfzig Francs war für Helene, die doch befürchtet hatte, aus dem Erlöse der beweglichen Habe nicht alle Schulden bezahlen zu können, ein Glücksfall.

Gleichwohl nützte weder sie, noch ihre Großmutter es zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes aus.

Am zweiten Tage ihres neuen Hauswesens kündete die Großmutter mit seelenvergnügter Miene ihrer Enkelin an, daß sie Arbeit, die ihre gemeinschaftliche Lage verbessern würde, gefunden, nämlich: wollene Strümpfe für eine Familie von acht Personen zu stricken, bekommen habe.

»Ohne Großsprecherei,« sagte sie »kann ich dich versichern, daß es nicht viele Strickerinnen giebt, denen es so flink von der Hand geht, wie mir; ich kann noch meine Finger rühren; bei meinem Bruder habe ich Jacken, Strümpfe und Mützen für die ganze Familie gestrickt und niemals hat eines daraus zu warten gehabt; denke dir, zehn Personen und noch Mannsbilder dazu, die bei ihrer schweren Arbeit viel aufbrauchen, das will was sagen!«

Auch für Helene stellte sich ein Verdienst ein, indem sie allabendlich, mit Ausnahme des Sonntags, einer Weißwarenhändlerin, welche ihre Handschrift und ihre Rechtschreibung verbessern wollte, um den Schwestern Ledoux, die seit langen Jahren die besten Kundschaften in der ganzen Gegend besaßen, Konkurrenz zu machen, eine Unterrichtsstunde geben konnte. Sie bekam allerdings nur einen Franc für die Stunde, aber in ihrer Lage war dies ein Preis, den sie weder verschmähen, noch ablehnen durfte, selbst auch dann nicht, wenn sie im voraus gewußt hätte, daß ihre Schülerin ein Frauenzimmer von leichten Sitten, das, nachdem es mit seinen Reizen in Paris – wie man sagte – den erhofften Anwert nicht gefunden, nach Condé gekommen sei, um ein besseres Geschäft zu machen.

Dieser Unterricht und das Strümpfestricken verschafften ihnen ein monatliches Einkommen von zweiundvierzig Francs, mithin eine Summe, welche für ihre Verköstigung, für Holz und Licht, alldies auf das notdürftigste Maß beschränkt, ausreichte. Die Großmutter war gegen die Kälte nicht empfindlich und bedurfte zu ihrer Arbeit keine helle Beleuchtung. Was Helene betrifft, so war sie kräftig genug, um all diese Entbehrungen, ohne wenigstens unmittelbar darunter zu leiden, zu ertragen; auch gebrach es ihr nicht an hinlänglicher Standhaftigkeit, um sich denselben ohne ein Wort der Klage zu unterziehen; sie tröstete sich, daß dies ohnehin nicht immer so bleiben, sie noch eine Unterrichtsstunde erlangen und endlich ihre Ernennung erfolgen würde.

Dennoch traf diese sehnlichst erwartete Ernennung nicht ein, und nichts deutete darauf hin, daß sie in so baldiger Aussicht stünde; Helene entschloß sich daher, einen Versuch, der sie beschleunigen dürfte, zu machen.

Als sie ihr Gesuch eingereicht, hatte sie an den Referenten im Elementarschulwesen, der im Hauptorte des Departements seinen Amtssitz hatte und zugleich Lyceal-Inspektor war, geschrieben, jedoch ihm nicht ihre Aufwartung gemacht. Sowie sie etwas Geld beiseite zu legen vermocht, faßte sie den Entschluß, diesen Schritt, der ihre Angelegenheit nur fördern, jedenfalls ihr nicht abträglich sein konnte, zu thun.

Eines Tages, an welchem ihre Schülerin abends nicht frei war, was ziemlich oft vorkam und ihr monatliches Einkommen verringerte, machte sie sich auf den Weg, um bei demjenigen, von dessen Entscheidung ihre Anstellung hauptsächlich abhing, eine bittliche Vorstellung zu machen.

Hierzu hatte sie den Schulinspektor um ein Empfehlungsschreiben ersucht; doch dieser hatte sich ablehnend verhalten, ohne es ihr rundweg abzuschlagen, aber auch ohne es ihr auszustellen. »Sie würde« – meinte er – »hierdurch eine eben nicht zweckdienliche Ungeduld zu erkennen geben, und dann hätte sie, wenn sie sich schon durchaus vorstellen wolle, ja den Namen ihres Vaters für sich, der mehr als die besten Anempfehlungen wert wäre;« kurz er kramte all die Entschuldigungen eines Mannes heraus, der Scheu trägt, sich zu weit einzulassen und derart bloßzustellen.

Auf den Namen ihres Vaters baute sie auch wohl und er stählte sie, als sie nach drei Stunden Harrens endlich bei dem Referenten vorgelassen wurde.

So zaghaft und unschlüssig der Schulinspektor gewesen, so selbstbewußt benahm sich der Referent; er trug kein Bedenken, in entschiedenem Tone zu sprechen, von seiner Würde und Unfehlbarkeit auf das Tiefste durchdrungen.

»Welch ein wunderlicher Einfall, daß Sie sich mit dem Elementarunterrichte abgeben wollen!« sagte er. »Was werden Sie damit erreichen?«

»Meinen Lebensunterhalt.«

»Das hoffen Sie davon?«

Er war nur für die Hochschulen begeistert und schenkte dem Unterrichte in den Volksschulen sehr geringe Beachtung: er kannte keinen höheren, edleren Beruf, als eine Professur; aber so ein Schulmeister, der Bauernkinder nichts anderes als Lesen, Schreiben und Rechnen zu lehren hatte, nahm doch einen gar zu niederen Standpunkt ein, im Vergleiche zu der Höhe wissenschaftlicher Bildung, auf welcher er dünkelvoll thronte.

»Weshalb mögen Sie nicht in einem Pensionate, wo Ihre vielseitige Begabung, Ihre höhere Bildung eine weit bessere Verwertung fände, sich um eine Stelle bewerben?«

»Ich habe eine Großmutter, die ich bei mir behalten möchte, und ich führe, indem ich so handle, einen Herzenswunsch meines Vaters aus.«

»Ein gutes Herz hatte der wackere Herr Margueritte! Aber was hat es ihm eingebracht?«

»Allgemeine Zuneigung und Liebe; er ist aufrichtig, innig geliebt worden, dessen kann ich Sie versichern.«

»Daran zweifle ich nicht, durchaus nicht; aber mit der Herzensgüte kommt man weder in seinem eigenen Leben vorwärts, noch fördert man das seiner Kinder.«

»Wenigstens verschafft man diesen bisweilen einen Stützpunkt, und dies ist bei mir der Fall; denn wenn mein Vater mir kein Vermögen hinterlassen, so hinterließ er mir doch einen Namen, der mir gestattet, Ihren Gerechtigkeitssinn anzusprechen.«

Sie sagte dies mit hoch emporgerichtetem Haupte, ohne Prahlsucht, aber mit Nachdrücklichkeit, als eine Tochter, die auf ihren Vater stolz ist.

»Das wohl, mein Kind. Sie scheinen mir ein wackeres Mädchen zu sein.«

»Ich werde mich bestreben, meines Vaters würdig zu werden; auf ihn berufe ich mich, um Sie zu bitten, meines Ansuchens eingedenk sein zu wollen.«

Guten Mutes kam sie nach Condé zurück. Wenn man ihr auch weder etwas Bestimmtes, noch Unmittelbares zugesichert, hatte man ihr doch gute Worte gegeben.

Solches Hoffnungsgefühl kehrte eben rechtzeitig bei ihr ein, auf daß sie den Verlust ihrer Schreibunterrichtsstunden, der sie am Tage nach ihrer Heimkunft traf, ohne allzu große Niedergeschlagenheit ertrug.

Obgleich ihre Schülerin nicht mehr ganz jung, war sie noch ziemlich hübsch und gut erhalten, und vornehmlich hatte sie so wenige Zurückhaltung oder Bedächtigkeit in ihrem ganzen Gebahren, um in einem Kreise junger Männer, die, sich in Condé höchlich langweilend, auf Zerstreuungen welch' immer einer Art ausgingen, Aufsehen zu erregen.

Da Helene fast gar keine Bekanntschaften in der Stadt hatte und ihre Schülerin immer allein antraf, wenn sie nämlich selbe daheim fand, so wußte sie nichts von ihrem Lebenswandel und kaum viel mehr von ihrem Charakter; wohl schien es ihr, daß sie etwas zu gefallsüchtig in ihrer Kleidung und auch, nach gewissen Äußerungen beurteilt, von Leichtsinn nicht ganz frei zu sprechen war, aber dies war alles; sie ließ sich eben in den Unterrichtsstunden in kein Geplauder mit ihr ein.

»Recht unlieb war es mir, daß ich gestern keine Stunde nehmen konnte,« sagte die Weißwarenhändlerin, als Helene zu ihr kam; »Sie hätten mir einen gar großen Gefallen thun können; übrigens wäre auch heute dazu noch Zeit.«

»Ich stehe Ihnen zu Diensten.«

»Also hören Sie an, um was es sich handelt: anstatt unseres gewöhnlichen Dictando möchte ich, daß Sie mir zwei Briefe aufsetzen, die ich dann abschreiben würde; Sie könnten sie mir in die Feder sagen und dabei meine Fehler verbessern.«

»Ja, aber um Ihnen diese Briefe zu diktieren, muß ich mindestens wissen, was Sie zu sagen im Sinne haben.«

»Sie wollen wirklich so gut sein?« rief sie aus, um so vergnügter, je verlegener sie gewesen.

»O gewiß, wenn ich Ihnen damit eine Gefälligkeit erweisen kann.«

»Und noch dazu, wie schon gesagt, keine kleine!«

»Es ist das eine Aufgabe, wie eine andere, und sogar eine sehr zweckdienliche Übung.«

»Also: der erste Brief soll eine Antwort auf einen Liebesantrag, den ich erhalten habe, sein; diesen kann ich Ihnen nicht zeigen, weil er von einem geachteten, stadtbekannten Herrn ausgeht und er ihn mit seinem Namen unterfertigt hat; doch das thut nichts, denn ich weiß, was ich sagen will; Sie haben nur das, was ich Ihnen erklären werde, in schön gesetzten Redensarten niederzuschreiben. Dagegen ist der zweite Brief schwieriger, weil er vorsichtig, hinterhältig abgefaßt sein muß, so daß derjenige, für den er bestimmt ist, darin lese, was ihm beliebt, und auch wieder derart, daß ich ihm später sagen lassen kann, was ich will: weiß oder schwarz, je nach den Umständen. Mit einem Worte: es ist ein Absagebrief für heute; doch soll er so geschrieben sein, daß er eine Aussöhnung nicht unmöglich macht für morgen oder für … später, falls der erste Brief die Wirkung, die ich erhoffe, nicht machen sollte. Sie verstehen doch?«

»Nichts von alledem. Auch kann ich weder den ersten, noch den zweiten abfassen!

»Den ersten diktiere ich ja Ihnen!«

»Für solchen Unterricht bin ich nicht zu haben.«

»Aber Sie haben ja doch gesagt, daß Sie mir gerne diese Gefälligkeit erweisen!«

»Ich hatte nicht verstanden, was Sie von mir begehrten. Jetzt, wo ich es verstanden habe, bleibt mir nichts übrig als … zu gehen.«

»Ah! das ist nicht Übel!«

»Leben Sie wohl!«

Und Helene kündigte hiermit den Unterricht auf, ohne auch nur daran zu denken, daß mit diesem ihr Lebensunterhalt, ihr tägliches Brot verbunden war.

Erst auf der Straße kam ihr dieser Gedanke; doch auch hierauf ging sie, anstatt Halt zu machen oder wieder umzukehren, nur noch rascher und entschlossener von dannen.

 

8.

Bis die erhoffte, aber nicht ausdrücklich zugesicherte Anstellung, welche sich auch noch in die Länge hinausziehen konnte, erfolgte, war die äußerste Einschränkung geboten.

Von den zweiundvierzig Francs, welche vor dem Verluste des Unterrichtes bei der Weißwarenhändlerin das gemeinschaftliche Monatseinkommen bildeten, gingen nun vierundzwanzig Francs ab; es verblieben ihnen demnach bloß achtzehn, welche die Großmutter verdiente.

Somit war die Voraussetzung der Tante »Dasunddas«, daß die Großmutter für den Lebensunterhalt der Enkelin zu arbeiten haben würde, in Erfüllung gegangen.

Und doch war es Helenens sehnlichstes Trachten, Arbeit zu erhalten und wenn auch noch so Geringes zu verdienen!

Für ein Mädchen in ihrer Lage war fast nur eine Arbeit möglich: jene mit der Nadel.

Aber wenn sie auch nähte oder stickte, so gebrach es ihr doch an Geschicklichkeit, richtiger Einteilung und Raschheit, was in jeder Sache, ob es sich nun um das Einsäumen eines Abwischtuches oder um das Malen eines Bildes handelt, einzig und allein durch längere Übung erworben wird.

Sollte sie nach Schreibverdienst greifen? Sie hätte sich bezüglich dessen nur an den Notar Griolet zu wenden gehabt, aber sie würde lieber Hungers gestorben sein, als das Lächeln, mit welchem er ihre Bitte, die, von ihr gestellt und nach dem, was vorgefallen war, ihre Einwilligung in seine nicht mißzuverstehenden Absichten bedeutete, aufnehmen würde, ertragen zu müssen.

Sollte sie Strickarbeit wählen? Das that sie, da sie hierbei den Vorteil hatte, sich um solche nicht erst umsehen zu dürfen, ganz einfach nur ihrer Großmutter zu helfen brauchte. Allein in ihren gelenken und glatten Fingern ging diese Arbeit nicht so von statten, wie in den steifen und runzligen Fingern der alten Frau: anstatt zwölf oder dreizehn Sous täglich zu verdienen, brachte sie es höchstens auf sechs oder sieben.

Dennoch stand sie von dieser Arbeit nicht ab, weil sie keinen einträglicheren Ersatz fand; immer besser noch das, als nichts.

Ihre sieben Sous, zu den dreizehn der Großmutter gefügt, ergaben für sie ein tägliches Einkommen von zwanzig Sous, und bisher hatten sie zwischen zwei- und fünfunddreißig ausgegeben.

Mithin mußten sie für zwölf oder fünfzehn Sous Ersparnisse machen.

Dies vermochten sie bei ihrem Frühstücke und Mittagmahl nicht; sie brachen es sich an Heizung und Licht ab, wenngleich die Witterung rauh und sie des Abends in dieser Jahreszeit, wo es schon vor fünf Uhr dunkelt, ihr Tagewerk so spät als möglich zu enden genötigt waren.

Zum Glücke kam ihnen in dieser Hinsicht der Zufall zu Hilfe.

Bei der Auswahl ihrer Wohnung in dieser Vorstadt hatte Helene zweierlei in Betracht gezogen: der Mietzins war billiger, als in der Stadt, und sie waren fast auf dem Lande; ihre Großmutter, welche immer auf den ländlichen Fluren gelebt, fand hier Luft und Licht; rings um sie breiteten sich die fetten Wiesen, welche der Andon bewässert, aus; von ihrem Fenster, das auf die Landstraße hinaus ging, sahen sie die Bäume, welche die Krümmungen des Flusses anzeigten, und in ihrem Hofe hörte man den ganzen Tag über Hahnengekrähe, Hühnergegacker und Taubengegirre; dies war für die alte Bäuerin, welche die vier Wände ihrer Behausung nicht verließ, minder trübselig.

Doch blieb es immer nur der Vorort einer Stadt, war es nicht eine volle freie Landgegend, und demnach befand sich gerade ihrem Fenster gegenüber und auf der anderen Seite der Straße, die an dieser Stelle ziemlich schmal, das Gitterthor einer Fabrik, in welcher die Arbeit bei Tag und Nacht fortging, so daß, um den hin- und hergehenden Arbeitern das nötige Licht zu verschaffen, eine Gasflamme vom Abend bis zum Morgen über diesem Eingange brannte.

Diese Gasflamme gewährte ihnen, sich an ihrer Beleuchtung Abbruch thun zu können; allabendlich, nach dem Essen, zogen sie die Vorhänge an dem Fenster ihrer Kammer beiseite, rückten so nahe als möglich an die Glasscheiben, um nichts von der Helle der Flamme, die über die Straße und bis zu ihnen reichte, zu verlieren, und blieben so bis elf Uhr nachts, beherzt und emsig fortstrickend.

In der Mitte ihrer Kammer würden sie, wenn es draußen stark fror, weniger Kälte auszustehen gehabt haben; aber dort würde es ihnen an ausreichendem Lichte gemangelt haben, vornehmlich Helenen, welche, weil es ihr an der Erfahrung und Gewandtheit ihrer Großmutter fehlte, etwas mehr, um sich in ihrer Arbeit zurechtzufinden, darauf sehen mußte.

Oft vernahm man stundenlang nichts, als das schwache Klirren der Nadeln, wenn sie zusammenschlugen.

Dann tauschten sie plötzlich einige Worte aus, die aber niemals Klagen über ihre Lage, über ihre Leiden und Entbehrungen, über Ermüdung oder Kälte waren. Es schien, daß in dieser Hinsicht ein geheimes Übereinkommen zwischen ihnen bestand und daß sie sich zu ermutigen, nicht sich kleinlaut zu stimmen suchten.

Allein wider ihren Willen entschlüpfte ihnen doch bisweilen ein Wort, welches über das, was die eine oder die andere empfand, vielmehr litt, keinen Zweifel beließ.

Eines Abends, als es schauderhaft fror und man auf der Straße die Schritte der Vorübergehenden knirschen hörte, während die mit Eiskrusten überzogenen Fensterscheiben unter den Stößen eines heftigen Nordostwindes zu zerspringen drohten, arbeiteten sie, ohne eine Silbe zu sprechen, geraume Zeit fort.

»Wir dürfen noch von Glück sagen,« rief endlich die Großmutter aus, »daß unser Fenster so gut schließt!«

Dies war keine Klage; aber welche Bemerkung würde ein kläglicheres Eingeständnis, wie sehr die alte Frau, die halb erstarrt auf ihrem Stuhle seit drei Stunden saß und doch unablässig ihre Finger bewegte, unter der Kälte litt, gewesen sein!

Helene, welche nicht minder als ihre Großmutter, ja vielleicht noch mehr, denn sie war nicht an das Leben in freier Luft gewöhnt, unter der Kälte zu leiden hatte, die aber trotzdem kein Feuer anmachen wollte, konnte solchem von Schmerz erpreßten Ausrufe nicht widerstehen.

»Wenn es auch gut schließt,« sagte sie, »so ist es doch wahrlich zu kalt hier; auch werden wir morgen einheizen; ich kann meine Finger nicht mehr rühren.«

»Und mir sind die Füße schon ganz starr.«

»Aber weshalb sagtest denn du nichts, Großmama?«

»Ach, wozu soll denn auch das Klagen!«

»Morgen werde ich Kohlen einkaufen.«

»Und wo wirst du das Geld hernehmen?«

»Von unserem Kapital; es ist schon recht, wenn man das seinige zusammenhält und aufspart, aber nicht so weit, daß wir eher darüber zu Grunde gehen.«

»Nun, so unrecht hast du nicht; auch werden wir, wenn uns nicht mehr kalt ist, flinker arbeiten, die Finger werden biegsamer sein!«

Dieser strenge Winter währte lange und nicht bloß des Kohlenankaufes wegen mußte das Kapital angegriffen werden, sondern auch zur Bestreitung der Lebensmittel, deren Preise, wie dies immer in schlechter Jahreszeit der Fall ist, in die Höhe gingen.

Jede Woche verminderte sich dieses kleine Kapital, das ihre letzte Zuflucht war; bald war es auf zweihundert Francs herabgesunken.

Als Helene es derart zusammenschmelzen sah, redete sie sich, um nicht zu verzweifeln, den Trost ein, daß ihre Anstellung nun endlich doch erfolgen müsse, sie jetzt nicht lange mehr auf sich warten lassen könne; aber dies kam bloß über ihre Lippen, ohne Vertrauen, ohne Überzeugung.

Und wenn sie nicht erfolgte?

Was würden sie thun, wenn ihr Kapital aufgebraucht wäre?

Würde ihre Großmutter dieses Leben voll Entbehrungen und Elend lange aushalten können?

War es vernünftig, es ihr aufzubürden?

Als ihr Vater auf dem Wunsche, seine Mutter zu sich zu nehmen, bestanden, hoffte er, ihr ein glückliches Leben zu sichern, sie mit herzlicher Zuneigung und Sorglichkeit, mit Ruhe und Wohlstand zu umgeben; sie selbst, als sie den Antrag der Tante »Dasunddas« zurückgewiesen, hatte geglaubt, daß sie, wenn sie auch nicht die Absichten ihres Vaters völlig zu erfüllen vermöchte, doch mindestens imstande sein würde, ihrer Großmutter eine gewisse Ruhe und Erholung zu verschaffen, und statt dessen traf es die arme alte Frau, nur rastlos, anstrengend zu arbeiten, und Not zu erdulden. Sollten sie unter solchen Umständen ausharren? Wäre es nicht das beste, bei der Tante Rettung zu erwirken? Welche fürchterliche Verantwortlichkeit für Helene, wenn ihre Großmutter erkrankte! Wenn diese stürbe, würde sie nicht ihren Tod verschuldet haben? Allerdings war es peinlich, sich einer solchen Demütigung zu unterziehen; auch war es allerdings kein Leben der Ruhe und Behaglichkeit, das unter der Herrschaft der Tante zu gewärtigen war. Aber wie die Sachlage beschaffen war, durfte die Frage der Würde oder der Erniedrigung nicht aufgeworfen werden, um ihren Entschließungen den Ausschlag zu geben, und unter dem Drucke des gräßlichsten Elendes war auch mit der Erwägung, ob ihre Großmutter sich dort eines ruhigen und behaglichen Lebens zu erfreuen haben würde, nicht das mindeste gewonnen.

Nachdem Helene lange geschwankt, entschloß sie sich, ihrer Großmutter den Vorschlag, sich wieder zur Tante »Dasunddas« zu begeben, zu machen.

Aber diese wies ihn zurück.

»Würdest du, mein liebes Kind, mit mir gehen?« fragte sie.

»Nein, das ist unmöglich; du weißt ja, daß die Tante uns gesagt, mich nicht aufnehmen zu können.«

»Nun, allein werde ich nicht zu ihr gehen; wenn ich nichts verdiente, wenn ich dir zur Last fiele, würde ich vielleicht dennoch gehen; aber da der liebe Herrgott vergönnt, daß ich etwas verdiene …«

»Mehr als ich!«

»Sollst recht haben! Aber dann ist schon gar kein Grund, daß ich dich verlasse; denn mein Fortgehen würde deine Lage nicht bessern. Und bist du nicht der Meinung, daß man das Unglück weniger schwer trägt, wenn man zu zweien ist, als wenn man allein steht? Und du würdest allein stehen, mein armes Kind! Und dann hat dein Vater ja gewollt, daß wir beisammen bleiben, und mir käme es sündhaft vor, das, was er wollte, gethan zu haben, so lange ich mich dabei wohl befunden, und es nicht mehr thun zu wollen, wann es mir dabei übel geht. Im Glücke würden wir beisammen geblieben sein, und so wollen wir es auch im Unglücke halten; das wird nicht von immerwährender Dauer sein!«

Diese Dauer war mindestens eine lange und das Kapital schrumpfte stets mehr zusammen.

Dennoch verbesserte sich mit dem Eintreten der schönen Jahreszeit ihre trostlose Lage: sie bedurften keiner Heizung mehr; der Preis der Gemüse ging herab; mit Tagesanbruch aufstehend, konnten sie mehr und mit geringerer Angestrengtheit arbeiten; endlich hob der erquickende Einfluß der Sonne ihr Vertrauen, die Zukunft erschien ihnen in einem weniger trüben Lichte.

Derart brachten sie den Monat April hinter sich, und dann ging endlich ihr neu belebtes Hoffen, daß »das Unglück nicht von immerwährender Dauer sein würde«, in Erfüllung.

 

9.

Der alte Professor Bonjean, der Helenen seine Unterstützung zugesichert, hatte sie in ihrer Notlage nicht gänzlich verlassen; er besuchte sie manchmal, zwar nicht oft, aber doch von Zeit zu Zeit, und fuhr fort, ihrer zu gedenken, indem er sich um Unterrichtsstunden für sie bewarb.

Gleich anfangs hatte er großen Eifer in diesem Trachten entwickelt; aber als er sah, daß es gar nichts fruchtete, war er erkaltet; denn gar selten sind die Leute, welche, um anderer willen, gegen die Hartnäckigkeit eines widrigen Geschickes ankämpfen. Wenn man schon seine Zeit und Mühe anwenden will, so geschieht es unter der Bedingung, daß man dafür durch den Erfolg gelohnt wird; bleibt dieser aus, erleidet man immer nur Schlappen, so wird man der Sache endlich überdrüssig und läßt sie fallen.

Gleichwohl sahen Helene und ihre Großmutter ihn an einem Donnerstage in der ersten Maiwoche mit freudestrahlendem Angesichte bei ihnen eintreten.

»Endlich,« rief er ihnen schon von der Thürschwelle zu, »habe ich etwas für Sie, mein liebes Kind, etwas Ausgezeichnetes, obzwar es nicht ganz das ist, wovon Sie schwärmten.«

»O was mein Schwärmen, wie Sie sich ausdrücken, betrifft, so habe ich schon lange auf eine Erfüllung verzichtet!«

»Das habe ich mir auch gedacht, und eben deshalb sage ich Ihnen, daß ich etwas Ausgezeichnetes für Sie habe. Ich will Sie nicht darnach schmachten lassen: es handelt sich darum, als Erzieherin bei dem Herrn Marquis von Courtomer für seine Nichte, das Fräulein Calipet, einzutreten und dabei hundertfünfzig Francs monatlich zu verdienen.«

Er rieb sich mit stolzer Befriedigung die Hände.

»Da haben Sie meine Neuigkeit! das ist doch etwas wie?«

»Es wäre wirklich ausgezeichnet, wenn ich nicht die Großmutter hätte.«

Diese gute Frau hatte bei dem Eintritte des Professors, der in ihren Augen eine angesehene, fast ihrem Sohne ebenbürtige Persönlichkeit war, ihren Arbeitseifer verdoppelt, und wenn man sah, wie sie die Nadeln zwischen ihren Fingern laufen ließ, hätte man glauben können, daß sie dem, was um sie vorging und gesprochen wurde, gar keine Aufmerksamkeit zuwandte; dennoch war dies nicht der Fall.

Als sie die Worte ihrer Enkelin: »wenn ich nicht die Großmutter hätte«, vernahm, hob sie den Kopf in die Höhe.

»Ich« – sagte sie – »komme dabei durchaus nicht in Betracht.«

»Aber, Großmama …«

»Soll ich dir denn im Wege stehen, dein Brot zu verdienen, wenn du mit mir an deiner Seite nicht hinreichende Arbeit finden kannst? Wir wollten beisammen bleiben aber wenn dies nicht möglich, so müssen wir uns wohl trennen. Ich habe keine Scheu vor dem Alleinsein, und dann werde ich in diesem Hause nicht ganz allein sein; wir haben gute Nachbarsleute.« '

»Das ist,« fiel der Professor ein, »die Antwort einer Frau von trefflichem Verstände und Herzen. Wenn ich, mein Fräulein, nur sicher wäre, daß Sie bis zur Wiedereröffnung der Schulen nach den Ferien angestellt würden, so möchte ich Ihnen anraten, diesen Zeitpunkt abzuwarten. Aber diese Gewißheit habe ich nicht; ja ich hege sogar Befürchtungen hinsichtlich dessen.«

»O sprechen Sie sich rückhaltlos aus!« rief Helene aus. »Ich flehe Sie darum an.«

»Damit hat es einige Schwierigkeit; denn ich vermag keine bestimmten Angaben zu machen. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß ein Vetter meiner Frau, der, wie Ihnen bekannt, als Beamter bei dem Schulinspektorate unseres Departements angestellt ist und als solcher, zudem er in dem Geschreibsel des Vorstandes herumzustöbern hat, gute Augen und Ohren besitzt, manches errät, jedenfalls vieles erfährt. Nun, durch ihn haben wir einen Wink erhalten, daß Ihre Anstellung auf einen Widerstand stößt. Woher dieser kommt, das weiß ich nicht.«

Helene erachtete es nicht für ratsam, zu entgegnen, daß sie es allerdings wüßte.

»Aber kurz, wenn auch nicht gut,« fuhr er fort, »dieser Widerstand besteht. Er kann Ihre Ernennung hintertreiben, und daher bin ich der Ansicht, daß Sie die Stellung, welche Ihnen der Herr Marquis oder vielmehr die Frau Marquise von Courtomer bietet, annehmen sollen. Hört dieser Widerstand auf, oder sollte es Ihnen bei der Frau Marquise durchaus nicht behagen, was mich übrigens Wunder nehmen würde, so haben Sie noch immer Zeit, sich dem Unterrichte in der Volksschule zuzuwenden.«

»Der Herr Professor hat vollkommen recht,« bemerkte die Großmutter; »auf mich darfst du, mein liebes Kind, gar keine Rücksicht nehmen.«

Helene verharrte eine Weile im Schweigen, indem sie sich die Frage stellte, was sie thun sollte. Ihre erste Regung war gewesen, nimmer ihre Großmutter verlassen zu wollen; aber sicherte sie in der verzweifelten Lage, worin sie sich befanden, nicht eben dadurch, daß sie von ihr sich trennte, ihr das ruhige und behagliche Leben, welches sie für selbe so sehnlichst gewünscht hatte? Würde nicht die arme alte Frau mit hundert Francs, die sie ihr von den hundertfünfzig, die man ihr anbot, abließe, eine ganz andere Existenz, als die ihrige jetzt war, gewinnen?

Ebendies brachte auch Professor Bonjean mit einer gewissen Gereiztheit vor, als ein Mann, der sich dadurch verletzt fühlt, daß man das unverhoffte Glück, welches er vermittelt hat, nicht mit Ausbrüchen der Freude und des Dankes aufnehme.

»Ich bitte Sie,« ergriff Helene lebhaft das Wort, »glauben Sie nur ja nicht, daß ich durch das, was Sie für uns thun, nicht tief gerührt bin; aber ich hatte mir nicht vorgestellt, daß ich genötigt sein könnte, mich von meiner armen Großmutter zu trennen, und dies versetzt mich in eine Aufregung, in eine Unruhe …«

»Wie vermögen Sie ihr sich am nützlichsten zu erweisen? Das allein haben Sie zu überdenken!«

»Ganz richtig!« sagte die Großmutter.

»Zu überdenken, ob Sie bei ihr bleiben sollen, um nichts oder doch so viel wie nichts zu verdienen, oder ob Sie sich von ihr trennen sollen, um hundertfünfzig Francs, eine Summe, welche Sie mit ihr teilen können, allmonatlich zu erwerben. Beachten Sie weiters, daß Courtomer bloß zwei Meilen von Condé entfernt, mithin diese Trennung eigentlich gar keine ist; Sie werden in den Stand gesetzt sein, sie zu sehen, so oft Sie wollen; wenn sie erkrankte, würden Sie innerhalb ganz kurzer Zeit bei ihr sein.«

»Ich habe,« sagte die alte Frau, »noch nie als Großmutter geredet, weil du ein gescheites Mädchen, einsichtsvoller und kenntnisreicher bist, als ein Bauernweib, wie ich, sein kann; aber wenngleich man keine Kenntnisse, keine Bildung hat, so kann man doch einen gesunden Menschenverstand besitzen, und dieser gebietet dir, den Antrag anzunehmen.«

»Das heißt gesprochen!« sagte Professor Bonjean. »Ich sehe schon ein, was es Ihnen kosten mag, dieses Opfer zu bringen; aber wer hat in dieser Welt nichts zu opfern? Wo sind diejenigen, die nur das thun, was ihnen angenehm ist, oder das, was sie zu thun im voraus bestimmt haben? Das Leben straft fortwährend unsere Hoffnungen, unsere sehnlichsten Wünsche Lügen. Übrigens muß ich bemerken, daß dieses Opfer an und für sich, und die Trennung beiseite gesetzt, nicht gar so schwer zu ertragen sein wird. Die Courtomers sind wackere Leute, mit denen sich gut auskommen läßt.«

»Sie kennen sie näher?«

»Ich habe dem Sohne Unterricht erteilt, und eben deshalb mag es der Marquise eingefallen sein, sich an mich zu wenden, als sie eine Erzieherin für ihre Nichte benötigte.«

»Und wer ist diese Nichte?«

»Ein dreizehnjähriges Mädchen, das, als es verwaist wurde, durch seine Tante, die Marquise von Courtomer, aufgenommen wurde.«

»Das arme Kind!«

»Wenn ich sage: aufgenommen, so ist das keineswegs das richtige Wort, denn diese Kleine ist die Erbin eines bedeutenden Vermögens von Seite ihres Vaters, des Herrn Isidor Calipet, der in Hannebault die großartige Drahtspinnerei errichtet und viele Jahre betrieben hat. Herr Calipet war der Bruder der Marquise von Courtomer, und daraus ergiebt sich schon, daß diese ihre Nichte, welche die Mutter im zartesten Kindesalter verloren, in Obsorge bekam. Als die Marquise von Courtomer sich vermählte, hat sie dem Marquis, der fast zu Grunde gerichtet war und nur noch seinen Stammsitz Courtomer, mit schweren Schulden belastet, besaß, ein schönes Vermögen zugebracht. Die Jugenderfahrungen hatten den Marquis, der, ein leidenschaftlicher Liebhaber der Pferde und der Jagd, sich an den Rennen beteiligt und überhaupt auf großem Fuße lebt, nicht klüger gemacht; er hat mit dem Vermögen seiner Frau geradeso wie mit seinem eigenen verfahren, das will sagen, daß er es fast vollständig durchgebracht hat. So standen die Dinge, als Herr Calipet, der die Geschäftstätigkeit ebenso liebte, wie sein Schwager Müßiggang und Glanz, und der sein Vermögen verdoppelt oder verdreifacht hatte, wogegen dieser das seinige verschleuderte, mit Tod abging und als einzige Erbin sein Töchterchen Adélaide Calipet hinterließ, zu dessen Vormunde der Marquis ernannt wurde und welches die Marquise zu sich nahm und unter ihrer Aufsicht durch eine Privatlehrerin erziehen lassen will. Dies weist doch nicht auf eine bösartige Frau hin?«

»Gewiß nicht.«

»Dennoch muß ich der Vollständigkeit wegen hinzufügen, daß die Marquise, indem sie derart handelt, nicht einzig und allein – mindestens geht so das Gerede – einem Drange zärtlicher Sorgfalt für ihre Nichte folgte. Man behauptet, daß sich hierzu die eifrige Wahrung eines persönlichen Interesses gesellt. Der Marquis und die Marquise haben nämlich, wie ich Ihnen bereits erwähnt, einen Sohn: Guiscard von Courtomer. Beachten Sie, nebenher gesagt, diesen Namen Guiscard wohl; denn er klärt Sie sofort aus, bis wie weit sich die adeligen Prätensionen der Courtomers zurückerstrecken, daß sie nämlich glauben, von Robert Guiscard, dem Eroberer Apuliens und Verheerer Roms, der den Namen der Normannen in Italien und im Oriente, wie Rollo in Frankreich und Wilhelm in England, furchtbar gemacht, abzustammen.«

»Diese Prätensionen sind begründet?«

»Hierüber bin ich nicht im Klaren; jedenfalls bestehen sie. Ob nun der junge Courtomer von Robert Guiscard abstamme oder nicht, so viel ist gewiß, daß er nicht, wie der Held seiner Familie, den Beinamen: »Der Schlaukopf« verdient. Ein guter Junge ist er, aber auch der faulste, lernscheueste Schlingel, den ich jemals gesehen. Ich habe Ihnen gesagt, daß ich sein Professor gewesen. Und das kam so: man hatte ihm als Lehrer einen Abbé, der ihn für die Militärschule von Saint-Cyr vorbereiten sollte, gegeben. Unter der Leitung dieses Abbé hat er nichts gethan, nichts gelernt, aber schon ganz und gar nichts; man wollte es mit einer anderen Lehrkraft versuchen, und man vertraute ihn mir an. Ich kam tagtäglich nach Courtomer, um ihm drei Stunden hindurch Unterricht zu erteilen; aber mir erging es nicht besser als dem Abbé; ich habe ihm nicht einmal die Namen der Autoren, die er übersetzte, einzubläuen vermocht: Plutarch war für ihn der grüne Band, Xenophon der gelbe Band. Sie können sich wohl denken, daß die geringen Kenntnisse, welche ihm beizubringen waren, nicht ausreichten, um in Saint-Cyr Aufnahme zu finden; auch hat man dieses Vorhaben aufgegeben, und das Leben Guiscards beschränkt sich, wie das junger Tagediebe, die alles Wissens bar sind, auf Pferde und Jagd. Dessenungeachtet hat seine Mutter betreffs dieses Sohnes, den sie anbetet, die Hoffnungen eines hochfliegenden Ehrgeizes nicht aufgegeben, und zählt, weil er durch sich selbst nichts vermag, für deren Verwirklichung auf die Frau, mit welcher sie ihn vermählen wird. Hiermit komme ich auf Ihre demnächstige Schülerin: die kleine Adélaide zurück; denn sie soll diese Frau sein, und sie wird, wenn die Heirat zustande kommt, ihrem Vetter ein bedeutendes Vermögen, womit er eine Rolle in der Welt spielen kann, zubringen. Damit dieser Plan aber sicherer in Erfüllung gehe, will die Marquise ihre Nichte bei sich erziehen lassen, wornach diese ihren Vetter beständig um sich sehen wird und sich allmählich daran gewöhnen soll, ihn zu lieben. Selbstverständlich hat sie mir solchen Plan nicht anvertraut; aber er ist einfach und durchsichtig genug, daß man leicht ihn errät. Zu seiner Ausführung bedarf sie einer Erzieherin. Natürlich habe ich an Sie gedacht und bin hierher geeilt, um Ihnen diese gute Kunde zu überbringen; es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, daß Sie mit der Annahme zaudern könnten. Es handelt sich um eine Erziehung von mindestens fünf Jahren in einem hochansehnlichen Hause. Während dieser fünf Jahre werden Sie siebentausendsiebenhundert Francs verdienen, ohne die Geschenke, die gewiß zur Deckung Ihrer Bedürfnisse ausreichen werden, einzurechnen. Wenn ich annehme, daß Sie die Hälfte dieser Summe Ihrer Großmutter überlassen, so werden Ihnen immer noch nahezu viertausend Francs verbleiben, das will sagen, daß Sie, wenn Sie aus diesem Hause treten, eine gewisse Unabhängigkeit, die Ihnen das Abwarten und Auswählen erlaubt, besitzen werden. Ich bin mit meinem Vortrage zu Ende. Überdenken Sie ihn!«

Die Großmutter war es, welche ihm antwortete:

»Meine Enkelin hat ihn schon überdacht: sie nimmt das Anerbieten an und wir danken Ihnen herzlichst dafür; wir können Ihnen, mein lieber Herr, wohl eingestehen, daß Sie uns dadurch das Leben retten.«

»Dann sind wir einig, und unverzüglich will ich an die Marquise schreiben, daß ich ihre Erzieherin nächsten Sonntag ihr vorstellen werde.«

 

10.

Das Schloß Courtomer, zwei Meilen von Condé, aus weit sich ausdehnender Wiesenfläche, inmitten eines Teiches, der seine Mauern und seine vier Türme bespült, gelegen und von einem schönen Parke, an den sich große Waldungen schließen, umgeben, würde ein angenehmer Wohnsitz sein, wenn die Verbindungswege dahin bequemer wären. Da Courtomer aber nur ein kleines Dorf ohne Handel und Gewerbe ist, da der Eigentümer des Schlosses niemals weder Mitglied des Generalrates, noch des Bezirksausschusses, noch auch nur Bürgermeister gewesen, so hat man die Anlegung einer eigens zum Schlosse führenden Straße immer hinausgeschoben und sich damit begnügt, einen Feldweg, der, drei Viertelstunden lang, von der Stelle, wo er in die Landstraße ausmündet, bis zu dem Eingange in das Schloß quer über vier seichte Bäche läuft und in den Wiesen mit ihrem schwammigen Boden, der unter schwer beladenen Wagen zittert, eine nicht geringe Anzahl von Gruben und Löchern, die niemals eine Ausfüllung erfahren, darbietet, in einem halbwegs leidlichen Zustande zu erhalten.

Diesen Weg schritt Helene im Geleite des Professors Bonjean an dem Sonntage, wo sie der Frau Marquise von Courtomer vorgestellt werden sollte, dahin. Sie waren aus dem Waggon an der Haltestelle der Eisenbahn, wo sie sich mit der Landstraße kreuzt, gestiegen und schlugen den West, nach dem Schlosse zu Fuß ein.

Übrigens bot diese Strecke von ungefähr einer halben Stunde vielmehr ein Vergnügen als eine Beschwerde, wenigstens Helenen, die seit lange keine freie Zeit gehabt, um einen Spaziergang auf das Land zu machen.

Es war ein prachtvoller Frühlingstag, und mit einem Gefühle innigen Wohlbehagens beschritt sie diesen an jeder Seite von Hecken, die man auf Böschungen, deren Abhänge, dem Sonnenlichte ausgesetzt, wie Gartenbeete in Blüte standen, angepflanzt hatte, eingefaßten Pfad; in Hülle und Fülle gab es da Schlüsselblumen, gelbe Narzissen, Meerzwiebeln, Maßliebchen und Veilchen auf dem grünen von Epheu und Moos durchzogenen Rasenteppiche, während oberhalb, in der Hecke selbst, dem Schwarzdorn und den Bogelkirschbäumen ihre schneeigen Blumenblätter, welche ein linder Lufthauch über die Böschungen streute, zu entfallen begannen. Sehr beschwerlich für solche, welche ihn zu Wagen machten, war dieser Weg, der sich bald nach rechts bald nach links schlängelte, um den Einzäunungen von Grundstücken verschiedener Besitzer die gehörige Rücksicht angedeihen zu lassen; geradezu reizend für jene, die ihn durchwanderten und Augen für eine Umherschau hatten. Bei jedem Schritte wies die Landschaft ein anderes Bild: auf Grasweiden, wo man Ochsen zur Mästung beließ, folgten Bauernhöfe, von Apfelbäumen mit rötlichen Knospen, unter welchen Scharen von Hühnern und anderem Geflügel umherliefen, eingehegt. Dann schnitt ein Bächlein mit durchsichtig klarem Gewässer, das über ein Bett gelblichen Kiessandes gurgelnd lief, den Pfad ab und die Fußgänger hatten, um es zu übersetzen, bloß einen schmalen aus zwei Baumstämmen gebildeten Steg, der zwischen Schilfrohr, dessen spitze Lanzen bereits seine Höhe erreicht, dicht hindurchführte.

»Also diesen Weg machten auch Sie, als Sie dem jungen Guiscard Unterricht erteilten?« fragte Helene.

»Ja wohl, aber zu Wagen.«

»Das war Schade!«

»Da sieht man, daß Sie unter dem Einflusse des Frühlings stehen und gar nicht an die Wintertage mit ihrem Regen und Kote denken. Zum Glück hat man mich mittelst eines Wagens abgeholt; man geht im Schlosse Courtomer mit den Pferden nicht schonend um, und dies hat sogar zu einem großen Teile beigetragen, daß der Marquis sein Vermögen vergeudet hat.«

»Nun, heute ist dieser Weg äußerst angenehm und mich däucht, daß dieser herrliche Sonnenschein, diese warme, würzige Luft, dieses Prachtwetter günstige Vorzeichen für mich seien.«

»Zweifeln Sie daran nicht, mein Kind! Ihre bösen Tage werden ein Ende finden, und wenn Sie für Ihre Großmutter nicht alles, was Sie gewünscht hätten, zu thun vermögen, so werden Sie doch mindestens die Befriedigung genießen, sie vor aller Not zu schützen und ihr jede beschwerliche Arbeit zu ersparen. Das ist immerhin etwas; man muß sich zu bescheiden wissen.«

Sie waren an eine Stelle, wo die Hecken, welche den Weg einsäumten, eine Unterbrechung hatten, gelangt, und hier bot sich ihnen zu jeder Seite ein freier Ausblick über eine große, hier und da mit Baumgruppen besetzte Wiese, auf welcher Stuten mit ihren Füllen, die ihre Mütter lustig umsprangen, weideten.

»Dies ist der Schloßpark,« sagte der Professor, »und diese Stuten sind Vollbluttiere, deren Abkömmlinge in Paris rennen und ihrem Eigentümer viel Geld eintragen werden.«

»Dem Marquis?«

»Nein, dieser kann einen Marstall für Rennpferde nicht mehr unterhalten; er verkauft seine Füllen an eine Gesellschaft von blaublütigen Parisern und behält sich nur wenige Pferde zurück, um sich bisweilen an einem Wettrennen in der Provinz beteiligen zu können; wenn aber der Plan der Marquise gelingt, das will sagen: wenn Guiscard Ihre Schülerin heiratet, so werden wir Vater und Sohn sich neuerdings in diesen Sport, der für sie zu einer Leidenschaft geworden, kopfüber stürzen sehen.«

»Ach, dann wird die arme Kleine ebenso in das Verderben mitgerissen werden, wie es bei ihrer Tante der Fall gewesen!«

»Höchst wahrscheinlich wird diese, durch die Erfahrung belehrt, einen Ehevertrag derart abfassen lassen, daß ihre Nichte vor dem Schicksale, das sie selbst erlitten, bewahrt und ihren Enkeln das Vermögen der Calipets erhalten bleibt.«

Schon erblickte man die rote und graue Stirnseite des Schlosses, von den pfefferbüchsenförmigen Dächern seiner Türme, deren mit Moos und Flechten bedeckte Schiefer von ferne eine gelbe Färbung wiesen, überragt.

Aber was mehr als das Schloß selbst die Aufmerksamkeit Helenens anzog, waren die Bäume des Parkes, welche insgesamt, Eichen, Buchen, Platanen, Linden, Sycomoren, eine ganz gleiche Form: die eines Kegels hatten und solcherart den aus Holz geschnitzten, gekräuselten und grünbemalten Bäumen, die man in Spielwarenhandlungen bekommt, glichen.

»Ich sehe, was Sie in Erstaunen setzt,« sagte der Professor, »es ist die Form dieser Bäume?«

»Allerdings; wie sind nur sie alle so gleichförmig?«

»Dies kommt daher, weil sie von dem Marquis zugeschnitten worden, und solche Form ein Erzeugnis der Kunst und nicht der Natur ist. Der Marquis, der ein wunderlicher Kauz ist, hat sich in den Kopf gesetzt, daß die Form sämtlicher Bäume der Kegel wäre oder mindestens sein sollte, und er hat diese Ansicht als ästhetisches Gesetz in einer Broschüre, die er Ihnen zweifelsohne zum lesen geben wird und wofür Sie ein Verständnis zu gewinnen bestrebt sein müssen, abgefaßt und mit aller Gründlichkeit entwickelt; sie betitelt sich: »Kanon der Forstkultur.«

»Kanon der Forstkultur?«

»Der Titel ist wenigstens originell; aber wenn man sich nur redliche Mühe giebt, so lernt man ihn auch endlich verstehen, besonders wenn man weiß, daß Kanon die Zusammenfassung von Vorschriften oder Regeln bedeutet. Der Marquis hat es jedoch, nachdem er diese ästhetische Richtschnur gezogen, nicht bei der Theorie bewenden lassen, sondern sie auch in Ausführung gebracht und mittelst Stutzschere und Schneidemessers den Bäumen seines Parkes die Kegelform gegeben; jene, welche sie noch nicht haben, stehen als eine Art abschreckenden Beispieles da, sollen darthun, wie häßlich die Natur ist, wenn man sie ihr selbst überläßt.«

»Man soll also diese verunstalteten und so sehr gemarterten Bäume auch noch bewundern?«

»Unbedingt.«

»Das ist aber recht hart, wenn man nur das, was man denkt, zu sagen versteht!«

»Ich hatte vergessen, Sie hierüber schon früher zu verständigen; ich habe mich dadurch eines recht groben Schnitzers schuldig gemacht,« entgegnete der Professor schmunzelnd. –

Wenngleich Helene keinen Hang zur Schalkhaftigkeit hatte und nichts weniger als scherzhaft gestimmt war, konnte sie doch nicht umhin, sich, als sie von der Marquise von Courtomer empfangen wurde, die Frage zu stellen, ob diese nicht vorsätzlich, um ihrem Gatten zu gefallen, die Kegelform angenommen hatte. Sie war eine ungefähr vierzig Jahre alte, blondhaarige, rotwangige, überaus fette Frau; ihre Fettigkeit war aber derart verteilt, daß man, wenn man sie ansah, und dabei an den »Kanon der Forstkultur« dachte, von der Lust, die Erklärung des Kegels: eine kreisrunde, spitzzulaufende Basis, auf sie anzuwenden, beschlichen wurde; denn während ihre Hüften und ihr Unterleib beträchtlichen Umfang erhalten hatten, waren die Schultern schmal geblieben und auf diesen saß ein ganz kleiner Kopf. Ungeachtet dieses seltsamen, befremdlichen Wuchses prägte sich dennoch in ihrer ganzen Persönlichkeit ein Stolz aus, der, wenn nicht angeboren, wenigstens durch ein unablässiges Trachten, in Vornehmheit jedermann überlegen zu sein, angeeignet war.

Von diesem hoheitsvollen Standpunkte zeugte auch die Weise, in welcher sie Helene aufnahm und befragte; gleichwohl geschah dies ohne alle Härte oder Rauhheit, vielmehr mit freundlichen, sanften Worten, welche zu bekunden schienen, daß bei ihr der Stolz durchaus nicht die Herzensgüte ausschloß; sie warf sich in die Brust, weil sie die Marquise von Courtomer war, aber nichtsdestoweniger war sie eine gutmütige Frau. Dies erkannte Helene auch sofort und es flößte ihr Beruhigung und Zutrauen ein.

Die Marquise ließ ihre Nichte holen. Sowie Helene diese eintreten sah, schwand in ihr der letzte Rest von Beklemmung. Wie würde diese Schülerin, die sie noch nicht kannte, aussehen? Würde sie gute oder bösartige Anlagen haben? Mit ihr leicht umzugehen, oder sie gar unlenksam, störrisch sein? Das waren entscheidungsvolle Fragen für sie.

Adélaide war ein Kind von sanftem und schüchternem Aussehen, mit einem schwermütigen Ausdrucke in ihren blauen Augen, der sofort Teilnahme erregte; sie war blondhaarig, wie ihre Tante, doch von blasser Gesichtsfarbe; sie hatte eine niedliche, zarte und sogar etwas schwächliche Gestalt. In ihrem Kleide von schwarzem Wollstoffe und in ihrer Florkrause um den Hals trat noch deutlicher eine schmerzgebeugte Haltung und ein Blick voll zurückgedrängter Zärtlichkeit, die offenbar sich nur nach einer freien, uneingeschränkten Bethätigung sehnte, hervor. Wie hätte für Helene dieses Kind, das, gleich ihr, auch einen Vater beweinte, keine Anziehungskraft haben sollen! Unwillkürlich empfand sie, daß sie Adélaiden zugethan sein und sie lieben würde, wie eine jüngere Schwester, wie eine Tochter.

»Dieser vortreffliche Herr Bonjean hat mir Sie derart geschildert, daß ich wahrlich keinen Grund habe, Sie eine längere oder kürzere Probezeit bestehen zu lassen,« sagte die Marquise. »Er hat Ihnen ja auch unsere Bedingnisse auseinandergesetzt?«

Helene verneigte sich.

»Nun dann bleibt mir nichts weiter übrig, als Ihnen ohne alle Umschweife zu sagen, daß Sie mir gut gefallen … was man so darunter versteht … und daß, wenn meine Nichte und ich nichts Abschreckendes für Sie haben …

»O gnädige Frau Marquise!« …

»Das Gefallen muß ja doch ein gegenseitiges sein? Nun also! Weil wir nichts Abschreckendes für Sie haben, so ist die Sache abgemacht. Morgen werden wir beginnen.«

Hierauf führte die Marquise selbst Helenen nach der für sie bestimmten Wohnung im ersten Stockwerke, die aus einem schönen, behaglich eingerichteten Zimmer und einem Gemache, worin sie ihrer Schülerin den Unterricht zu erteilen hatte, bestand; dieses Gemach, das in einem der Türme lag, war ein kleiner kreisrunder Salon und hatte drei Fenster, aus denen man einen weiten Umblick über den Teich und Park genoß.

»Ich glaube, daß es Ihnen hier zusagen dürfte,« bemerkte die Marquise mit einer Miene, welche bedeutete: »Es ist Ihnen doch klar, daß Sie es nirgends besser haben können.«

Eben dies besagte die Erwiderung Helenens, und die Marquise schien hierüber sehr erfreut zu sein.

Im ganzen Schlosse herumgeführt, dachte Helene, ob sie denn nicht dem Marquis, der doch auch eine Stimme bei der Auswahl einer Erzieherin für seine Nichte haben mußte, vorgestellt werden würde; doch ward seiner gar keine Erwähnung gemacht.

Erst in dem Augenblicke, als Helene in die offene Kutsche, welche die Marquise hatte bespannen lassen, um sie nach Condé zurückzuführen, stieg, sprach diese von ihrem Gatten und ihrem Sohne. Alle beide, sagte sie, wären in Paris wegen der Pferdeausstellung und des Beginnens der Frühjahrsrennen; vor zwei Wochen würden sie nicht nach Courtomer zurückkommen.

Dies war für Helene von keinem wesentlichen Belange: sie würde ja weder mit dem Marquis noch mit Guiscard etwas zu thun haben; bis zu ihrer Rückkehr stand zu hoffen, daß sie diese zwei Wochen hinreichend ausgenützt haben würde, um in dem Urteile der Tante einen gesicherten Halt gewonnen und sich in dem Herzen der Nichte eingenistet zu haben.

 

11.

Was Helene gehofft, ging in Erfüllung. Binnen wenigen Tagen gelang es ihr, die Eroberung der Marquise von Courtomer und der kleinen Adélaide zu machen. Dieses Kind war wirklich so geartet, wie sie es gleich anfangs beurteilt hatte. Es war ein gutes und verständiges Mädchen, ebenso glücklich von Seite des Herzens, wie des Geistes begabt, leicht fassend, folgsam, beflissen, zu gefallen, und vor allem nach Zärtlichkeit, nach liebevoller Behandlung lechzend.

Es war am Morgen des zweiten Tages ihrer Berufsthätigkeit im Schlosse, als Helene vollständigen Einblick in das Wesen der Kleinen empfing. Sie trat bei ihr ein, um sie zu erwecken, ihr beim Aufstehen und Ankleiden behilflich zu sein. Adélaide schlief nicht mehr: das Köpfchen auf ihren halbaufgerichteten Arm gestützt, schien sie, träumerisch vor sich hinblickend, in Nachsinnen versunken.

»Es ist Zeit, aufzustehen,« sagte Helene.

»Ja, Fräulein.«

Aber anstatt vom Bette sich zu erheben, schlug Adélaide, in ihrer Lage verharrend, ihre Augen zu Helene empor; in dieser stillen Betrachtung nahm ihr Antlitz einen tieftraurigen Ausdruck, worin zugleich etwas Anmutiges und Zärtliches lag, an; plötzlich netzten sich ihre Augen mit einer Thräne, welche zwischen den Wimpern, ohne herabzurollen, hängen blieb.

»Was ist Ihnen, mein Kind?« fragte Helene, durch diese Wehmütigkeit, deren Ursache sie nicht erriet, betroffen, im Tone inniger Besorgnis; »Ich schelte Sie ja nicht aus.«

»Nicht aus Furcht vor dem Ausschelten ist mir so weinerlich, Fräulein … nein, im Gegenteile.«

»Weshalb denn? Wollen Sie es mir sagen?«

»Es ist, weil ich Sie in Trauerkleidung sehe, und weil mich das so sehr freut; vielleicht soll man nicht von Freude darüber reden; nein, gewiß soll man das nicht: aber dieser Anblick stimmt mich so weich, thut mir so wohl, weil mir scheint, als ob das uns einander näher brächte, und daß Sie, wenn ich nicht immer ganz aufmerksam bin, wohl einsehen, fühlen werden, weshalb … nicht wahr, Fräulein?«

Helene, selbst tief bewegt, nahm sie in ihre Arme und küßte sie, während die Kleine in Thränen zerfloß.

Wie sollte sie nicht von Mitgefühl und Zuneigung zu diesem kleinen Mädchen von so zartem, weichem Gemüte ergriffen werden! Bei Adélaide war es mehr als Mitgefühl: eine wahre Herzensliebe, Leidenschaft eines Kindes, welches das Bedürfnis fühlt, zu lieben und geliebt zu werden.

Bei der Marquise von Courtomer nahmen die Dinge, wenn auch auf einem anderen Wege, einen gleich günstigen Verlauf: Helene säumte nicht, die Tante für sich einzunehmen, nachdem sie überraschend schnell die Nichte sich gewonnen hatte.

Die Marquise war in der That eine wackere Frau, bei welcher das so Regelwidrige und Lächerliche der äußeren Erscheinung durch große, ernste Vorzüge des Herzens und Charakters aufgewogen wurde; sie war gut, mildthätig, edelsinnig, duldsam, eifervoll, eine Gefälligkeit zu erweisen, und würde ohne ihre adeligen Schrullen, welche bis zur Vernarrtheit gediehen waren, sicherlich nur Freunde gehabt haben. Leider waren diese Schrullen für ihre Umgebung oftmals sehr belästigend, und manchmal ärgerten und erbitterten sie solche, denen eine Nachsicht für menschliche Schwächen nicht zu eigen war.

Obgleich sie die Tochter eines schlichten Gewerbetreibenden, der als Arbeiter begonnen, oder vielmehr, weil sie die Tochter eines ehemaligen Arbeiters, war sie mehr Courtomer, als ihr Gatte: der Marquis, der doch einen fürchterlichen Hochmut auf sein Geschlecht zur Schau trug. Während der Gatte auf seine Abkunft von Natur aus stolz war, war sie es auf wissenschaftlichem Wege, durch Studium, geworden. Sie hatte den Stammbaum der Courtomers und alles, was sich auf ihre Geschichte bezog, von Tancred von Hauteville, ihrem Stifter, an, bis auf die Gegenwart auswendig gelernt, und mit Beweisstücken in Händen behauptete sie, daß die Courtomers die einzigen Abkömmlinge des berühmten normännischen Abenteurers wären, ohne Anerkennung jener, die noch den Namen Hauteville führen, die übrigens in gleicher Weise sich wider die Courtomers aussprachen.

Was nur an Werken über die Normannen und ihre Häuptlinge aufzutreiben war, hatte sie um teures Geld gekauft, Geschichtsbücher, Chroniken, Originalausgaben und Übersetzungen gesammelt, und all dies in einem kunstvoll geschnitzten und mit Email eingelegten Schranke verwahrt, welcher den Ehrenplatz in ihrem Salon einnahm und derart gestellt war, daß er neuen Besuchern in die Augen fallen und sie, wenn sie kunstsinnig waren, zur näheren Besichtigung anlocken mußte.

Wenn dies geschah, waren sie in eine Falle gegangen.

»Unser Reliquienschrein,« sagte die Marquise, »das Archiv der Geschichte unseres Hauses!«

Und dann mußte man diese Geschichte anhören und anerkennen. Wie hätte man aber auch an einer Herkunft, wofür sie so viele Belege aufgespeichert, zweifeln können? Wie hätte man nicht glauben sollen, daß sie eine Blutsverwandte des Robert Guiscard wäre, wenn sie auch zugleich die Tochter von Jean Baptist Calipet war? – »Wir auch,« beteuerte sie, indem sie immermehr eine kegelförmige Gestalt annahm, »wir auch vermöchten Rechtsansprüche auf das Königreich beider Sicilien geltend zu machen und zwar weit gewichtigere, als jene der Bourbons von Neapel sind, und dennoch sprechen wir nicht davon!« – –

Helene schenkte diesen Ansprüchen Glauben und fand sogar heraus, daß jene der Bourbons von geringfügiger Bedeutung waren. Wozu hätte es auch genützt, wenn sie dieser wackeren Frau irgendwie widersprach? Die adelige Sucht oder Narretei ist eine Krankheit wie eine andere, die man sanft anfassen, mit Schonung behandeln muß.

Schon am dritten Tage nach ihrer Ankunft wurde ihr der kostbare Schrank erschlossen und eine Übersetzung des Gedichtes Wilhelms von Apulien – »weil sie leider nicht Latein verstand« – zur Lektüre eingehändigt. Und Helene fand daran Vergnügen; es war fast so unterhaltend als ein Ritterroman, und dabei berichtete es wahrheitsgemäß, so unwahrscheinlich es auch klingen mochte.

Welch ein Gesprächsstoff ergab sich hieraus! Bei dem Frühstücke, bei dem Mittagsmahle war von nichts anderem die Rede, als von den Thaten Robert Guiscards und seiner elf Brüder, welche ganz andere Helden als die vier Haimonskinder waren.

Aber bald reichten die Mahlzeitstunden für die Marquise nicht mehr hin, und da sie die dem Unterrichte gewidmeten hierzu nicht verwerten konnte, so setzte sie ihre endlose Plauderei während der Stunden des Spazierganges fort.

Es war, als man die Zeiteinteilung für Adélaide getroffen hatte, bestimmt worden, daß diese tagtäglich mit ihrer Erzieherin, allsogleich nach dem Frühstücke, einen zweistündigen Spaziergang zu machen habe. Nichts wäre einfacher für die Marquise gewesen, als die beiden zu begleiten, wenn sie zu gehen imstande gewesen wäre; doch eben ihre kegelförmige Gestalt verwehrte ihr das Gehen; sie konnte sich nur vorwärts schieben, fortwatscheln (wenn man einen solchen Ausdruck bei einer so vornehmen Persönlichkeit anwenden darf) in ihren Gemächern und Gärten; aber das war auch alles. Wenn sie bloß in ihrem Parke Luft schöpfen wollte, so ließ sie sich herumfahren und zwar in einem Korbwagen, den sie vollständig ausfüllte. Es war nicht leicht, darin mit Helene und Adélaide gleichen Schritt zu halten; dann behinderte es auch am Sprechen, erschwerte das gegenseitige Verstehen; auch waren nicht alle Wege des Parkes fahrbar, denn schon ziemlich lange befanden sie sich nicht mehr in dem wohlgepflegten Zustande, in den sie nach Erhalt ihrer Mitgift und Besitznahme ihres väterlichen Erbteiles versetzt worden waren. Sonach führte sie eine heldenhafte, ihrer normännischen Vorfahren würdige That aus, indem sie sich alle Tage nach dem Frühstücke auf eine gutgenährte Eselin mit breitem Rücken und tragkräftigen Füßen emporheben ließ und sich in einen armstuhlartigen Sattel in aller Breite festsetzte. Nun vermochte sie Helene zu begleiten und ihre Gespräche fortzusetzen, während Adélaide, welche für die Thaten des Eroberers von Italien keine große Wißbegierde zu hegen schien, den Schmetterlingen nachjagte.

Aber nicht bloß der Stolz auf die Vergangenheit ließ sie derart um ein willfähriges Ohr werben; es war auch jener auf die Zukunft, denn niemals gedachte sie einer glorreichen That ihrer Ahnen, ohne damit, in einer Art von Schlußfolgerung, ihren Sohn in Verbindung zu bringen.

»Von dem Berühmtesten unserer Familie hat Guiscard nicht nur den Namen, auch den Mut, die Entschlossenheit, die Unerschrockenheit, den Heldensinn!«

Und wenn sie einmal dermaßen im Zuge war, hielt sie nichts mehr auf: dieser junge Guiscard besaß alles und jedes für sie; gewiß würde er auch ein Held, wie seine Vorfahren, geworden sein, wenn nur leider das jetzige Zeitalter der Entwicklung des Heldentums nicht so entschieden abträglich wäre.

Und Helene hörte alldem gutwillig, ja weit lieber zu, als den Erzählungen, welche die Marquise aus den alten Chroniken schöpfte. War denn diese Mutter, die in einem Burschen, der wirklich eine reine Null war, einen Helden erschaute, nicht rührend in ihrer treuherzigen, überschwellenden Zärtlichkeit? Helene war von ihrem Vater so sehr geliebt worden, daß sie auch solche Übertreibungen mütterlicher Liebe verstand und sogar ihre Verirrungen nachsichtig beurteilte. Anstatt darin einen Stoff zum Belächeln und Spötteln zu sehen, fand sie darin ernste Beweggründe, diese wackere Frau hoch zu schätzen und sich mit jedem Tage immermehr ihr anzuschließen.

O, wie von Dank durchdrungen war sie für den alten Professor Bonjean, daß er sie zum Eintritte in dieses Haus bewogen! Welch ein Abstand zwischen ihrem gegenwärtigen Leben und jenem, das sie in den letzten sechs Monaten auszustehen gehabt; welch ein Unterschied zwischen der Zukunft, welche sich vor ihr erschloß, und jener, die sie befürchtet hatte!

Sie hatte dem Professor geschrieben, um ihn ihres innigsten Dankes zu versichern, und keinen Abend ging sie zu Bette, ohne voll Erkenntlichkeit dessen zu gedenken, der ihr nach so schweren Prüfungen und Drangsalen endlich diese Ruhe, dieses Glück beschieden. Der Tod ihres Vaters und die Leiden, welche sie und ihre Großmutter während dieses strengen Winters erduldet, hatten ihr Herz verhärtet und mehr als einmal sie an Gottes Güte zweifeln lassen; denn was hatte sie verübt, um so grausam gestraft zu werden? Aber diese glückliche Existenz, welche für sie angebrochen und von anhaltender Dauer zu sein verhieß, erweckte die religiösen Empfindungen, die sie stets beseelt, zu neuer Kraft. Ja, Gott war gut, und sie war sündhaft gewesen, weil sie in ihrer gräßlichen Notlage an dieser Güte gezweifelt!

So weitschweifig auch die Marquise in ihren Erzählungen, die sich beständig um die zwei nämlichen Gegenstände: ihr Haus und ihren Sohn, drehten, war, redete sie doch nicht immer fort, und traten Augenblicke ein, wo sie auch Fragen stellte. Demnach hatte sie sich von Helenen über ihr vergangenes Leben und ihre Familie – denn sie sah ein, daß auch solche Leute eine Familie hätten – Mitteilungen machen lassen. Als sie aber erfahren, was sie zu wissen gewünscht, brachte sie nicht mehr die Rede auf die Marguerittes, welche, selbstverständlich, in gar keiner Beziehung eine Anteilnahme, wie die Courtomers, zu erregen vermochten.

Dennoch kam sie zehn Tage nach der Ankunft Helenens im Schlosse und als die Neigung, welche sie zu dieser gefaßt, feste Wurzeln geschlagen hatte, wieder auf die arme alte Frau Margueritte zu sprechen.

»Wenn ich Ihre Großmutter mehr in Ihre Nähe bringen könnte, würden Sie wohl recht erfreut sein, meine Liebe?« fragte sie plötzlich Helenen.

»Ach, gnädige Frau …«

»Nun, ich trage mich mit einer Absicht, die dies vielleicht ermöglichen wird; nur muß ich sie dem Herrn Marquis (sie sagte immer: Herr Marquis, wenn sie von ihrem Gatten, sowie: Herr Graf, wenn sie von ihrem Sohne sprach) unterbreiten und von ihm nach seiner Rückkehr die Genehmigung einholen. Doch will ich nicht bis dahin warten, um sie Ihnen bekannt zu geben, woraus Sie entnehmen mögen, daß ich im voraus seiner Zustimmung fast sicher bin. Wir haben am Ende des Parkes ein Häuschen im Schweizerstile, das zu Johannis unbewohnt wird; ich will dies Ihrer Großmutter zum Aufenthalte anbieten; dort wird sie in guter Luft, in Stille und Frieden leben, brave Nachbarsleute um sich haben, und werden Sie täglich, wenn Sie Ihren Spaziergang machen, bei ihr einsprechen können.«

»O, Frau Marquise, wie soll ich Ihnen danken?

»Indem Sie mir nicht danken.«

 

12.

Infolge dieses Antrages der Marquise war es nicht mehr bloße Neugierde, womit Helene dem Eintreffen des Marquis und des jungen Grafen von Courtomer entgegen harrte.

Würde der Marquis das Vorhaben seiner Gattin gutheißen?

Das war für Helene eine Frage, die ihr das Herz heftiger pochen machte. Wie würde die arme Großmutter sich in jenem Häuschen glücklich schätzen! Es war reizend mit seinem Küchengarten und seinem Hofe. Wenn sie darin wohnte, war sie nicht allein, denn drei oder vier Häuser schlossen sich daran; dort konnte sie ein Leben führen, wie sie es immer gewohnt gewesen: ihren Garten pflegen und einiges Geflügel züchten. Und alle Tage würde sie, wenn sie mit Adélaiden ausging, dahin ihren Weg nehmen können!

Wenn der Marquis solche Anordnung genehmigte, was wahrscheinlich war, so hegte Helene keinen anderweitigen Wunsch mehr; ihr Leben und das ihrer Großmutter gewannen einen sicheren Halt; sie würde nur jeden Tag ihr Dankgefühl der Marquise zu bezeugen haben, und es sicherlich nie an Ausübung dieser ihr so werten Pflicht ermangeln lassen!

Bald war aus gewissen Anzeichen zu entnehmen, daß die Ankunft des Marquis und des Grafen nahe bevorstände: man säuberte die Stallungen, man scheuerte die Höfe, man putzte das Pferde- und Kutschengeschirr, man wusch oder strich die Hundehütten frisch an; kurz alles, was die Pferde, Hunde oder Wagen betraf, erhielt ein festliches Aussehen, wie am Vorabende einer Musterung. Doch bemerkte Helene einen großen Unterschied in den Vorbereitungen, welche für den Empfang des Vaters und des Sohnes geschahen. Was für den Vater gehörte, wurde der Dienerschaft, welche die Dinge nach ihrem Belieben ordnete, überlassen; dagegen ward das, was sich auf den Sohn bezog, von der Mutter mit einer eifersüchtigen Sorglichkeit überwacht.

Offenbar zeigte die Marquise von Courtomer für ihren Gatten nicht die nämliche Sorgsamkeit, wie für ihren Sohn: um dies wahrzunehmen, brauchte man kein scharfer Beobachter zu sein.

Am Tage vor der Ankunft der Beiden kam dies zu gar auffälligem Ausdrucke, als am Abend die Marquise der Köchin Weisungen für das nächste Mittagmahl erteilte.

»Der Herr Marquis und der Herr Graf kommen morgen an; Sie werden demnach bedacht sein, uns ein entsprechendes Mahl zu bereiten; Sie wissen, welchen Wert ich hierauf lege.«

»Was befehlen die Frau Marquise?«

»Vor allem eine gute Rindsuppe; nach solcher werden die beiden Herren, da sie einen Monat lang Pariser Kost genossen, großes Verlangen tragen.«

»Soll ich frisches Gemüse nehmen?«

»Allerdings; vornehmlich frische Möhren, welche der Herr Graf sehr gerne speist. Jedoch dürfen Sie keinen gebrannten Zucker hinzusetzen.«

»Aber der Herr Marquis beklagt sich immer, daß die Suppe so wenig Farbe hat.«

»Der Herr Graf liebt sie nicht braun. Nach der Suppe Forellen, heiß abgesotten.«

»Der Herr Marquis befiehlt sie immer gebacken!«

»Der Herr Graf mag sie gebacken nicht. Nach den Forellen ein Kalbsgekröse mit kleinen grünen Erbsen; die Erbsen in Wasser gekocht und mit Butter abgeschmalzen.«

»Aber der Herr Marquis will die Erbsen nur mit Speck abgeschmalzen.«

»Der Herr Graf kann den Speck nicht ausstehen; das sollte Ihnen doch schon bekannt sein!? Weiter ein Lammsbraten.«

»Aber der Herr Marquis hat mir bedeutet, daß er kein Lämmernes mehr auf dem Tische sehen wolle.«

»Daran wird er nicht denken. Lammsbraten ist ein Leibgericht des Herrn Grafen. Tragen Sie ihn nur sehr warm auf; in den guten Pariser Restaurants serviert man ihn siedend heiß; überhaupt soll mein Sohn keinen Anlaß finden, irgendwie einen Vergleich, der zum Vorteile von Paris ausfiele, anzustellen. Zum Lammsbraten geben Sie Spargel in Buttersauce.«

»Soll ich eine Schüssel kalten Spargel für den Herrn Marquis auftragen?«

»Freilich … doch, selbstverständlich, nur dann, wenn von dem Spargel in Sauce hinreichender Überschuß bleibt. Nehmen Sie sich nur recht zusammen; bereiten Sie uns ein feines Mahl, woran nicht das Mindeste auszusetzen ist, das uns vielmehr das Lob des Herrn Grafen einträgt und ihn nicht mit Bedauern an das Café Anglais oder Café Riche zurückdenken läßt.«

Mindestens that sich die Marquise keinen Zwang an!

Gegen Helene benahm sie sich ebenso rückhaltlos.

»Morgen ist Ferientag,« sagte sie, indem sie Adélaide unter irgend einem Vorwande in den Garten geschickt. »Ich will nicht, daß meine Nichte durch Lernen und Arbeiten in üble Laune geriete. Bieten Sie ihr nur eine Zerstreuung, ganz nach Ihrem Gutdünken; das hat wenig auf sich; doch darauf lege ich großen Wert, daß sie bei der Ankunft ihres Vetters ein heiteres Gesichtchen zeige; auch werden Sie für die Kleine eine Toilette, die angenehm in die Augen fällt, auswählen.«

»Da sie Trauer trägt, ist das eine schwierige Aufgabe.«

»Geben Sie ihr neue bauschige und mit Bandrosen besetzte Krausen um Hals und Handgelenke; auch lassen Sie ihr blondes gelocktes Haar in aller Ungebundenheit über die Schultern herabfallen. Das steht ihr allerliebst, und mir liegt daran, daß sie für ihren Vetter ein allerliebstes Aussehen habe. Ich will keine Geheimnisse vor Ihnen haben: ich bin nämlich der Ansicht, daß es bei einer so verständigen und einsichtsvollen Person, wie Sie sind, das beste ist, Ihnen meine Absichten anzuvertrauen, da ich mich für überzeugt halte, daß Sie, wenn Sie selbe kennen, sie auch fördern werden. Mein Plan ist, daß mein Sohn eines Tages meine Nichte heirate, und eben deshalb will ich, daß er schon von jetzt an sich daran gewöhne, sie allerliebst zu finden, so zwar, daß sich die Heirat in fünf oder sechs Jahren ganz von selbst ergiebt. Vielleicht bedarf es doch hierzu einer Nachhilfe, wenn das nicht so glatt von statten geht. Schwer wird es mir werden, ihn daheim zu erhalten trotz alles dessen, was ich dafür zu thun geneigt bin, und dann dürfte es mir auch Mühe kosten, ihn die Geburt Adélaidens vergessen zu machen; dennoch hoffe ich auf das Gelingen, und ich verhehle Ihnen nicht, daß ich wesentlich auf Sie zähle, um dieses Kind zu einem vollkommenen jungen Mädchen heranzubilden.«

Wer war denn dieser Guiscard, daß es da für ihn eines vollkommenen jungen Mädchens bedurfte?

Diese Frage drängte sich des anderen Tages mehr als einmal Helenen auf, während sie ihre Schülerin zu unterhalten suchte, sich bemühte, auf ihrem anmutigen und schwermütigen Antlitze das Lächeln, welches die Marquise heischte, hervorzuzaubern und festzuhalten.

Schon wähnte sie, daß ihr dies durch die Anwendung eines bei Adélaiden unwiderstehlichen Mittels, durch Erzählen von Geschichten, wofür die Kleine eine besondere Vorliebe hatte, geglückt sei, als sie, sowie das Rollen des Wagens, in welchem die Marquise ihren Gatten und Sohn vom Bahnhofe abgeholt, vernehmbar wurde, das Lächeln, welches die Lippen des Kindes umspielte, jählings verschwinden sah.

»Jetzt ist es mit dem Lachen aus!« bemerkte Adélaide.

»Und weshalb denn?«

»Weil man mit dem Herrn Grafen« – sie ahmte den nachdrücklichen Ton ihrer Tante nach, wenn sie diese drei für sie so bedeutungsvollen Worte aussprach, – »sich nicht unterhält; vielmehr soll man ihn unterhalten, und das ist nicht leicht. Der Herr Graf ist keine angenehme Gesellschaft.«

Adélaide, die gewöhnlich zurückhaltend und verschwiegen war, mußte von dem, was sie sagte, sehr tief durchdrungen sein, um sich derart auszudrücken; dies machte auch Helene eine Weile stutzig; aber durch Stillschweigen würde sie der Mission, welche die Marquise ihr so zutrauensvoll übertragen, keineswegs nachgekommen sein.

»Sie müssen, mein Kind, sich ein ganz unrichtiges Urteil über ihren Vetter gebildet haben!« erwiderte sie.

»Sie kennen ihn ja noch gar nicht!«

»Darin haben Sie recht; aber ich sehe, wie zärtlich er von seiner Mutter geliebt wird, und wenn jemand eine derartige Zärtlichkeit einflößt, so dürfen Sie überzeugt sein, daß er sie auch verdient.«

Adélaide schien, durch diese Worte ersichtlich betroffen, nachzusinnen; doch plötzlich schüttelte sie mit einer so heftig verneinenden Geberde ihr Köpfchen, daß die Haare ihr um die Schultern flogen.

»Sie werden ja sogleich selbst sehen!« entgegnete sie.

In der That hatten sie nicht lange zu harren: bald erklang die Glocke, die zur Mahlzeit rief.

In das Speisezimmer tretend, lief Adélaide auf ihren Onkel zu und küßte ihn; dann reichte sie die Hand ihrem Vetter, der sich bloß auf die Worte beschränkte:

»Grüß dich, Kleine.«

Helene begrüßte den Marquis mit einer tiefen Verbeugung, seinen Sohn mit einer Neigung des Kopfes, und wartete ab, daß man sie mit einer Ansprache beehren würde.

Allein man redete sie gar nicht an.

»Ich falle vor Hunger um,« rief Guiscard aus, indem er auf seinen Stuhl zuschritt.

Man begab sich zu Tische, und erst jetzt konnte Helene, während sie ihre Suppe aß, verstohlenerweise den Marquis von Courtomer und Guiscard betrachten.

Wenn der Marquis nicht urkundlich erweisbar von einem Heldengeschlechte abstammte, so hatte er wenigstens den Wuchs, oder genauer ausgedrückt: den Körperbau und das äußerliche Ansehen, wie sie die Überlieferung den ehemaligen Rittern beilegt: er war fast sechs Fuß hoch, hatte Schultern und einen Nacken nach Art Michel Angelo's, dazu einen Faunskopf mit breiter Stirne, spitz zulaufendem, hakenförmigem Kinne, großer und stark gebogener Nase, fuchsrotem Haare, borstigem Barte, eine gesunde, blühende Gesichtsfarbe, eine rot gegerbte, von kleinen Adern durchfurchte Haut, und behaarte Hände.

Wenn der Vater, der dem fünfzigsten Lebensjahre nahe, mager und stramm war, so war der Sohn, der kaum noch in das zwanzigste getreten, fett und schlaff. Von seinem Vater hatte er das derbe Knochengerüste, das ihn fast ebenso groß wie diesen erscheinen ließ; von seiner Mutter hatte er die Fülle von Fleisch, welche ihn trotz seiner Jugend bereits fettleibig machte; von ihr hatte er auch sein blondes seidenweiches Haar und die rosige Hautfarbe eines bausbackigen Säuglings.

Helene hätte noch gerne ihre Betrachtung fortgesetzt; aber sie mußte davon ablassen, da sie die musternden Blicke des Marquis und Guiscards auf sich gerichtet fühlte.

»Das ist eine Suppe, die keine Farbe hat,« bemerkte der Marquis.

»Sie ist ausgezeichnet,« entgegnete Guiscard rasch, »und ich werde mir gleich noch einen Teller voll herausnehmen.«

Wenn man ihn essen sah, begriff man seine vorzeitige Fettleibigkeit.

Als der Fisch aufgetragen wurde, erklärte der Marquis, daß heiß abgesottene Forellen ihn schon anwiderten, wogegen Guiscard beteuerte, daß es nichts Besseres auf der Welt gebe und daß man sie, derart in weißer Sauce zubereitet, in Paris nicht bekomme.«

»Glücklicherweise!« rief der Marquis aus.

Um nicht einen Wortwechsel aufkommen zu lassen, beeilte sich die Marquise, das Gespräch auf Paris und die Pferdeausstellung zu lenken.

»Na, du weißt ja, Mama, außerordentlich chic!«

»Du hast mir das in deinen Briefen gesagt; aber wie so war es dabei chic?«

»Nun, mit Worten läßt sich das gar nicht beschreiben, das will empfunden sein: Chic, immermehr chic, über alle Maßen chic, kurz: was Paris an chic besitzt, worüber es zu verfügen hat. Da drängen sich Leute hin, welche von einem Pferde noch weniger als nichts verstehen, aber es thut nichts zur Sache; wenn auch für sie es dort nichts von chic zu schauen giebt, so ist es wenigstens chic, sich dort sehen zu lassen. Am sehenswertesten bleibt für mich aber immer das Kirchweihfest in Saint-Cyr: dort läßt sich ein Schwarm von gewissen Damen nieder, und sie kommen nur dahin, um einen kostbaren Fang zu thun …«

»Aber Herr Graf!« unterbrach ihn die Marquise, indem sie mit einem warnenden Blicke auf Adélaide hinwies.

»Du fragst mich, so muß ich dir antworten. Übrigens ist für den, der etwas auf sich hält, außer Pferdemist auch Weihrauch dort zu haben, und dies sind ja die beiden vornehmsten Modeparfums unserer Zeit!«

»Noch ein Stück Lammsbraten!« rief der Marquis aus.

»Ist das« – sagte Guiscard – »ein famöses Essen, und dieser Lammsbraten so zart und mürb und fett, wie man ihn im Café Anglais nicht bekommt!«

Wahrlich der Graf von Courtomer verstand sich auf das Essen! Dies war eine Bemerkung, welche auch Helene für sich machte.

Die Marquise trat, nochmals dem Gespräche eine andere Wendung gebend, dazwischen:

»Warum bist du nicht zur Eröffnung der Gemäldeausstellung geblieben?« fragte sie.

»Zwölf oder fünfzehn Kilometer gemaltes Zeug zu Fuße begucken! Hierfür bedanke ich mich schönstens. Wenn die Maler ihre Ausstellung zu ebener Erde und gleichzeitig mit der Pferdeschau eröffnen, und wenn man an ihren beklecksten Leinwanden vorbeireiten kann – ich verlange just nicht im Galopp – dann, meinethalben!«

Dank einer Schüssel kalten Spargels, welchen die Köchin »zu erübrigen vermocht«, ging die Mahlzeit ohne weiteren Wortwechsel zwischen Vater und Sohn, wovor der Marquise bangte, zu Ende.

Als Helene sich abends in ihrem Zimmer allein befand, that es ihr leid, sich sagen zu müssen, daß weder der Vater noch der Sohn sich irgendwie mit der Mutter in einen Vergleich stellen ließe, und daß dieser Sohn, betreffs dessen man sich mit so stolzen Hoffnungen trug und für den man eine vollkommene, mustergiltige Gattin beanspruchte, wirklich so war, wie ihn Professor Bonjean gekennzeichnet hatte.

Übrigens ging es sie gar nichts an, hatte sie sich nicht zu kümmern, was der Marquis und der Graf von Courtomer sein oder bedeuten konnten. Was allein sie berührte und auch nachdenklich stimmte, war die beharrliche Art, in welcher die beiden sie während der Mahlzeit angeblickt hatten. Nicht ein einzigesmal war sie ihren Augen begegnet, weil sie selbst nach einer anderen Richtung ihre Blicke gekehrt; aber unablässig hatte sie selbe auf ihr haftend gefühlt.

 

13.

Die Wohnung, welche man Helenen und ihrer Schülerin zugewiesen, war die nämliche, die Guiscard zur Zeit, als er lernte oder wenigstens hätte lernen sollen, inne gehabt, und sofort, als seine Eltern, des Kampfes müde, abgestanden, ihm weiteren Unterricht erteilen zu lassen, geräumt hatte.

Sie war fast im selben Zustande, worin sie sich befand, als der »Herr Graf« sie besaß, verblieben; Adélaiden hatte man das Zimmer des »Herrn Grafen«, Helenen jenes des Abbé gegeben, und in dem Lehrsaale hatte man die Tische, die Wandtafeln, die Landkarten und die klassischen Werke, womit sich Guiscard so wenig abgegeben, belassen. Seit Guiscard des Unterrichtsjoches ledig geworden, betrat er nie mehr diesen Lehrsaal, den er die »Folterkammer« benannte, und es war dies wirklich keine übel ersonnene Bezeichnung, aber nur dann, wenn man sie auf das, was seine Lehrer, und nicht auf das, was er selbst darin ausgestanden, anwandte; denn er hatte sich niemals aus seiner Gemächlichkeit bringen lassen, als ein junger Mensch, der über derlei Albernheiten erhaben ist.

Am Tage nach seiner Rückkunft von Paris erregte es demnach das Erstaunen Helenens, als sie ihn hier eintreten sah, wie wenn er etwas suchte.

»Was treibt denn dich hierher?« sagte Adélaide mit einer schalkhaften Miene.

»Grüß dich, Kleine!«

»Grüß dich, Großer!«

Vor Helenen hatte er sich schüchtern verneigt.

»Wenn du Lust hast, mit uns zu arbeiten,« fuhr Adélaide fort »so kommst du eben recht und kannst mir helfen. Es handelt sich um die Anwendung des Mittelwortes der Vergangenheit in den zusammengesetzten Zeiten der thätigen Zeitwörter. Du kennst ja noch den Satz: »Wenn Gott uns vor den anderen Tieren unterschieden hat, so ist es hauptsächlich durch die Gabe der Sprache?«

Wenn Guiscard ein träger Schlingel war, so war er doch kein Einfaltspinsel; er merkte, daß sein Bäschen sich über ihn lustig machen wollte, und entgegnete, indem er dabei Helene anblickte, mit einem Lächeln:

»Wie gut diese Kleine doch die Richtigkeit dieses Satzes erweist!«

Adélaide faßte nicht sogleich den Sinn seiner Rede auf; plötzlich rief sie aber aus:

»Du bist ein recht garstiger, ganz abscheulicher Vetter, du!«

»Ich bitte um Vergebung, wenn ich Sie störe,« sagte Guiscard, sich zu Helenen wendend, »ich kam hierher, um mir ein Buch zu holen.«

Seit seinem Eintritte hatte er seine Augen auf sie geheftet; er senkte sie nur, wenn er unmittelbar das Wort an sie richtete.

»Was für ein Buch wünschest du?« fragte Adélaide, die von ihrem Stuhle aufgestanden war.

»Ein Wörterbuch.«

»Welches?«

»Das im grünen Ledereinbande.«

Helene konnte, wie sie diese Worte vernahm, ein Lächeln nicht zurückhalten: selbe riefen ihr den grünen Plutarch und den gelben Xenophon, von welchen Professor Bonjean gesprochen hatte, in das Gedächtnis zurück.

»Dann suche du nur selbst!« warf Adélaide schelmisch hin.

Doch auch nachdem Guiscard sein grünes Wörterbuch gefunden, schien er nicht geneigt, sich zu entfernen; er schlenderte im Saale umher, blickte nach der schwarzen Wandtafel, auf welcher Ziffern, mit Kreide vorgezeichnet, standen; dann trat er auf Adélaide, die wieder ihren Sitz eingenommen, zu und besichtigte den schriftlichen Aufsatz, an welchem sie eben arbeitete.

»Gar so schön schreibst du nicht, weißt du das?« sagte er.

Sie wandte sich um und fragte ihn, trotzig ihr Mündchen aufwerfend:

»Möchtest du mit mir um die Wette schreiben?«

»Was dir nicht einfällt – ich, ein Mann!«

»Mit mir, einer Kleinen!«

Noch drei- oder viermal schritt er im Saale herum, wie wenn er sich zum Fortgehen nicht entschließen könnte, und dabei blickte er immer verstohlen nach Helene hin; endlich lenkte er seine Schritte gegen die Thüre.

»Ich werde dir das sogleich zurückbringen,« bemerkte er.

»Bemühe dich nicht,« erwiderte sie. »Ich brauche das Grüne nicht, nur das Gelbe.«

Und schlau lächelnd, machte sie sich wieder an ihre Aufgabe.

Aber ein schnurriger Einfall mußte sie beschäftigen, denn plötzlich hob sie ihr Köpfchen empor und sagte zu Helenen, indem sie bedeutsam mit den Augen zwinkerte:

»Solche Tiere, welche nicht zu reden verstehen, sind noch mehr Tier, als jene, die der Sprache mächtig sind!« –

Kaum zehn Minuten waren seit dem Abgange Guiscards verstrichen, als der Marquis von Courtomer in den Lehrsaal trat.

Die Verbeugung Helenens, die sich von ihrem Sitze erhoben, erwiderte er mit einem freundschaftlichen: »Guten Tag«; sodann ging er auf seine Nichte zu und drückte ihr einen Kuß auf die Stirne.

»Habe einige Broschüren zu holen,« sagte er, diese Worte an Helene, wie wenn er sich entschuldigen wollte, richtend.

Und einen versperrten Schrank öffnend, nahm er zwei Broschüren mit rosenfarbigem Umschlag von einem Stoße, der ihrer mindestens ein halbes Hundert enthielt, herab.

Helene, deren Augen ihm folgten, las den Titel dieser Broschüre: »Kanon der Forstkultur«.

»Nun,« äußerte er sich zu Helenen, »hat dieses Kind Fortschritte gemacht?«

»Von Adélaidens Fortschritten, Herr Marquis, darf ich wohl noch nicht sprechen, da ich sie erst zu kurze Zeit unterrichte; aber sie faßt leicht und rasch auf, ist voll guten Willens, folgsam …«

»Dann wird es schon vorwärts gehen.«

»Daran zweifle auch ich nicht; sie wird thun, was ihr zu thun obliegt, wenn anders … ihre Aufmerksamkeit und ihr Fleiß nicht abgelenkt werden.«

»Wie sollte sie nicht ganz Aufmerksamkeit sein!«

Und der Marquis blickte Helene mit einem Lächeln an, welches klar besagte, daß man gegenüber einem weiblichen Wesen, wie sie sei, gar nicht anders als voll Aufmerksamkeit zu sein vermöchte.

Und er blieb, ohne von seinem Lächeln, wobei er seine weißen Zähne zur Schau stellte, abzulassen, vor ihr stehen und zollte ihr eine so aufmerksame Betrachtung, daß sie sich beklommen fühlte.

Aber sie kämpfte solche lächerliche Regung nieder.

»Wenn Sie es erlauben,« sagte sie, »so werden wir im Unterrichte fortfahren.«

»Ei, warum denn nicht? Ja, ich bitte Sie sogar darum; es wird mir sehr lieb sein, zu ersehen, wie diese Kleine lernt.«

Wenn Helene gehofft, daß sie durch das Unterrichten ihn vertreiben würde, so hatte sie sich geirrt. Er pflanzte sich in aller Länge hin, hörte zu, was sie Adélaiden in die Feder sagte, und sah dann, als das Schreiben zu Ende, zu, wie sie ihre Verbesserungen vornahm. Obgleich sie die Augen nicht aufschlug, so fühlte sie ebenso wie am Tage vorher seinen Blick auf ihr ruhen.

Sollte er denn während des ganzen Unterrichtes nicht vom Flecke weichen? Von diesem Gedanken beherrscht, wußte sie kaum mehr recht, was sie sprach.

Plötzlich trat er an den Arbeitstisch Adélaidens, griff nach einer Feder, und schrieb einige Zeilen auf das Titelblatt einer seiner Broschüren.

Diese sodann Helenen überreichend, äußerte er:

»Sie werden hier sehr häufig von dem »Kanon der Forstkultur« sprechen hören, denn man spricht viel davon, und es könnte Ihnen vielleicht unbequem werden, nicht zu wissen, welch eine Bewandtnis es damit hat; dies hier wird Sie einer solchen Unannehmlichkeit entheben. Es gereicht mir zu großem Vergnügen, diese Broschüre Ihnen anzubieten.«

Und er händigte Helenen das Exemplar vollständig aufgeschlagen ein, auf daß sie sofort die Widmung, mit welcher er sie beehrt, ersehe.

Sie wollte ihm hierfür Dank abstatten; doch entledigte sie sich dieser Aufgabe in sehr linkischer Weise.

»Es ist,« fuhr der Marquis fort, »kein technisches Werk, auch nicht das Werk eines Schriftstellers von Beruf; sondern es enthält bloß die Regeln des Schönen auf die Natur angewandt und ohne alle Umschweife, geradezu auf das Ziel lossteuernd, dargelegt und entwickelt. Belieben Sie sich nur an die darin ausgedrückten Gedanken zu halten!«

Und hiermit ging der Marquis von dannen.

Nicht Adélaide war es, der es bis zum Ende des Unterrichtes an Aufmerksamkeit gebrach; wenn die Schülerin es gewagt hätte, würde sie mehr als einmal Zerstreutheit ihrer Lehrerin haben vorhalten können.

Bei dem Frühstücke gab die Marquise kund, daß sie einiger Einkäufe wegen nach Condé zu fahren habe, und lud ihren Sohn ein, sie zu begleiten; doch dieser lehnte mit dem Bemerken, daß er zu schreiben habe und das Schloß nicht verlassen werde, ab.

»Heute werden Sie, mein Fräulein, Ihren Spaziergang allein, ohne meine Gesellschaft machen!« sagte die Marquise zu Helene.

»Und wohin wird dieser Spaziergang gemacht?« fragte der Marquis.

Adélaide war es, welche ihm erwiderte:

»Wir wechseln damit alle Tage ab; aber heute müssen wir doch einmal an den »Felsenwall« gehen und die Rückkehr bei der Wegsäule von Epard antreten, nicht, Fräulein?«

»Und Sie, Herr Marquis, was machen Sie heute?« fragte die Marquise ihren Gatten.

»Ich werde nach dem Holzschlag in der »Einöd« gehen, um nachzusehen, wie weit die Arbeiter sind.«

Die »Einöd« ist eine im großen Forste von Courtomer ausgehauene Lichtung, gegenüber jener von Epard und zwei starke Stunden von ihr entfernt gelegen.

Sofort nach eingenommenem Frühstücke brach die ganze Gesellschaft auf und schied voneinander: die Marquise, um in die Kutsche zu steigen, der Marquis, um sich zu Fuß, von seinem Lieblingshunde: einer prachtvollen langhaarigen schwarzen Bracke begleitet, nach der »Einöd« zu begeben, Guiscard, um sich in seine Gemächer zurückzuziehen und zu schreiben, Helene und Adélaide, um den Weg nach dem »Felsenwall« einzuschlagen.

Obzwar dieser Spaziergang, der nach dem Frühstücke gemacht ward, zur Erholung diente, so war er sicherlich auch jener Zeitpunkt des Tages, in welchem, wenn nämlich die Marquise nicht das Geleite gab, Adélaide das meiste von nützlichen Dingen lernte; denn alles, was ihnen unterkam oder auffiel, lieferte Stoff zur Belehrung: eine Pflanze, ein Nest, ein Insekt, eine Wolke, ein Kiesel, ein Zweig. Und diese Belehrung erfolgte ganz zwanglos, in freundschaftlicher, unterhaltender Weise; Helene sagte, was sie wußte; das Kind fragte und stellte Betrachtungen an, selbe unterbrechend, wenn es von der Lust, sich ein bißchen herumzutummeln, angewandelt wurde, und dann bald sie wieder aufnehmend.

Sie hatten ungefähr die halbe Strecke bis zum »Felsenwall«, da sie auf einem Umwege durch die Felder gegangen waren, zurückgelegt, als sie von weitem unter einem Baume sitzend einen großen jungen Menschen gewahrten, den die eine sowohl als die andere für Guiscard gehalten haben würden, wenn sie ihn nicht im Schlosse mit Schreiben beschäftigt verlassen hätten.

»Diese Ähnlichkeit ist aber schon drollig!« rief Adélaide aus.

Wenige weitere Schritte bewiesen ihnen, daß dies keineswegs nur eine außerordentliche Ähnlichkeit, sondern Guiscard in leibhaftiger Gestalt war; er hatte sich erhoben und kam ihnen in seinem gemächlichen Schlendergange entgegen; sein Gesicht war aber hochgerötet wie bei jemandem, der längere Zeit gelaufen war.

»Wie, du bist nicht beim Schreiben?« scherzte Adélaide.

»Wie du siehst, nein; ich bin von Kopfschmerz befallen worden und da bin ich fortgegangen, um ein wenig Bewegung zu machen; es ist ein reiner Zufall, der uns hier zusammenführt!«

Und sofort ging er an der Seite Helenens weiter, ohne etwas zu sprechen, sogar ohne sie anzublicken, gleich als ob es ihm genügt hätte, sich nur ihr ganz nahe zu befinden.

Helene schien ihm gar keine Beachtung zuzuwenden und setzte ihr Gespräch mit Adélaiden fort.

Fast zehn Minuten hatte er so schweigsam, bloß mit seinem Stocke in das Gras hauend, ihren Begleiter gemacht, als sie im Forste an einen Kreuzweg gelangten, bei welchem sie einen Pfad, der im rechten Winkel den von ihnen bisher gewandelten durchschnitt, einschlagen mußten.

In selbem Augenblicke lief ihnen unter freudigem Gebelle ein schwarzer Jagdhund entgegen und sprang vor Guiscard umher.

»Das ist ja der Black!« rief Adélaide aus.

Da sie wenige Schritte voraus war und in den Pfad bei der Kreuzung vor Helene und Guiscard eingelenkt hatte, so folgte auch rasch ihr weiterer Ausruf nach:

»Der Onkel! Der Onkel!«

In der That war es der Marquis von Courtomer, der auf einer Bank saß, wie jemand, der eine Rast abhält, oder der auf der Lauer ist.

Als der Marquis seinen Sohn und Guiscard seinen Vater erblickte, ging es für beide nicht ohne die Wirkung ab, welche das Mißglücken eines für schlau erachteten Komödienstreiches zu machen pflegt. Der junge Mann, dem es noch an dem Selbstvertrauen, welches das Alter oder der Umgang mit der Welt verleiht, mangelte, kam aus seiner Verblüfftheit gar nicht heraus.

Der Marquis von Courtomer hatte rasch seine Fassung wieder gewonnen und erklärte, jeder Frage zuvorkommend, seine Anwesenheit an diesem Orte, der allerdings nicht in der Richtung nach der »Einöd« lag; er habe sich nämlich erinnert, daß er auch in der Gegend von Epard etwas nachzusehen habe, und so sei er, obwohl er schon auf dem Wege nach der »Einöd« gewesen, umgekehrt und die entgegengesetzte Richtung gegangen. –

Da sie sämtlich den Weg nach Epard zu machen im Begriffe standen, so ergab es sich gleichsam von sich selbst, daß sie ihren Spaziergang miteinander fortsetzten.

 

14.

Solches doppelte Zusammentreffen war allzu bedeutsam, als daß es für Helene möglich gewesen wäre, noch länger die schönen Hoffnungen, woran sie sich Tags zuvor zu klammern bemüht hatte, festzuhalten.

Konnte es eine schmählichere, peinlichere Lage geben, als nun die ihrige war? Gleich anfangs, wie ihr hierin klarer Einblick geworden, hatte die Verzweiflung sie übermannt, war sie ganz außer sich geraten.

Hier würde bald das Ende für sie gekommen sein: sie würde genötigt werden, aus diesem Hause, wo sie sich bereits ihr Leben und das ihrer Großmutter so schön ausgedacht, die Flucht zu ergreifen.

Doch rang sie sich aus solcher Verzagtheit und Niedergeschlagenheit empor: Feigheit wäre es, alle Hoffnung fahren zu lassen; warum sollte sie nicht einen Kampf aufnehmen?

Zudem konnte doch deshalb, weil der Marquis von Courtomer und Guiscard ihr die Ehre zu erweisen geruhten, sie nach ihrem Geschmacke zu finden, nicht schon gesagt werden, daß alles verloren wäre.

Es lagen nur erst Neigungen, nur erst Absichten vor, und selbe würden doch zweifelsohne abzuwenden oder zu zügeln sein.

Die beiden kannten sie ja noch nicht näher; sie wußten nicht, wer sie sei, welche Erziehung sie genossen habe; sie hatten von ihr nur ihre Nase oder ihre Haare gesehen, sie als ein schönes Mädchen mit den nämlichen Augen, wie der Notar Griolet und der Graf Pretavoine, betrachtet. Sie würde ihnen schon begreiflich machen, daß sie auch ein anständiges Mädchen, ein Weib voll Ehrgefühl sei.

Allerdings würde sie, wenn sie eine solche Abwehr zu treffen und beizubehalten hätte, der Ruhe, welche sie erhofft, nicht teilhaftig werden können; aber es war das Unglück ihres Lebens, daß sie, seit sie ihren Vater verloren, unablässig gegen ein widriges Schicksal ankämpfen mußte; sie würde hiermit eben nur eine neue Prüfung zu bestehen haben.

Und dann würde sie ja nicht verlassen, nicht ganz allein stehen.

Sie würde Adélaiden, die ihr innig zugethan war, für sich haben.

Und auch auf den Beistand der Marquise würde sie zählen dürfen.

In dem Entschlusse, sich zu verteidigen, Trotz und Widerstand zu bieten, gefestet, erachtete sie es als erste Notwendigkeit für sie, das Zustandekommen des von der Marquise betreffs des Gartenhäuschens gefaßten Planes zu hintertreiben; denn der Marquis sollte nicht einen ihr erwiesenen Dienst geltend machen können, und andererseits sollte auch nicht, wenn sie eines oder des anderen Tages ihrer Stelle zu entsagen gezwungen wäre, ihre Großmutter nochmals ihre Behausung zu wechseln haben sich um eine neue Unterkunft sorgen müssen.

Sie bat daher die Marquise um die Erlaubnis, nach Condé fahren zu dürfen, um ihre Großmutter zu besuchen und unverzüglich nach ihrer Rückkunft brachte sie die brennende Frage zur Erörterung, zum Abschluß.

»Ihre Großmutter,« sagte sie zur Marquise, »scheue sich vor der Abgeschiedenheit und Vereinsamung in einem Walde; sie hänge an dem Umgange mit ihren Nachbarsleuten, an den sie gewöhnt sei; sie möchte ihre Arbeiten beibehalten, was, wenn sie von Condé hinwegginge, schwierig sein würde; so sehr sie sich durch den Antrag der gnädigen Frau Marquise gerührt fühle, könne sie doch nicht umhin, mit Dank ihn abzulehnen.«

Solche Sprache war der Marquise derart neu, daß ihr darüber ihre eigene eine Weile ganz abhanden kam.

»Ich habe mich gewiß recht übel ausgedrückt,« fuhr Helene bewegten Tones fort, »wenn ich der Frau Marquise nicht kennbar gemacht haben sollte, wie tief ich durch Ihre Güte ergriffen …«

»Aber Sie weisen den Antrag doch zurück!«

»Meine Großmutter …«

Ich grolle Ihnen deshalb nicht, mein Kind. Im allerersten Augenblicke habe ich hierüber befremdet sein können, bin ich es gewesen; aber ich sehe ein, daß Sie nicht anders zu thun vermögen, daß Sie den Anschauungen Ihrer Großmutter, ob sie nun richtig seien oder nicht, Rechnung tragen müssen. Hiervon sei also keine Rede mehr zwischen uns! Heute morgens machte ich mir Vorwürfe, diese Angelegenheit mit dem Herrn Marquis noch nicht zum Austrage gebracht zu haben, weil ich immer abwartete, bis er sich in besserer Stimmung befände, denn er ist von Paris etwas nervös, etwas gereizt zurückgekommen; jetzt bin ich recht froh, daß ich seine Genehmigung für mein Vorhaben nicht erwirkt habe, denn es würde, um ihm begreiflich zu machen, daß man es nicht bereitwilligst annahm, unangenehmer Auseinandersetzungen bedürfen.«

Man brauchte den Marquis von Courtomer nicht näher zu kennen, um wahrzunehmen, daß er thatsächlich höchst reizbar war. Diese Gereiztheit kam jeden Augenblick sowohl über etwas, was einen Anlaß hierzu bieten mochte, als auch über ganz Unwesentliches, Nichtiges zum Durchbruche, doch einzig und allein wider seinen Sohn und seine Gattin; dagegen erwies er bei anderen, bei Adélaide, Helene, oder bei Fremden sich voll einnehmenden Wesens und heiterer Laune.

Erst am Tage nach seiner Rückkunft, während des Spazierganges nach der Wegsäule von Epard und infolge dieses Spazierganges, war seine Gereiztheit in so unzweideutiger und heftiger Weise hervorgetreten, daß sie auffällig werden mußte.

Ohne daß Helene wußte, welche Umgangsformen der Marquis mit seiner Familie pflog, war es für sie so viel als erwiesen, daß diese Gereiztheit gewöhnlich nicht mit solcher Heftigkeit sich geäußert haben konnte, denn sie würde alle Beziehungen zwischen Vater und Sohn aufgehoben und es unthunlich gemacht haben, daß sie einen Monat in Paris, mitsammen wohnten, das nämliche Leben führten, sich an den nämlichen Vergnügungen ergötzten.

Eben nach der Heimkehr von dem gemeinsamen Spaziergange nach Epard hatte sich die Erbitterung des Vaters gegen den Sohn geoffenbart.

»Nun,« kehrte sich der Marquis, als er sich zu Tische setzte, zu Guiscard mit der Frage: »das Briefeschreiben ist für dich wohl eine sauere Arbeit gewesen?«

»Ich möchte nicht leugnen …«

»Brauche auch deine Bestätigung nicht, denke mir das schon selber. Aber darüber will ich kein Wort verlieren: ich frage dich, ob du damit fertig geworden?«

»Noch nicht.«

»Nun, wenn du in einer Verlegenheit steckst, so wende dich doch an das Fräulein Margueritte; das Fräulein wird dir gerne mit Ratschlägen dienen. Nicht so, mein Fräulein?«

Helene, durch diesen Ausfall, der so wunderlich eingeleitet worden, betroffen, neigte das Haupt, ohne etwas zu antworten.

»Dir bei dem Fräulein Rat zu erholen, bist du doch heute früh in den Lehrsaal getreten, über dessen Schwelle du ehedem nicht mit einem Vorspann von vier Pferden zu bringen gewesen!«

»Nicht um mir bei dem Fräulein Rat zu erholen,« entgegnete Guiscard, »sondern um ein Wörterbuch zu suchen …«

»Warum hast du keines davon in deinem Zimmer? du mußt doch eines sehr oft nötig haben!«

Sicherlich waren dies nicht Äußerungen eines von liebevollen Gesinnungen für seinen Sohn beseelten Vaters, sondern vielmehr solche eines Gegners, eines Nebenbuhlers, der sich auf Kosten desjenigen, den er herabsetzen will, zu erhöhen sucht; das war für Helene nur allzu klar.

Am ersten Tage ihres Bekanntwerdens mit dem Marquis von Courtomer hatte sie die spöttelnde Art, womit er die hohen Adelsprätensionen seiner Gattin behandelte, bemerkt; so oft die Marquise von ihrer Geburt, ihrem Geschlechte, ihren Ahnen, Robert von Guiscard sprach, hüstelte er oder blickte sie wohl gar unter komischer Verzerrung seiner Mundwinkel und Umeinanderdrehen seiner Daumen, wie jemand, der sich Gewalt anthut, um nicht loszuplatzen: »Hat das noch nicht bald ein Ende?« an. Das war vielleicht etwas unmanierlich, aber es ließ sich endlich noch hinnehmen, und in der That, die Marquise nahm es gutwillig hin, wenigstens ohne einen ersichtlichen Ärger, und sogar, ohne sich in ihren Auseinandersetzungen zu unterbrechen, indem sie dieses: »Hat das noch nicht bald ein Ende?« ihres Gatten nicht geradezu auf sie gemünzt verstand, oder sich darüber keine anderweitigen Sorgen machte.

Allein wenige Tage später erfolgte ein Auftritt, aus gleichem Anlasse entsprungen, aber mit einem ganz anderen Verlaufe.

Es war bei einer Tafel, welche einige intime Freunde des Hauses im Prunksaale des Schlosses vereinte: einen alten Iren, den Grafen O'Donoghue, der verbürgtermaßen von den Königen Irlands abstammte, einen alten Schotten, den Baron M'Combie, der nicht minder verbürgtermaßen von den Königen Schottlands abstammte, den Gerichtspräsidenten Bonhomme de la Fardouyère, der gar ein Seitenverwandter der heiligsten Jungfrau war, wie es auch das seltsame in seinem Salon hängende Gemälde bezeugte, auf welchem die Mutter Gottes einem seiner Ahnen, der vor ihr, mit dem Hute in der Hand, auf den Knien liegt, bedeutet: »Bedecken sich Euer Liebden, Herr Vetter!« Endlich gab es noch einige Gäste von minderer Bedeutung als: den Pfarrer des Dorfes, den Arzt.

Wenn die Marquise von Glück strahlte, so war es an diesem Tage, wo sie Persönlichkeiten von so altem, hohem Adel, obzwar sie sich eines Lächelns, wenn sie von dem besagten Bilde der Mutter Gottes sprach, nicht erwehren konnte, um sie gereiht erblickte. Es war eine königliche Tafel fürwahr: die Könige von Irland und von Schottland speisten bei der Blutserbin Roberts von Guiscard.

Der Marquis, welcher von Artigkeit und Liebenswürdigkeit für seine Gäste überfloß, benahm sich dagegen auffällig mißgestimmt, unfreundlich und barsch wider seinen Sohn und nebenbei auch wider seine Gattin, als diese ihrem Lieblinge zu Hilfe kam, indem er ihr spöttische Worte zuschleuderte oder ihr sogar in die Rede fiel, sobald sie sich in genealogische Erörterungen, welche sie so sehr liebte, stürzen wollte.

Da er aber in so rücksichtsloser und ungezogener Weise durchaus nicht gegen seine Gäste verfuhr, so hatte sich eine heraldische Erörterung zwischen dem Grafen O'Donoghue und dem Baron M'Combie entsponnen, und die Marquise säumte nicht, sich darein zu mengen, um ihre Ansicht, die mit jener des alten Iren übereinstimmte, abzugeben.

»Sehen Sie es doch ein, lieber Baron, Sie haben Unrecht,« sagte der Marquis.

»Aber …«

»Sie haben Unrecht, weil die Frau Marquise von Courtomer, eine geborene Calipet, Ihnen Unrecht giebt.«

Die Marquise, der dies den Atem benahm, schnappte nach Luft.

»Dennoch, liebwertester Freund,« erwiderte der Baron M'Combie, der an Harthörigkeit litt, »behaupte ich …«

»Gegen mich können Sie alles, was Ihnen nur beliebt, behaupten; nicht aber gegen die Frau Marquise von Courtomer …«

»Aber, mein Freund!« rief die Marquise, wie um den Hieb, den sie nach ihr geführt sah, abzulenken, aus.

»... Aber nicht gegen die Frau Marquise von Courtomer, welche, eine geborene Calipet« – fuhr der Marquis unnachsichtig fort – »in solchen Sachen sich eines ganz besonderen Scharfblickes, der uns anderen leider mangelt, berühmt.«

Jedermann steckte die Nase in seinen Teller und ganz leise fragte man sich, was denn nur heute der Marquis haben möge.

Helene brauchte diese Frage sich nicht vorzulegen. Sowie sie sich abends in ihr Zimmer eingeschlossen hatte, versank sie in recht traurige, entmutigende Betrachtungen. Wie lange noch würden sich die Dinge derart fortspinnen?

 

15.

Die Haltung, welche Helene gegen den Marquis und Guiscard angenommen hatte, war die Zurückhaltung – eine außerordentliche Zurückhaltung.

Ehrerbietig gegen den Vater, frostig gegen den Sohn, redete sie kein überflüssiges Wort.

Wurde sie um etwas gefragt, gab sie nur die unumgänglich nötige Antwort, allerdings höflich, aber kurz und bündig.

Wurde nicht zu ihr gesprochen, so blieb sie stumm, und niemals nahm sie das Wort, als wenn es unerläßlich geboten war.

Dagegen war sie mit Adélaide voll Freundlichkeit und Gesprächigkeit, zu allem, was das Kind wünschen mochte, bereit, versagte sie sich ihr nie bei einem Spiele oder einem heiteren Zeitvertreibe.

Auch der Marquise gegenüber befliß sie sich der größten Zuvorkommenheit, und jetzt war sie es, welche ihr Spaziergänge vorschlug und derart vereinbarte, daß diese sie immer, auf ihrer Eselin reitend, begleiten konnte. Hierdurch veranlaßte sie den Marquis zu dem Ausspruche, daß diese Eselin unfehlbar ein gelehrtes Langohr werden und daß man eines oder des anderen Tages sie zur allgemeinen Verwunderung einen Vortrag über die Geschlechterkunde hervorgröhlen hören werde.

Aus vollem Halse lachend, brachte der Marquis diesen Scherz vor; aber man brauchte kein sehr schlauer Beobachter zu sein, um wahrzunehmen, daß er eigentlich gar nicht zum Lachen gestimmt war, und daß, im Gegenteile, diese Ausritte der Marquise mit Helene ihm einen gewaltigen Ärger einflößten.

In der That war es bei den Vorsichtsmaßregeln, mit welchen Helene, wenn sie im Schlosse war, sich umgab, eine Unmöglichkeit, mit ihr in ein Gespräch zu kommen, eine Unterhaltung anzubahnen; nur während dieser Spaziergänge hätte man sie sprechen können, wenn man die kurzen Augenblicke, wann Adélaide vorauslief oder etwas zurückblieb, ausnützte.

Zwar fanden sich der Marquis und Guiscard häufig im Lehrsaale ein, der Vater, um einen seiner »Kanons der Forstkultur«, wofür er jetzt einen außerordentlichen Absatz gefunden haben mußte, an sich zu nehmen, der Sohn, um nach einem blauen, grünen, gelben, schwarzen, grauen Buche, worin er jetzt tagtäglich Belehrung schöpfen zu wollen schien, umherzusuchen; doch wenn auch die beiden sich dadurch die Gelegenheit, Helene zu sehen, verschafften, so war dies auch alles. Helene sprach nichts und man konnte ihr auch nichts sagen in Anwesenheit Adélaidens, welche den einen wie den andern mit Blicken des Erstaunens maß, wogegen jene nicht einmal ihren Kopf von dem Buche oder von der Aufgabe, womit sie sich eben zu befassen hatte, emporhob.

Mehreremale versuchte der Marquis, sie redelustig zu stimmen; aber sie gab stets so kurze Antworten, daß er es unabweisbar befand, die Angriffe auf ihre Schweigsamkeit nicht fortzusetzen.

Auch Guiscard wandte das nämliche Mittel an, doch ohne besseren Erfolg zu ernten; da er nicht ablassen wollte, so ersuchte sie ihn, während der Unterrichtszeit sie nicht zu stören. Dies wurde mit Höflichkeit, aber auch mit hinreichender Festigkeit bedeutet, auf daß er es nicht mehr wagte, zudringlich zu werden.

Von dieser Seite zum Weichen gebracht, hielt Guiscard sich nicht für geschlagen, und wenn auch gewissermaßen vor die Thüre des Lehrsaales gesetzt, ersann er ein anderes Mittel, um Helene zu sehen, aber leider nur von ferne, und ohne sie sprechen zu können; aber er sah sie doch, sie sah ihn auch, und zwar – was für ihn das Entscheidende war – in seiner ganzen Herrlichkeit.

Wenngleich der Marquis von Courtomer infolge des schlechten Standes seiner Geldverhältnisse den Marstall von Rennpferden, den er vormals unterhalten, aufgelassen hatte, so besaß er doch noch zwei oder drei Pferde für Steeplechase, die er unter seiner Aufsicht abrichten ließ und die auf einer in seinem Parke, rings um das Schloß, angelegten Bahn eingeübt wurden. Wenn Guiscard weder von seinem Abbé, noch von dem Professor Bonjean etwas zu lernen vermocht, so hatte er hingegen aus den Unterweisungen und Beispielen, welche die » lads« und die Jockeys seines Vaters ihm gegeben, erstaunlichen Nutzen gezogen und war er unbeschadet seiner Dickleibigkeit ein ausgezeichneter Jockey geworden, nicht ein » professionnal«, wie man in der Sportsprache sagt, sondern ein Dilettant, der aber den besten Jockeys, vornehmlich im Übersetzen von Hindernissen – übrigens der einzigen Art des Wettreitens, welche ihm sein Gewicht erlaubte – Ausstellungen machen konnte.

Aus dem Lehrsaale vertrieben und voll Sehnsucht, Helene zu sehen, sowie von ihr gesehen zu werden, machte er sich hierfür alldas, worin er es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, zu Nutzen. Die Trainirbahn ging über die Wiese, vor den Fenstern des Lehrsaales vorbei; an der Stelle, wohin die Blicke der Personen, die in diesem Saale verweilten, sich richten mußten, ließ er ein neues Hindernis: eine irländische Hecke, deren Überspringen eine gewisse Anstrengung erfordert, errichten, und jeden Morgen, gerade zu der Zeit, wenn Helene ihren Unterricht begann, übte er seine jungen Pferde, die er selbst ritt, nacheinander an diesem Hindernisse ein.

Wie hätte sie nicht aus dem Fenster, an welchem sie saß, blicken sollen, wenn er, fest im Sattel, in strammer Haltung, auf das Hindernis lossprengte, und, nachdem er es genommen, sich zurückbeugend, ohne dem Pferde den Kopf in die Höhe zu reißen, wie es ein schlechter Reiter thun würde, im vollen Galoppe weitersauste? Sie mußte eine Empfänglichkeit für sein Verdienst, für die Verwegenheit, mit der er ritt, für seine Eleganz und Gewandtheit haben!

Das war chic, wahrlich sehr chic!

Er täuschte sich, wenn er wähnte, daß Helene nicht umhin konnte, ihm zuzusehen; doch so viel war allerdings wahr, daß ihre Augen unwillkürlich sich nach dem Fenster kehrten, wenn er wie ein Schatten über die Wiese flog

Die Ausdauer, welche er bei dieser Anstrengung entwickelte, sowie die Anlage dieses neuen Hindernisses konnten sie nicht in Zweifel über seine Absichten belassen: ihretwegen stellte er diese mehr oder minder gefährlichen Übungen an, um sie zu blenden und zu bezaubern. Da sie aber in dieser Hinsicht ihrer völlig sicher war, im voraus wußte, daß sie gegen die Zauberkünste des Herrn Grafen Guiscard von Courtomer gefeit sei, so brauchte sie sich um seine Schauritte gar nicht zu kümmern.

Leider vermochte sie nicht das nämliche Verfahren gegen den Marquis von Courtomer einzuschlagen, da sie nicht sicher war, ob ihr nicht seinerseits ein Überfall drohe.

»Was ist Ihnen denn?« fragte die Marquise sie öfter, wenn sie ihre Aufgeregtheit, ihre Befangenheit gewahrte.

»O nichts, gnädige Frau!«

Die Marquise drängte nicht in sie, aber sie blickte sie forschend an, und es däuchte Helenen, als ob sie auch Guiscard anblickte, wie wenn sie in seinem Gesichte lesen wollte.

»Warum wollen Sie mich nie weiter, als die Länge Ihres Armes reicht, gehen lassen?« fragte bisweilen Adélaide. »Ich würde mich nicht verlaufen.«

»Es ist meine Pflicht, Sie nie von meiner Seite zu lassen, mein Kind.«

Hieraus ergaben sich für sie Warnungen, ihre Vorsichtsmaßregeln nicht zu weit zu treiben; denn sonst wurden diese selbst eine Gefahr, weil sie dem Marquis und seinem Sohne darthun konnten, daß sie von ihr durchschaut waren, aber auch von ihr gefürchtet wurden.

Aber wie das richtige Maß in dem, was sie thun sollte, treffen?

Zweifelsohne war sie entschlossen, sich zu wehren, wenn der eine oder der andere eine Erklärung machte; doch um wie viel besser, wenn es von gar keiner Seite hierzu kam!

Sie sagte sich, daß es, wenn die Dinge derart fortgingen, keine Gründe gab, auf daß sie nicht immer im gleichen Gange bleiben sollten.

Die beiden Herren würden überlegen, erkennen, wer sie sei, und die Gedanken, die ihnen in die Köpfe gefahren, würden auf Nimmerwiederkehr verfliegen. –

Eines Morgens, als sie vernommen, daß der Marquis und Guiscard den ganzen Tag über abwesend sein würden, bat sie die Marquise um die Erlaubnis, nach Condé zu gehen, und nachdem diese ihr zu teil geworden, machte sie sich ganz glücklich dahin auf den Weg.

Noch freudiger erregt, trat sie den Rückweg nach dem Schlosse an: sie hatte ihre Großmutter besucht, sie frisch und gesund, wohlgemut und von Hoffnung erfüllt gefunden; die Witterung war prachtvoll; die Sonne strahlte aus wolkenlosem Blau. Es war eine Lust, dahinzuwandeln inmitten dieses von Wiesen umhegten Pfades, der ihr schon damals, als sie ihn zum erstenmale mit dem Professor Bonjean beschritten, so sehr gefallen hatte und der jetzt, wo der Frühling an diesem fetten, fortwährend von Wasseräderchen durchrieselten Boden sein Werk vollführt hatte, noch viel schöner geworden, insofern Glanz und Üppigkeit in Blättergrün und Blumenflor ringsumher sich ausgebreitet hatten und Gräser und Pflanzen über die Rinnsale der Büchlein und an den Kiessand des Weges heran zu wogen schienen.

All dieses junge, frische, schwellende Grün war ein Labsal für die Augen, für die Seele, für die Lungen, die eine belebende, kräftigende Luft einsogen.

Plötzlich, in einer kurzen Entfernung, sperrte ihr ein Schatten, durch die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne auf dem Kiessande in die Länge gezogen, gleich einer Schranke den Weg.

Der Marquis von Courtomer befand sich vor ihr.

 

16.

Sowie Helene den Marquis, der auf dem Trittpfosten vor einem über einen Wassergraben führenden Stege saß, erkannte, blieb sie wie versteinert stehen.

Sie brauchte sich nicht zu fragen, auf wen er warte.

Ihre erste Regung war, Kehrt zu machen, sich zu flüchten.

Doch schritt sie ihres Weges weiter, nach dem Marquis vor, ihre Augen zu ihm erhoben und dennoch ihn nicht sehend; denn die Wallung ihres Blutes umschleierte ihren Blick, bereitete ihr Schwindel.

Bei ihrem Herankommen erhob er sich und ging ihr einige Schritte entgegen:

»Guten Abend, mein Fräulein!«

Sie antwortete mit einer Neigung des Kopfes, denn sie fühlte sich unfähig, in diesem Augenblicke ein Wort über ihre Lippen zu bringen. Nicht bloß ein Gefühl von Furcht lähmte sie, alles in ihr empörte sich bei dem Gedanken an das, was sich nun begeben dürfte: bei dem Gedanken an ihre Ehre, ihr Zartgefühl, ihre Züchtigkeit.

Der Marquis ging voraus und wandte bei dem Stege, der, schmal, nur aus zwei Baumstämmen bestand, angelangt, sich nach ihr zurück, um ihr die Hand zu reichen; doch sie lehnte seine Hilfe ab.

»Nun, mein Fräulein,« fragte er »sind Sie mit Ihrem Besuche in Condé zufrieden?«

Sie mußte etwas antworten, und zwar um so rascher, als ein Gespräch, derart angeknüpft, sich vielleicht in diesem Tone bis zum Schlosse, das leider noch ziemlich weit entfernt war, fortspinnen ließe.

»Ich danke Ihnen, ja wohl.«

Und sofort sprang sie, die gewöhnlich so wortkarg, fast stumm, äußerst verschlossen in allem, was sie und die Ihrigen betraf, war, in ein weitschweifiges, umständliches Erzählen über.

Dabei blickte sie unverwandt nach einer riesigen Platane mit runder Laubkrone, welche, auf einer Anhöhe weithin sichtbar, die Lage des Schlosses anzeigte und aus diesem Grunde nicht in die laut des »Kanons der Forstkultur« vorgeschriebene Kegelform zugeschnitten worden war – worüber der Marquis jedesmal, wenn er an ihr vorbeiging, die Achseln zuckte und nicht umhin konnte, die Bemerkung: »Ist das ein häßliches Scheusal!« fallen zu lassen. Aber noch schauerlich ferne war dieses Scheusal, und trotz der fieberhaften Hast, mit der Helene dahinschritt, schien die Entfernung sich nicht zu vermindern.

Würde denn gar niemand ihr zu Hilfe kommen? Sollten sie denn auf gar keinen Bauern stoßen, der sich an den Marquis hängen und ihn nicht loslassen würde?

Als ihr dies in den Sinn kam, wandte sie sich unwillkürlich um; doch ebensowenig, wie vor ihr, zeigte sich jemand hinter ihr; die einzigen lebenden Wesen in dieser Einsamkeit waren Rinder und Stuten, welche, durch das Geräusch angelockt, an die Umzäunung liefen und, die Köpfe auf die oberste Querstange legend, die Vorüberwandelnden gutmütig anglotzten; überall herrschte Stille, nur zeitweilig unterbrochen durch das Muhen einer Kuh oder das Hüpfen eines Frosches, der sich eiligst in einen Wassergraben flüchtete und dadurch ein schwaches Geplätscher erzeugte.

Gleichwohl redete Helene immer fort, manches ohne Sinn und Zusammenhang, und sie würde derart bis zum Schlosse fortgefahren haben, wenn nicht der Marquis, einen kurzen Augenblick, als sie genötigt gewesen, inne zu halten, um Atem zu schöpfen, benützend, das Wort ergriffen hätte.

»Ich setze,« sagte er, »gar keinen Zweifel darein, daß es Ihrer Großmutter in Condé recht wohl bekommt; aber man hat sich zu mir über einen Plan geäußert, der, wenn er zur Ausführung gelangte, ihr, meiner Ansicht nach, ein noch viel angenehmeres Leben verschaffen dürfte.«

»Wir sind darüber anderer Meinung gewesen.«

»Und damit haben Sie unrecht gethan; gestatten Sie mir, dies Ihnen zu sagen.«

»Meine Großmutter scheut sich in ihrem Alter vor jeder Veränderung.«

Neuerdings wollte sie das Gespräch auf die Großmutter ablenken; doch der Marquis behinderte sie daran:

»Sie würden sie tagtäglich gesehen haben!«

Plötzlich so dicht an sie herantretend, daß er sie gestreift hätte, wenn sie nicht beiseite gewichen wäre, sagte er, indem er ihr fest in die Augen blickte:

»Sie haben also nicht verstanden, welch' eine Teilnahme Sie mir einflößten?«

Sie stammelte einige Worte, aber trotz ihres Willens, sich ohne alle Rücksicht zu wehren, so leise, daß sie ihm unverständlich blieben.

»Wie hätte ich bei dem Anblicke eines jungen so schönen Mädchens, wie Sie sind, nicht von Bewunderung ergriffen werden sollen!«

Sie streckte beide Hände wie zur Abwehr vor.

»Ich sehe,« fuhr er fort, »recht gut ein, daß Ihre erste Regung Sie gegen solche Worte ablehnend sich zu verhalten heißt; aber wer trägt daran die Schuld, wenn ich sie ausspreche? Ihre Schönheit entreißt sie mir trotz aller Mühe, die ich mir gegeben, die ich mir noch in diesem Augenblicke gebe, um sie zurückzuhalten.«

Helene hatte Zeit gehabt, ihre Erregung zu bewältigen und die Schwäche, welche sie überfallen, zu bekämpfen: sie warf den Kopf in die Höhe und entgegnete dem Marquis mit einem scheuen Aufblicke ihrer Augen, worin aber dennoch eine herzhafte Entrüstung zu lesen war:

»Warum sprechen Sie dann selbe aus?«

»Weil sie unwiderstehlich von meinen Lippen, aus meinem … Herzen strömen.«

»Dann, Herr Marquis!« schrie sie verzweifelt auf »wissen Sie nicht, wer ich bin!«

»Ein tugendhaftes Mädchen.«

»Ein Weib von Ehre, ja, Herr Marquis.«

»Und eben deshalb gilt Ihnen meine Rede.«

Ganz wirr, bestürzt, sich, fragend, ob sie auch richtig gehört, verstummte sie; doch der Marquis ließ ihr keine Zeit, um über seine Worte nachzugrübeln:

»Glauben Sie denn, daß das Herz eines Mannes von meinem Alter, meiner Erfahrung und meiner Stellung für ein Weib, das nicht von Ehre beseelt wäre, hätte entbrennen können? Aber wenn ich Sie liebe, teures Kind, ist es nicht bloß Ihrer Schönheit wegen«

Sie faltete die Hände mit einer flehenden Geberde, daß er derart nicht weiter sprechen möge, aber er fuhr fort: »... Sondern auch Ihrer Unschuld, Ihrer Tugend wegen. Glauben Sie denn, daß ich nicht alle Mittel, die Sie aufgeboten, um mir zu entgehen, erkannt habe, und erraten Sie nicht, daß diese Begegnung auf diesem Wege nicht eine zufällige ist? Sie wollten mich nicht anhören. Ich meinerseits habe mich nicht erklären wollen. Doch die Leidenschaft, die sich meines Herzens bemächtigt, war stärker als mein Wille, und sie treibt mich Ihnen zu, macht mich Ihnen unterthan.«

Ohne etwas zu erwidern, ohne ihn anzusehen, ging sie rasch weiter, so rasch, als es ihr das durch die Angst beengte Atemholen erlaubte, und anstatt darnach zu trachten, seiner Rede Einhalt zu thun, wartete sie zaghaft darauf, daß er wieder das Wort nähme, daß er lange fortspräche, und sie solcherart im Schlosse, dessen hohe Schornsteine, vom letzten Schimmer der untergehenden Sonne übergoldet, man bereits erblickte, anlangen würden.

Dieses Schweigen als eine Willfährigkeit deutend, trat er wieder ganz nahe an ihre Seite und sprach, über ihre Schulter sich neigend, so daß sie um Hals und Wange seinen heißen Atem spürte, weiter:

»Erkennen Sie doch, daß es der ganzen Gewalt dieser Leidenschaft bedarf, um mich zu zwingen, das Stillschweigen zu brechen, und daß es durchaus nicht eine Laune, der ich fröhne, ist. Die Liebe, welche ich Ihnen eingestehe, ist die eines Mannes, der das Leben kennt und der Ihnen huldigend naht, weil er erkannt und empfunden, daß Sie das reizendste, bezauberndste Weib, dem er jemals begegnet, sind. Es ist nicht die Schwärmerei eines jungen Menschen, die mit dem nächsten Tage verflogen; es ist das ernste, andauernde Gefühl eines Mannes, der nie anderen Sinnes werden wird.«

Immermehr beflügelte sie ihre Schritte, und ohne Unterlaß redete er, durch seine eigenen Worte befeuert:

»Regt sich denn in Ihrem Herzen keine Stimme, die Ihnen sagte, daß es eine edle und großherzige Mission für ein Weib ist, die letzten Jahre eines Mannes, der nur ihm seine Liebe weihen und der es anbetend und es segnend sterben wird, zu verschönen?«

Sie waren an eine Stelle, wo es nicht mehr ein Bächlein, das den Weg abschnitt, sondern schon der Fluß selbst war, gelangt, und wenngleich die Wagen hindurch fahren konnten, was durch Ausweitung des Bettes ermöglicht war, so gab es doch hier und da tiefe, gefährliche Stellen, an deren einer eine Frau wenige Monate vorher sich ertränkt hatte.

Nur noch eine kleine Strecke lag vor ihnen, und sie traten in den Park.

In diesem Augenblicke schlang der Marquis, von seiner Leidenschaft hingerissen und die Einsamkeit benützend, seinen linken Arm um den Leib Helenens und zog sie heftig, ohne daß sie Widerstand zu leisten vermocht, an sich. Aber fast sofort entrang sie sich ihm und lief nach der Brücke, die für Fußgänger gebaut war, hin; der Marquis sprang ihr schnell nach und wollte sie wieder erfassen, als sie, über den Fluß sich hinabbeugend, ihm zurief:

»Einen Schritt weiter, und ich schwöre Ihnen, daß ich mich in das Wasser stürze.«

»Welch ein Wahnsinn!«

»Der Wahnsinn der Verzweiflung, wozu Sie mich treiben! Warum peinigen Sie mich, warum verfolgen Sie mich, da Sie doch anerkennen, daß ich ein tugendhaftes Mädchen bin?«

»Weil ich Sie liebe.«

»Aber ich, ich liebe Sie nicht, und ich kann Sie nicht lieben, eben weil ich dieses tugendhafte Mädchen bin. Vermag ich überhaupt zu lieben? Werde ich je lieben können?«

Da der Marquis etwas beiseite getreten, hatte sie dies benutzt, um über die Brücke zu gehen und ihren Weg fortzusetzen; aber selbst aus dem Übermaße ihrer Angst war ihr Kraft und Mut erwachsen: die Stunde der Feigherzigkeit war vorbei; sie mußte sprechen, wenn sie nicht wollte, daß das, was soeben erfolgt war, wieder geschähe.

»Ich bin,« sagte sie, »nur ein armes Mädchen; Sie wissen das doch, Herr Marquis? Nun, dann haben Sie Mitleid mit mir, zwingen Sie mich nicht, aus Ihrem Hause zu fliehen, was ich, ich schwöre es, an dem Tage, wenn Sie dieses Gespräch wieder aufnehmen sollten, thun würde. Sie haben sich geirrt: Ich bin nicht das Weib, wofür Sie mich gehalten. Ich bin, ich wiederhole es Ihnen, nur ein armes Mädchen, das arbeiten, dienen muß, um sich und seiner Großmutter den Lebensunterhalt zu erwerben. Haben Sie Mitleid mit mir! An Ihr Herz wende ich mich, an Ihre Ehre.«

Sie sprach mit erhobenem Haupte, beherzt, mit einer wilden Entschlossenheit, die sich noch mehr in dem Tone ihrer Stimme und in ihren Blicken, als in ihren Worten selbst bekundete.

Sie fuhr fort:

»Der Augenblick ist entscheidend, und ich will, daß er es völlig, für immerdar sei. Sprechen Sie noch ein Wort weiter, und augenblicklich kehre ich um, nach Condé zurückzugehen. Sprechen Sie nicht weiter, und ich folge Ihnen nach Ihrem Hause zurück. Sie sehen, ich lege mein Schicksal in Ihre Hände; ich stelle es Ihrem Edelsinne, Ihrer Ehre anheim!«

Der Marquis von Courtomer maß sie mit einem langen Blicke; dann erhob er die Hand, zog seinen Hut und verneigte sich vor ihr:

»Setzen Sie, mein Fräulein, Ihren Weg fort; ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie liebe.«

Und anstatt neben ihr weiterzuschreiten oder ihr auf der Ferse nachzufolgen, blieb er wie angewurzelt stehen, während sie dem Schlosse zueilte.

 

17.

Helene schöpfte aus diesem Kampfe frischen Mut.

Offenbar würde sie, wenn sie, anstatt die Gefahr zu meiden, wie sie stets gethan, beherzt ihr die Stirne gewiesen hätte, schon lange ihre Freiheit erobert und ihre Sicherheit gefestet haben.

Das war eine Lehre, die ihr für die Zukunft zu Nutzen kommen sollte, nämlich insofern, als sie, falls der Sohn des Hauses, anstatt sich auf seine Schauritte zu beschränken, eines Tages ihr eine Erklärung machen wollte, nicht ihm zu entrinnen suchen, sondern ihm antworten würde, wie sie dem Vater geantwortet hatte.

Nachdem sie diesen Entschluß gefaßt, änderte sie ihre Gewohnheiten, und wurde wieder, wie sie vor der Ankunft des Marquis von Courtomer und Guiscards im Schlosse gewesen; sie wagte, allein im Garten spazieren zu gehen, durch die Hausfluren zu schreiten oder die Treppen auf und ab zu steigen, ohne zu hasten und furchtsam nach rechts und links, wie eine auf frischer That ertappte Diebin, umherzublicken; sonder Scheu gab sie Antworten, wenn sie gefragt wurde, und nahm an einer Unterhaltung teil, ohne bei dem ersten Worte von dem Drange, sich hinwegzuschleichen, ergriffen zu werden.

»So, wie Sie jetzt sind, habe ich Sie noch viel lieber!« sagte Adelaide zu ihr.

Wenn Adélaide diese Änderung wahrgenommen, so hatte sie auch Guiscard erkannt, und, mehr als das, sie sich in seiner Weise erklärt: die irländische Hecke hatte ihre Wirkung gethan. Wie hätte auch Helene gegen seine Gewandtheit, Eleganz, Furchtlosigkeit, seine Reitkunst, seinen Chic unempfindlich bleiben sollen? Natürlich war ihr alldies zu Herzen gegangen!

Bisher hatte die Schüchternheit seines Wesens und seines Alters ebensowohl, als die Zurückhaltung Helenens ihm den Mund verschlossen; er liebte sie, aber sie gab ihm gar keine Liebe zu erkennen; wozu also ein Geständnis, das üble Aufnahme ernten könnte, wagen? Unerschrocken genug, um ein Hindernis zu übersetzen, fühlte er sich zaghaft, wenn es einige Worte zu sprechen galt, denn seine Tapferkeit war nicht Sache des Verstandes. Aus Furcht, durch Eilfertigkeit alles auf das Spiel zu setzen, zog er das Abwarten als zweckdienlicher vor. Er hoffte sie umzustimmen, zu erweichen; sie würde endlich die Augen aufthun müssen, ihn in seiner wahren Wesenheit erkennen, und dann …

Demnach hatte er abgewartet, nur mit den Augen sprechend, den Mund verschlossen haltend, und sich sogar gerne in der den Schüchternen so werten Hoffnung auf den kommenden Tag, auf irgendeinen günstigen Umstand, auf den Zufall, gewiegt.

Und nun verwirklichte sich endlich solche Hoffnung: nun hatte sie ihre Augen aufgethan und ihn durchschaut; nun war ihr Gemüt erweicht, sie von Rührung beschlichen worden!

Somit hatte er nur mit der Sprache herauszurücken; ganz augenscheinlich war sie geneigt, ihn anzuhören.

Zu lange durfte er sie nicht darauf warten lassen; sonst konnte es seiner Männlichkeit abträglich sein.

Und eben weil er in vielfacher Beziehung noch ein großes Kind war, lag ihm viel daran, daß man ihn für einen Mann, der Weltkenntnis und Lebenserfahrung hatte, ansah. Wenn man Guiscard war, so besaß man ja alles kraft des Geburtsrechtes, ohne die Mühe gehabt zu haben, sich etwas zu erwerben.

Er durfte demnach jetzt mit seiner Erklärung nicht länger zögern.

Dessenungeachtet zögerte er noch immer.

Mehrere Tage hindurch erwog er, wie er es anstellen solle, kam er nicht aus der Unschlüssigkeit heraus.

Er hätte den schriftlichen Weg vorgezogen, denn sie hatte einen Blick und eine Haltung des Hauptes, die ihn trotz alledem zaghaft machten.

Leider fühlte er sich in der Führung der Feder nicht stark, und leicht konnte er sich vor einem gebildeten weiblichen Wesen, wie Helene war, eine empfindliche Blöße geben; jedenfalls konnte sie zu dem Glauben, daß gewisse Sticheleien, mit denen man ihm zugesetzt, nicht alles Grundes entbehrten, verleitet werden, und dies wollte er durchaus nicht. Ihm lag daran, nicht bloß als Jokey sich ihr in aller seiner Herrlichkeit zu zeigen.

Es mußte daher gesprochen werden!

Wiewohl er diesen Entschluß gefaßt, brachte er ihn noch nicht in Ausführung; jetzt benötigte er das Zusammentreffen gewisser günstiger Umstände, welche die Wirklichkeit nicht so, wie er selbst sie im voraus festgesetzt hatte, herbeischaffte: an dem einen Tage war eine Störung ihres Zwiegespräches zu besorgen; an einem anderen schien sie übel gelaunt zu sein; am nächstfolgenden befand er sich selbst nicht in gehöriger Stimmung; dann war ein Freitag; darauf kam der Dreizehnte des Monats; in einer Nacht hatte er Eulenschreie von den Turmzinnen herab vernommen.

Und er nahm Änderungen an dem, was er sagen wollte, vor, schob zu Ende ein, was er zu Anfang gesetzt, behielt nichts von dem, was ihm zuerst von unwiderstehlicher Wirkung geschienen, bei; sodann sagte er das Ganze mehrmals her, bis es ihm fließend vom Munde ging, um nicht der Gefahr des Steckenbleibens ausgesetzt zu sein.

Seit Helene ihren Vorsichtsmaßregeln entsagt hatte, pflegte sie während der nachmittägigen Erholungsstunde sich in einem ländlichen Lusthause aufzuhalten, das auf einer Art kleiner Insel oder genauer ausgedrückt: auf einem kleinen Vorgebirge, inmitten des Teiches, stand. Da nur auf einem schmalen Dammwege hierhin zu gelangen war, so war sie vor jedem Überfalle sicher, konnte dort lesen, thun, was ihr beliebte, oder auch nichts thun, ohne die genealogischen Gespräche der Marquise ausstehen oder Adélaide, welche diesen Zeitpunkt zur Fütterung der Vögel in ihrer großen Gartenhecke benutzte, überwachen zu müssen. Dies war die angenehmste Stunde ihres ganzen Tages, jene, wo sie zu sich kam, sich selbst angehörte, Träumereien oder Erinnerungen nachhing. Es war auch ein recht behagliches, reizendes Plätzchen, durch eine mächtige Trauerweide, die es mit ihrem herabfallenden Gezweigs einhüllte, beschattet, und von den Wellen des ganz mit Wasserpflanzen bedeckten Teiches bespült.

Mehreremale hatte sie, seit sie hierher kam, Guiscard nach der Einbiegung des Dammweges, wie wenn er ihn betreten wollte, seine Schritte lenken gesehen; doch nach kurzem Schwanken hatte er seinen Weg fortgesetzt oder gar Kehrt gemacht. Und dann zollte sie sich stets Beifall über ihren Entschluß, fühle sie sich in ihrer Ansicht, daß er nie wagen würde, zu ihr hierherzukommen, bestärkt.

Gleichwohl sah sie eines Nachmittags, als sie sich kaum wenige Minuten auf ihrer Insel befand, ihn herannahen; er ging langsam, aber festen Schrittes, den Kopf gesenkt, bisweilen eine Handbewegung machend, wie jemand, der in Gedanken vertieft, oder mit sich selber spricht. Sie konnte ihn um so besser beobachten, als sie zwischen dem Gezweige der Weide, das wie eine Cascade rings um sie herabfiel, hindurch sah, und nicht gesehen wurde. An die Einbiegung des Dammweges gelangt, machte er Halt, und sie wähnte, daß er auch wieder vorübergehen würde; aber nachdem er schon drei Schritte zurückgethan, wandte er sich plötzlich und schlug den Dammweg ein.

So entschlossen sie auch war, empfand sie dennoch eine peinliche Aufregung.

Der Dammweg war kurz; Guiscard kam schnell zum Vorscheine.

»Ach! Sie sind da, Fräulein?« sagte er, indem er den Überraschten, aber so schlecht als möglich, spielte.

»Und das wußten Sie vielleicht nicht?« entgegnete sie in einem Tone, mit dem sie ihn einzuschüchtern und dadurch fernzuhalten hoffte.

Er errötete auch voll Verlegenheit und verstummte; aber er wich nicht von der Stelle; im Gegenteile ließ er sich nach wenigen Augenblicken auf einer Bank, Helenen gegenüber, nieder.

Sie blickte ihn nicht an, doch bemerkte sie, daß er die Lippen bewegte, wie wenn er Worte vor sich hinspräche, etwas Eingelerntes sich abhörte; er verwandte kein Auge von ihr und war, so gerötet er wenige Sekunden vorher gewesen, bleich geworden, offenbar von einer Aufregung, die alle seine Geisteskräfte lähmte, überwältigt.

Dieses Stillschweigen beunruhigte, erschreckte sie; was er auch sagen mochte, doch wäre es ihr lieber gewesen, wenn er sich nur ausspräche.

Aber er schwieg immerfort.

Plötzlich stand er auf: sie glaubte, daß er davongehen würde, wie er gekommen war, weil er zu sprechen sich nicht getraute, und hierdurch ward sie, seiner Schüchternheit eingedenk, eben nicht überrascht.

Allein sie täuschte sich: Er warf sich vor ihr auf die Kniee, erfaßte, bevor sie es abzuwehren vermochte, ihre Hände, und bedeckte sie mit feurigen Küssen.

»O Helene! Helene!«

Sie sprang auf und wollte sich ihm entwinden; aber er gab ihre Hände nicht los und schleppte sich auf seinen Knieen fort:

»Gehen Sie nicht, lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich Sie liebe, daß ich Sie anbete. Sie sehen es, wissen es wohl; dennoch muß ich es Ihnen sagen. Schon so lange will ich es Ihnen bekennen, und immer wieder hat das Überwallen meiner Leidenschaft mich sprachlos gemacht.

Solches Geständnis traf sie nicht unvorbereitet; sie war schlüssig geworden, was sie ihm antworten würde.

»Sie lieben mich?« sagte sie kaltsinnig.

»O zweifeln Sie nur nicht an meiner Liebe!« rief er, vom Boden aufstehend, aus.

»Ich äußere keinen Zweifel; ich stelle eine Frage. Was dann?«

Was sie vorausgesehen, ging in Erfüllung: er ward verblüfft, denn er hatte weder diese Kaltsinnigkeit und noch weniger diese Frage erwartet.

»Was dann?« murmelte er, »was dann? Nun, dann wird geschehen, was Sie wünschen; wir werden hier bleiben, wenn Sie das vorziehen; wollen Sie Frankreich verlassen, so werden wir ins Ausland reisen, überall dahin, wohin es Ihnen beliebt. Was ist mir daran gelegen, wenn wir nur beisammen sind, wenn ich Sie sehen und lieben kann!«

»Was dann?« wiederholte sie.

»Dann … wird Ihnen mein Leben gehören. In wenigen Monaten werde ich großjährig sein, und nicht ein Dasein voll Entbehrungen werde ich Ihnen bieten, sondern voll Behaglichkeit, Luxus, Vergnügungen; wornach Sie nur Verlangen tragen, nichts werde ich Ihnen je versagen; mein Herz, mein Vermögen, alles wird Ihnen zueigen sein.

»Alles … Ihr Herz … Ihr Vermögen … und Ihr Name, Herr Graf, davon haben Sie noch keine Erwähnung zu mir gethan?«

»Ich würde kein ehrenhafter Mann sein, wenn ich Ihnen ein Versprechen, dessen Erfüllung gegenwärtig nicht in meiner Macht steht, gegeben hätte; ich kann mich nicht vermählen ohne die Zustimmung meines Vaters, und Sie wissen ganz gut, daß er sie mir unter den … obwaltenden Umständen nicht erteilen würde.«

»Ich wäre kein Weib, das nur einen Funken von Ehre im Leibe hat, wenn ich ein solches Versprechen von Ihnen heischte, wie ich auch kein ehrenhaftes Mädchen sein würde, wenn ich das Geständnis Ihrer Liebe anhörte, ohne Ihnen zu sagen, daß ich Sie nicht liebe und niemals lieben werde.«

»O mein Gott!«

»Ohne Zweifel haben Sie, weil Sie mich lieben, viele Vorzüge an mir entdeckt; weshalb haben Sie nicht die Ehrbarkeit mir zuerkannt? Dann würden Sie bedacht haben, daß diese Liebe, welche Sie mir antragen, eine beleidigende Zumutung ist.«

»Ich habe nur Eines bedacht: daß wir beide zwanzig Jahre alt, daß Sie das schönste, reizendste Mädchen, welches ich je gesehen, sind, daß ich Sie liebe, und daß ich, weil ich Sie liebe, nicht umhin kann, dies Ihnen zu bekennen. Ist das nicht ganz natürlich?«

»Eben das ist es, was Sie mir nicht sagen sollen; denn ich darf es nicht anhören, und ich will es nicht anhören.«

Sie machte ein paar Schritte, um von der Insel sich zu entfernen; aber die Schüchternen haben, wenn sie einmal sich in etwas eingelassen, Anfälle verzweifelten Mutes: rasch versperrte er ihr den Weg, indem er sich vor sie hinstellte.

»Noch ein Wort,« sagte sie, »und ich schwöre Ihnen, daß ich dieses Schloß verlasse. Wollen Sie das?«

»Was ich will, ist: Sie sehen, Sie sprechen, Sie lieben.«

»Dann wollen Sie, daß ich von hier fortgehe?«

»Sie werden nicht von hier fortgehen; denn auch ich schwöre Ihnen etwas zu: wohin Sie auch gehen mögen, folge ich Ihnen nach; ich liebe Sie so sehr!«

»Dann muß ich vor Ihnen die Flucht ergreifen!«

 

18.

Durch zwei Drohungen oder vielmehr durch eine und dieselbe Drohung: – Courtomer zu verlassen – hatte Helene aus der schwierigen Lage, welche der Vater und der Sohn ihr bereitet, herauszugelangen getrachtet.

Welche Folgen würden hieraus entspringen?

Auf wie lange würde sie den beiden den Mund schließen?

Alles hing davon ab, ob der Marquis von Courtomer oder Guiscard ihre Nachstellungen erneuerten; trat dieser Fall ein, so mußte sie aus dem Schlosse scheiden.

Würden sie aber wohl ihre Nachstellungen erneuern?

Betreffs des Marquis konnte dies bezweifelt werden, denn seit er auf dem Wiesenpfade mit ihr zusammengetroffen, war seine Haltung gänzlich verändert: er erwies sich voll Artigkeit und Wohlwollen, von einer fast väterlichen Zuneigung erfüllt, und wenn er nicht verstohlenerweise Blicke, in denen sie die vormalige Glut, die sie so sehr erschreckt, wieder entdeckte, auf sie geheftet hätte, würde sie den Glauben haben fassen können, daß er aufrichtigen Sinnes war, daß es wirklich eine väterliche Neigung, nichts als das, ohne Zusatz irgend eines anderen Gefühles, war, was er für sie empfand. Aber leider flößten ihr diese Blicke Unruhe ein; sie wagte nicht, sich vertrauensvoller Hoffnung hinzugeben, und manchmal sagte sie sich, daß seine Haltung eine absichtliche, um sie zu berücken, sein könnte.

Dagegen hegte sie betreffs Guiscards nicht den mindesten Zweifel. Ganz gewiß würde er eines oder des anderen Tages seinen Mund wieder aufthun, und sie fragte sich sogar, wie es ihr gelungen, selben ihm verschlossen zu haben; doch nur zu glaublich war es, daß er sich von seiner Überraschung, von seiner Bestürzung erholen, und sie dann neuerdings sich seiner zu erwehren haben würde. Wie sollte sie dies thun, wenn sie nicht, auf sein erstes Wort hin, sofort das Schloß Courtomer verließe?

Was würde dann aus ihr werden? Wie würde sie sich schützen können? Würde sie sich nicht in einer lächerlichen und schmählichen Lage befinden? Würde ihr Ruf, ihre Ehre nicht bedenklich bloßgestellt werden?

Aber war es nicht auch wahrlich unwürdig, ihr nachzustellen, wie die beiden es gethan, nicht so sehr, weil sie ein schönes Mädchen, als weil sie ein armes Mädchen war, ohne Eltern, um sie zu schützen, ohne die Mittel, um selbst sich rückhaltlos zu verteidigen?

Welche Ansichten bilden sich doch die Männer über die weibliche Ehre?

Dieser Vater, der seine Liebe antrug!

Dieser Sohn, der sein Vermögen anbot!

Und weder der eine noch der andere schien einzusehen, welch eine Lächerlichkeit oder Schimpflichkeit in diesen Anträgen lag.

Sorgenfrei, würde sie nicht eine Sekunde gezögert, Courtomer verlassen haben.

Doch diese Freiheit besaß sie leider nicht.

Sie mußte also, koste es, was es wolle, ausharren, mindestens bis zu dem Tage, an dem ihre Ehre und nicht bloß ihr Widerwille fordern würde, daß sie ginge.

Was thun, um die beiden in dem Benehmen, das sie ihnen auferlegt, zu erhalten?

Bezüglich des Marquis vermochte sie nichts mehr, als was sie gethan.

Aber wider Guiscard, der zudem in diesem Augenblicke als der Gefährlichste erschien, vermochte sie den Beistand einer vielvermögenden Verbündeten: der Marquise anzurufen.

Sie beschloß, sich an diese zu wenden und ihr wenigstens in Betreff Guiscards die Wahrheit zu bekennen.

Es war ihr angeboren und auch stets ihre Art gewesen, alles frei heraus zu sagen und geradezu auf ihr Ziel loszugehen, da sie niemals ihrem Vater gegenüber etwas zu verhehlen oder den kleinsten Umweg zu nehmen nötig gehabt; doch diese glücklichen Zeiten waren nicht mehr, und jetzt war es – wie Herr Malatiré ihr bedeutet – geboten, die Zuflucht zu Winkelzügen zu nehmen. Sonach entschloß sie sich auch hierzu und nahm sich vor, bei der Marquise nicht um die Entfernung Guiscards zu bitten, was auch in Anbetracht der maßlosen Liebe, welche diese zu ihrem Sohne hegte, nicht sehr klug gewesen wäre.

Als die Marquise ihr eines Tages noch größere Beweise von Wohlgeneigtheit und freundschaftlicher Gesinnung als gewöhnlich gab, wagte sie sich daran.

»Ich weiß wahrlich nicht,« sagte sie, »wie ich Ihnen mein Dankgefühl für all das, was Sie zu meinen Gunsten thun, ausdrücken soll, und ich fühle mich darüber um so unglücklicher, als ich selbst in diesem Augenblicke mich befragen muß, ob es mir ermöglicht sein wird, Ihre gütige Gesinnung mir fernerhin zu erhalten.«

»Wieso das?« rief die Marquise, ebensosehr befremdet über das, was sie vernahm, als über die gewundene Art der Äußerung Helenens, aus.

»O gnädige Frau, was ich Ihnen zu sagen habe, ist sehr mißlich, sehr schwierig, und was diese Schwierigkeit noch erhöht, ist die Furcht, daß Sie mich der Undankbarkeit zeihen könnten.«

Indem sie derart sprach, sagte sie die Wahrheit. Niemals hatte sie sich so befangen, so beängstigt gefühlt und zwar nicht bloß, weil sie ihr gegenwärtiges Los, ihre Ruhe, ihre sichere Lebensstellung gefährdete, sondern auch noch, weil die Sache, die sie zu behandeln im Begriffe stand, sie mit Scham und Verwirrung erfüllte.

»Niemals werde ich Sie der Undankbarkeit zeihen,« erwiderte die Marquise, »denn ich kenne Sie zu gut; reden Sie demnach, reden Sie ohne alle Scheu, reden Sie aber schnell, denn Sie versetzten mich durch Ihre Einleitungen in eine fieberhafte Ungeduld. Also zur Sache!«

»Sie haben, Frau Marquise, eben bemerkt, daß Sie mich gut kennen; dann halten Sie mich doch auch für ein ehrbares Mädchen?«

»Gewiß, und ich bin bereit, dies überall, unter allen Umständen, zu bekräftigen.«

»Dieser Bekräftigung bedarf es bei Ihnen selbst, gnädige Frau, denn Sie müssen hiervon auf das festeste überzeugt sein, um alle Schwierigkeiten meiner Lage in Ihrem Hause zu erkennen.«

»Ihrer Lage?«

Und die Marquise, der es aufzudämmern begann, wo hinaus sie wollte, faßte forschend sie ins Auge.

»Diese Lage ist eine … derartige, daß es mir, wofern keine Änderung darin eintreten sollte, unmöglich gemacht sein würde, bei Ihnen zu verbleiben, und daß ich … gezwungen wäre, Ihr Haus zu verlassen.«

Sie stockte, schwieg, keine Worte mehr findend, um das, was ihr noch zu sagen übrig blieb, ohne allzu große Beschämung für sie auszudrücken.

Doch die Marquise kam ihr zu Hilfe:

»Es betrifft Guiscard, nicht wahr?« fragte sie.

Helene neigte das Haupt.

Der Ton, in welchem die Marquise diesen Namen ausgesprochen, mehrte ihre Unruhe: es schien ihr, daß hieraus keineswegs eine Entrüstung, sondern vielmehr die Gutheißung einer Sache, die ganz natürlich befunden wurde, hervorklang. Nun wagte sie schon gar nicht fortzufahren, und harrte des Weiteren.

»Was Sie mir zu verstehen gaben,« sagte die Marquise, »überrascht mich nicht; schon seit lange habe ich mit meinen Mutteraugen bemerkt, daß Guiscard sich durch Ihre Schönheit – denn Sie sind schön, mein Kind, sehr schön! – angezogen fühlt, und ein junger Mann wie Guiscard kann für die Schönheit nicht unempfänglich sein. Das ist also Ihre Schuld.«

»Gnädige Frau …«

»O ich meine ja nur Ihre unbewußte und unfreiwillige Schuld, denn Sie sind ebensowenig für die Wirkung, welche diese Schönheit ausübt, verantwortlich, als Guiscard dafür, daß er ihrem Zauber unterliegt, verantwortlich gemacht werden kann. Deshalb muß man dies nicht allzu ernst nehmen und von Trennung sprechen. Eine Trennung, ei warum? Weil Guiscard Sie hübsch findet!«

»Aber, gnädige Frau ..!«

»Liebes Kind, ich würde nicht in Ihre Ehrenhaftigkeit den festen Glauben, den ich soeben aus freien Stücken einbekannte, setzen, wenn ich über die Stimmung meines Sohnes mich beunruhigt fühlen könnte. Aber Sie haben mein Vertrauen, mein vollstes Vertrauen. Andererseits weiß mein Sohn, daß er Sie nicht heiraten kann. Weshalb dann sich ängstigen?«

Wie Helene dies hörte, erkannte sie, daß sie thöricht gewesen, ihre Hoffnung auf diese Marquise von Courtomer, die ebenso stolz auf ihren Sohn als auf ihren Namen war, zu setzen: weil er ein Courtomer war, hatte er, von einem so minderen Mädchen, wie sie war, nichts zu besorgen; weil er ihr Sohn war, meinte sie, daß ihm alles erlaubt wäre.

Die Marquise fuhr im Tone einer liebevollen Gutmütigkeit fort:

»Man muß nichts übertreiben und Dingen, die in der That ganz natürlich sind, nicht eine Tragweite geben, die sie nicht haben. Kurz gesagt: ihr beide seid zwanzig Jahre alt, das heißt, daß ihr Kinder seid. Was zählen im Leben die Träumereien der Kindheit! Eine Kameradschaft ist es, die zwischen meinem Sohne und Ihnen entstanden, nichts anderes! Und selbst wenn diese bei Guiscard, der, ich gebe es zu, ein feuriges Herz hat, einen etwas überschwänglichen Ausdruck angenommen hätte, müßten Sie sich denn darüber eine Sorge machen oder gar sich ängstigen? Versuchen Sie doch für einen Augenblick, sich der gegenwärtigen Stunde zu entschlagen, einen längeren Zeitraum, etwa zehn Jahre, als verflossen anzunehmen, und Sie werden dann, wenn Sie an diese Gegenwart zurückdenken, nicht ohne einen gewissen Stolz – glauben Sie mir – sich das Bekenntnis ablegen: »Ich bin von einem Courtomer geliebt worden!« Das will in dem Leben eines Weibes etwas bedeuten, so groß auch die Schönheit dieses Weibes sei.«

Helene hatte die Lage, welche sie so grausam quälte, lange und gründlich erwogen, aber allerdings nicht von diesem Gesichtspunkte aus.

»Guiscard kann Sie nicht heiraten,« fuhr die Marquise fort; »er kann nicht einmal daran denken. Was für eine Gefahr wäre dann vorhanden? Dennoch würde ich, wenn es mir möglich wäre, ihn von hier zu entfernen, dies, gestanden, thun. Aber Sie wissen ja, daß das nicht thunlich ist. Er muß hier bleiben. Es soll ihm hier gefallen, und mit etwas gutem Willen können Sie mir beistehen, ihn hier festzuhalten. Dies werden Sie mir nicht versagen. Sie werden sich dabei in einer Frauenrolle einüben, und solches Lernfach wird sich vielleicht nicht nutzlos für Sie erweisen; aber auch hiervon abgesehen, kann es doch nur angenehm sein, einen Guiscard als Mitspieler zu haben.«

Was sollte Helene dieser Mutter, die bloß an ihren Sohn dachte, erwidern? –

 

19.

Infolge dieser Unterredung war der erste Gedanke Helenens, das Schloß zu verlassen; dennoch wollte sie trotz ihres Schmerzes und Unwillens ihm nicht Gehör schenken.

Ihr erschien es als eine Pflicht, die Prüfung bis auf das äußerste zu bestehen und nicht fortzugehen, bis nicht ihre Stellung ganz und gar unhaltbar geworden wäre; wenigstens würde sie das Mögliche gethan und später, wenn sie sich mit ihrer Großmutter wieder in Not, denn diese stand ihr unausbleiblich bevor, befände, sich keine Vorwürfe zu machen haben.

Sonach ergab sie sich darein, zu bleiben, bis ihre Ehre forderte, sich für immer zu entfernen.

Aber in diesem stillen Schlosse, inmitten dieser braven Dienerschaft, war es ihr, als ob sie sich in Feindesland befände, als ob sie sich gegen arglistvolle und zu allem fähige Wilde zu schützen hätte; dies gemahnte sie an gewisse Romane von Fenimore Cooper, die sie in ihrer Jugend gelesen und worin die Weißen mit den Rothäuten im fortwährenden Kampfe lagen. Ihre Befürchtungen, welche sie in Aufregung versetzten und erbeben machten, waren leider keine Gebilde der Einbildungskraft, sondern hatten einen thatsächlichen Grund und persönliche Beziehungen.

Wohin sie auch gehen mochte, stets traf sie mit Guiscard, der ihr nachfolgte oder vorausschritt, zusammen; wohin sie auch ihre Augen richtete, begegnete sie jenen Guiscards, welche mit einem heftigen, leidenschaftlichen Ausdrucke, der sie mit Scham und Angst erfüllte, ihre Gestalt verschlangen. Eben weil sie sich den Anschein geben wollte, als ob sie diese Blicke gar nicht bemerkte, erbleichte und errötete sie so auffällig, daß jedermann und er selbst – dies war weit bedenklicher – ihr Unbehagen, ihre Pein wahrnahm.

Es schien, als ob er auf der Lauer läge, wie ein Raubtier, um auf seine Beute loszustürzen und sie mit sich fortzureißen.

Bald geriet sie in einen derartigen Zustand von Furcht, daß sie sich nicht mehr schlafen legte, ohne ihr Zimmer zu durchsuchen, die Schränke zu öffnen, unter das Bett zu blicken, die Vorhänge auseinander zu schlagen, und mehreremale nach der Thüre zu gehen, um sich zu vergewissern, daß der Riegel gut vorgeschoben war; zur Nachtzeit fuhr sie oftmals aus dem Schlafe empor, indem sie allerlei Geräusche vernommen, die sie sich bloß eingebildet, oder die, wenn sie wirklich stattgehabt, eine ganz natürliche Erklärung hatten.

Große Angst stand sie auch des Abends aus, wenn sie, nachdem sie Adélaide zu Bette gebracht, entweder durch die Marquise oder aus einem anderen von ihrem Willen unabhängigen Grunde abgehalten, sich sogleich in ihr Zimmer zu begeben, in später Stunde den langen dunklen Gang, der nach ihrem Turme und an der Wohnung Guiscards vorüber führte, zu durchschreiten hatte. Stets fand sie dann die Thüre dieser Wohnung halb offen, und ihr däuchte, daß Guiscard dahinter versteckt stünde; trotz der Raschheit, womit sie vorbeieilte, bildete sie sich sogar ein, das Funkeln seiner Augen gesehen zu haben.

Als sie eines Abends derart nach ihrem Zimmer eilte und zwar ziemlich spät, weil die Marquise sie im Salon, wo sie sich allein befand, zurückgehalten hatte, sah sie unverkennbar in der Thürnische von Guiscards Wohnung zwei auf sie gerichtete, durch das Dunkel blitzende Augensterne. Ihre erste Regung war, schnell Kehrt zu machen, aber einsehend, daß sie hierdurch eine gar zu auffällige Furcht bekunde, setzte sie, ihre Schritte beschleunigend und nach der dieser Thüre entgegengesetzten Seite blickend, ihren Weg fort.

In dem Augenblicke, als sie an dieser Thüre vorbeihuschen wollte, fühlte sie sich von zwei kräftigen Armen umschlungen und fortgezogen.

Sie suchte sich frei zu machen; doch es gebrach ihr hierzu an Kraft.

»Wenn Sie mich nicht loslassen,« sagte sie, »so rufe ich.« Er preßte sie nur noch stärker an sich.

»Kommen Sie doch, liebe Helene, ich muß Sie sprechen.«

Und er zog sie, trug sie in sein Zimmer, was bei seinem hohen Wuchse und seiner Stärke etwas Leichtes für ihn war.

Doch rang sie noch immer mit ihm; aber es gelang ihr nicht, sich seiner zu entledigen.

»Ich rufe!« wiederholte sie.

Er gab ihre Arme nicht frei und mit dem Fuße wollte er die Zimmerthür zustoßen, als Helene, sich in seiner Gewalt sehend, zu schreien anhub:

»Hilfe, hierher, Hilfe!«

»Schreien Sie nicht,« flüsterte er ihr zu, »ich beschwöre Sie, schreien Sie nicht: Hören Sie mich an, teure Helene!«

Aber sie schrie nur noch stärker.

Nun sprang er, sie loslassend, auf die Thür zu und stieß den Riegel vor; dann eilte er auf Helene mit offenen Armen zu:

»Jetzt bist du mein!« rief er frohlockend aus.

Obgleich kein Licht im Zimmer war, sah Helene deutlich genug, um die Bewegungen Guiscards zu verfolgen. Sie wich seitwärts aus, um die Thüre zu erreichen; aber er sah dies auch und fiel ihr in den Arm.

In diesem Augenblicke erschollen hastige Tritte von der Hausflur her; heftige Stöße gegen die Thüre folgten.

»Aufmachen!« befahl der Marquis von Courtomer mit zornwütiger Stimme.

Mit ihrer freien Hand hatte Helene den Riegel erfaßt und stieß ihn zurück; die Thür ging auf und der Marquis trat mit einem Wachslichte in der Hand hinein.

»Was geht denn hier vor?« fragte er.

Aber er bedurfte keiner Antwort, um zu verstehen; die Szene, die er vor Augen hatte, erklärte alles: Helene, glühend, nach Atem ringend, in zerknitterter Kleidung, mit aufgelösten Haaren; Guiscard, bestürzt, mit gesenktem Kopfe, aber wild funkelnden Blickes.

Der Marquis trat auf seinen Sohn zu.

»Dein Betragen ist das eines Troßknechtes,« schrie er ihn an, »und nicht das eines Edelmannes. Das kann in meinem Hause geschehen!«

Guiscard richtete den Kopf empor, seinem Vater einen Blick des Trotzes, der Herausforderung zuschleudernd.

»Du sprichst wie ein Nebenbuhler,« versetzte er ihm spitzen Tones, »nicht wie ein Vater!«

»Elender Bursche!«

Doch Helene sah und hörte nichts weiter; rasch war sie hinaus und nach ihrem Zimmer geeilt, da sie dem, was zwischen Vater und Sohn vorfiele, nicht beiwohnen wollte.

Der Lärm hatte Adélaide aufgeweckt; wie sie Helene eintreten sah, rief sie ihr entgegen:

»Fräulein Helene, was ist Ihnen denn? Sie haben geschrieen?«

»Ich habe mich gefürchtet.«

»Worüber?«

»Über nichts … es war eine nervöse Furcht, wie sie mich manchmal befällt.«

»Sie zittern noch!«

»Das ist die Folge meines Schreckens, aber es hat nichts zu bedeuten. Schlafen Sie, mein Kind; ich will sogleich das Nämliche thun.«

Dennoch schlief sie, wenn sie sich auch zu Bette legte, nicht ein; sie verbrachte die Nacht mit Überdenken und Fassen eines Entschlusses.

Am nächsten Morgen, frühzeitig, ließ sie der Marquis von Courtomer zu sich bitten; sie begab sich hinab und traf ihn mit seiner Gattin im Salon.

»Mein Fräulein,« sagte er, ihr einige Schritte entgegenkommend, »es drängt mich, Sie um Entschuldigung zu ersuchen und Ihnen eine gebührende Genugthuung für das schmachvolle Benehmen meines Sohnes zu bieten: Morgen wird er das Schloß verlassen haben.«

Solchen Erfolg hatte Helene keineswegs vorausgesehen; aber sie bedurfte auch gar keiner Überlegung, um einzusehen, daß sie, wenn sie die Verweisung des Sohnes annähme, gleichsam eine Verbindlichkeit gegen den Vater einginge.

»Nicht dem Herrn Grafen kommt es zu, von hier zu gehen,« sagte sie, »sondern mir. In einer Stunde werde ich aus Ihrem Hause scheiden.«

»Das werden Sie nicht thun!« rief der Marquis, unfähig, an sich zu halten, aus.

»Das muß ich thun.«

»Das ist die Sprache eines ehrenhaften Mädchens!« sagte die Marquise, »Sie haben ein edles Herz, mein Kind.«

Und sie schloß Helene in ihre Arme und küßte sie.

»Ich werde,« erklärte sie sodann tiefbewegt,« mich … beehren, Sie nach Condé zu geleiten.«


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