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Erste Abteilung


 

1.

Das Hausgesinde in der Stadtschule von Condé-le-Chatel war bis zum Umfallen müde, denn es galt der Amtseinsetzung des neuen soeben ernannten Schulvorstandes, des Herrn Margueritte, und der Einrichtung seiner Häuslichkeit, und da nur noch vier Tage zum ersten Oktober, diesem verhängnisvollen Datum, welches Müttern und Kindern so viele Thränen entpreßt, fehlten, so war keine Zeit mehr zu verlieren, damit alles fertig, in gehörige Ordnung gebracht würde.

Wie wenn es nicht genug Arbeit, welche diese überstürzte Amtseinsetzung erforderte, gegeben hätte, hatte Herr Margueritte die Dinge durch Anordnung einer Festtafel für den Michaelistag noch erschwert.

Als die Köchin diese Weisung empfing, hatte sie verzweiflungsvoll die Hände gerungen und war in die Klage ausgebrochen: »Wie soll ich eine solche Tafel herstellen, da noch nichts an seinem rechten Platze ist!«

Herr Margueritte hatte hiervon nichts vernommen; er erwartete seine Mutter, sowie eine seiner Tanten, bei welcher jene seit vielen Jahren in Bezu-Bas, einem großen und wohlhabenden Dorfe, drei Meilen von Condé entfernt, wohnte, und ihm lag daran, die beiden in bestmöglicher Weise aufzunehmen und zu bewirten.

Es herrschte demnach eine allgemeine Geschäftigkeit und Unruhe in dem alten Schulgebäude, einem ehemaligen Franziskanerkloster, welches, so gut es eben ging, für seine neue Bestimmung umgestaltet worden war. Vom Keller bis in den Dachboden hinan, von der Küche bis in das Empfangszimmer, von den Schlafstuben in die Klassensäle, auf den Treppen, in den langen düsteren Gängen stieß man auf Dienstleute, Maler, Schreiner, Tapezierer, welche geschäftig hin- und herrannten: denn alles mußte zu gleicher Zeit geschehen, die Installation des neuen Schulvorstandes und die Säuberung der für die lernbedürftige Jugend angewiesenen Gemächer und Gerätschaften.

Und inmitten der Arbeiter kreiste Herr Margueritte vom Morgen bis in die Nacht herum, einen Schlüsselbund in der Hand, den er derart zu schwenken pflegte, daß sein Kommen schon von ferne sich ankündete. Meist wanderte er allein im Gebäude, auf jedermann und jede Sache ein aufmerksames Auge habend, Ausstellungen und verbessernde Anordnungen machend, umher; aber bisweilen war er auch von einem schlanken und schönen Mädchen, das achtzehn bis neunzehn Jahre zählen mochte, dem Fräulein Helene Margueritte, begleitet.

Wenn man die beiden beisammen sah, so brauchte man sie nicht näher zu kennen, um das Verwandtschaftsband, welches sie umschlang, zu erraten, so sehr sahen sie sich ähnlich.

Der Vater, von hohem Wuchse, trotz seiner fünfzig Jahre gelenk, munter, frisch und gesund, war das Prachtmuster eines Normannen reinsten Geblütes: etwas vorspringende Backenknochen, gerade Nase, fleischige Lippen, blaue Augen, blonde Haare, rötliche Hautfarbe, festes, vierschrötiges und ebenmäßiges Knochengerüste. Nur in einem einzigen Punkte verleugnete sich dieser Typus: man gewahrte an ihm eine zu große Steifheit, zu viel Abgemessenes. Es war dies offenbar eine Abartung, welche mit seinem Berufe zusammenhing: der Lehrer hatte dem Menschen Eintrag gethan, die Erziehung, das Conventionelle, die Vorschrift, die Gewohnheit hatten die Natur entstellt.

Die Tochter war ebenso hoch aufgeschossen wie der Vater, eine Blondine, deren Haare goldig schimmernd ihr Haupt umwogten; fein und durchsichtig war ihre Haut und von einer wahrhaft bewunderungswürdigen rosigen Farbe; ihre blauen Augen waren etwas heller als die ihres Vaters, ihr Blick war offen und aufrichtig, doch von Schüchternheit umschleiert, das Gesicht vom schönsten Ovale mit hoher Stirne, gerader Nase und bogenförmig geschweiften Lippen; sehr schlank gewachsen, trug sie derart den Kopf, daß sie noch größer erschien, doch ohne daß dies dem gewöhnlichen Ausdrucke ihrer Züge und ihres Lächelns, welcher Sanftmut und Offenherzigkeit war, etwas Ernstes und Geziertes verlieh.

Wenn Helene sich dem Rundgange ihres Vaters anschloß, so geschah es keineswegs, um mit ihm über Angelegenheiten, welche die Schule betrafen, zu sprechen, sondern nur, um sich bei ihm über die Einrichtung seiner Häuslichkeit und vornehmlich über die ihrer Großmutter zu beschaffende Gemächlichkeit Rat zu erholen.

Sie kannte diese Großmutter sehr wenig, denn da sie bisher im nördlichen und östlichen Frankreich ihren Wohnsitz gehabt, war sie nur selten nach Condé-le-Chatel und Bezu-Bas, aus dem die gute Frau niemals sich wegbegeben hatte, gekommen; aber sie wußte, welche Absichten ihr Vater hegte, und dies genügte, auf daß sie es sich höchst angelegen sein ließ, darüber zu wachen, daß dieselben auch auf das genaueste ausgeführt wurden.

»Die wackere Frau soll im letzten Teile ihres Lebens die Ruhe und den Wohlstand finden, die ihr leider im bisherigen so gänzlich gefehlt haben« – hatte Herr Margueritte gesagt – »und ich zähle auf dich, daß ihr beides zu teil werde.«

Obgleich ihre Großmutter eine alte dreiundsiebzigjährige Bäuerin war, die ihr ganzes Leben hindurch Feldarbeit betrieben und keine Ahnung von dem, was bürgerlicher Wohlstand war, besaß, traf Helene dennoch solche Anordnungen, daß das Zimmer, welches für selbe bestimmt worden, ebenso behaglich und hübsch ausgestattet würde als jenes, das sie für sich selbst einrichten ließ; es war dies allerdings eine sehr bescheidene Ausstattung und Wohnlichkeit, doch immerhin war sie etwas Ansehnliches für jemanden, der seit vierzig Jahren sich am Ziehbrunnen wusch und keinen Vorhang vor seiner Fensterluke hatte.

Wenn Herr Margueritte volle Freiheit gehabt hätte, würde er noch einige Tage gewartet haben, um seine Mutter bei sich aufzunehmen, denn bei den mit seiner Amtseinsetzung und dem Wiederbeginne des Schulunterrichtes verknüpften Störungen konnte er ihr nicht so viele Zeit, wie er gewünscht hätte, widmen; allein diese Freiheit war ihm nicht beschieden.

Am Tage vor seinem Eintreffen in Condé war er in Bezu-Bas gewesen, um seine Mutter wiederzusehen und ihr seinen sehnlichsten Wunsch, sie künftighin bei sich zu haben, kundzuthun. Unterwegs hatte er sich eine förmliche Rede, worin er den hauptsächlichsten Nachdruck auf das Glück des Familienlebens legte, ausgedacht; doch zu seinem großen Erstaunen ließ sie ihn gar nicht zu ihrem völligen Vortrage gelangen. Er hegte die Meinung, daß es nur sehr schwierig sein könnte, sie zum Verlassen der ländlichen Fluren, wo sie stets – als junges Mädchen bei ihren Eltern, verehelicht mit ihrem Manne, verwitwet bei ihrem Bruder, der sie zu sich genommen – gelebt hatte, zu bewegen, und siehe da, kaum hatte er seinen Wunsch zu begründen begonnen, so war auch schon sein Anerbieten von ihr freudigst angenommen.

»Gewiß, mein Sohn,« sagte sie, »werde ich mich glücklich fühlen, wenn ich bei dir und bei meiner Enkelin bin, und ich danke dir herzlich für deinen Antrag. Wenn du nicht immer so ferne von hier gewesen und so oft im Lande versetzt worden wärest, würde ich selbst dich schon lange darum gebeten haben, ganz bestimmt an dem Tage, an welchem du deine gottselige Frau verloren, und seither auch wahrhaftig mehr als einmal!«

Sonderbar berührte es wenigstens ihn, daß Einwendungen gegen seinen Antrag gerade von jener, welche, wie er meinte, die letzte sein mußte, derlei zu erheben, gemacht wurden, nämlich von seiner Tante Franziska, die zwanzig-, ja hundertmal zu verstehen gegeben, daß sie ihre Schwägerin nur aus Großmut, aus Herzensgüte, aus Familiensinn und auch aus Liebe zu ihrem Manne, ihrem braven Franz, der an seiner Schwester überaus hänge, bei sich behielte.

»Glaubst du denn, Neffe, daß es klug ist,« – ereiferte sie sich – »eine so alte Person, die an das Landleben gewöhnt ist, sich förmlich darin eingewurzelt hat, davon herauszureißen, in die Stadt hinein zu nehmen? Das muß sie ja ganz wirr machen, kann ihrer Gesundheit nur schädlich sein. Du denkst auch gar nicht an das Leid, das du meinem Franz bereitest; er ist ja seiner Schwester so innig zugethan und hat sie schon seit so lange nicht von seiner Seite gelassen. Und dann ist es ja auch um unsere Truthühner!«

Dieses Wort war ein Lichtstrahl, der die Sachlage völlig aufhellte und Herrn Margueritte zeigte, was ihm unwahrnehmbar verblieben: In diesem Hause, wo man seine Mutter aus Großmut und Familiensinn behielt, war sie nur eine Magd, von der man um so weniger ablassen wollte, weil man ihr keinen Lohn ausbezahlte.

Es war aber auch ein harter Dienst bei Frau Franziska oder vielmehr bei der »Madame Dasunddas«, wie man sie in vertraulicher Weise nannte, weil sie, wenn sie jemanden in ihrem Landsitze herumführte, die Gewohnheit hatte, hochaufgerichteten Hauptes und stolzen Blickes, sowie mit einer kreisförmigen Handbewegung zu sagen: »Sie sehen doch alles das? Nun alles das gehört uns, und dann auch noch Das und das!«

Wie hatte er nur nicht eher diese Wahrnehmung gemacht? Wie hatte er nicht den Sinn der halben Worte seiner Mutter erraten? Wenn sie sich auch niemals unumwunden beklagt und ihn gebeten hatte, bei ihm Aufnahme zu finden, so hatte sie sich doch genügend klar ausgedrückt, um ihm die Augen zu öffnen, wenn selbe nicht mit Blindheit geschlagen gewesen wären.

Aber jetzt, wo er einen richtigen Einblick, ein volles Verständnis gewonnen, war er nicht der Mann, seine Mutter preiszugeben: er bestand auf der Erfüllung seines Wunsches, trat dafür in entschiedenster, jeden Widerspruch abwehrender Weise ein.

»Nun also,« – ließ die Tante »Dasunddas« sich vernehmen – »wenn es schon nicht anders sein soll, so will ich selbst die Schwägerin dir am Markttage zu Michaelis bringen.«

»Ich kann recht wohl zu Fuß dahin gehen!« erwiderte das gute Weib.

»Was denn nicht noch! Das wäre doch ganz unschicklich, wenn wir dich zu Fuße von uns wegließen; ich werde mit dir hineinfahren und zugleich die Truthühner auf den Markt bringen; ich muß sie ja jetzt doch verkaufen, nachdem du es über das Herz gebracht, sie im Stiche zu lassen.«

 

2.

Es war Michaelis, der große Festtag für Condé, der bedeutendste Markttag im Jahre, und zehn Meilen im Umkreise setzt man lange vorher auf diesen Zeitpunkt seine Reise nach der »Stadt« fest, um Geschäfte abzuwickeln oder um Vergnügungen zu genießen: man spricht von dem Michaelistage ein halbes Jahr früher, bevor er eintritt.

Die ganze Nacht waren die Straßen der Stadt, sonst so ruhig und stille, voll Lebens und Lärmens gewesen; von Mitternacht bis zum Morgen gab es ein fortwährendes Kommen und Gehen, besonders in dem Marktviertel, ein unaufhörliches Gerassel von Karren, Getrappel von allerhand Vieh, Wiehern von Stuten und Füllen, Gebrülle von Ochsen und Kühen, Blöken von Schafen, Wimmern von Kälbern, und Gegrunze von Schweinen, was alles hin und wieder plötzlich durch heisere Schreie, welche den auf dem Marktplatze bereits befindlichen Haustieren einen Schauder einjagten, übertönt wurde; sie kamen von den wilden Tieren einer Menagerie, deren Wagen unter den Bäumen der angrenzenden Allee ihren Standort hatten.

Dieser Lärm war insonderlich fühlbar für die Einwohner des Schulgebäudes, das von dem Marktplatze nur durch eine von jenen hohen, weitabständigen Einfriedigungsmauern, wie man sie ehemals um die Klöster aufführte, geschieden ist. Gegen Morgenanbruch hatte er derart zugenommen, daß Herr Margueritte und seine Tochter, da ihnen das Schlafen unmöglich geworden, frühzeitiger als gewöhnlich aufstanden, wenngleich sie sich sagten, daß die Tante »Dasunddas,« welche einen drei Meilen weiten Weg bis nach Condé zurückzulegen hatte, zweifelsohne erst vormittags eintreffen würde.

Mit solcher Annahme war Herr Margueritte im Irrtum. Wer etwa vermeinte, daß die Tante, »Dasunddas«, wenn sie etwas zu verkaufen hatte, sich nicht vor ihren Konkurrenten auf dem Marktplatze festsetzen würde, kannte sie sehr schlecht.

Schon um die sechste Frühstunde wurde die Glocke am Thor des Schulgebäudes gezogen und fast unmittelbar darauf knarrte dieses, schwerfällig sich aufthuend, in seinen verrosteten Angeln.

In diesem Augenblicke langten Herr Margueritte und Helene, durch den Schall der Glocke herbeigerufen, im Hofe an; sie sahen ein ungedecktes Fuhrwerk, halb Karren halb Bankwagen, von einer prächtigen Stute, neben der ihr Füllen, welches sie noch säugte, einherlief, gezogen, hereinrollen; auf der vorderen Bank saßen die Tante »Dasunddas«, die Peitsche und die Zügel in der Hand, sich nach ihrer Gemächlichkeit ausbreitend, und neben ihr Frau Marqueritte, die sich so schmal wie möglich zu machen suchte; hinter ihnen waren große Käfige voll junger Truthühner welche, ihre Hälse durch die Gitterstäbe reckend, kläglich piepten, übereinandergestellt.

»Ho!« schrie die Tante »Dasunddas«.

Und die Peitsche und die Zügel der Schwägerin zuwerfend, stieg sie ziemlich leichtfüßig, aber auch mit Vorsicht um nicht ihr schönes Kleid von kornblumenblauer Farbe am Tritte oder Rade zu beschmutzen, vom Wagen herab.

»Guten Morgen, Neffe; guten Morgen Helene; wir sind es; das da ist mein Füllen!«

Die Vorstellung war nicht unnütz, denn wenn Herr Margueritte seine Mutter und seine Tante erwartete, hatte er doch nicht ein solches Fuhrwerk samt einer Ladung von Truthühnern und auch noch ein Füllen vermutet.

Doch ohne etwas zu erwidern, beeilte er sich, seiner Mutter vom Wagen herabzuhelfen.

Während er die alte Frau, deren Gelenke durch die schwere Arbeit, die sie zu verrichten gehabt, steif geworden waren, mit aller Sorglichkeit unterstützte, fuhr die Tante »Dasunddas« fort:

»Du hast mir gesagt, daß du einen Stall hättest; nun so habe ich gedacht, daß man Cocotte und ihr Füllen hier unterbringen könnte. Warum soll man ein Einstellgeld im »Preisochsen« bezahlen, wenn man es zu ersparen vermag? So etwas ist immer mitzunehmen, nicht wahr? Und dann habe ich immer Furcht, daß der Cocotte, die eine wertvolle Stute ist und uns, wie du weißt, schöne Preise eingetragen hat, etwas zustoßen könnte; davon will ich gar nicht reden, daß die Hausknechte die Hälfte des Hafers, den man mitbringt, stehlen und sich nicht schämen, ihn dem armen Tiere vor der Nase wegzunehmen, sobald der Eigentümer den Rücken gekehrt hat.«

Ohne vom Reden abzusetzen, ordnete sie ihren durch die Fahrt etwas zerknitterten Anzug; insbesondere befliß sie sich, eine schwere goldene Kette wieder symmetrisch um ihre Schultern zu legen, denn sie hatte sich in den höchsten Putz geworfen, ebensowohl um ihrem Neffen, dem »Herrn Schuldirektor« Ehre zu erweisen, als auch, damit niemand sich herausnehme, ihr die Truthühner abzudrücken, wenn man sehe, daß sie eine wohlhabende Frau wäre, die nicht durch die Not bedrängt ihre Zucht verkaufe, sondern abzuwarten imstande sei.

Von ihrer Seite wich nicht Frau Margueritte, die viel einfacher, ja sogar mehr als einfach gekleidet war, weder eine goldene Kette in den Vordergrund zu rücken hatte, noch daran dachte, ihr halbwollenes Kleid, welches, wohl zwölf oder zwanzig Jahre alt, seine Falten nur zu leicht bewahrte, auszuglätten; sie blickte, während ihre Schwägerin sprach, fast ängstlich auf sie, jedenfalls mit einer unterwürfigen Aufmerksamkeit, wie wenn sie einen Auftrag erwartete; sie stand da mit schlenkernden Armen und von dem verblichenen Grau ihres alten Kleides hoben sich sehr merklich ihre roten, vom Alter runzligen, durch Arbeit gegerbten und krustigen Hände ab.

Indessen begann der Diener, der das Thor geöffnet hatte, sich, wie er vom Stalle sprechen hörte, an das Ausspannen der Stute zu machen.

»Nun, Schwägerin!« hub die Tante »Dasunddas« an »Schnüren wir unsere Käfige los und tragen wir sie auf den Marktplatz!«

Augenblicklich, fast automatisch, wie wenn eine Feder sie aufgeschnellt hätte, war Frau Margueritte an den Wagen getreten, doch ihr Sohn zog sie zurück, indem er zugleich seiner Tante bedeutete:

»Ich werde sofort jemanden schicken, damit er dir helfe.«

»Laß doch deine Leute bei ihrer Arbeit bleiben!« entgegnete die Tante »Dasunddas;« »die Schwägerin und ich werden schon mit dem Fortschaffen der Käfige fertig werden; auch kennt uns das Völklein darin. Also Schwägerin, zugegriffen!«

Allein Herr Margueritte streckte die Hand mit einer gebieterischen Geberde vor:

»Entschuldige!« sagte er. »Es ist mein Wille, daß meine Mutter nicht als Trägerin von Truthühnern auf dem Marktplatze gesehen werde.«

Über diese Einrede stutzte die Tante »Dasunddas und blickte ihn betreten an; doch war es keineswegs ihre Gepflogenheit, sich eine solche gefallen zu lassen; im Gegenteile war sie es, welche den Leuten mit Bescheiden in die Quere fuhr und ihnen Stillschweigen auferlegte. Um wie mit gestopftem Munde vor ihrem Neffen zu stehen, mußte sie in ihm den »Herrn Schuldirektor« geachtet haben; aber diese Regung unwillkürlicher Ehrerbietung währte nur kurze Zeit; rasch gewann sie ihre zuversichtliche Haltung wieder.

»Nachdem du,« sagte sie »mich genötigt hast, meine Truthühner zu verkaufen, willst du mir jetzt auch noch darin hinderlich sein?«

»Ich habe dich, Tante, dazu durchaus nicht genötigt.«

»Wirklich? Und was hast du denn anderes gethan, indem du mir deine Mutter wegnahmst? Kannst du als ein Gelehrter, der du bist, denn glauben, daß man zu Michaeli magere Truthühner ebenso teuer verkauft, als man sie gemästet zu Weihnachten absetzen könnte? Es ist ein Verlust von mehr als 500 Francs, zu welchem du mich verurteilst.«

»Jemand würde doch meine Mutter haben ersetzen können!«

»Bei dem Lohn, um welchen heutzutage Mägde zu bekommen sind, wie, was? Nein, Herr Neffe. Ich muß sie verkaufen, und ich verkaufe sie. Aber jetzt lasse mich nicht einen weiteren Verlust erleiden; man soll, Herr Neffe, den Bauernstand nicht mißachten!«

»Ich mißachte den Bauernstand nicht, Tante; aber ich finde es nicht geziemend, daß meine Mutter als deine Magd auf dem Markt erscheine. Ich will dir jedermann, der dir behilflich sein kann, an die Seite geben, und wenn du einen Knecht benötigst, so wird er zu deiner Verfügung stehen, so lange es dir beliebt.«

»Nun, wenn es so ist …«

Da diese Anordnung im Ganzen genommen ihrer Angelegenheit doch auch zu statten kam, so gab sie sich damit zufrieden; nur dachte sie bei sich, daß der »Herr Schuldirektor« gar stolz wäre, er, dessen Vater nur ein Zimmermann gewesen, dessen Mutter keinen Heller Geld gehabt.

Ohne Zeit zu verlieren hatte sie einen Käfig auf einer Seite angepackt, während ein Schuldiener ihn auf der anderen anfaßte, und war nach dem Marktplatze abgegangen.

»Warum hast du mich nicht mit der Schwägerin Franziska gehen lassen wollen?« sagte Frau Margueritte zu ihrem Sohne, sowie die Tante »Dasunddas« sich entfernt hatte. »Sie hat das übel aufgenommen.«

»Weil du nur zu lange schon ihre Magd gewesen, und ich nicht mehr will, daß du dies seiest, selbst eine Stunde, ja eine Minute länger. Verzeihe mir, gute Mutter.«

»Dir verzeihen! Was hätte ich dir zu verzeihen, mein lieber Sohn?«

Er hatte seine Mutter bei der Hand genommen und führte sie, von Helenen begleitet, nach dem Zimmer, welches für sie eingerichtet worden.

»Was du,« sagte er, »mir verzeihen mögest, ist, daß ich blind gewesen, mir eingebildet habe, du könntest im Hause der Madame »Dasunddas« glücklich sein, weil du dort deine Jugendgewohnheiten beibehieltest und bei deinem Bruder wärest. Heute ist es mir klar, daß du bei deiner Schwägerin, und nicht bei deinem Bruder warst. Dies ist's, was du mir verzeihen mögest; denn meine Verblendung ist Ursache, daß man dich zu einer Magd erniedrigt hat.«

»Ich habe mich darüber nie bei dir beklagt.«

»Nein, aber du hast es stillschweigend gelitten, was noch grausamer war. Ich wähnte, daß du bei deinem Bruder, der dich lieb hat …«

»O gewiß hat er mich lieb!«

»Als ein Glied der Familie angesehen wärest.«

»Du mußt dies dem Franz nicht nachtragen, denn sieh: er getraut sich nicht den Finger emporzuheben ohne die Erlaubnis seines Weibes.«

»Das ist ja eben das Schlimme!«

»Du mußt auch der Franziska nicht mehr grollen; nicht um die Leute unglücklich zu machen, bürdet sie ihnen zu viele Arbeit auf.«

»Sie thut dies, um sich zu bereichern!«

»Sich selber schont sie auch bei der Arbeit nicht.«

»Kurz und gut: deine Mühsal, arme Mutter, ist zu Ende; wir werden von nun an beisammen leben und meine Tochter sowie ich werden alles thun, um dir das, was du gelitten, in Vergessenheit zu bringen. Sollte ich einmal, was Gott verhüten wolle, dir fehlen, so würde Helene da sein und sie würde dich nicht mehr in Knechtschaft zurücksinken lassen.«

Ohne etwas zu erwiedern, legte Helene die Hand in die ihres Vaters und drückte sie innig.

Sie waren vor die Thüre des Gemaches, welches die alte Frau bewohnen sollte, gekommen.

»Dies da ist dein Zimmer!« sagte Herr Margueritte, die Thüre öffnend.

Sie blickte mit ganz erstaunter Miene umher und ein Lächeln verklärte ihr sanftes Antlitz.

»O nein!« rief sie aus. »Das ist ja viel zu schön für mich.«

 

3.

Die Tante »Dasunddas« war nicht, was man eine biedere Frau nennt; sie war weder liebenswürdig und gefällig, noch war auch nur mit ihr leicht auszukommen; nicht etwa, daß sie im Grunde schlecht oder böswillig gewesen wäre, aber sie war geldgierig, unnachsichtig bei der Arbeit, gefühllos gegen alle Mühe und Plage; sie wollte, daß alles um sie her: Menschen, Tiere und Sachen zu ihrem Zwecke, der die Gewinnsucht war, beitrügen. »Alles das gehört uns und dann auch noch Das und das!« Mutter von acht Burschen, war sie der einzige Mann in der Familie, und mit einer festen, in ihren Bewegungen oft sogar sehr flinken Hand meisterte sie ebensowohl ihren Gatten als ihre Jungen, welche sämtlich vor ihr gleichmäßig zitterten.

Der Gedanke, daß ihr Neffe, »der Herr Direktor«, ihr bei dem Verkaufe ihrer Truthühner den Gewinnst schmälern könnte, weil er sie der Beihilfe ihrer Schwägerin beraubte, hatte sie in Harnisch gejagt, und sie würde auch einem ihrer Zornausbrüche, bei denen, wie sie selbst sagte, »alles tanzte«, keinen Dämpfer aufgesetzt haben, wenn ihr nicht die direktorale Würde eine gewisse achtungsvolle Scheu eingeflößt hätte. Da sich aber nach dem Verkaufe ihrer Truthühner herausstellte, daß ihr Gewinn ein größerer war, als sie im voraus veranschlagt hatte, so kam sie gut gelaunt und in der besten Verfassung, dem von ihrem Neffen veranstalteten Festschmause alle Ehre zu erweisen, in das Schulgebäude zurück. Wahrlich, es war ein vortrefflicher Einfall von ihm, daß er sich als Schulleiter nach Condé hatte versetzen lassen. Dadurch würde an allen Markttagen nicht bloß für Cocotte und deren Füllen, sondern auch für sie selbst eine sehr schätzbare Bequemlichkeit erwachsen; die Gastwirte haben heutzutage ihre Preise so hoch hinaufgeschraubt, daß man ein Narr sein müßte, wenn man bei ihnen etwas verzehrte. Und dann könnte man während des Speisens bei dem Neffen ein gutes Geschäft mit ihm abschließen, ihn zur Abnahme von Holz, Apfelwein, Butter, Eiern und Kartoffeln, woran er für seine Zöglinge steten Bedarf hatte, bestimmen. Alles das hatte sie, und es wird doch nicht etwa ein Verbrechen sein, wenn man bei seiner Familie etwas verdienen will, selbstverständlich in rechtschaffener Weise, aber so viel und so oft nur möglich ist!

Als sie in den Speisesaal trat und auf einer mit einem gewissen Aufwand an Weißzeug und Geschirr gedeckten Tafel ein Prachtstück von einer Forelle in der Mitte, eine Galantine zur einen, einen Hummer zur andern Seite erblickte, schalt sie ihren Neffen aus.

»Meinetwegen sollst du eine solche Verschwendung nicht treiben!« sagte sie in einem Tone vollster Unbefangenheit wie eine Frau, welcher gar nicht beifällt, daß man außer ihr noch jemandem anderen zur Ehre etwas thun wollen könnte. »Solcherart würdest du es mir recht schwer machen, an den Markttagen bei dir aus alter Freundschaft zum Speisen einzusprechen. Was zu viel ist, ist zu viel.«

Herr Margueritte entgegnete nichts; was hätte er auch in der That sagen sollen? Daß diese Tafel seiner Mutter galt? Allerdings hatte es damit seine Richtigkeit. Aber bis zu einem gewissen Grade galt sie auch der Tante »Dasunddas«. Was er in letzter Zeit bezüglich der seiner Mutter zugefügten Unbilden erkannt und erfahren hatte, konnte nicht verhindern, daß dies der Fall war.

Daß er nach einer dreißigjährigen Abwesenheit in seine Geburtsstadt zurückgekehrt war, darauf hatte nicht bloß das Heimweh, sondern auch die zärtliche Anhänglichkeit an seine Familie bestimmend eingewirkt.

Drei Jahrzehnte lang hatte er die leidige Existenz eines Staatsbeamten zu führen gehabt, der heute da, morgen anderswo, beinahe immer unterwegs ist, keine gesellschaftlichen Beziehungen pflegen, keine Freunde, auf welche er zu zählen vermöchte, sich erwerben kann, weil er von einem Augenblicke zum andern nicht sicher ist, davon scheiden zu müssen. Solches Nomadenleben, das in der Jugend erträglich, war ihm mit einbrechendem Alter und vornehmlich von dem Tage an, wo er, nach dem Verluste seiner Gattin, allein mit seiner Tochter verblieben, unausstehlich geworden.

Wenn er fast zehn Jahre auf seine Ernennung in Condé gewartet hatte, so war es nicht einzig und allein die Stelle eines Schuldirektors, um welche er sich so geduldig beworben, denn er hätte auch anderswo eine solche gleichgute und vielleicht sogar einträglichere erlangen können; sondern alles das, was mit derselben in Condé zusammenhing: die Rückkehr an die Stätte seiner Wiege, die Gesellschaft seiner alten Kameraden, das Familienleben, die Ruhe, die Sicherheit gegen fernere Versetzungen.

Wie viele Pläne hatte er nicht geschmiedet, mit wie vielen Variationen hatte er nicht dieses Thema ausgeschmückt! …

Und sollte er jetzt auf die eine seiner Hoffnungen verzichten, weil er in seiner Tante nicht die Frau, so wie er sie gewünscht hätte, fand?

Bei alledem hatte sie doch auch gute Seiten, diese Tante »Dasunddas«, und diese müßte man in das Auge fassen, nach Gebühr würdigen. Was würde aus dem Familienleben werden, wenn man von seinen Verwandten die Vollkommenheit, die Unfehlbarkeit, heischte!

Vor dieser Ansicht schwand der üble Eindruck, den die Tante auf ihn ausgeübt hatte, sehr rasch dahin.

Zudem war sie ein fröhlicher Gast, griff tüchtig zu, wenn es ihr nichts kostete, beließ ihr Glas nicht voll, und schwatzte, wenn sie den Mund nicht voll hatte, allerlei schnurriges Zeug.

Herr Margueritte, der sie zu seiner Linken hatte, während seine Mutter zu seiner Rechten und seine Tochter ihm gegenüber saßen, fühlte sich als der glücklichste Mensch von der Welt. Seine Augen, von freudiger Rührung schimmernd, wanderten von Mutter zur Tochter und von Tochter zur Mutter, und wenn sie hierbei manchmal auf dem Tafelgeschirr oder auf der Einrichtung des Speisesaales haften blieben, so überkam ihn die Empfindung eines unübertreffbaren Wohlbehagens.

Endlich besaß er ein Heim und um sich diejenigen, die er liebte.

»Wie schade, daß der Onkel nicht mit dir gekommen ist!« bemerkte er plötzlich.

»Und wer hätte denn Haus und Wirtschaft in Obhut nehmen sollen?« fragte die Tante. »Aber ich will dir manchmal deine Vettern senden, wenn es dir nämlich nicht unangenehm ist.«

»Wie kannst du nur ein solches Bedenken hegen!«

Wirklich wäre er glücklich gewesen, auch seine acht Vettern bei Tische zu haben. –

Eine der sogenannten guten Seiten der Tante »Dasunddas« war es, daß sie über einem Vergnügen niemals vergaß, ein Geschäftchen zu machen. Wie wohlig sie sich auch bei der Mahlzeit ihres Neffen, der besten, die sie zeitlebens genossen, befand, dachte sie nur an ihr Holz, ihre Butter, ihre Eier und lauerte auf einen Anlaß, um freundschaftliche Anträge in dieser Beziehung vorbringen zu können.

»Was für eine feine Bewirtung du uns bereitet hast!« sagte sie; »im bischöflichen Palaste dürfte man kaum so ausgezeichnet speisen!«

»Meinst du das wirklich?« rief Herr Margueritte überglücklich aus. »Und du, Mutter?«

»Viel zu gut und viel zu viel ist es!« entgegnete die alte Frau, welche nicht, gleich ihrer Schwägerin, einen Hang zur Feinschmeckerei hatte.

»Nur an einem ist etwas auszusetzen,« fuhr die Tante, auf besagten Anlaß lossteuernd, fort, »und das ist der Äpfelwein; er ist matt, hat keinen Gehalt, nicht einmal eine rechte Farbe. Wer verkauft dir denn diesen Trunk?«

»Ein Landwirt in Saint-Réau, von welchem ihn schon mein Vorgänger bezog.«

»Saint-Réau, schlechter Obstwuchs. Ich behaupte nicht, daß dieser Landwirt nicht ein rechtschaffener Mann sein könne, wenngleich sein Äpfelwein« – sie nahm einen Schluck und schnalzte mit der Zunge – »wenngleich sein Äpfelwein auf mich den Eindruck, daß er gefälscht sei, macht; aber selbst wenn er ihn nicht fälschen würde, wird er nie imstande sein, dir etwas Gutes zu liefern. Wenn es dir recht ist, Neffe, so will ich dich mit Äpfelwein versehen. Du weißt ja, daß in Bezu-Bas das beste Obst in der ganzen Gegend gedeiht, und dann würde das in der Familie, selbstverständlich zum Tageskurse, abgethan werden. Ein guter Äpfelwein ist für junge Leute von großem Belange: der richtet ihnen den Magen ein, stärkt ihn, und dann ißt man auch weniger, wenn man etwas von vorzüglicher Güte trinkt.«

»Also abgemacht, Tante; ich nehme deinen Antrag mit aller Erkenntlichkeit an.«

»Auch deinen Holzbedarf könnte ich dir liefern, wenn du willst; du läßt ja doch den jungen Leuten einheizen, wie?«

»Gewiß.«

»Nun, du weißt besser als ich, daß zwischen Holz und Holz ein großer Unterschied ist; das von Bezu-Bas hat keinen feuchten Boden, ist daher trocken und hart, brennt nicht so schnell zusammen und giebt anhaltende Wärme.«

»Auch das Holz nehme ich von dir, Tante.«

»Und Kartoffeln wirst du wohl auch brauchen, he?«

»Ja und zwar eine beträchtliche Menge.«

»Dir, der du ein Gelehrter bist, muß es ja bekannt sein, daß man nirgends bessere Kartoffeln als in Bezu-Bas haben kann; sie sind mehlig, süßlich und nahrhaft; ein Scheffel von meinen Kartoffeln wiegt zweie von überall anders her auf.«

Nach den Kartoffeln kamen die Eier, die Butter, die Milch, »gute echte Milch, ohne einen Tropfen Wasser, für diese armen Kinder«, die Nüsse, der Käse, die Bohnen an die Reihe; sie rückte sogar mit der Ansicht heraus, daß es für ihn das vorteilhafteste wäre, wenn er das für sein gesamtes Hauswesen nötige Getreide von ihr bezöge, es dann mahlen ließe und das Mehl dem Bäcker gebe; dabei ließe sich viel ersparen.

Wie geneigt aber auch Herr Margueritte, alles ihr abzunehmen, sich erwies, diese Ansicht teilte er nicht, und sie hatte so viel Zartgefühl, nicht weiter in ihn zu dringen; man muß sich ja doch zu bescheiden wissen!

Sie grollte ihm nicht ob seines abschlägigen Bescheides und fand sogar verbindliche Worte, um ihm Komplimente zu schneiden, sie, die nie etwas anderes als Stiche und Püffe den Leuten austeilte!

Was Frau Margueritte betraf, so redete sie gar nichts, sondern versank von Zeit zu Zeit gänzlich in Betrachtung ihres Sohnes, wie wenn sie zu sich sagte: »Ist es denn möglich? Ist dies wohl mein Kind, das ich in dem Herrn Schuldirektor wieder finde?«

Und er, der dieses stumme Anblicken gewahrte und das, was sich darin ausdrückte, wohl verstand, fühlte sein Herz vor Freude und zugleich vom Stolze schwellen: seine Familie bildete sich etwas auf ihn ein. Wenn er zwischen dem, was er gewesen, und dem, was er jetzt war, einen Vergleich anstellte, wenn er den Weg in Betracht zog, den er von dem Tage, an welchem er, der Sohn einer armen Witwe, als kleiner Konviktorist in die Schule eingetreten, bis zu dem Augenblicke, wo er als Leiter dieser Anstalt seinen Fuß dahin setzte, zurückgelegt hatte, so konnte er nicht umhin, auf sich stolz zu sein. –

Man war zum Obste und Backwerke gelangt: er stand vom Tische auf, indem er sagte, daß man nur zugreifen möge; er werde recht bald zurückkommen.

Seine Abwesenheit zog sich jedoch ziemlich lange hinaus; aber endlich ging die Thüre wieder auf und er erschien in der Galatracht eines Schuldirektors: einer schwarzen, mit gelbem gewässertem Seidenstoffe eingefaßten Robe, gelbem Gurt, gelbem, mit Hermelin verbrämtem Übermantel und gelber, mit schwarzem Samt umränderter Mütze.

Die zwei Frauen vom Lande starrten sprachlos vor Bewunderung ihn an.

»O mein Sohn!« sagte endlich Frau Margueritte, ihrer Verzücktheit mündlichen Ausdruck gebend, »wie prächtig siehst du aus!«

Er hatte sich in seiner Herrlichkeit zeigen wollen.

 

4.

Herr Margueritte hatte wieder seinen Platz an der Tafel eingenommen. Mit der Mütze auf dem Haupte, die Ärmel seiner Robe hinaufgeschlagen, schlürfte er seinen Kaffee voll Behagens, wonneselig, trunken von Glück, von seinem eigenen, wie jenem der drei Personen, die ihn umgaben und deren Blicke, von Rührung umschleiert oder von Freude strahlend, an ihm hingen: seiner Mutter, deren Augentrost er war und die mit Zuversicht in die Zukunft blickte, sie, die seit sechzig Jahren in Sorgen um den nächsten Tag gelebt; seiner Tochter, welche das Wonnegefühl des Vaters innigst beglückte; endlich der Tante »Dasunddas«, welche vergnügt den Gewinn, der ihr aus den Lieferungen erwachsen würde, überrechnete und dabei ein köstliches Essen, das ihr nichts gekostet hatte, in aller Gemächlichkeit verdaute.

»Nun, Mutter,« sagte Herr Margueritte, nachdem eine ziemlich lange Frist in stiller Seligkeit verflossen war, »hättest du das wohl gedacht, als du an meiner ersten Tuchjacke, die du aus dem Rocke meines armen Vaters zugeschnitten, um mich anständig gekleidet in die Schule zu schicken, nähtest?«

»Hat mir viel Leid verursacht diese Jacke! Ich wollte, daß du deinen Kameraden nicht nachstündest! Und damit hatte es seine verzweifelte Schwierigkeit!«

»Und sieh, eben darin, weil ich nicht so, wie die anderen sein konnte, weil ich weniger, als sie in so vielfacher Hinsicht war, lag es, daß ich mich zu ihnen hinan arbeiten, sie durch Lerneifer, angestrengten Fleiß übertreffen wollte. Dieses Streben hat mich vielleicht zu dem, was ich bin, gemacht. Mehr als einmal habe ich wegen meiner abgetragenen Jacke und meiner geflickten Schuhe Zurücksetzungen und Spötteleien auszustehen gehabt; doch alles dies war vergessen, als man mir einen Ehrenplatz in der Schule anwies und mich der Herr Direktor mit: ›Augustin Margueritte, unser erster Prämiant!‹ der ganzen Versammlung im Prüfungssaale vorstellte. Ich habe sie lange getragen, diese armselige Jacke, und vielleicht deshalb einer unwillkürlichen Anwandlung von Eitelkeit soeben nachgegeben, indem ich mich in dieses Gewand hüllte. Wohlan, die schlimmen Tage sind vorüber; die guten nehmen ihren Anfang!«

Ein Gedanke quälte die Tante »Dasunddas«, seit sie sich zu verschiedenen Lieferungen anheischig gemacht hatte. Wie stand es um die Zahlungsfähigkeit ihres Neffen? Wie würde sie zu ihrem Gelde kommen? … Schuldirektor zu sein, das ist recht schön; aber bares Geld oder sichere Bürgschaften sind weit besser! Sie hielt den Augenblick für günstig, um eine Frage, die sich ihr schon mehrere Male auf die Lippen gedrängt hatte, zu stellen:

»Also, lieber Neffe, deine Verhältnisse haben sich gut gestaltet?«

»Sie werden sich gut gestalten.«

»Ich will sagen: Du hast Geld bei Seite gelegt?«

»Ich habe meinen Lebensunterhalt bestritten, meine Familie erhalten.«

»Und dabei aber auch Ersparnisse gemacht?

»Solche habe ich nicht gemacht.«

»Hm!«

Und über ihr heiteres Vollmondsgesicht zog ein Wolkenschatten.

»Solche habe ich nicht machen können; denn das, was ein Professor verdient, ist nicht bedeutend.«

»O es fiel mir auch nicht ein, dir darüber einen Vorwurf machen zu wollen; ich habe nur aus freundschaftlicher Teilnahme gefragt; ich begehre durchaus nicht, den Stand deiner Verhältnisse kennen zu lernen.«

»Diese sind sehr einfach, und ich habe keine Ursache, sie dir zu verhehlen. Ich besitze nichts, denn, wie ich dir eben sagte, ist das, was ich bis zum heutigen Tage verdient habe, zur Deckung unserer Lebensbedürfnisse verbraucht worden. Ich würde nicht einmal die Schuldirektorstelle in Condé, um welche ich mich so sehnsüchtig bewarb, erlangen haben können, wenn nicht einer meiner Freunde mir zu Hilfe gekommen wäre. Ein Professor hat nur der Stelle, die er einnehmen will, würdig zu sein; nicht so verhält es sich aber bei einem Schulleiter, der auch die Verwaltung zu führen hat, und folglich gewisse in Geld bestehende Bürgschaften leisten muß.«

»Das ist auch ganz in der Ordnung,« bemerkte die Tante, die hierbei an ihre Lieferungen dachte; »denn wenn man etwas einkauft, muß man es auch bezahlen können.«

»Eben diese Bürgschaften hat mein Freund für mich, der ich sie nicht besaß, bereitwilligst dargeboten, und sowie ich ihm meine Stellung verdanke, werde ich ihm auch das Vermögen, das diese mir einbringen dürfte, zu verdanken haben.«

»Du hoffst also dir ein Vermögen zu erwerben?« fragte die Tante, die ihren Gedanken mit aller Zähigkeit verfolgte und ganz genau zu ermitteln suchte, mit wem sie den Handel einginge.

»Oh, ein bescheidenes Vermögen! Aber ich kann doch, wenn die Dinge bleiben, wie sie gegenwärtig sind, alljährlich sechs- bis achttausend Francs zurücklegen; ja wenn ich sie, wie ich hoffe, noch in besseren Gang bringe, würden zwölf- oder fünfzehntausend sich an Ersparnissen ergeben.«

»Höre, Neffe, das ist ein ganz schönes Sümmchen; so viel kann man bei der Feldwirtschaft nicht herausschlagen.«

»Ich bin fünfzig Jahre alt. Wenn ich noch fünfzehn Jahre wirke und schaffe, so könnte ich mich demnach mit einem Kapitale von 200,000 Francs in den Ruhestand setzen. Davon werde ich meiner lieben Tochter die Hälfte geben, und mit der anderen mir verbleibenden werde ich vollkommen befriedigt bis zu dem Tage, von dem an ich nichts mehr benötige, die Zeit meines Alters verleben.«

»Du bist doch seelengut!« rief die alte Mutter aus.

»Seelengut, weil ich sage, daß ich Helene mit 100,000 Francs aussteuern werde; um seinen Kindern etwas zu geben, bedarf es nicht der Gutherzigkeit, man bereitet damit sich selbst eine Freude. Das ist ja ganz natürlich, ist angeboren. Und ich möchte eigentlich etwas Außerordentliches für sie thun, ein Opfer bringen können, um ihr zu beweisen, wie wert sie mir ist.«

Rasch aufstehend eilte Helene auf ihren Vater zu und umschlang ihn zärtlich, indem sie ihm, die Miene eines verwöhnten Kindes annehmend, die Hand auf den Mund legte.

»Willst du wohl nicht derart sprechen,« sagte sie.

Doch das hielt ihn nicht ab.

»Ihr kennt nicht meine teuere Tochter; Ihr wißt nicht, wie gut, liebreich, zärtlich, hingebungsvoll, sanft und fügsam sie ist.«

»Vielleicht bin ich all das nur gegen dich,« entgegnete Helene lachend, »und ein großes Verdienst ist es doch nicht, einem so guten Vater volle Ergebenheit zu beweisen, ihm willig zu gehorchen.«

»Wenn ich denke,« fuhr Herr Margueritte fort, »daß ich, bevor sie das Licht des Tages erblickte, durchaus einen Knaben ersehnte, und wie betrübt ich war, als der Arzt mir zurief: Ein Mädchen! Ich habe erst mit dieser Thatsache mich abzufinden begonnen, als ich sah, daß das kleine Ding blond war.«

»Weil du daraus die Berechtigung ableitetest, mich Helene zu nennen?« scherzte sie.

»Gleichwohl war es sehr unvorsichtig; denn damals deutete nichts darauf hin, daß du ein so schönes Mädchen werden würdest, wie du geworden bist.«

»Ja, schön ist sie!« bekräftigte die Tante. »Es ist wahrlich keine Lüge, wenn man sie eine Schönheit nennt; das sieht ein jeder, der gesunde Augen im Kopfe hat.«

Helene schnitt ihrer Tante das Wort ab, indem sie ihr ein Gläschen Anisette anbot.

»Was, noch eins? Nun, meinetwegen; aber es ist das letzte. Ein ausgezeichneter Liqueur! Hier findet man einen von solcher Güte nicht. Du mußt mir sagen, woher du ihn hast, damit ich eine Flasche, wenn möglich, kommen lasse. Nicht für mich, sondern für meinen armen Franz; der wird ihm den Magen wärmen. Der arme Mann! Über all den guten Dingen, wovon er nichts hat, darf ich ihn nicht vergessen!«

»Möchtest du uns nicht den Gefallen thun, eine Flasche davon mitzunehmen?« fragte Helene.

»Ohne Umstände zu machen, sage ich ja, doch unter der Bedingung, daß wir einen Tauschhandel machen: Ich werde dir dafür einen Magenbittern schicken und du sollst mir dann sagen, ob der mir nicht geraten ist.«

»Also einen Sohn ersehnte ich mir!« nahm Herr Margueritte wieder das Wort. »Ich hoffte, ihn zu lehren, was ich weiß, einen Mitarbeiter an ihm zu erhalten, ihn mir als Gefährten und Freund zu erziehen. Damals ersah ich nichts anderes in der Vaterschaft, welche ein schwächliches und sehr unklares Gefühl, wenn man darin noch ein Neuling ist. Dieses Kind hat mich gelehrt, daß sie noch anderes bedeute. Ich habe Leute über das Lächeln eines Kindes in helle Bewunderung geraten sehen, und das, ich gestehe es, war mir sehr lächerlich erschienen; doch als ich selbst das Lächeln dieser Kleinen zu schauen bekam, da war es mehr als Bewunderung, was ich empfand: eine tiefe Rührung, ein Gemisch von stolzer Seligkeit und zuversichtlicher Hoffnung. Mich däuchte, daß die Zukunft gesichert sei und daß, was auch kommen möge, ich, so lange ich meine Tochter hätte, nicht ganz und gar unglücklich werden könnte. Und in der That, ich bin dies nicht geworden … wenigstens nicht im vollsten Maße, bis zur Verzweiflung. Habe ich auch meine Gattin, welche ich innigst liebte, verloren; in Helene habe ich die Kraft, dieses Unglück zu ertragen, gefunden. Sie war da, an meiner Seite; ihre zärtliche Liebe umgab mich, hielt mich aufrecht. Ich habe in meinem Leben viele Widerwärtigkeiten, Kränkungen auszustehen gehabt, ich bin wie fast jedermann oftmals zurückgesetzt, ungerecht behandelt, hintergangen worden und mehr als einmal bin ich entrüstet oder entmutigt heimgekommen; dennoch haben niemals die Entrüstung oder Entmutigung vor dem Lächeln dieses Kindes Stand gehalten. Ein Knabe hätte – so werdet Ihr sagen – die nämliche Wirkung auf mich ausgeübt. Ich glaube das nicht. Allerdings würde er mich zerstreut, meinen Geist beschäftigt haben; aber schwerlich würde er mein Herz gerührt und ausgefüllt haben, wie dieses wir so zärtlich zugethane Mädchen; denn durch ihre zärtliche Liebe hat Helene mich gewonnen, hält sie mich in unlockerbaren Banden fest; ihrer Zärtlichkeit wegen habe ich sie so unsäglich lieb.«

Er sprach mit Glut, mit hinreißendem Schwunge, wie ein Mann, der glücklich sich fühlt, die langersehnte Gelegenheit zu finden, um endlich das, was er auf dem Herzen hat, zu offenbaren.

»Schon lange wollte ich« – äußerte er sich weiter – »all dies vor Helenen sagen und dennoch brachte ich es nicht über »reine Lippen, wenn wir unter vier Augen uns befanden; hierzu war aber nie ein günstigerer Zeitpunkt als der gegenwärtige, der uns zum erstenmale in der Familie vereint; es ist meine Dankesschuld, die ich hiermit abzutragen beginne.«

»O Vater! Wie kannst du nur so reden!« rief Helene aus. »Verdanke ich denn nicht dir alles? Was habe ich für dich gethan?«

»Du hast mich glücklich gemacht. Ist das nichts?« Und mit thränenfeuchten Augen blickte er sie an.

»Aber wenn es löblich, mit der Abtragung seiner Schulden zu beginnen« – fuhr er fort – »so darf man nicht auf halbem Wege stehen bleiben, muß man sie vollständig tilgen, und auch das wird mir hoffentlich gelingen. Ebendeshalb habe ich so sehnlichst meine Versetzung nach Condé gewünscht; denn hier, wie ich bereits erwähnte, kann ich mir ein kleines Vermögen erwerben.«

»Wirst du auch erwerben, Neffe; niemand wünscht dir dies aufrichtiger, als ich; das darfst du mir glauben.«

»Es hängt dies nur von der Dauer meines Lebens ab.«

»Und warum solltest du, mein Sohn, kein längeres Leben zu erhoffen haben?« fragte die Mutter.

»Ich habe nur bemerkt, worauf es ankommt, nicht einen Zweifel ausgedrückt. Warum sollte ich nicht noch zehn Jahre leben können?«

»Noch zwanzig Jahre!« rief die Tante »Dasunddas« aus.

»Ich bin,« sagte die Mutter, »dreiundsiebzig Jahre alt und ich spüre noch gar keine Mahnung, mich zur letzten Reise vorbereiten zu sollen; das kann ich dir versichern. Wenn dein Vater nicht bei einem Sturze verunglückt wäre, würde er auch noch auf der Welt sein. Mein Vater und meine Mutter sind über achtzig Jahre alt geworden, und deren Eltern sind gar uralt gestorben.«

»Es ist nicht nötig, daß Ihr mir Mut einredet; ich habe keine Unruhe oder Angst. Ich bin von kräftiger Natur und das Leben, welches ich führe und stets geführt habe, ist nicht derart, daß es mich unter die Erde bringen muß. Ich habe mich immer einer guten Gesundheit zu erfreuen gehabt, und die kleinen Anfälle, die ich bisweilen erlitten, sind bedeutungslos.«

»Was für Anfälle?« fragte die Mutter.

»Nichts oder so viel wie nichts. Ich habe wohl manchmal bald da bald dort flüchtige Schmerzen, doch traten sie nie so heftig auf, daß ich mich zu Bette legen mußte; auch habe ich nach übermäßiger Arbeit, langen Nachtwachen, oder nach eiligem Gehen an starkem Herzpochen zu leiden; aber das ist nicht der Rede wert.«

»Ganz richtig,« bedeutete die Tante, welche in ihrem ganzen Leben sich nicht eine Secunde lang unwohl gefühlt, dennoch aus Furcht, »all das und dann noch das und das« verlassen zu müssen, sich jeden Augenblick in Todesgefahr schwebend vermeinte, und ihr Geld, an dem sie doch so zähe hing, in Besuchen bei den Ärzten, die in die Gegend kamen, und auf Wallfahrten zu allen Heiligen in der Umgebung reichlich verausgabte.

»Was das Bedenklichste in meinem Zustande,« – fuhr Herr Margueritte fort – »wenn man schon das Wort: bedenklich in dieser Beziehung gebrauchen darf, gewesen, war, daß ich mehrmals das Herz schlagen fühlte, wie wenn es mir die Brust zersprengen wollte, und ich Tags darauf, wenn diese Beschwerde vorüber, nicht mehr der nämliche Mensch war. Es fehlte mir alle Arbeitslust, alle Geschicklichkeit versagte mir, ich war gleichgiltig gegen alles, fühlte mich ganz herabgestimmt, ohne moralische, geistige und körperliche Triebkraft, ich verdaute schlecht, schlief nicht viel, die Glieder wurden mir pelzicht, meine Rede ward schleppend.«

»Du hast doch hierüber ärztlichen Rat eingeholt?« fragte die Mutter.

»O gewiß,« sagte Helene.

»Leichte Anfälle von Rheumatismus seien es, sagten übereinstimmend die Ärzte, die ich hierüber zu Rate gezogen. Wer hat solche denn nicht? Man denkt an so etwas nur, wenn man daran leidet, und seit langer Zeit leide ich nicht daran. Ich kann demnach hoffen, ja, darf vertrauensvoll voraussetzen, daß mein sehnlichstes Trachten in Erfüllung gehen und daß die zehn oder fünfzehn Jahre, die hierzu erforderlich sind, mir beschieden sein werden.«

»Setze nur keinen Zweifel darein, Neffe!«

»Das thue ich ohnehin nicht; ich meine sogar, daß diese Anzahl von Jahren mir von Rechtswegen gebühre und daß ich bestohlen sein würde, wenn ich sie nicht erreichte. Sollten aber auch die fünfzehn Jahre, auf welche ich rechne, mir nicht beschieden sein, werde ich doch immerhin so viele überdauern, daß es mir vergönnt ist, Helene nicht in Not zu hinterlassen.«

»Aber Vater, lassen wir das!«

»Und warum? Deshalb stirbt man nicht früher! Übrigens wenn ich selbst morgen dahinscheiden sollte und dir daher nichts hinterließe, so würdest du dennoch dich in keiner Notlage befinden, nicht Nahrungssorgen ausgesetzt sein.«

Von der Tochter wandte er sich zur Mutter mit den Worten:

»Sage, ist dieses Mädchen nicht hinreichend schön, um noch eines anderen Vorzuges als ihrer Schönheit zu bedürfen? Aber sie ist auch eine Gelehrte. Ich habe ihr einen Unterricht, eine Ausbildung gegeben, selbstverständlich zwar nicht wie einem Knaben, doch weiß sie weit mehr, als das weibliche Geschlecht gemeiniglich zu lernen pflegt; sie hat Befähigungsnachweise mancherlei Art.«

»Das heißt, Großmama,« warf Helene lächelnd ein, »daß ich Vorsteherin einer Kleinkinderbewahranstalt oder Oberlehrerin an einer Volksschule oder eine Erzieherin werden könnte.«

»Allerdings hoffe ich,« beeilte Herr Margueritte hinzuzusetzen, »daß sie zu alldem nicht ihre Zuflucht nehmen müssen wird; aber für den Fall, daß ich ihr plötzlich entrissen würde, wäre sie nicht verloren: sie ist imstande, ihr Brot zu verdienen.«

»Und das ist die Hauptsache!« urteilte die Tante salbungsvoll; »wenn man verdienen kann, verdient man auch; das ist ein Naturgesetz.«

»Zudem besitzt Helene eine Mitgift …«

»Ah! Also doch?« kicherte die Tante heraus.

»Ich meine: ihre Schönheit. Wenn für den Mann das Wissen die allerwertvollste Mitgift ist, so ist selbe für das Weib die Schönheit. Was ist nicht einem Manne von reichem Wissen, von hoher geistiger Begabung erreichbar? Welche Stellung kann nicht ein Weib von hervorragender Schönheit beanspruchen?«

»Du rechnest also auf eine glänzende Heirat?« sagte die Tante.

»Darauf rechne ich nicht, aber ich sage, daß eine glänzende Heirat für Helene möglich wäre, wenn sie eine solche machen wollte; ich sage sogar, daß sie nur zu wollen hätte.«

Helene erwiederte nichts; aber über ihr Antlitz glitt ein Lächeln, welches klar besagte, daß sie die schwärmerischen Illusionen ihres Vaters keineswegs teilte und daß sie nicht glaubte, nur wollen zu dürfen, um eine glänzende Heirat zu machen.

»Meint aber nur nicht,« fuhr Herr Margueritte fort »daß ich aus Ehrgeiz eine glänzende Heirat für meine Tochter erstrebe; die Wahrheit, im Gegenteile, ist, daß ich weit entfernt, nach einer solchen Umschau zu halten, vielmehr von ihr, wenn sie sich darböte, Umgang zu nehmen trachten würde, denn ich glaube nicht, daß das Glück auf den Höhen des Lebens zu finden ist. Dort ist man zu vielen Gefahren bloßgestellt, und was ich meiner Tochter vor allem wünsche, ist das Glück, ist, daß sie ihren Gatten liebt und von ihm geliebt werde, ist, daß sie in innigster Gemeinsamkeit leben, keine andere Sehnsucht und Freude hegen, als sich gegenseitig glücklich zu machen. Übrigens will ich, da wir schon auf diesen Gegenstand zu sprechen gekommen sind, Euch nicht verschweigen, daß ich, wenngleich noch nichts beschlossen ist, einen Gatten, der das Glück, das ich ihr wünsche, ihr auch verschaffen soll, in das Auge gefaßt habe.«

»Ist's jemand von hier?« fragte rasch die Tante, unfähig, ihrer Neugierde einen Zügel anzulegen.

»Ich sage dir, daß noch nichts beschlossen ist; ja, die Dinge sind nicht einmal so weit vorgerückt, daß ich darüber mich zu äußern vermöchte; es ist einstweilen nur ein Plan; wenn er eine feste Gestaltung annimmt, wirst du, Tante, eine der ersten sein, die hiervon erfahren.«

Die Tante »Dasunddas« mußte trotz ihrer Begierde, mehr in Erfahrung zu bringen, es hierbei bewenden lassen. Als sie vom Tische aufstand, suchte sie Helene zu einem weiteren Geständnisse zu vermögen; allein diese verschanzte sich hinter dem, was ihr Vater gesagt hatte.

»Ist mindestens eine baldige Aussicht?« fragte die Tante.

»Wie soll ich dir sagen können, wann es sein wird, da ich nicht einmal weiß, ob es sein wird?«

Die Stunde der Heimfahrt war gekommen. Die Tante ersuchte, daß man Cocotte einspanne. Nachdem sie noch versichert, nichts von dem, was sie ihrem Neffen zu liefern habe, zu vergessen, stieg sie in den Wagen und fuhr, mit der Peitsche, jedoch ohne das Pferd zu berühren, schnalzend, im Trabe davon.

Als das Hofthor wieder geschlossen war, trat Frau Margueritte zu ihrem Sohne mit einer gewissen Befangenheit, welche diesem entging, wohl aber von Helene bemerkt wurde.

»Wünschest du etwas, Großmama?« fragte sie.

»Ich möchte ein paar Worte mit meinem Sohne sprechen,« erwiderte diese.

Helene wollte daraufhin sich entfernen, doch die Großmutter hielt sie zurück.

»Bleibe nur, mein Kind! Was ich dir, lieber Sohn, zu sagen habe, bezieht sich auf deine Tante und auf die Lieferungen, welche sie dir zu machen hat. Dabei wirst du gut Acht geben müssen.«

»Sei unbesorgt; die Preise werden ja nach dem Tageskurse gestellt.«

»Nicht bloß des Preises wegen will ich dir eine Andeutung geben.«

»Auch die Qualität werde ich überwachen.«

»Es handelt sich aber auch noch« – sie hielt einen Augenblick inne, indem sie um sich blickte – »es handelt sich auch um die Quantität. Nicht um sie anzuschuldigen, rede ich davon; aber es wäre unrecht von mir, wenn ich nicht darauf dein Augenmerk lenkte!«

»Du, arme Mutter, was hast du bei ihr ausstehen müssen, du, die du so grundehrlich und so zartfühlend bist!«

»Du weißt ja: die Gewinnsucht verwirrt ihr ganz den Sinn; ohne das wäre sie kein böses Weib; aber wenn es sich um ihren Vorteil handelt, existiert für sie sonst gar nichts mehr, kümmert sie sich weder um Verwandte, noch um ihre Kinder, nicht einmal um unseren Herrgott mehr.«

»Ich werde mich schon schützen und es derart einrichten, um ihr von dem ersten Tage an zu beweisen, daß auch ich auf meinen Vorteil sorglich bedacht bin und daß ich ihn zu wahren verstehe. Du wirst mir dabei behilflich sein?«

»O ich … mein Sohn …«

»Habe doch jetzt keine Scheu mehr vor ihr! Was hast du denn zu befürchten? Wir sind für immer vereint und du wirst von nun an kein anderes Heim als das meinige haben. Wir drei werden glücklich mitsammen leben bis zu dem Tage, wann wir vier, dann fünf, dann sechs sein werden, du deine Urenkel zu behüten haben wirst. Denn ich muß dir sagen, was ich vor der Tante »Dasunddas« zu erzählen nicht ratsam befand: wenn die Heirat, welche ich für Helene sehnlichst wünsche, zustande kommt, wird mein Schwiegersohn bei uns wohnen und werden wir uns nicht mehr voneinander trennen. Du siehst also, daß du dich um die Tante nicht mehr zu kümmern hast und, falls du es für nötig halten solltest, für mich einzustehen, mein Interesse zu verteidigen, du dies ohne alle Umschweife oder Rücksichten zu thun vermagst.«

 

5.

Etwa eine Stunde nach der Abfahrt der Tante »Dasunddas« kam der Portier zu Herrn Margueritte, der wieder seine Arbeiter beaufsichtigte, mit der Meldung, daß man ihn zu sprechen wünsche.

»Wer? Sind es Eltern?« fragte Herr Margueritte, der an die Wiedereröffnung der Schule nach den Ferien dachte.

»Es ist Herr Radou,« antwortete der Portier.

Herr Margueritte öffnete im ersten Stockwerke die Thüre seiner Wohnung, worin sich im selben Augenblicke seine Mutter und seine Tochter befanden.

»Helene!« rief er auf der Schwelle stehen bleibend hinein.

Helene war mit ihrer Großmutter im Zimmer der letzteren: auf den Ruf ihres Vaters eilte sie heraus.

»Benötigst du mich?«

»Radou ist soeben angekommen.«

Herr Radou, der in dem Salon, wo man gewöhnlich die Eltern der Schulkinder empfing, harrte, war ein schöner junger Mann zwischen vier- und fünfundzwanzig Jahren, der auf seine äußere Erscheinung sehr viel, vielleicht sogar zu viel bedacht war: er trug einen schwarzen nicht zugeknöpften Überzieher, eine herzförmig ausgeschnittene Weste, welche die gestickte Brust seines Hemdes sehen ließ, lichtgraue Beinkleider, gelbe Handschuhe von Ziegenleder und seine sehr steifen Manschetten bedeckten die Hälfte der Hand. Während der ganzen Zeit, als er sich allein befand, betrachtete er, anstatt die auf dem Tische liegenden Bücher oder die an den Wänden hängenden eingerahmten Tafeln, welche Schönschreibmuster, Feder- oder Bleistift-Zeichnungen wiesen, eines Blickes zu würdigen, sein liebes Ich im Spiegel und fuhr sich, nachdem er von seiner Rechten den Handschuh abgestreift, mehrere Male mit den Fingern in die gekräuselten Haare, um die Löckchen auseinander und empor zu richten; nicht minder oft streckte er die entblößte Hand über den Kopf in die Höhe und schüttelte sie heftig, damit das Blut, das sie rötete, zurücktrete, und je weißer sie wurde, mit desto größerem Wohlgefallen besah er sie.

Er mochte zum vierten oder fünften Male und zwar mit stets gesteigertem Vergnügen sich derart beschäftigt haben, als die Thür des Salons aufging. Sofort hiervon, jedoch ohne die mindeste Verlegenheit, ablassend, trat er, seine rechte Hand, auf die er mit einem Lächeln der Befriedigung, denn sie war weiß, noch einmal blickte, ausstreckend, Herrn Margueritte entgegen.

»Wie, Sie, mein lieber Radou,« sagte dieser in einem herzlichen Tone.

»Sie erwarteten mich wohl nicht so bald?«

»Allerdings nicht.«

»Ich wollte einige Zeit für mich haben, um vor der Wiederaufnahme des Unterrichtes mich hier ein wenig einzuleben. Nach Ihrem Befinden erkundige ich mich gar nicht, denn an Ihrem blühenden Aussehen erkennt man sofort, daß Sie sich stets ungestörter Gesundheit zu erfreuen haben; aber wie befindet sich Fräulein Helene?«

»Ganz wohl; Sie werden sie sogleich sehen, denn Sie speisen bei uns.«

»Aber …«

»Kein Aber! Sie kommen in Condé an, kennen hier niemanden als uns, gehören uns an.«

»Dann unterwerfe ich mich in Anbetracht der pflichtschuldigen Disziplin … und auch im Hinblick auf mein Vergnügen!«

Wenn schon diese Rede anspruchsvoll klang, die Art, womit sie gethan wurde, war es noch mehr; jedoch Herr Margueritte schenkte offenbar nur dem Sinne der Antwort selbst eine Beachtung: seine Einladung war angenommen, das genügte ihm, stellte ihn zufrieden.

»Schön und gut!« sagte er. »Sie wissen, daß ich aus Condé bin; begehren Sie demnach von mir alle Auskünfte, welche Ihnen nötig sein können.«

»Bevor ich Sie um irgend etwas frage, muß ich Ihnen meinen Dank abstatten.«

»Sie haben ihn mir bereits schriftlich ausgedrückt.«

»Das ist durchaus nicht genügend: Ich muß, ich will Ihnen denselben mündlich wiederholen.«

»Wenn es Ihnen angenehm gewesen, nach Condé zu kommen, für mich ist es eine Annehmlichkeit, Sie hier zu haben, und zudem noch ein Vorteil. Wo würde ich eine Lehrkraft von Ihrer Tüchtigkeit gefunden haben? Ich will diese Schule in Ansehen bringen und nichts sparen, auf daß der Unterricht in allen Fächern jenem auf den besten Lyceen nicht nachstehe; hierzu sind Sie mein Mann, und Sie ersehen daraus, daß ich, indem ich mich um Sie bewarb, mein Interesse im Auge gehabt habe. Hierauf könnte ich mich in meiner Antwort beschränken, doch würde sie nicht vollständig sein. Zu diesem berufsmäßigen Grunde gesellte sich ein anderer, persönlicher, mein lieber Radou …«

Indem er dies sagte, streckte Herr Margueritte seinem lieben Radou die Hand hin, und dieser, der sie sofort ergriff, hielt sie im innigen Drucke fest.

»Als Sie vor einem Vierteljahre,« fuhr Herr Margueritte fort, »mir Ihre Absichten mitgeteilt …«

»Meine Hoffnungen, vielmehr meine Träumereien,« unterbrach ihn Radou.

»Damals habe ich Ihnen entgegnet, daß mehrere Gründe mich abhielten, meine Tochter schon zu verheiraten: vor allem ihr Alter, denn bei mir ist es eine festgewurzelte Überzeugung, daß man, wofern nicht gebieterische Motive vorhanden sind, ein junges Mädchen nicht zu früh verheiraten soll, daß es in jeder Hinsicht klug ist, hiermit, bis es das zwanzigste Lebensjahr erreicht hat, zu warten; sodann meine Lage, welche mir nicht erlaubte, mein Kind so, wie ich es wünschte, auszustatten. Sie selbst haben die Triftigkeit dieser Gründe anerkannt.«

»Ich habe mich Ihrem in so bestimmter Weise ausgedrückten Willen gefügt; denn für mich waren diese Gründe nicht entscheidend, gleichwie selbe es für Sie waren, insbesondere jener, welchen Sie aus Ihrer Lage hergeleitet.«

»Kurz, mein Freund, es ist zwischen uns vereinbart worden, daß ich, ohne Ihre Werbung abzulehnen, sie auch nicht annahm, das will sagen, daß wir abwarten sollten, nicht wahr? Indessen würden Sie meine Tochter besser kennen zu lernen vermögen, würden Sie mit sich zu Rate gehen und ergründen, welche Gefühle sie Ihnen wirklich eingeflößt hat; ob Sie bloß durch ihre Schönheit – was nicht hinreichend, wenn es sich um ein Weib, das man heiraten will, handelt – zu ihr hingezogen worden sind, oder ob Sie eine ernste Neigung, eine wahre Liebe und tiefe Achtung, worin einzig und allein die festen Grundlagen einer guten Ehe bestehen, für sie hegen. Andererseits würde meine Tochter, welche für Sie nur eine warme Teilnahme empfindet, auch Sie besser kennen lernen und aus dieser Bekanntschaft jene Achtung und jenes Vertrauen, worauf ich bei beiden Teilen gleichen Wert lege, schöpfen. Mit einem Worte: wenn auch zwischen uns nicht das, was von der Geistlichkeit ein Heiratsversprechen genannt wird, stattgefunden hat, so wurde mindestens ein Heiratsplan gefaßt. Damit dieser Plan aber einem guten Ende zugeführt werden könnte, galt es als eine Hauptbedingung, daß wir uns zu sehen und einen näheren Umgang zu pflegen, in einer gewissen Vertraulichkeit mit einander zu leben vermöchten. Wenn Sie nun im Westen des Landes geblieben oder nach dem Süden gegangen wären, während wir im Osten unseren Aufenthalt zu nehmen hatten, wäre solche Vertraulichkeit unerreichbar geblieben. Dies hat mich bestimmt, Sie zu befragen, ob es Ihnen paßte, nach Condé versetzt zu werden, und eben deshalb habe ich mich mit allen Kräften für Ihre hiesige Ernennung eingesetzt, nicht bloß als Vorstand dieser Schule, sondern auch als Vater.«

»Und an den Vater mehr noch, als an den Schulvorstand richte ich meinen Dank.«

»Lassen Sie uns hiervon nicht weiter sprechen! Sie sind nun in Condé, wir werden den näheren Umgang, den ich wünschte, pflegen können. Wenn nach einer gewissen Probezeit Sie noch immer die nämlichen Gesinnungen hegen, wenn andererseits in Helene die Zuneigung zu einem zärtlicheren und ernstlicheren Gefühle sich entwickelt, dann werden wir unseren Heiratsplan wieder aufnehmen und geschäftsmäßig verhandeln. In diesem Augenblicke stehen wir beide auf dem nämlichen Punkte, das heißt, daß weder Sie noch ich ein Vermögen besitzen, und daß Sie nicht mehr, als ich, eine begründete Aussicht, jemanden zu beerben, haben.«

»Ich habe meine Stellung, welche sich verbessern wird.«

»So wie ich die meinige habe, die auch einer Verbesserung entgegengehen und mir vergönnen wird, meiner Tochter eine Mitgift zu geben. Da nun das Wesentlichste zwischen uns gesagt und festgesetzt ist, werde ich Helene kommen lassen; sie wird sehr erfreut sein, Sie zu sehen.«

Während Herr Margueritte einem Diener Aufträge erteilte, besah sich wieder der junge Professor im Spiegel und schwenkte, nachdem er einige Löckchen seines schwarzen Haares zurecht geschoben, neuerdings seine Hand, um sie blässer zu machen.

Helene säumte nicht, zu kommen; aber wenn sie erfreut war, denjenigen, der sie zur Gattin wünschte, zu sehen, so war es eine sehr verborgen gehaltene, sich durch nichts verratende Freude. Sie streckte ihm bei ihrem Eintritte die Hand entgegen und mit einem reizenden Lächeln lohnte sie die auserlesenen Artigkeiten, die er an sie richtete; doch weder in ihrem Tone noch in ihrem Blicke ließ sich etwas, das von Liebe sprach, erkennen.

Wie lange auch Radou seinen Besuch hinausdehnte, bewahrte sie eine stete Gemütsruhe, unterhielt sie sich mit ihm, wie sie es mit einem guten Bekannten gethan haben würde. Offenbar war noch ein weiter Weg von dieser Zuneigung bis zu dem zärtlichen Gefühle, von welchem ihr Vater gesprochen hatte.

Und dennoch schien Radou entzückt zu sein.

Aber war er mit Helene so sehr zufrieden, oder war er es wohl gar mit sich selbst?

 

6.

Seit einem Monate hatte der Unterricht in allen Klassen der Schule begonnen und nur voll Lobes äußerte man sich über den neuen Direktor in der Stadt.

Er hatte sowohl die Väter als die Mütter für sich eingenommen und stand, wiewohl er sich bei dem Bürgermeister und der Gemeindevertretung der größten Achtung und Beliebtheit zu erfreuen hatte, dennoch auf keinem schlechten Fuße mit der Geistlichkeit überhaupt und dem Bischofe insbesondere, ohne daß er nach der einen oder anderen Seite hin seiner Stellung etwas vergeben oder irgendwie gegen seine Überzeugungen gesündigt hätte.

Auch Helene bekam von diesen Lobeserhebungen ihr Teil, und wenn ihre Schönheit ihr auch mehr als einen neidischen Ausfall zugezogen, schützten sie die Schlichtheit ihres Betragens, ihre Leutseligkeit im Umgange, die Milde ihres Blickes wider Eifersucht und Verlästerung. Was konnte man auch gegen sie sagen? Man fand nichts.

Das Leben zeigte sich für beide im günstigsten Lichte und die Hoffnungen, mit welchen Herr Margueritte sich bei seinem Eintreffen in Condé geschmeichelt hatte, schienen sich zuversichtlich erfüllen zu müssen.

Aus der Gegenwart ließ sich auf die Zukunft schließen.

Die dreißig Jahre seiner Mühsal und Unsicherheit waren vergessen; jetzt hatte er nur geradeaus und in angenehmen Verhältnissen seinen Weg zu machen, sicher, an sein Ziel, das Erwerbung von Wohlhabenheit und Begründung des Glückes seiner Tochter war, zu gelangen.

Hierdurch gewann er eine Gemütsruhe, eine Heiterkeit der Laune, wie er nie zuvor besessen: er war nicht mehr der barometerartige Mensch, der er in den letzten Jahren so oft gewesen, mit jedem Witterungswechsel in eine andere Stimmung versetzt, allen Eindrücken zugänglich, äußerst reizbar; jetzt schlief er mit einer vergnügten Miene ein und erwachte er mit einem Lächeln um die Lippen. Nie, soweit Schüler oder auch Lehrer zurückdachten, hatte man einen so kindlich guten, gefälligen, liebreichen Schulleiter gehabt; er schien keinen anderen Wunsch zu hegen, als Glückliche um sich zu sehen.

Sowie man ihn als einen biederen, treuherzigen Mann erkannt, traute man sich von vorneherein auch zu, mit ihm leicht auskommen, ihn ohne viele Mühe herumbringen zu können, und ließ es hierzu an Versuchen nicht fehlen.

Zu jenen, welche ihn derart auf die Probe stellten, ebensosehr um zu sehen, was sie über ihn vermöchten, als auch um sich selber ein Vergnügen zu bereiten, zählte auch ein alter Professor der klassischen Sprachen, Namens Planchat, der vermöge seiner langen Berufsthätigkeit mit dem Unterrichte in der siebenten Klasse betraut worden war.

»Ein recht verdienstvoller Mann dieser Planchat!« sagten seine Kollegen über ihn, setzten aber ganz leise hinzu: »der unausstehlichste Kerl auf Gottes Erde!«

Verdienstvoll war er durch die Seelenstärke, mit welcher er von seiner Jugend an ein Leben voll Not und Arbeit, ohne je eine Stunde der Erholung, einen Lichtblick gehabt zu haben, als Gatte einer immerwährend kranken Frau und als Vater von fünf Kindern, wovon zwei siech und drei mißraten waren, ertragen hatte.

Unausstehlich war er durch sein nergelndes, bissiges, über alles und über jedermann mißvergnügtes, stets Ruhe und Eintracht störendes, die Dinge nur von der schlechten Seite auffassendes, über jede, wenn auch noch so richtige und ihm noch so gelinde ausgedrückte Bemerkung auffahriges, über jede ihm erwiesene Artigkeit verdrießliches und über das, was dahinter stecken könnte, grüblerisches Wesen; zudem war er neidisch, mißgünstig, beklagte sich unaufhörlich über Zurücksetzung und Ungerechtigkeit, zog gegen seine Kollegen los, suchte ihre Stellung zu untergraben, und über sie, ihre Frauen oder Kinder alle Klatschgeschichten, die er aufzufischen vermochte, oder alle Verleumdungen, die er erfand und mit einer wahrhaft teuflischen Gewandtheit vortrug, unter die Leute zu bringen; endlich beutete er das Mitleid, das ein so verdienstvoller und zugleich so unglücklicher Mann, wie er, einflößte, auf jegliche Weise aus, machte es sich zu Nutze für höhnische Großsprechereien, beleidigende Prahlereien, weil er wußte, daß man ihm nicht entgegnen wollte oder daß man, wenn man sich schon vom Zorne hinreißen ließe, es dennoch nicht bis zum Äußersten treiben würde.

Als Planchat die Gemütsstimmung seines Vorstandes wahrgenommen, hatte er sich auch sogleich vorgenommen, hieraus Nutzen zu ziehen, nicht bloß um seine Kollegen anzuschwärzen, sondern auch noch um jemandem, der nicht böse werden zu können schien, alle Grobheiten, wovon er bis zum Ersticken strotzte, an den Kopf zu schleudern: dies würde ihm Erleichterung verschaffen und gewissermaßen zur Wiederherstellung des Gleichgewichtes dienen.

Anfänglich war Herr Margueritte gar nicht unwillig geworden und hatte es sich vielmehr angelegen sein lassen, den armen Mann zu besänftigen, ihm Mäßigung anzuraten. Er war ja unglücklich; da mußte man ihm schon manches hingehen lassen!

Seine so nachsichtige Beurteilung wurde aber übel gelohnt: Planchat erwies sich nur immer unverträglicher, zänkischer und unverschämter; weil man nicht in Zorn wider ihn geriet, so warf er sich in den Harnisch des Ingrimms.

Jeden Tag kam es zu einem neuen Auftritte, bald über dies, bald über das, um ein Nichts, zum Vergnügen.

Allmählich fühlte Herr Margueritte dennoch eine Abnahme seiner Geduld; minder gelassen antwortete er ihm oder wies er ihn zurecht; endlich kam es so weit, daß ihm die Galle stieg, wenn er den alten Professor in sein Arbeitskabinett eintreten sah, denn er wußte im voraus, daß wieder eine Klage, Bosheit, heuchlerische Angeberei, Verleumdung ihn herführte und dies, wenn er es geduldig ertrüge, nie ein Ende nehmen würde. Die Seelengüte schließt nicht eine heftige Aufwallung des Zornes aus und oft sind es eben die besten Menschen, welche am leichtesten zornig werden. Dies war der Fall bei Herrn Margueritte, der nicht immer seine erste Regung bemeistern konnte. –

Unter allen Professoren der Lehranstalt war Radou der einzige, welchen Planchat bisher noch nicht angegriffen hatte.

»Welch einen Zauber muß Radou besitzen, um diesen Allerweltsfeind kirre zu machen?« fragte man sich.

Wenn der alte Professor der siebenten Klasse seinen jungen Kollegen geschont hatte, so geschah es weder aus einer Zuneigung zu ihm, noch aus dem Grunde, daß jener, wie man scherzhaft meinte, es ihm »angethan« haben müsse, sondern ganz einfach deshalb, weil er sich zu seinem Angriffe bestens ausrüsten und nicht einen Schlag ohne die höchst wahrscheinliche Aussicht, daß er auch einschneidend traf, führen wollte.

An einem Novemberabende begab er sich aus seinem Lehrsaale geraden Weges in das Kabinett des Herrn Margueritte, der, da er ihn schon zur Genüge kennen gelernt, aus seiner lächelnden Miene nichts Gutes mutmaßte; denn es war eine von jedermann gemachte Wahrnehmung, daß Planchat nur dann lächelte, wenn er zu einer recht abscheulichen Bosheit ausholte oder wenn ihm dieselbe gelungen war.

»Ich bin beschäftigt,« rief ihm Herr Margueritte in der Hoffnung, dem Auftritte, den er vorhersah, entgehen zu können, zu.

Allein Planchat hatte bereits die Thüre hinter sich zugemacht und rückte dreist auf seinen Direktor los:

»Ich habe nur wenige Worte mit Ihnen zu sprechen; die Sache selbst aber ist wichtig.«

»Wenn es wieder eine Beschwerde ist, so sage ich Ihnen nur gleich, daß ich nichts hören will!« entgegnete Herr Margueritte, der über die Art, wie Planchat sich ihm aufdrängte, entrüstet war.

»Es ist keine Beschwerde; überdies beschwere ich mich niemals, Herr Direktor, weder über etwas, noch über jemanden; derlei Leute, welche Ihnen gesagt, daß ich mich beklagte oder beschwerte, sind schändliche Verleumder; übrigens setzt mich so etwas gar nicht in Erstaunen, daran bin ich schon gewöhnt. Also nicht eine Beschwerde ist es, die mich hierher führt, sondern eine Warnung, die ich mit Ihrer Erlaubnis an Sie zu richten mir herausnehme, eine Warnung, die mir die Hochachtung, welche ich für Sie und … für Ihre Familie hege, in den Mund gelegt hat.«

»Dann zur Sache, bitte ich; ich bin, wie ich bereits erwähnt, beschäftigt.«

»Wenn einer meiner Kollegen mir eine außergewöhnliche Zuneigung einflößt, so ist es sicherlich Herr Radou, ein wahrhaft einnehmender junger Mann und, was mehr wert ist, auch ein höchst verdienstvoller Mann, ein Schatz für unsere Anstalt. Nun, dieser Radou …«

Seit Planchat zu reden begonnen hatte, machte Herr Margueritte ersichtliche Anstrengungen, um an sich zu halten: mit beiden Händen tastete er krampfhaft auf den Lehnen des Armstuhles, in welchem er hin- und herrückte, zugleich mit den Füßen trappelnd, umher; sein Gesicht wurde aufgedunsen, seine Stirne hochrot, seine Nüstern weiteten sich, seine Lippen färbten sich bläulich, der Atem kam keuchend aus seiner Brust, und dennoch ließ der alte Professor, der sich zu ihm vorneigte und grinsend den Kopf schüttelte, von seinem Gerede nicht ab, indem er seine Worte mit Bewegung der Hände bald nach rechts, bald nach links, gegen die Zimmerdecke empor, und wieder nach dem Fußboden hinab, gleich einem Hanswurst, begleitete.

Plötzlich sprang Herr Margueritte vom Stuhle auf.

»Nun, dieser Radou?« schrie er ihn an. »Ich dulde nicht, daß Sie weiter etwas über ihn sagen, weder über ihn, noch über sonst irgendjemanden; Sie verstehen mich, ich dulde es nicht!«

»Aber … Herr Direktor …«

»Ich habe alle mögliche Schonung gegen Sie geübt und Sie haben solche Rücksichtnahme nur stets mißbraucht, um hieher zu kommen und Verleumdungen anzubringen; es wäre eine Niederträchtigkeit von mir, selbe noch länger anzuhören. Entfernen Sie sich daher!«

»Aber ich habe ja nichts gesagt.«

»Entfernen Sie sich, sage ich, oder ich selbst weise Sie zur Thür hinaus.«

Planchat zögerte einen Augenblick, entschied sich aber endlich dafür, seinen Abgang mit gekrümmtem Rücken zu nehmen.

Herr Margueritte setzte sich sodann wieder oder sank vielmehr in seinen Stuhl hinein: eine Schwäche hatte ihn befallen, wie wenn eine schwere Erkrankung im Anzuge wäre; doch hatte er, nachdem er eine kleine Weile abgewartet, die Kraft, den Arm nach der Glocke am Tische auszustrecken und zu klingeln.

Ein Diener trat ein.

»Holen Sie meine Tochter her,« sagte er: »sie soll aber allsogleich kommen!«

 

7.

Als Helene in das Kabinett ihres Vaters geeilt kam, lag dieser in seinem Armstuhle.

»Was ist dir, Papa?«

Er stammelte einige unzusammenhängende Worte:

»Plötzliche Beschwerde … Ohnmacht … hat nichts zu bedeuten.«

Solcher Meinung war sie aber nicht, und sich rasch nach dem Diener, der mit ihr eingetreten war, umwendend, bedeutete sie ihm:

»Eilen Sie so schnell als möglich zu Doktor Graux; sollte er nicht zu Hause sein, so gehen Sie zu Herrn Evette, kurz, bringen Sie einen Arzt mit!«

»Es hat nichts zu bedeuten,« brachte Herr Margueritte nochmals mühsam hervor.

Aber es war augenscheinlich, daß er so nur sprach, um sie zu beruhigen, und daß das, was er empfand, im Gegenteile bedeutend war.

Seine Lippen waren bläulich blaß, wie seine Wangen; in den angeschwollenen Halsadern pochte es stürmisch hin und her; er schien nicht Atem schöpfen zu können, und machte wiederholte Anstrengungen, um etwas Luft zu bekommen.

Als er zu sprechen vermochte, sagte er wieder:

»Es hat nichts zu bedeuten.«

Man mußte ihm Beistand leisten, ihm Linderung verschaffen – was thun?

Helene begehrte ein Glas Wasser; doch sowie sie es an seine Lippen hielt, war es, als ob er erstickte; mit beiden Händen drängte er es von sich und dann schöpfte er tief Atem.

Sie lief nach einem Fläschchen Riechsalz und hielt es ihm unter die Nase; aber auch dies that ihm nicht wohl, im Gegenteile vermehrte es seine Atembeklemmung.

Ihre Unvermögenheit, ihre Unkunde brachten sie ganz außer sich.

Die Diener waren herbeigeeilt und jeder erteilte einen Rat, schlug die ungereimtesten Hilfsmittel vor; denn wenn auch niemand wußte, was dem Kranken fehlte, so wußte dagegen jedermann, wie man ihn behandeln müsse; alle redeten zu gleicher Zeit.

Herr Margueritte litt unausgesetzt an Atemnot und seine bereits so blassen Lippen wurden noch farbloser, während sein Ringen nach Atem zunahm; plötzlich ließ er den Kopf auf die Brust sinken und sein Atmen hörte auf.

Die Diener, welche ihn ängstlich beobachteten, schrieen laut auf:

»Er ist tot, unser armer Herr ist tot!«

Über die Lippen Helenens kam kein Laut: zu Füßen ihres Vaters auf die Kniee stürzend, lehnte sie ihr Haupt dicht an ihn und horchte nach seinem Herzschlage.

Gleich anfangs vernahm sie nichts; sie hieß die Diener sich ruhig und stille verhalten und horchte, ihren Atem anhaltend, neuerdings: da vernahm sie einige schwache Schläge.

Er war mithin nicht tot; er lag nur in einer Ohnmacht.

Sie verlangte nach kaltem Wasser und schnellte, die Fingerspitzen in das Glas, das man ihr gebracht, tauchend, einige Tropfen nach dem Antlitze ihres Vaters.

Auf jeden Tropfen folgte ein Zusammenzucken seiner Gesichtsmuskeln und ein Schütteln seines ganzen Körpers; sodann hob er den Kopf langsam in die Höhe und blickte um sich.

Ein regelmäßigeres Atmen als zuvor schien sich eingestellt zu haben; seine Beklemmung nahm ab.

»Wie ist dir?« fragte sie ihn.

»Sei unbesorgt, mein Kind,« hauchte er mehr, als er sprach. »Es wird bald vorüber sein; mir ist schon besser.«

In diesem Augenblicke ging die Thüre auf und ganz atemlos trat Doktor Graux über die Schwelle.

Er verwandte kein Auge von dem Kranken, als er auf ihn zuschritt, und das, was er sah, bot ihm bereits hinreichende Anzeichen, um zu verstehen, was vorgefallen war; für einen Arzt, der seine Sache verstand, und dies war bei Doktor Graux der Fall, war das Bild nur allzu bezeichnend: dieses aufgedunsene Gesicht, diese glänzenden Augen, diese fahle Hautfarbe, dieses Keuchen der Brust, diese Aufgetriebenheit der Halsadern sprachen klar.

»Man lasse uns allein!« sagte er, sich zur Dienerschaft kehrend. »Sie, mein Fräulein, bleiben nur; ich bitte.«

Während die Diener nur ungern sich entfernten, faßte er mit einer mehr freundschaftlichen als ärztlichen Geberde nach der Hand des Kranken und fühlte ihm, ohne es merken zu lassen, den Puls. Dieser war klein, schwach, unregelmäßig.

»Nun,« sagte er, »was soll denn das?«

Denn es war seine Art, freundschaftlich seine Kranken auszubrummen, wie wenn sie strafbar wären.

Hierauf sich an Helene wendend, fragte er sie, was denn vorgefallen wäre, und wodurch dieser Zustand hervorgerufen worden sei; allein sie vermochte nur sehr unvollständige Aufschlüsse zu geben.

Nun untersuchte er das Herz seines Kranken.

Inzwischen hatte Herr Margueritte eine gewisse Erleichterung verspürt, und da er etwas leichter und ruhiger zu atmen begann, so benutzte der Doktor diesen Umstand, um an ihn einige Fragen zu richten.

»Hat sich Ihr Übelbefinden ohne nachweisbare Ursache eingestellt, oder ist wohl demselben eine heftige Gemütsbewegung vorausgegangen?«

»Ich habe mich stark geärgert.«

Doch diese wenigen Worte schienen ihn mit einer neuerlichen Krisis zu bedrohen.

»Sprechen Sie nicht,« sagte der Doktor. »Das könnte wieder Atemnot und vielleicht sogar eine Ohnmacht, und das muß vermieden werden, herbeiführen. Ihr Fräulein Tochter wird für Sie antworten.«

Und wieder befragte er Helene, doch nicht mehr um das, was an diesem Tage selbst sich begeben haben konnte, sondern um das vorherige Befinden ihres Vaters.

»Ist es das erste Mal, daß Ihr Herr Vater einen derartigen Anfall erlitten?«

Herr Margueritte bejahte dies mit einer Handbewegung.

»Hat er niemals an gichtischen oder rheumatischen Affektionen zu leiden gehabt?«

»An rheumatischen wohl,« bemerkte Herr Margueritte.

Und Helene vervollständigte die Angabe ihres Vaters, indem sie sagte, was sie davon wußte.

»Na, da haben wir's!« rief der Doktor aus, sich gleichzeitig einen zuversichtlichen Anstrich gebend. »Das Ganze wird nicht viel, gar nichts zu bedeuten haben; in wenigen Tagen werden wir wieder hergestellt sein!«

Helene befand sich in einer so angstvollen Spannung, daß ihre Nerven, sowie sie diese Worte vernahm, nachließen und ihre Augen sich feuchteten.

»Aber,« fuhr der Doktor fort, »Sorgfalt, strenge Sorgfalt, eine unbedingte Ruhe und Stille, das Vermeiden jeder Aufregung sind vonnöten. Um hiermit den Anfang zu machen, werden wir uns jetzt zu Bette legen und ich werde Ihnen eine Behandlungsweise, die sehr einfach ist, nämlich: Milchnahrung, Kaffee in schwachen Gaben, und einen Digitalis-Aufguß verordnen. Wenn wir uns an solche Vorschrift genau halten, wird alles gut werden!«

Er überwachte, daß man den Kranken auf einem Stuhle, ohne ihn stark zu schütteln, in sein Schlafzimmer trug; mit nämlicher Vorsicht brachte er ihn dann zu Bette.

Wie behutsam man aber auch dabei vorgegangen war, bekam Herr Margueritte dennoch einen neuerlichen Erstickungsanfall, der auch wieder eine Ohnmacht zur Folge hatte.

Dieses Mal stand jedoch Helene nicht die nämliche Angst aus. Der Arzt war ja da, um das Nötige anzuwenden, und dann hatte er auch gesagt, daß das Ganze nichts zu bedeuten habe. Ihr Vater konnte ja auch nicht in einer Gefahr schweben, er, der wenige Stunden vorher sich so wohl, so kräftig gefühlt hatte!

Endlich legte sich auch dieser Anfall, wie sich der erste gelegt hatte.

»Die mit dem Zubettebringen verbundenen Anstrengungen haben ihn verursacht,« bemerkte der Doktor. »Jetzt, bei vollständiger Ruhe, wird nichts mehr zu besorgen sein.«

Es schien Helene, als ob der Doktor diese Worte an ihren Vater und nicht an sie gerichtet habe.

»Abends werde ich schon wiederkommen,« setzte er hinzu.

Gleichzeitig gab er Helenen, doch ohne daß Herr Margueritte es gewahren konnte, einen Wink: »Begleiten Sie mich, ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Obgleich sie diesen Wink bemerkt und verstanden, wich sie dennoch, als der Doktor abging, nicht von der Stelle; denn sicherlich würde sie, wenn sie diesem gefolgt wäre, ihren Vater beunruhigt haben.

Aber der Doktor hatte noch nicht zwei Stufen der Treppe hinter seinem Rücken, als sie nach der Thüre lief:

»Ich habe,« bedeutete sie dem Vater, »ganz vergessen, den Doktor zu fragen, wie man den Digitalis-Aufguß zu machen hat.«

Und damit war sie zur Thüre hinaus.

Als der Doktor im Erdgeschoße anlangte, holte sie ihn ein.

»Sie haben mir etwas zu sagen?« fragte sie ihn.

Er nahm sie bei der Hand.

»Sie sind ein mutiges Mädchen, nicht wahr, mein Kind?« lautete seine Frage.

Ein Schauder packte sie vom Scheitel bis zur Sohle und ihr Atem stockte.

»O mein Gott!« stöhnte sie.

»Nun, nun,« sagte er, »Sie werden doch nicht auch krank werden wollen? Sie sind also kein beherztes Mädchen!«

»Ich weiß nicht,« entgegnete sie tonlos. »Sie sagten ja doch, daß nichts zu befürchten wäre!«

»Ich mußte Ihren armen Vater beruhigen.«

»Aber verloren ist er nicht?« stieß sie unter Schluchzen heraus.

»Verloren, rettungslos verloren ist er nicht; die Hoffnung dürfen wir durchaus nicht aufgeben.«

Und als er die Verzweiflung des Mädchens sah, fügte er bei:

»Ich hoffe auch, ihn zu retten … aber sein Zustand bleibt immerhin bedenklich, sehr bedenklich.«

Durch diesen Schlag, der so jäh sie getroffen, wie niedergeschmettert, wie vernichtet, regte sie sich eine Weile nicht; erst allmählich raffte sie sich wieder aus ihrer zusammengeknickten Haltung empor und hob den Kopf in die Höhe.

»Meine Pflicht,« fuhr der Doktor fort, »war es, Sie in genaue Kenntnis zu setzen.«

»Aber woran leidet er denn?« fragte sie mit einer Stimme, die etwas sicherer geworden.

»An einem asystolischen Zustande seines Herzens.«

»Asystolisch?« sagte sie.

»Das will sagen: an einer Krankheit des Herzens, der zufolge dieses Organ sich ungenügend zusammenzieht und daher nicht imstande ist, das zuströmende Blut in normaler Weise weiter zu befördern.«

»Und das ist bedenklich?«

»Wie gesagt: sehr bedenklich.«

»Aber er ist niemals krank gewesen!«

»Er war es seit lange, ohne es zu wissen; der heutige Anfall offenbart uns seinen wahren Zustand.«

Sie zögerte einige Sekunden lang:

»Aber diese Krankheit ist doch heilbar?«

»Ja … manchmal … wenigstens kann man damit leben.«

»Er wird leben; wir werden ihn pflegen, wir werden ihn retten. Sie fragten mich, ob ich ein beherztes Mädchen sei; ich weiß nicht, ob ich es war; aber ich verspreche Ihnen, daß ich es sein werde. Bis zu diesem Tage habe ich unbekümmert dahinleben können; mein Vater strebte, arbeitete, sorgte für mich. Jetzt fällt es mir zu, für ihn zu arbeiten und zu sorgen. Ich werde es thun.«

»Nur guten Mutes, mein Kind! Wenn Sie meiner bedürfen sollten, ich stehe Ihnen immer zu Diensten. Gehen Sie jetzt zu Ihrem Herrn Vater hinauf, und Fassung, vor allem Ruhe!«

Sie stieg die Treppe hinan. Doch wie sie in das Krankenzimmer treten wollte, mußte sie Halt machen: Ihr war, als ob sie ersticken würde, so schwer war es ihr um das Herz geworden, und ihre Augen füllten sich mit Thränen.

»Ruhe!« hatte der Doktor gesagt. Sie selbst mußte ruhig sein: Ihr Vater durfte von ihrer Angst nichts merken.

Sie trocknete sich die Augen, schöpfte mehrere Male tiefen Atem; dann trat sie mit einem lächelnden Zuge um die Lippen ein.

»Sehr einfach war, was Doktor Graux mir anzuempfehlen hatte,« sagte sie, indem sie sich an das Bett ihres Vaters begab. »Aber du weißt ja, er ist ein kleines Schwatzmaul, und wenn er etwas erklärt, findet er nie ein Ende!«

 

8.

Keine neuen Anfälle traten weder in der Nacht, noch am Morgen des nächsten Tages ein; doch war diese Nacht in ihrer ersten Hälfte eine schlechte für den Kranken.

Man hatte Herrn Margueritte Kissen unter den Nacken geschoben, so daß er hoch mit dem Kopfe lag; obgleich er vom Schlafe überwältigt zu sein schien, hatte er dennoch nicht zu schlafen vermocht; von Zeit zu Zeit nickte er ein und Helene, die an seinem Pfühle saß, hoffte demnach, daß er endlich ausruhen würde, aber fast sofort, als sie seinen Kopf nach vorne sinken sah, wachte er schon wieder unter Zeichen angstvoller Beklemmung auf.

Der Doktor, der um die zehnte Nachtstunde kam, gab Helenen, die ihm voll Bangen mitteilte, daß ihr Vater bereits zwölf- oder fünfzehnmal aus seinem Schlummer plötzlich aufgefahren, über diesen Umstand Aufklärungen, welche sie einigermaßen beruhigten.

Überdies vermochte Herr Margueritte gegen Morgen ein wenig zu schlummern und Helene traf Fürsorge, daß er in seinem Schlafe nicht aufgestört wurde: zum erstenmale erscholl nicht die Frühglocke und die durch einen Diener aufgeweckten Lehrer weckten selbst die Zöglinge, welche dann in aller Stille in ihre Klassen schlichen, auf.

Diese wenigen Stunden der Ruhe thaten ihm sehr wohl, und als der Doktor frühzeitig morgens, ihm den ersten Krankenbesuch machend, eintraf, bekräftigte er, daß eine ersichtliche Besserung, besonders in seinem moralischen Zustande, der am Abende vorher unter dem Drucke der geistigen Abspannung bis zur völligen Gleichgiltigkeit gesunken war, eingetreten sei.

Nicht bloß vermochte er die Fragen des Doktors zu beantworten, sondern er selbst richtete an diesen Fragen.

Plötzlich ersuchte er seine Tochter, sich aus dem Zimmer zu begeben, ihn für einige Augenblicke mit dem Doktor allein zu lassen.

Als sie sich entfernt hatte, fragte er diesen:

»Sie ahnen doch, Doktor, den Grund, der mich bestimmte, meine Tochter zu bitten, daß sie uns unter vier Augen belasse? Sprechen Sie sich ohne allen Rückhalt gegen mich aus. Wie steht es mit mir? Was habe ich zu fürchten? Was darf ich hoffen, wofern es wahr ist, daß das Hoffen mir noch gestattet ist?«

»Wie! Ob das Hoffen Ihnen gestattet ist! Es ist Ihnen sogar verordnet: es ist eine Bedingung zu Ihrer Genesung.«

»Lassen Sie uns aufrichtig sprechen, ich bitte Sie darum. Gestern legte ich mir von meinem Zustande keine Rechenschaft ab; aber heute morgens, wenngleich ich nicht im vollen Wiederbesitze meiner Sinne, sehe ich ein, fühle ich, daß derselbe … sehr bedenklich ist.«

»Aber keineswegs!«

»Ich fühle es.«

»Muß man denn solchen Gedanken nachhängen! Nichts ist schlechter für Sie als das!«

»Befreien Sie mich von denselben, Doktor; ich verlange nichts besseres,« sagte Herr Margueritte trübe lächelnd, »denn ich gestehe Ihnen ohne falsche Scham ein, daß ich mich an den Gedanken, sterben zu müssen, nicht gewöhnen kann.«

Mit Schwierigkeit holte er tiefen Atem.

»Aber Sie sind ja noch nie vom Tode bedroht gewesen, mein werter Herr; das und nichts anderes setzen Sie sich in den Kopf; Sie sind krank, das ist alles, und haben eine Krankheit, welche bei gehöriger Sorgfalt und Vorsicht wir … mit Leichtigkeit … beheben werden.«

»Nun, lieber Doktor, retten Sie mich nur; ich werde alles, was sie fordern, thun; schneiden Sie mir die Arme, die Füße weg, trepanieren Sie mich; ich werde nicht darüber klagen, aber lassen Sie mich nicht sterben!«

Wieder und zwar länger rang er diesmal nach Luft.

»Sie regen sich auf, Sie matten sich ab,« sagte der Doktor; »das heißt nicht, sich nach meiner Vorschrift benehmen.«

»Lassen Sie mich ein für alle Male Ihnen sagen, was ich Ihnen zu sagen habe; ich werde nimmermehr darauf zurückkommen. Wenn Sie mich an das Leben so sehr anklammern sehen, so geschieht es nicht aus Feigheit; aber eben jetzt zu sterben, wäre zu gräßlich; man müßte an der Gerechtigkeit der Vorsehung ganz irre werden. Bedenken Sie, daß ich dreißig Jahre lang gearbeitet, mich abgemüht habe, um dahin zu gelangen, wo ich jetzt stehe; daß ich nur erst den Fuß in das gelobte Land gesetzt, und Sie werden demnach begreifen, daß ich nicht sterben möchte, bevor ich ganz hineingetreten bin. Wenn ich allein in der Welt stünde, würde ich mich in mein arges Mißgeschick ergeben, würde ich nicht versuchen, dagegen anzukämpfen; aber ich habe eine Tochter, Doktor!«

Er mußte inne halten, um wieder, da ihm der Atem ausging, Luft zu bekommen, und er konnte dies nicht anders thun, als indem er sein Haupt nach rückwärts warf, seine Schultern in die Höhe hob, und seinen Mund weit öffnete; alle Muskeln seines bleichen Gesichtes waren stark angezogen.

Als er genügende Luft eingesogen und sein Herz sich von dem Blute, das es überflutete, etwas frei gemacht hatte, fuhr er fort:

»Ich habe meine Tochter, Doktor, meine Tochter, die ich liebe, leidenschaftlich liebe, und die allein, allein mit meiner alten Mutter, wenn ich dahinscheide, ohne Vermögen, ohne Stellung, mit einem Worte: in Not und Elend zurückbleiben würde. Verschaffen Sie mir daher noch eine Lebensfrist von einigen Jahren, denn ich sehe wohl nach dem, was ich gestern erlitten und was ich heute noch leide, ein, daß in mir eine tiefe organische Veränderung stattgefunden haben muß, und daher beanspruche ich nicht mehr eine Existenz von langer Dauer. Gestern, in letzterer Zeit, als ich meine Pläne schmiedete und meine Zukunft – damals glaubte ich noch, eine Zukunft zu haben! – aussann, rechnete ich auf zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre; doch zu dieser Stunde begehre ich nur ein Jahr, einige Monate, nur so viele Zeit, um meine Tochter zu verheiraten; können Sie mir dies zusichern?«

»Wie? Ob ich Ihnen Monate zusichere! Ich bürge Ihnen für Jahre, und zwar für jene, auf welche Sie rechneten.«

Und Doktor Graux hielt an dieser Zusicherung fest; allein er gehörte durchaus nicht in die Kategorie jener schlau sich einschmeichelnden Ärzte, welche ihre Kranken zu täuschen vermögen; ganz im Gegenteil war er ein geradsinniger und freimütiger, etwas polternder Mann, der die Kunst zu lügen nicht verstand. Das, was seine wahre Ansicht war, äußerte er recht gut; über das, was er durchaus nicht glaubte, druckte er sich ungeschickt aus und zwar um so ungeschickter, je mehr er sich angelegen sein ließ, es glaubwürdig zu machen.

Trotz der Weitschweifigkeit seiner Rede, trotz der Anhäufung von Beweisgründen gelang es ihm keineswegs, Herrn Margueritte zu überzeugen: alldas, was er gesagt, vermochte nicht, den Kranken mit Hoffnungen zu beleben. –

Nach dem Abgange des Doktors verfiel dieser wieder in seine schlafsüchtige Fühllosigkeit, doch ohne daß neue Anfälle eingetreten wären.

Mehrere Stunden verblieb er so, ohne ein Wort an seine Tochter und an seine Mutter zu richten; es schien, als ob er keine andere Sorge, als Atem zu holen, hätte.

Gleichwohl heftete er von Zeit zu Zeit auf seine Tochter Blicke der Trostlosigkeit, welche besagten, daß er bei klarem Bewußtsein war und daß er nicht bloß an sich dachte.

Aber aus Besorgnis, ihm eine Aufregung zu verursachen, wagte Helene nicht, ihn anzusprechen, ihn zu befragen, weshalb er sie mit solcher Zärtlichkeit, aber auch mit solcher Trauer anblickte; überdies erriet sie nur zu sehr, was er ihr antworten würde.

Als seine Mutter nach einiger Zeit aus dem Zimmer ging, rief er, diesen Umstand rasch benützend, Helene an sein Bett.

»Komm her, daß ich mit dir spreche,« sagte er, »höre mich, ohne mich zu unterbrechen, an und vor allem antworte mir mit voller Offenheit, als eine wackere und treuherzige Tochter, die du bist.«

Er ergriff ihre Hand und drückte sie innig.

»Ja, Vater.«

»Ich habe Doktor Graux gefragt, was er von meinem Zustande hält; er hat mir allerlei erwiedert, um mich zu beruhigen; doch hat er mich nicht im mindesten beruhigt; ich fühle mich verloren, mein armes Kind.«

»Vater!« stieß sie von Schmerz übermannt heraus.

Aber sie faßte sich sofort und gewann trotz ihrer Verzweiflung die Kraft, ein Lächeln auf ihr Antlitz zu zaubern.

»Würde ich, deine Tochter, die dich so sehr liebt,« sagte sie, »so ruhig sein, wenn du in einer Gefahr schwebtest!«

»Ich habe dich gebeten, mich nicht zu unterbrechen,« fuhr er fort; »was ich sage, muß gesagt sein, und wenn ich mich ausspreche auf die Gefahr hin, dich in Hoffnungslosigkeit zu stürzen, auf die Gefahr hin, mein Leiden zu verschlimmern – denn, wie du dir leicht denken kannst, geht es nicht ohne eine grausame Aufregung ab – so geschieht es, weil es unabweislich ist, weil es sein muß. Höre mir also zu und antworte mir erst, nachdem du alles vernommen. Wenn du mich bei dem Herannahen des Todes so unglücklich siehst, so ist es, weil ich an dich, mein liebes, teures Kind denke. Allerdings hatte ich mir oft gesagt, daß ich dich eines Tages würde verlassen müssen; aber ich glaubte nicht, daß dieser Tag schon so bald, in meinem fünfzigsten Lebensjahre, eintreten würde. Ich vermeinte, noch Jahre vor mir zu haben, um dich zu lieben und dir eine Stellung, welche ich noch nicht einmal zu gründen begonnen, zu sichern. O ich bin sehr thöricht gewesen: ich habe auf die Zukunft gebaut. Leider ist dem, was vergangen, nicht mehr abzuhelfen; mindestens habe ich den Trost, daß du mir deshalb nicht grollen wirst.«

»Und weshalb denn, o mein Gott?«

»Weil ich nicht die Gegenwart möglichst ausgenutzt habe, auf daß du, wenn ich aus dieser Krankheit nicht wiedererstehe, nicht ohne Vermögen, ohne den geringsten Geldbesitz, nicht dem Elende preisgegeben seiest. Das ist meine Angst, meine Folterqual!«

Er stockte aus großer Atemnot; doch konnte er nach einigen Minuten wieder das Wort nehmen:

»Mein sehnlichster Wunsch wäre es, dich nicht alleinstehend zu hinterlassen. Ich habe mit dir über Radou und seine Hoffnungen gesprochen; aber du hast in dieser Hinsicht niemals frei heraus geantwortet; ich drängte dich nicht, weil wir Zeit vor uns hatten, weil ich dich, bevor du nicht dein zwanzigstes Lebensjahr erreicht, nicht verehelichen wollte. Allein diese Zeit haben wir nicht mehr; und jetzt muß ich dich drängen, mir eine rückhaltlose Antwort zu geben. Was hältst du von Radou? Welche Gefühle flößte er dir ein? Würdest du ihn gerne zum Gatten nehmen?«

Ziemlich lange stand sie mit geschlossenen Lippen und gesenkten Augen vor ihm.

»Nun, du antwortest nicht?«

»Eben weil ich dir die offenherzige, rückhaltlose Antwort, die du wünschest, geben will, und ich nach ihr suche; denn als du über Herrn Radou mit mir gesprochen, habe ich nicht daran gedacht, mich zu befragen, welche Gefühle er mir einflößte und ob ich ihn gerne zum Gatten nehmen möchte. Nichts drängte, wie du soeben selbst gesagt, und ich wartete ab, daß diese Gefühle von sich selbst sprächen … noch haben sie nicht gesprochen.«

»Kurz: er gefällt dir nicht?«

»Das eben nicht; ich finde, daß er ein recht hübscher Mann.«

»Und … das ist alles?«

»Freilich … ja; wenigstens scheint es mir so … du überfällst mich … ganz unvermutet …«

»Wenn er bei mir um deine Hand anhielte?«

»Vater!«

Und sie blickte ihm bis in die Tiefe des Herzens.

»Antworte mir!« sagte er.

Mit sanfter, fast flehender Stimme setzte er hinzu:

»Ich bitte dich darum, mein Kind.«

Sie schwankte; endlich erwiderte sie entschlossen:

»Ich würde thun, was du wünschest.«

Er faßte sie bei der Hand und drückte selbe zärtlich; dann zog er sie in seine Arme und küßte sie.

»Lasse Radou holen,« sagte er.

»Vater!«

»Ich bitte dich, lasse ihn holen!«

 

9.

Ungefähr eine Stunde später kam Radou an. Helene, die sich an das Fenster im Schlafgemache ihres Vaters gestellt, um nach ihm auszublicken, sah ihn in den Hof treten: er war wie gewöhnlich untadelhaft in seinem Anzuge, trug hellfarbige Handschuhe, und ging, ohne sich beeilen, indem er sorglich herumspähte, wohin er seine Füße setzen müßte, um sie nicht auf dem durchweichten Boden zu beschmutzen.

Ohne ein Wort zu sprechen, verließ sie rasch das Gemach, um ihm entgegen zu gehen; denn sie wollte mit ihm unter vier Augen reden und ihn um gewisse Vorsichtnahmen ersuchen, bevor er ihren Vater sah.

Man hatte ihn in den Salon geführt: eilig daselbst eintretend, überraschte sie ihn vor dem Spiegel, wie er eben einige Locken seines gebrannten Haares in beste Lage zu bringen sich befliß.

Ihr Eintreten brachte ihn durchaus nicht außer Fassung; mit vollster Unbefangenheit wandte er sich um:

»Ich würde gebeten haben, Ihren Herrn Vater besuchen zu dürfen, wenn ich nicht befürchtet hätte, beschwerlich zu fallen. Ich schätze mich glücklich, daß er daran gedacht, mich zu sich rufen zu lassen. Wie geht es ihm?«

»Recht übel.«

»Ach! Mein Gott!«

»Ebendeshalb wollte ich Sie früher sehen, um Sie davon in Kenntnis zu setzen, und damit Sie nicht durch eine Geberde der Überraschtheit oder durch eine allzu ersichtliche Kundgebung Ihrer Teilnahme ihm eine Beunruhigung verursachten. Denn vor allem Ruhe hat der Doktor geboten.«

»Aber was sagt der Doktor?«

»Er findet den Zustand sehr bedenklich.«

»Sie haben mit ihm allein gesprochen?«

»Ja.«

»Dann hat er sich mit voller Offenheit Ihnen gegenüber erklärt?«

»Das denke ich wohl.«

»Sie wissen, mein Fräulein, wie sehr ich Ihrem Herrn Vater zugethan bin, wie hoch ich ihn achte, wie innig ich ihn verehre! Mögen Sie demnach in meinem näheren Erkundigen nur einen Ausdruck – er suchte nach einem Beiworte – schmerzvollen Mitgefühles, eine wahre Herzensangelegenheit erblicken. Sein Zustand ist doch nicht hoffnungslos?«

»O nein.«

»Es ist ein Herzleiden?«

»Ein asystolischer Zustand.«

»Ach!«

»Sie kennen solchen Zustand?«

»Er ist wirklich bedenklich, sehr bedenklich.«

»Aber er muß nicht etwa tödlich verlaufen?«

In ihrer Angst war sie es jetzt, welche weitere Erkundigungen einzog: da Radou dieses Leiden kannte, so würde er ihr sagen, was Doktor Graux ihr vielleicht verhehlt hatte.

»Gewiß nicht;« erwiderte Radou; »wenigstens glaube ich nicht. Sie wissen, ich habe nicht Medizin studiert; man kann nur über das, was man versteht, ein Urteil abgeben.«

Wenn Helene in diesem Augenblicke eines Ausforschens fähig gewesen wäre, so würde sie bemerkt haben, daß Radou, wenn er sich nicht deutlicher aussprach, es nicht aus Mangel an Verständnis that, sondern vielmehr deshalb, weil er sich darauf verstand.

Sie blickte aber Radou gar nicht genau an: sie hatte nur ihren Vater vor Augen; nur an ihn dachte sie; seinetwegen war sie herbeigeeilt, um so viel als möglich darauf vorzubereiten, was in dieser Unterredung, die sie gewiß verhindert haben würde, wenn sie eine solche Verantwortlichkeit zu übernehmen gewagt hätte, zur Sprache kommen werde.

Gewiß war die Sache mißlich und schwierig; aber die Umstände waren derart, daß man nur das Ziel, das man erreichen wollte, und nicht auch die Mittel, die hierfür in Anwendung kamen, in Betracht ziehen mußte. Wenn das Leben ihres Vaters auf dem Spiele stand, durfte sie sich nicht durch irgendetwas, wenn auch noch so peinlicher Art, abhalten, zurückschrecken lassen.

»Da Sie dieses gräßliche Leiden kennen,« sagte sie entschlossen und dabei Radou ins Gesicht blickend, »so ist Ihnen sicherlich auch nicht unbekannt, daß man jeden Anlaß zu Aufregung und Ärger für den Kranken zu vermeiden habe? Deshalb bin ich Ihnen entgegengeeilt …«

Er blickte sie an, wie wenn er sie nicht verstünde.

Als sie sah, daß er ihr nicht zu Hilfe kam, fuhr sie fort:

»Um Sie zu bitten, meinem Vater nicht zu widersprechen, sich mit ihm in keine lange Erörterung einzulassen und selbst dann, wenn er Ihnen irgend einen Antrag, der Ihnen nicht genehm wäre, machen sollte, eine seinem Wunsche entsprechende Antwort zu geben.«

»Aber, mein Fräulein …«

»Es handelt sich darum, der Laune eines Kranken Rechnung zu tragen; es handelt sich darum, ihm einen Verdruß oder Ärger zu ersparen, und zwar bloß um das und nichts anderes; wäre das nicht, so dürfen Sie sich versichert halten, daß ich mir nicht erlauben würde, eine solche Bitte an Sie zu stellen.«

Daraufhin war er es, der sie genau betrachtete: augenscheinlich suchte er zu erforschen, was sich hinter diesen Worten verbarg.

Da er es nicht erriet, fragte er sie:

»Und was für einen Antrag will denn Ihr Herr Vater mir machen?«

»Er selbst wird sich hierüber erklären, da er Sie deshalb zu sich hat bitten lassen. Was ich von Ihnen beanspruche, ist, daß Sie auf diesen Antrag, wie immer er auch lauten möge, gar kein Gewicht legen, und in Betreff Ihrer Antwort bedenken, daß selbe Sie nur gegen einen Kranken verpflichten wird.«

In der Meinung, daß sie genug hierüber gesagt, und überdies nicht imstande, sich noch deutlicher auszusprechen, ersuchte sie Radou, ihr zu folgen:

»Mein Vater könnte sich durch mein Fernbleiben beunruhigt fühlen!«

Voran trat sie in das Krankenzimmer mit den Worten:

»Herr Radou!«

Herr Margueritte streckte dem jungen Professor die Hand entgegen.

»Dank, daß Sie sich so schnell hierher bemüht,« sagte er.

Seit Herr Margueritte bettlägerig geworden, hatte seine Mutter sich bei ihm einquartiert oder vielmehr in einen Winkel des Zimmers zusammengeduckt, und dort hielt sie sich auf, ohne eine Silbe zu sprechen, abwartend, daß ihre Enkelin von ihr etwas begehrte, denn sie selbst wagte es nicht, aus freien Stücken Hand anzulegen oder irgend etwas anzuraten, aus Furcht, eine Verwirrung, wenn sie behilflich zu sein gewünscht hätte, anzurichten; ebensowenig getraute sie sich, hin und herzugehen oder sich die Nase zu schnäuzen.

Als Helene sah, daß Radou an dem Bette ihres Vaters Platz genommen hatte, schritt sie auf ihre Großmutter zu:

»Komme doch frische Luft schöpfen; das wird dir gut thun; man muß nicht immer so eingesperrt leben.«

»Ich möchte schon, mein Kind!« erwiderte die alte Frau, die dadurch ganz verlegen wurde, indem sie nicht wußte, ob sie fortgehen oder ob sie bleiben sollte; einerseits wünschte sie, ihren Sohn nicht zu verlassen, andrerseits fragte sie sich, wie man sich in ähnlicher Lage zu benehmen hätte. Endlich folgte sie doch der Aufforderung ihrer Enkelin und begab sich, wie auf Eiern wandelnd, aus dem Zimmer.

Inzwischen hatte Radou, ohne etwas zu sprechen, Herrn Margueritte aufmerksam betrachtet.

»Wenn ich,« nahm dieser das Wort, »in dem Zustande, worin ich mich befinde, Sie hierher bitten ließ, so sehen Sie wohl ein, daß es geschah, weil ich mich verloren fühle.«

»Ei, warum nicht gar, sehr werter Herr! …«

Herr Margueritte erhob die Hand, um zu bedeuten, daß er nicht unterbrochen werden möchte.

»Doktor Graux sagte – wenigstens sagte er es zu mir – daß er mich retten wird. Ich glaube es nicht; der Schlag, der mich getroffen, ist gewaltig gewesen: ich muß eine sehr schwere Verletzung in meinem Herzen erlitten haben. Sehen Sie nur meine Beklemmungen, mein keuchendes Atmen, wodurch mir das Reden so schwierig, so peinlich gemacht wird. Nehmen Sie dazu, was Sie nicht sehen: das Erkalten meiner Extremitäten, die Neigung zu Ohnmachten, welche derart ist, daß ich jeden Augenblick zu vergehen glaube, so werden Sie einsehen« – er mußte eine lange Pause machen, um Luft zu bekommen – »so werden Sie einsehen, daß ich mich Hoffnungen, so wertvoll selbe mir auch wären, nicht hinzugeben vermag. Ich bin verloren.«

Radou, der solchen Gedanken schon das erste Mal entschieden abgewehrt hatte, erhob nun dagegen eine noch stärkere Einsprache; kurz: brachte dawider alles vor, was ein Mann, der nicht daran glauben will, sagen kann, und man brauchte ihn nur anzusehen und anzuhören, um sich für überzeugt zu halten, daß er eben ein solcher Mann war.

Wenngleich Herr Margueritte nicht imstande war, das, was um ihn vorging, zu sehen, so machte er dennoch diese Wahrnehmung; aber er erklärte sie sich sofort:

»Die Zuneigung, die Freundschaft, die Sie für mich hegen,« sagte er »sträuben sich gegen die Ansicht, daß ich verloren bin; Sie sind wie meine arme Tochter, die den Gedanken, daß ich dem Tode nahe sei, gar nicht gelten lassen will. Dies rührt mich tief, glauben Sie es, mein Freund, und solche Übereinstimmung zwischen Ihnen und ihr ist mir sehr wert; aber leider geht nicht das, was wir hoffen, was wir wünschen, in einem Falle, wie der meinige, in Erfüllung, und wenn ich Ihnen sage, daß ich verloren bin, geschieht es nicht, um Sie in Unruhe zu versetzen oder um mich zu beklagen, sondern nur deshalb, weil ich es fühle. Kommen wir also zur Sache, derentwegen ich Sie habe holen lassen!«

»Wird das Sie jetzt nicht anstrengen?« fragte Radou. »Wir könnten damit vielleicht warten.«

Herr Margueritte blickte stutzig ihn an.

»Sie wissen, daß ich ganz zu Ihrer Verfügung stehe,« fuhr Herr Radou fort, »und sobald, so oft Sie es wünschen – also …«

»Dann sogleich. Zur Zeit Ihrer Ankunft in Condé, und als wir den Heiratsplan besprochen hatten, habe ich Sie ersucht, sich betreffs der Entscheidung zu gedulden. Wir hatten damals Zeit vor uns. Mindestens dachte ich so. Heute ist die Zeit mir nur noch knapp zugemessen; morgen, vielleicht in einigen Stunden, werde ich nicht mehr sein. Bevor ich von meiner armen Tochter scheide, möchte ich ihre Existenz gesichert haben.«

Die Erregung benahm ihm die Rede und ein Erstickungsanfall trat ein.

»Ich will jemanden holen,« rief Radou hastig aufspringend aus.

Aber Herr Margueritte winkte ihm mit der Hand, es nicht zu thun, und nach einer kleinen Weile begann er wieder:

»Ich möchte ihre Existenz gesichert haben, und deshalb frage ich Sie, ob Ihre Absichten noch immer die nämlichen sind.«

»Aber …«

»Es gab Gründe,« fuhr Herr Margueritte fort, »um diese Heirat hinauszuschieben; jetzt machen solche sich für deren Beschleunigung geltend; Sie verstehen selbe, ohne daß ich nötig hätte, sie Ihnen auseinanderzusetzen. Bevor Sie mir antworten, will ich nur noch ein paar Worte hinzufügen, um Sie mit meiner Lage bekannt zu machen: wenn wir zwei Jahre gewartet hätten, würde ich imstande gewesen sein, meiner Tochter eine bestimmte Mitgift zu geben und Ihnen jedes Jahr eine Summe, welche selbe vervollständigt hätte, auszusetzen. Heute wird Helene, wenn sie sich vermählt, nichts bekommen, noch auch später; denn ich hinterlasse nichts«

Er hatte Anstrengungen gemacht, um bis hierher zu gelangen; er verstummte, erschöpft, nach Atem ringend.

Verlegen, unschlüssig brauchte Radou ziemlich lange, um eine Antwort zu finden.

»Gewiß,« erwiderte er endlich mit niedergeschlagenen Augen, »hege ich heute für Fräulein Helene die nämlichen Gefühle, welche mich vor einem Monate, vor einem Vierteljahre beseligt. Sie dürfen durchaus nicht voraussetzen, daß hierin die mindeste Wandlung eingetreten sei. Doch wenn ich Ihnen sagte, daß ich bereit wäre, Ihre Tochter zur Gattin zu nehmen, so würde dies eine Anerkennung, daß ich Ihre Befürchtungen teile, in sich schließen, während ich doch überzeugt bin, daß Sie hierzu keinen, gar keinen Grund haben. Ich vermag wahrlich nicht, eine derartige Verantwortlichkeit zu übernehmen. Ich würde mich hierdurch Mitschuldigen der Krankheit machen. Sagen Sie aufrichtig, ob Sie nicht, wenn ich Ihnen antwortete: »Ich bin bereit,« noch fester daran glaubten, daß Sie verloren seien? Hingegen liefert Ihnen diese Antwort, die ich vertage, die ich auf die nächste Woche, auf einen Monat hinaus verschiebe, eben dadurch, daß sie hinausgeschoben ist, den Beweis, daß Sie in gar keiner Gefahr schweben, ganz und gar nicht, nicht im allermindesten!«

Herr Margueritte starrte ihn ganz verblüfft an, indem er sich fragte, ob er nicht einer Sinnestäuschung unterliege, ob er denn wirkliche Worte vernommen, ob Radou leibhaftig vor seinen Augen stünde. War dies möglich? Und er tastete mit seiner rechten Hand umher, befühlte und drückte seine Linke.

Indessen war Radou aufgestanden und hatte auf seine Taschenuhr geblickt.

»Die Stunde des Unterrichtes ist da;« sagte er, »ich werde mir erlauben, morgen Sie wieder zu besuchen, und wenn es Ihnen genehm, werden wir diese Unterredung wieder aufnehmen. Also morgen und auf ein noch besseres Wiedersehen!«

 

10.

Er eilte die Treppe hinab, wie wenn es hinter ihm brannte.

Wahrlich, er war noch glücklich davongekommen, hatte sich zuerst bei der Tochter, und dann bei dem Vater gut aus der Schlinge gezogen.

Allerdings war es ihm nicht leicht gefallen, dem letzteren in einer so doppelsinnigen Weise zu antworten und sich derart wegzustehlen; aber wie hätte er anders handeln sollen?

Er konnte nicht Ja sagen, denn er war ein anständiger Mensch.

Als er die Absicht, Helenen zu heiraten, kund gegeben hatte, rechnete er auf eine unmittelbare Mitgift und für später auf ein gewisses ihm durch Erbschaft zufallendes Vermögen; da es aber nun keine Mitgift und auch keine Erbschaft gab, so heiratete er nicht.

Das Mädchen war schön und begehrenswert, das war unbestreitbar; es war auch mit vorzüglichen Eigenschaften begabt, dies erkannte er an; aber was weiter? Weder mit der Schönheit, noch mit der Zärtlichkeit, noch mit der Herzensgüte gründet man einen Haushalt; wenn dies auch höchst schätzenswerte Zugaben sind, so bedarf es doch hauptsächlich eines ansehnlichen Kapitals.

Vernünftigerweise konnte er nicht ein Mädchen ohne alles Vermögen, so schön es auch war, zur Gattin nehmen.

Ihn gelüstete nicht nach einer Existenz, die jener seines Kollegen Planchat ähnelte; bei dem bloßen Gedanken hieran empörte sich alles in ihm.

Zweifelsohne war es schmerzlich, auf ein so schönes Mädchen zu verzichten; doch gab es ja auch noch andere weibliche Schönheiten, und wenn man so wie er körperlich gebaut und geistig gebildet war, brauchte man sich weder über eine rückgängig gewordene Heirat, noch über den Verlust eines schönen Mädchens zu grämen.

Bei solchem Überdenken hatte er zwei- oder dreimal die Runde im Hose des Schulgebäudes gemacht, indem er sich über die Art und Weise, mit welcher er aus dieser wahrhaft beengenden Lage sich herausgewickelt hatte, beglückwünschte und Beifall zollte.

Wenn Herr Margueritte, wie es höchst wahrscheinlich war, seiner Krankheit erlag, so war damit alles aus, von der Heirat keine Rede mehr.

Wenn er hingegen genas, so konnte die Heiratsangelegenheit wieder ausgenommen werden und sodann auch die materiellen Vorteile, auf welche er zu zählen berechtigt gewesen, als er seine Werbung vorgebracht, bieten.

Als die Stunde für den Beginn des Unterrichtes schlug, trat er, mit sich zufrieden und bestens gestimmt, in den Lehrsaal.

»Wir haben,« leitete er seinen Vortrag ein, »in der letzten Stunde gesehen, daß …«

Er brach ab, da er zwei Schüler, die miteinander schwatzten, bemerkt hatte.

»Ich ersuche,« – rief er diesen zu – »mich durch Ihre Unachtsamkeit nicht zu stören; ich komme soeben von unserem hochverehrten Herrn Direktor; es steht sehr übel um ihn; ich bin tiefbewegt von ihm geschieden, und ich bedarf meiner ganzen Kraft und Festigkeit, um Ihnen heute einen Vortrag halten zu können.« –

Sowie Helene ihn in den Hof treten gesehen, war sie schnell wieder zu ihrem Vater zurückgekehrt.

Sie traf ihn in einem Zustande völliger Entkräftung: das Haupt war auf die linke Achsel gesunken, die Unterlippe hing herab, die Arme lagen schlaff.

»Das hat dich wohl sehr ermüdet?«

Keine Antwort.

Jedoch nach einigen Minuten, die ihr entsetzlich lange währten, und in denen sie sich angstvoll gefragt, was wohl zu befürchten stünde, richtete er sich ein wenig auf, um nach ihr zu blicken.

Welch ein verzweiflungsvoller Ausdruck in seinen Augen und in seinem Antlitze!

Plötzlich sah sie Thränen über seine Wangen rollen: mühsam streckte er ihr seine Hand entgegen.

»Ach, meine arme Tochter!« jammerte er. »Meine arme Tochter!«

»Aber was hast du, Vater? Was ist dir? Befindest du dich übler?«

Er schüttelte den Kopf:

»Es war meine letzte Hoffnung: sie ist dahin. Er ist nicht der Mann, für den ich ihn gehalten habe.«

»Nun, Vater, deshalb darfst du dich nicht kränken; zwischen Herrn Radou und mir war ja kein Band geknüpft. Ich liebte ihn nicht, ich hatte in diese Heirat nur gewilligt, um dich nicht zu betrüben. Bei so bewandten Umständen ist es demnach weit besser, daß sie nicht zustande kommt. Was mich betrifft, so versichere ich dich, daß ich dadurch keineswegs mich unangenehm berührt, ja nicht einmal in meinen Erwartungen getäuscht fühle.«

»Aber du wirst alleinstehend, ohne Vermögen, ohne die mindesten Hilfsmittel zurückbleiben; mein Ableben stürzt dich ins Elend.«

Seit dem vergangenen Abende hatte sie alle Augenblicke und auf jegliche Weise diesen Gedanken bekämpft, indem sie immer einen neuen Grund ersann, um ihn zu widerlegen und ihrem Vater zu beweisen, daß er nicht so krank, wie er es wähnte, wäre.

Allein diese Beharrlichkeit, stets wieder auf die nämliche Befürchtung zurückzukommen, that ihr nur zu eindringlich dar, daß sie ihn nicht überzeugt hatte; es war mithin rätlich, zu einem anderen Mittel die Zuflucht zu nehmen.

»Nimmermehr werde ich zugeben,« sagte sie, »daß ich mit dem Alleinstehen bedroht bin; aber wenn auch – nichts ist ja unmöglich! – dieser Fall einträte, wenn du nämlich – ich meine nicht durch diese Krankheit, sondern durch irgendeinen Unfall, den wir nicht voraussehen können – um das Leben kämest, würde ich deshalb verloren sein? Und würde diese Furcht, mich auf mich selbst angewiesen zu hinterlassen, die dich so sehr quält, würde sie sich auch, wenn sie in Erfüllung ginge, so gräßlich bewähren, wie deine zärtliche Liebe sie dir ausmalt?«

»Ach!«

»Was gräßlich, wäre die moralische Verzweiflung, wäre, dich nicht mehr zu sehen, wäre, dieser Zärtlichkeit, die mich seit meiner Kindheit so sehr beglückt, verlustig zu sein!«

Trotz der Kraftanstrengung, die sie machte, um ihre Fassung beizubehalten und nicht ihrer Rührung zu erliegen, vermochte sie doch nicht, indem sie diese Katastrophe, die sie als unmöglich bezeichnete, aber für so drohend erkannte, besprach, ihre Stimme derart zu beherrschen, daß sie nicht zitterte und ihr nicht mit einemmale – so schnürte ihr die Angst die Kehle zusammen! – brach. Doch fast sofort, verzweiflungsvoll sich aufraffend, sprach sie weiter:

»Ich will sagen, daß, von einem unsäglichen Schmerze abgesehen, nicht alles verloren wäre. Ich bin kein Kind mehr; ich bin auch nicht schwächlich, bin nicht unfähig zur Arbeit, nicht außer stande, mein Brot zu verdienen. Was du mich gelehrt, würde mir irgendwie nützen; ich besitze hinreichende Kenntnisse, um Unterricht zu erteilen; ich habe gute Zeugnisse; du siehst also wohl, daß ich nicht Hungers sterben würde.«

»Mit neunzehn Jahren! Ach, meine arme Tochter, welch' eine Gewissenspein, nichts für dich gethan zu haben!«

»Alles hast du gethan, weil du mich in den Stand gesetzt, selbst wirken zu können. Wenn es sein muß, werde ich stark und mutig sein – ich verspreche es dir, ich schwöre es dir zu.«

Und seine Hand erfassend, drückte sie einen Kuß darauf, wie um diesen Schwur, welchem die über ihrem Vater schwebende und von ihr schon als hereinbrechend erblickte Gefahr ein so feierliches Gepräge verlieh, zu besiegeln.

»So viele Schönheit!« sagte er, offenbar weit mehr seinen innersten Gedanken verfolgend, als daß er auf das, was sie gesagt hatte, antwortete.

Beiderseits trat Schweigen ein, und eine Weile mühte er, nach vorne gebeugt, sich ab, etwas Luft einzuschöpfen; denn die Atemnot nahm empfindlich zu, gleichzeitig mit der Blässe seines Gesichtes und der Ängstlichkeit seines Blickes.

»Überall, wohin meine Augen sich richten, ersehe ich nur Gefahren für dich,« begann er wieder. »Ach, ich war allzu stolz auf deine Schönheit! Und was würde aus deiner armen Großmutter werden?«

»Aber werde denn nicht ich um sie sein?«

»Ja, ja, gelt, du wirst mich ersetzen?«

»O, ich schwöre es dir.«

Die Thür ging auf, Doktor Graux trat ein.

»Nun,« sagte dieser, nachdem er seinen Kranken scharf in das Auge gefaßt. »Ich bemerke mit Freuden, daß es uns besser geht.«

»Sie finden das, Doktor?«

»Das ist augenscheinlich.«

»Ich fühle mich nicht besser; im Gegenteile, mir ist zum Ersticken, mir ist, als ob mir in jedem Augenblicke die Sinne vergehen würden.«

»Nun, und wenn auch solch ein Fall einträte, deshalb brauchen Sie sich nicht zu ängstigen.«

Allein vor Helene, welche ihn hinaus begleitete, behielt er solche Zuversichtlichkeit nicht bei.

»Es will nicht vorwärts gehen,« sagte er, »das Herz beruhigt sich nicht; Ihr Herr Vater hat wohl Aufregungen, vielleicht gar Verdrießlichkeiten, gehabt?«

»Ja.«

»Das muß um jeden Preis hintangehalten werden.«

»Ich habe es ohnehin versucht; es ist mir nicht möglich gewesen.«

»Wenn wir wieder Ohnmachtsfälle bekommen, so stehe ich für nichts.«

»Kann man diesen nicht vorbeugen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Falls sie sich einstellen,« sagte Helene zitternd, »was soll ich thun?«

»Hoffen wir, daß sich keiner einstellen wird.«

»Aber wenn diese Hoffnung nicht in Erfüllung ginge?« Er zögerte einen Augenblick.

»Dann lassen Sie mich nur schnell holen!«

Helene hörte davon gar nichts mehr: sie eilte die Treppe hinan, es drängte sie, bei ihrem Vater zu sein; von Befürchtungen erfüllt, wollte sie an seiner Seite sein, wenngleich sie nicht wußte, was sie zu thun vermöchte, wenn eine Ohnmacht ihm zustieße.

Der Abend verstrich ohne neue Beschwerden; doch schien sich der allgemeine Zustand zu verschlechtern.

Auch die Nacht war außerordentlich peinvoll für den armen vom Schlaf überwältigten Kranken, der sofort, wie er einschlummerte, halb erstickt wieder aufwachte.

Helene, die nicht von seiner Seite wich, verwandte auch kein Auge von ihm. Gegen Morgen gewahrte sie, daß er in die Kissen hineinsank und das Haupt nach vorne fallen ließ, wie er es bereits mehrere Male, wenn er einschlummerte, gethan.

Gleichwohl war es nicht ganz die nämliche Bewegung.

Darüber erschreckt, wollte sie ihm das Haupt heben: es hatte keinen Halt mehr.

»Vater!« schrie sie auf »Vater …«

Sie legte ihm ihre Hand auf das Herz, aber sie fand es nicht; sie horchte mit dem Ohre dicht an seiner Brust, aber sie vernahm nichts.

»Vater, antworte mir!«

Mit einemmale von der Erkenntnis der gräßlichen Wirklichkeit niedergeschmettert, sank sie über ihn hin mit dem wimmernden Ausrufe:

»Vater, sage mir doch Lebewohl!«

Er war tot. Und dieses Lebewohl, das sie von ihm erflehte, vermochte er ihr nicht zu sagen.


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