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10. Kapitel

Es folgten nun schwere Tage und Nächte, in denen die beiden Frauen keinen Augenblick vom Krankenbett wichen, keinen Augenblick sich zum Schlummer niederlegten. Der Kranke phantasierte oder lag in dumpfer Apathie, die Mienen des Arztes wurden immer düsterer. In dieser Zeit kam ein Brief von Weiße, verspätet, weil er erst nach O. gegangen war. Hedwig las ihn nur flüchtig, weil alle ihre Gedanken bei dem Kranken waren, aber doch entging ihr nicht, daß es ein phrasenhafter, inhaltloser Brief war, der sie in ihrem Kummer geradezu peinlich berührte.

Bald sollte indes eine neue Angst und Gefahr den empfangenen Eindruck verwischen. Alles Zureden der Tochter, alle ernsten Mahnungen des Arztes, der die zarte Natur der Mutter kannte, hatten diese nicht vermocht, sich im geringsten zu schonen, auch nur einen Augenblick die so nötige Ruhe zu suchen, und so kam es, daß sie eines Tages am Lager des geliebten Kranken buchstäblich zusammenbrach. Bleich und überwacht, ein Bild der Verzweiflung, wankte nun Hedwig von einem Bett zum andern, endlich übernahm eine barmherzige Schwester die Pflege der Mutter und Hedwig blieb beim Vater, dessen Zustand immer hoffnungsloser wurde.

Bei Ankunft der Pflegerin hatte der Arzt sofort angeordnet, daß die Kranke in ein entferntes Zimmer gebracht wurde. Er wußte, was er that; kaum einen Tag später hauchte ihr so innig geliebter Gatte in Hedwigs Armen seinen letzten Seufzer aus, ohne daß die Kranke eine Ahnung hatte, welch unersetzlicher Verlust sie betroffen. Die traurigen Vorbereitungen zum letzten Gange, die Beerdigung selbst, die Beileidsbesuche, alles ging vorüber, ohne sie zu berühren, selbst von dem Besuch des Oberstleutnants, der auf die Zeitungsnachricht herbeigeeilt war, um den Frauen seine Dienste anzubieten, erfuhr sie nichts, und er reiste ab, ohne sie gesehen zu haben.

Dieses Verhehlen des Geschehenen war durchaus notwendig, da die Kenntnis der Wahrheit der Kranken sofort das Leben gekostet hätte. Der Arzt, jetzt Hedwigs einziger Freund und Helfer, sorgte dafür, daß die Verheimlichung nach allen Richtungen durchgeführt wurde und gab den Hausgenossen strenge Weisung, alles von der Kranken fern zu halten, was sie beunruhigen oder argwöhnisch machen könnte. Zeitungen und Briefe wurden verbrannt, Hedwig mußte auf die Trauerkleidung verzichten und selbst ihren Schmerz beherrschen, wenn sie zur Mutter kam, alle aber waren angewiesen, auf ihre Fragen nach dem Befinden des Mannes beruhigend zu antworten. Die Kranke sollte erst wieder zu Kräften gelangen, ehe man ihr ganz allmählich und mit äußerster Vorsicht die schreckliche Wahrheit enthüllte.

Ohne besondere Schwierigkeit gelang es auf diese Weise, sie in vollkommener Täuschung zu erhalten, und auch als sie auf dem Wege der Besserung war, empfand sie nur Sehnsucht und Ungeduld, endlich den kranken Gatten zu sehen, aber keinen Argwohn. Nun kam jedoch die Zeit, wo sie nicht mehr gänzlich ans Bett gefesselt war, wo sie dasselbe hin und wieder mit dem Lehnstuhl vertauschen konnte, und damit wuchs die Schwierigkeit, sie zu beruhigen. Hedwig mußte jetzt ihre Wachsamkeit verdoppeln, mußte immer neue Komödien erfinden, um die Mutter vom vermeintlichen Krankenzimmer fernzuhalten, gestand sich aber zitternd, daß der Augenblick nahe war, wo der fromme Betrug ein Ende nehmen und die Mutter das Entsetzliche erfahren mußte. Zu vermeiden war es nicht mehr, sobald die letzte Spur der Schwäche beseitigt war, die die Kranke noch am Gehen hinderte, – das gab auch der Arzt zu, – beide berieten also nun über die Art und Weise, wie sie ihr allmählich die Schreckenskunde beibringen sollten, ohne ihr Leben, das bei der Schwäche und Reizbarkeit der durch Überanstrengung zerrütteten Nerven an einem Faden hing, zu gefährden.

In dieser Zeit banger Aufregung war es, als die Kranke eines Nachmittags fest entschlummert war. Sie hatte mit ungewohnter Beharrlichkeit verlangt, ins Krankenzimmer geführt zu werden, auch durch Gehversuche bewiesen, daß sie es imstande war und Hedwig des Eigensinnes beschuldigt, weil sie ihr immer widerstrebte. Hedwig hatte also den ganzen Tag nicht wagen können, das Zimmer zu verlassen, obgleich man draußen in der Küche in häuslichen Angelegenheiten ihrer Anweisungen bedurfte. Jetzt glaubte sie die Mutter, die anscheinend so fest schlief, einige Augenblicke allein lassen zu dürfen und schlüpfte hinaus. Schon hatte sie die Weisungen gegeben und schickte sich an, wieder ins Krankenzimmer zurückzukehren, als die Klingel draußen gezogen wurde. Das Dienstmädchen öffnete und kam mit einem Briefe in der Hand herein, den der Postbote eben gebracht hatte und den sie Hedwig überreichte; in dem Augenblicke aber, da diese die Aufschrift betrachten wollte, um zu wissen, ob sie ihn ins Krankenzimmer mitnehmen dürfe, streckte sich eine Hand aus, die ihn ergriff und festhielt, – die Hand der Mutter.

Das Klingeln hatte sie erweckt, und da sie sich allein sah, stand sie sofort auf, um endlich ihrer Sehnsucht zu folgen und den kranken Gatten zu besuchen. Mit unhörbaren Schritten war sie bis zur offnen Küchenthür gelangt, wo sie Hedwig mit dem Briefe in der Hand sah; scherzend halte sie sich desselben bemächtigt und wehrte nun alle Bitten, ihn zurückzugeben, alle Versuche Hedwigs, ihn ihr mit Gewalt zu entreißen, lachend, aber entschieden ab. »Was soll das heißen?« rief sie, »seit wann bin ich unter Vormundschaft? Sieh her, an mich ist der Brief und niemand soll mich hindern, ihn zu lesen.« Mit diesen Worten erbrach sie das Schreiben; kaum aber hatte sie den Inhalt erfaßt, als sie einen fürchterlichen Schrei ausstieß, mit den Händen in die Luft griff und in heftigen Krämpfen zu Boden sank. Vergebens waren alle verzweifelten Bemühungen der Tochter, vergebens die Anstrengungen des Arztes, das entfliehende Leben aufzuhalten, – kaum eine Stunde später war Hedwig auch der Mutter beraubt. Der verhängnisvolle Brief war von Doktor Weiße und lautete:

 

»Gnädige Frau!

Die Nachricht von dem Hinscheiden Ihres Herrn Gemahls, meines verehrten Freundes und Gönners, hat mich verspätet erreicht, es war mir daher nicht möglich, zu der Bestattung zu kommen und erst heut kann ich Ihnen mein Beileid versichern. Glauben Sie nichtsdestoweniger, daß ich, tief erschüttert, Ihren Schmerz nachfühle und teile und glauben Sie auch, verehrte Frau, an meine treue Ergebenheit, mit der ich mich nenne

Ihren Sie hochschätzenden Freund
Dr. Gustav Weiße.

Dem gnädigen Fräulein meine
herzliche Kondolation.«

 

Es war nicht nur die schreckliche Bedeutung, die dieser Brief für ihr Leben gewonnen, was Hedwig abermals so peinlich berührte. Sie war gerecht genug, sich zu sagen, daß der Schreiber die Wirkung seiner Worte nicht hatte berechnen können, also an den Folgen schuldlos war; aber der ganze Ton des Briefes war so abweichend von dem, was sie erwarten durfte, so seltsam förmlich, daß es sie wie mit Eiseskälte daraus anwehte. Später fiel ihr ein, daß sie seinen vorigen Brief nicht beantwortet, ihm den Tod des Vaters nicht angezeigt hatte. Das war es, – er fühlte sich verletzt durch solche Behandlung und hatte ein Recht dazu; so schwer es ihr wurde, mußte sie das Unrecht wieder gut machen, indem sie, wie er es ja verlangt hatte, ihre Zukunft in seine Hand legte. Ja, sie wollte ihm in diesem Sinne schreiben und zwar bald. Wieder war es der treue Arzt, der ihr zur Seite stand, wieder erschien der Oberstleutnant, und dieser bot ihr mit liebevoller Wärme einen Platz in seinem Hause an. »Ich bin des Junggesellenhaushalts müde,« sagte er, »und will auch wieder einmal wissen, was eine Heimat ist. Da hat meine Schwester, die jetzt Witwe geworden, mir vorgeschlagen, ich soll mit Olga zu ihr ziehen; sie hat ein großes Gut und denkt, daß der alte Bruder doch immer ein Mann ist und ihr bei der Verwaltung nützen kann. Wenn Sie aber zu mir kommen wollen, Hedchen, dann nehme ich meine Olga zu mir und wir bilden selbst eine Familie. Thun Sie es, an Vater- und Schwesternliebe soll es Ihnen nicht fehlen, wenn wir Ihnen auch nicht alles ersetzen können; kommen Sie, Kind!«

Auch Frau von Rechnitz war mit ihren Mädchen gekommen und hatte ihr ein Heim in ihrer Familie angeboten, Hedwig aber lehnte beiden mit warmem Danke ab. Sie fühlte sich nicht berechtigt, über ihre Person zu verfügen, nachdem sie dem Doktor versprochen, ihm anzugehören; er mußte ihr Schicksal jetzt bestimmen, und sie erwartete sicher, daß er auf die Nachricht von ihrem Unglück sofort kommen und sie in Anspruch nehmen werde. Sie erbebte bei dem Gedanken, alles in ihr sträubte sich gegen eine Verbindung mit dem Manne, der den Tod ihrer Mutter herbeigeführt, – aber sie durfte niemand ein Recht einräumen, das unstreitig das seine war. Frau von Rechnitz war zu taktvoll, um nach Gründen der Weigerung zu fragen; auch Normann that dies nicht, aber er war tief verletzt und sagte Hedwig beim Scheiden, er habe es gut gemeint, da sie aber die bescheidene Heimat bei ihm durchaus verschmähe, werde er noch heut an seine Schwester schreiben, daß er hinkommen wolle.

Hedwig war nun allein und begann sogleich den Brief, der ihr so große Überwindung kostete und doch geschrieben werden mußte.

»Lieber Gustav!« lautete er, »Mein Unglück ist größer, als Du ahnst; auch die geliebte Mutter hat mir der Tod geraubt. Ich bin nun ganz allein, allein und arm, – denn die Nachricht von dem Verlust unseres Vermögens war es, die des Vaters Tod verursachte. Herr von Normann war da, um mir ein Heim bei sich anzubieten, Baronin Rechnitz ebenfalls, ich glaubte aber richtig zu handeln, daß ich diese Anerbietungen ablehnte, um Dir die Verfügung über meine Zukunft zu überlassen. Komm, sobald Du kannst, zu Deiner unglücklichen Hedwig.«

Der Brief ging ab, und Hedwig sah mit steigender Angst der Ankunft Weißes entgegen; aber ein Tag nach dem andern verging, ohne ihn zu bringen. Am vierten erschien bei ihr ein ältlicher, hochmütig aussehender Herr, der sich als ihr Onkel und Vormund vorstellte. Er erzählte ihr, daß seine Frau mit ihrer Schwester, der Mutter Hedwigs, seit Jahren verfeindet gewesen, weil ihre Ansichten so sehr wenig übereinstimmten, daß sie ihn aber trotzdem bestimmt habe, die Vormundschaft über die so verlassene Waise zu übernehmen und sogar willens sei, derselben ein Asyl in ihrem Hause zu gewähren. Der Zweck seines Hierseins sei, sie abzuholen.

»Ich danke Ihnen, lieber Onkel,« sagte Hedwig. »Sie sind sehr gut, – aber ich möchte um die Erlaubnis bitten, erst noch eine Nachricht abzuwarten, ehe ich mich entscheide –«.

»Entscheiden?« erwiderte der Onkel schroff, »Sie scheinen die Sache ja eigentümlich aufzufassen. Da ist nichts zu entscheiden und zu überlegen. Ganz abgesehen davon, daß ich Ihr Vormund bin und über Ihren Aufenthalt zu bestimmen habe, müssen Sie froh sein, daß Sie überhaupt anständig unterkommen. Dank dem Leichtsinn Ihres Vaters« – Hedwig zuckte zusammen und wollte etwas erwidern, der Onkel aber schnitt ihr das Wort ab, indem er weitersprach: »Dank seiner Handlungsweise sind Sie ganz arm, müssen es also als eine Wohlthat betrachten, im Hause des Kommerzienrat Bandolf, wenn auch in bescheidener Stellung, leben zu können. Der Bettelstolz, den Sie noch zu besitzen scheinen, ist in Ihren Verhältnissen gar nicht am Platze.«

In diesem Augenblicke brachte die alte Dienerin Hedwig einen soeben angekommenen Brief. Sie bat den Onkel um Entschuldigung und las:

 

»Mein Fräulein!

Einem Unglück wie dem Ihrigen gegenüber erscheint jedes Trosteswort unangemessen. Ich begnüge mich also mit der Versicherung meiner innigen Teilnahme und bitte Sie, zu glauben, daß ich wohl wünschte, das Vertrauen, mit dem Sie mich beehren, rechtfertigen zu können. Leider kann ich dies aber nicht. Meine Lage ist, wenn auch augenblicklich gerade nicht ungünstig, doch immerhin noch eine so unsichere, daß es ein Frevel und Leichtsinn wäre, unter den jetzt so veränderten Verhältnissen irgendwie bestimmend auf Ihr Schicksal einzuwirken. Wenn Herr von Normann oder Frau von Rechnitz Sie aufnehmen will, so ist das für ein armes Mädchen eine über alle Erwartung günstige Chance, und fern sei es von mir, Ihre Entschließungen zu Gunsten derselben irgendwie zu hindern. Es ist mir im Gegenteil eine Freude und Genugthuung, Sie, verehrtes Fräulein, unter so gutem Schutze zu wissen. Mit den besten Wünschen für Ihre Zukunft

Ihr ganz ergebener
Dr. G. W.«

 

Mehrere Minuten saß Hedwig wie erstarrt da, unfähig, zu denken oder sich zu fassen. Nur das Gefühl ihrer grenzenlosen Verlassenheit überkam sie mit niederschmetternder Gewalt, und dann hatte sie die dunkle Vorstellung, wie schön es sein müßte, den Heimgegangenen folgen zu können, fort, fort aus all dem Jammer, fort aus dem Elend und Schmerz. Endlich aber, als ihr die Gegenwart des Onkels zum Bewußtsein kam, raffte sie sich gewaltsam auf. Sie riß den Brief in tausend Stücke, dann streckte sie dem Onkel die Hand hin und sagte mit heiserer Stimme: »Verzeihen Sie mein Zögern, es war nicht Stolz, gewiß nicht, – ich bitte, nehmen Sie mich mit, – und seien Sie gut zu mir, – ich bin ja so namenlos unglücklich!«


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