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9. Kapitel

Der Geheimrat hatte sein Versprechen, sich im Interesse des Doktors zu bemühen, nicht vergessen und an verschiedene einflußreiche Freunde Schreiben gerichtet, in denen er die dringende Bitte aussprach, die Adressaten möchten einem ihm bekannten, außerordentlich kenntnisreichen, befähigten Manne zu einer seiner Bildung entsprechenden Stellung verhelfen. Alle einlaufenden Antworten enthielten die feste Zusage, den Schützling eines so werten Freundes bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit zu berücksichtigen, zuletzt aber kam ein Schreiben an, das schon eine bestimmte Aussicht eröffnete. Es kam aus der Provinzialhauptstadt von Baron Röver, dem Intendanten des dortigen, eben erst zu größerer Bedeutung gelangten Theaters. »Wenn der erwähnte Herr,« so schrieb der alte Schul- und Universitätsfreund, »eine gründliche litterarische Bildung, kritisches Feingefühl und genügende Schreibgewandtheit besitzt, um vorkommenden Falls einen Artikel selbständig zu verfassen, so kann ihm und mir geholfen werden. Unser aufblühendes Institut bedarf eines Dramaturgen, ich selbst einer zuverlässigen Kraft, die mir bei den Intendanturgeschäften behilflich ist. Die Stellung ist möglichst bald anzutreten, voraussichtlich dauernd und so gut dotiert, daß sie auch einer Familie anständigen Unterhalt gewährt.

Verzeihe die Indiskretion, alter Freund, – ich glaube, daß letzterer Umstand auch Deinem reizenden Töchterchen nicht gleichgiltig sein dürfte, insofern sie wahrscheinlich dem so warm empfohlenen, plötzlich aufgetauchten Schützling nicht ganz fern steht. Nun, wie dem auch sei, er soll mir, wenn er Lust und Befähigung zu der Stelle hat, willkommen sein. Der Form wegen erbitte ich von ihm eine Art Bewerbungsschreiben, – als Unterlage für seine Bestallung, – danach erwarte ich den Herrn von heut in acht Tagen in meinem Büreau zu sofortiger Einführung in seine Thätigkeit. Mit Zeugnissen und sonstigen Belegen soll er mich verschonen, – einer, den Du empfiehlst, bedarf dessen nicht.«

Noch am Tage der Ankunft dieses verheißungsvollen Briefes ging das Bewerbungsschreiben und die Zusicherung pünktlichen Eintreffens zum Amtsantritt ab. Der Geheimrat schrieb ebenfalls; er sprach seinen herzlichen Dank für die Bereitwilligkeit und das Vertrauen des Freundes aus, stellte aber jede Beziehung des Empfohlenen zu Hedwig in Abrede. Der arglose Vater ahnte nicht, daß Doktor Weiße sie bereits dahin gebracht, ihm ihre Hand zuzusagen, ihm das trauliche »Du« in der Anrede zu gewähren, noch weniger aber, daß nicht wahre Liebe, nicht der freie Zug des Herzens sie dazu vermocht, sondern der ungesunde Zauber, den er auf ihre Phantasie ausübte, und der schwärmerische Wahn, mit der Hingabe ihres Lebens an diesen Mann einem Unglücklichen den verlorenen Glauben wiederzugeben.

Der Tag der Abreise war gekommen und Hedwig traf mit dem Scheidenden noch für wenige Augenblicke im Kursaal zusammen. Er hatte von ihren Eltern und dem Oberstleutnant bereits Abschied genommen; der Dank, den er dem Geheimrat aussprach, war geradezu überschwänglich gewesen, und er hatte gelobt, sich der gütigen Empfehlung stets würdig zu zeigen. Jetzt standen die beiden Verlobten beim Piano einander gegenüber mit dem vollen Bewußtsein, daß dies kurz bemessene letzte Beisammensein eine Aussprache zur Pflicht machte und doch außer stande, die rechten Worte zu finden. Hedwig war mit sich selbst darüber unzufrieden, daß sich in diesem Augenblicke so gar kein wärmeres Gefühl für den Erwählten in ihr regte. Doktor Weiße, der nichts ohne Absicht zu thun pflegte, hatte es, seit der Brief des Intendanten ihm die Anstellung gesichert, nicht mehr für nötig gefunden, den Apparat seiner Liebenswürdigkeit und Bestechungskunst spielen zu lassen. Er hatte erreicht, was er wollte, – auch Hedwig, das vornehme, vermögende Mädchen, war ihm durch ihr gegebenes Wort sicher, – was bedurfte es also jetzt der Bemühung? Er ließ sich Hedwig gegenüber gehen, setzte das Rüstzeug der Blicke, Lieder und klagenden Hinweise auf sein verfehltes Leben, welche letzteren ja ohnehin jetzt nicht mehr paßten, außer Thätigkeit, – kurz, er zeigte sich in keiner Weise mehr ungewöhnlich. Damit begab er sich aber der Macht, die er über die Phantasie des Mädchens geübt; der Zauber war gebrochen, sie sah mit nüchternem Auge den Mann, zu dem nichts, nichts mehr sie hinzog. Gleichwohl fühlte sie, daß derselbe mit ihrem Wort ein Anrecht an ihre Liebe erworben hatte und nannte sich selbst wortbrüchig, wankelmütig, schlecht, weil sie nicht mehr im stande war, die eingegangene Verpflichtung im rechten Sinne zu erfüllen. Reumütig, schuldbewußt sah sie zu ihm hin, – ja, er war sichtlich verstimmt, er grämte sich über ihre Kälte.

»Gustav,« begann sie, »hast Du mich denn wirklich sehr lieb, so recht von Herzen? Bin ich zu Deinem Glücke wirklich notwendig?« »Aber welche Frage, meine Hedwig!« rief er mit einem seiner alten Blicke, »Du bist unwiderruflich mein, und für alle Zukunft ist Dein Platz bei mir. Sobald ich dort im Amt festen Fuß gefaßt habe, schreibe ich an Deine Eltern und bitte um Deine Hand, und dann soll es nicht lange dauern, so hole ich Dich heim. Einstweilen aber betrachte mich schon als den Herrn Deiner Zukunft, – hörst Du, Hedwig, – ohne den Du nichts Wichtiges beschließen darfst. Aber die Zeit ist da – wahrhaftig, ich muß fort. Lebwohl, auf Wiedersehen!« – Er zog sie an sich und einen kurzen Moment ließ sie es geschehen, da sie nicht den Mut fand, ihn in diesem Augenblicke zurückzuweisen; aber mit leisem Schauder riß sie sich alsbald los und sah, in der That mit einem Gefühl der Erleichterung, wie er seine Reisetasche vom Boden aufnahm und in voller Eile fortstürmte, dem ziemlich entfernten Bahnhofe zu.

In trübem Sinnen stand sie noch eine Weile an dem Platz, wo er sie verlassen. Wie sollte das werden? Was hatte sie gethan! Sie war unauflöslich an diesen Mann gebunden, der sie liebte, auf sie rechnete, – und sie liebte ihn nicht! Nein, so sehr ihr redlicher Sinn dagegen ankämpfte, sie konnte, konnte ihn nicht lieben, – im Augenblick des Abschieds hatte sie erkannt, daß er ihr sogar Grauen einflößte, daß etwas in seinem Wesen ihre Seele abstieß, sie anwiderte. Das Bild des Lehrers in seiner männlichen Schönheit, mit dem Ausdruck des Seelenadels, der Treue und Wahrhaftigkeit in jedem Zuge stand abermals vor ihr, und was ihre kindliche Unbefangenheit bisher nie begriffen, nie geahnt hatte, in diesem Augenblicke ward es ihr deutlich bewußt: auch er liebte sie, nicht nur als die gute, befähigte Schülerin, sondern als das Mädchen, das für sein Leben von Bedeutung war, als das Weib seiner Zukunft. Und sie! Mit jedem Atemzuge gehörte sie ihm, ihm allein, er war der leuchtende Stern, nach dem sie sehnend schaute, der Mittelpunkt ihrer Gedanken, – alles, alles war er ihr, und als das Höchste und Schönste, was sie vom Leben erhoffte, erschien ihr das Glück, ihn wiederzusehen. Aber nun kam die Erkenntnis zu spät; wenn je das Schicksal sie wieder zusammenführte, konnte es nicht mehr in der Weise sein, wie sie, wie Helmstädt es sich gedacht, – sie war dann für ihn verloren, – auf ewig!

Mit einem schmerzlichen Seufzer strich sie über ihre Stirn, als wolle sie alle diese Gedanken fortwischen. Zu spät war es ja, zu spät; sie durfte nun nicht zurückschauen, sondern mußte versuchen, ihr Herz dem Manne, dem sie fortan gehören sollte, in Liebe wieder zuzuwenden. Vielleicht gelang es ihr mit der Zeit, und wenn nicht, so durfte er den Mangel an Zuneigung nicht bemerken, nicht empfinden, – er, der Unschuldige, sollte nie unter den Wandlungen ihres launenhaften Herzens leiden. Das war ihre heilige Pflicht, ihre Aufgabe, und sie faßte den Entschluß, sie mit tapferer Selbstüberwindung zu erfüllen.

Außer Hedwig war noch einer, der die Abreise des Doktors wie eine Erleichterung empfand, – Oberstleutnant von Normann. Diesem war nun einmal der Mann verdächtig und unsympathisch, auch hatte der biedere alte Herr noch manche Wahrnehmung gemacht, die ihm ein Einverständnis zwischen dem Doktor und Hedwig zweifellos erscheinen ließ, und so war er von Herzen froh, ihn fern zu wissen. Anders der Geheimrat. Er freute sich aufrichtig, durch seine Fürsprache dem Schützling zu so guter Versorgung verholfen zu haben, aber der gewandte, unermüdliche Gesellschafter fehlte ihm sehr und auch die Rätin vermißte ihn. Dazu wurden die Tage kürzer, ein früher Herbst kündigte sich mit Frost, Stürmen und Regenschauern an, kurz, es wurde nachgerade ungemütlich, und der Geheimrat begann in zunehmender Kränklichkeit sich nach der wohlverwahrten, behaglichen Stadtwohnung zu sehnen. So rüstete die Familie denn wenige Tage nach der Abreise des Doktors zur Heimfahrt, und auch der Oberstleutnant hatte dieselbe beschlossen, da der Wetterumschlag sich in seinem rheumatischen Körper arg fühlbar machte und nichts ihn nach der Entfernung der Familie am Orte festhielt.

Der Sonntag wurde noch gemeinsam an der Wolfgangsquelle verbracht, am nächsten Nachmittage aber begleitete Herr von Normann die Familie schon zum Bahnhofe. Er selbst wollte am anderen Tage ebenfalls abreisen. Es wurde beim Abschied nur wenig gesprochen, aber jeder einzelne nahm die Überzeugung mit sich fort, daß das kurze Beisammensein doch ein festes Band der Anhänglichkeit und Achtung, ja der wirklichen Freundschaft zwischen den Herzen geknüpft hatte.

Von der Abreise Wöllners war die alte Dienerin des Hauses benachrichtigt worden, und so brannte bei der Ankunft ein lustiges Feuer im Kamin und alles war auf das behaglichste hergerichtet. Mit Entzücken begrüßte der Rat, der in den letzten Tagen weit mehr gelitten hatte, als er den Seinigen gestand, die gemütlichen Räume. »Es war hohe Zeit,« sagte er, als er tief aufatmend es sich im weichen Lehnstuhl bequem machte, »lange hätte ich es da oben nicht mehr ausgehalten. Der Doktor hat's gut gemeint mit der Sommerfrische, und es war ja auch wunderschön, aber weißt Du, Adelheid, – ich glaube, ich tauge zu so was auch schon nicht mehr; für mich ist's am besten zu Hause. Du glaubst nicht, wie ich mich in letzter Zeit nach dem Plätzchen hier gesehnt habe. Wie der Friedel im Holtei'schen Gedicht hätte ich ›natschen‹ mögen, – losheulen nämlich – und nur immerfort sagen: ›Heem will ich, suste nischt, ack heem!‹«

In diesem Augenblicke brachte das Mädchen einen Brief herein und berichtete, derselbe sei schon am Morgen angekommen. »Ah, aus Berlin, von meinem Freunde, dem Justizrat,« rief Wöllner erfreut und erbrach das Schreiben. Aber schon nach dem Lesen der ersten Zeilen sank er, laut aufstöhnend und totenbleich, in den Stuhl zurück. Hedwig sprang hinzu und umschlang den Vater zärtlich, die Mutter aber nahm ihm den Unglücksbrief aus der Hand und las, selbst im Innersten erschüttert, folgendes:

 

»Lieber alter Freund!

Die Rolle des Unglücksraben hat nie etwas Verlockendes für mich gehabt, aber es hilft nichts, ich muß sie Dir gegenüber spielen. Du wünschtest vor einiger Zeit von mir Auskunft über Deinen jungen Landsmann, den Bankier Lindheim hier, der sich Dir und anderen bemittelten Bewohnern seiner Vaterstadt zur vorteilhaften Verwaltung ihres Vermögens angeboten hatte. Nun, ich konnte damals nach Pflicht und Gewissen nur Gutes sagen. Lindheim war von Haus aus wohlhabend, dabei als solide bekannt und ein tüchtiger Geschäftsmann, seine Firma schien durchaus zuverlässig und war es auch, bis – – na, ruhig Blut, alter Freund, es muß doch nun einmal gesagt werden, – also unser Lindheim hat sich in Börsenspekulationen eingelassen und, da sie mißglückten, geschoben und hingehalten, bis er die Verluste nicht mehr aus Eignem decken konnte. Danach hat er versucht, mit fremden Geldern die Sache wieder ins Geleis zu bringen, hat aber auch diese verloren, bis eines schönen Tages sämtliche Deposita, auch das Deinige, armer Freund, geopfert waren. Der Unglückliche ist flüchtig, niemand weiß, wohin er sich gewendet, die prachtvolle Einrichtung seiner Wohnung und was er sonst besaß, mit Beschlag belegt. Seine alte Mutter, die er erst kurze Zeit bei sich hatte, ist bettelarm aus dem Hause gegangen und wohnt mit einer jungen Gesellschafterin im Arbeiterviertel, Ostbahnstr. 72, Hof II., bei Witwe Strauß. Ich teile Dir die Adresse mit für den Fall, daß Du Dich vielleicht mit ihr in Verbindung setzen möchtest, was freilich wenig nützen dürfte. Arme alte Dame!

Sei ein Mann, Wöllner, füge Dich in das Unabänderliche und denke, um wie viel besser Du daran bist, als der Lindheim, der jetzt mit seinem belasteten Gewissen in der Welt umherirrt. Und sei mir nicht böse wegen der unglücklichen Botschaft. Besser doch, Du erfährst sie so, als durch die erste, beste Zeitung. Mit brüderlichem Handschlag Dein Freund

R. Heinrich, Justizrat.«

 

»Er hat Recht,« sagte die Rätin und gab Hedwig, die mit unruhig fragender Miene die Hand ausstreckte, den Brief, »Du mußt Dich fassen, lieber Mann, und Gott danken, daß es sich nur um Geld handelt, die höchsten und wertvollsten Güter uns aber geblieben sind. Denke doch an die arme Mutter des Schuldigen.«

»Aber es ist Dein Vermögen, Adelheid,« flüsterte der Rat, »das Erbteil unseres Kindes. Wenn ich die Augen zumache, seid Ihr auf die Witwenpension angewiesen, zu viel zum Sterben, aber zu wenig zum Leben. Unverantwortlich leichtsinnig habe ich gehandelt, – empörend! Diese Reue, sie brennt mir im Herzen, ich ertrage es nicht!«

Noch am späten Abende mußte der Arzt gerufen werden. Der Geheimrat, der schon erkältet und nervös leidend von O. gekommen war, hatte durch die Nachricht einen Schlag erhalten, der ihn vollends niederwarf und der Arzt fand seinen Zustand nicht unbedenklich. Frau und Tochter wachten in namenloser Angst an seinem Lager, sie führten mit peinlicher Sorgfalt alle Anordnungen des Arztes aus, als dieser aber am anderen Morgen wiederkam, verriet seine ernste Miene, daß die Krankheit einen bedrohlichen Charakter angenommen hatte.


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