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1. Kapitel

Eigentlich ist's schade um ihn!« – »Schrecklich ernsthaft, immer so ganz bei der Sache.« – – – »Der Nachfolger? Kleiner, drolliger Mensch mit langer Nase, sächsischem Dialekt, hab's von meinem Bruder, der ihn irgendwo kennen gelernt – –.« »Wird ja rührend werden.« »Ja, paßt mal auf, was wir jetzt für Spaß haben werden; das scheint doch einer, mit dem sich was aufstellen läßt. – – –«

Solche und ähnliche Redensarten schwirrten im Klassenzimmer der Selekta durch einander. Die Mädchen standen in Gruppen beisammen und besprachen das zu erwartende große Tagesereignis, den Abschied des Hilfslehrers von Schule und Schülerinnen. Kandidat Helmstädt war an eine entfernte Pfarre als Prediger berufen worden und sollte jetzt zum letzten Mal vor seine Schülerinnen treten. Jede derselben hatte ihm ihr Album oder in Ermangelung eines solchen ein mit ihrem Namen bezeichnetes Blatt mitgegeben und er hatte versprochen, diese Bücher und Blätter mit solchen Inschriften zurückgegeben, die auf die Eigentümerin besonders paßten, ihr Abschiedswort und Andenken zugleich sein sollten.

Die Mädchen, von denen einige schon die Grenze der Kindheit überschritten hatten, waren in so heiterer, angeregter Stimmung, als gelte es gar keinen Abschied. Für sie war die bevorstehende ungewöhnliche Scene sowie der Antritt des neuen Lehrers eine angenehme Abwechselung, zumal letzterer eine komische Figur, also zur Zielscheibe des mädchenhaften Mutwillens geeignet sein sollte. Das war doch einmal etwas Neues. Kandidat Helmstädt, so liebenswürdig und klug er sein mochte, – daß er das war, konnte ihm keine absprechen, – blieb sich immer so gleich, gab sich nie eine Blöße, nie Gelegenheit, auch nur den kleinsten Roman anzuspinnen, mit einem Wort, er war nichts mehr und nichts weniger als ein Ausbund von Klugheit und Vortrefflichkeit, mit dem sich »absolut nichts anfangen ließ.« So waren denn alle die plaudernden, lachenden Mädchen darüber einig, die angenehmsten Erwartungen von Späßen und lustigen Intriguen an die Änderung zu knüpfen, und nicht eine im ganzen Saal schien sich der Bedeutung dieser Stunde bewußt zu sein, die den treuen, gewissenhaften und hochbegabten Lehrer für immer aus ihrer Mitte entführen sollte.

Nicht eine? Doch, weit ab von den Gefährtinnen, ganz im Hintergründe des Saales, auf der letzten Schulbank saß, von allen unbemerkt und unbeachtet, ein junges Mädchen, dem der bevorstehende, Abschied sehr nahe zu gehen schien. Sie hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt und an dem Beben der jugendlichen Gestalt sah man, daß sie weinte. Mit der Naivetät eines Kindes gab sich die Sechzehnjährige ihrem Kummer hin; es fiel ihr nicht ein, daß sie eine junge Dame war und als solche das Scheiden eines jungen Mannes nicht so offenkundig betrauern durfte; sie wußte und dachte nur, daß ihr in dieser Stunde etwas Großes, Unersetzliches verloren ging, ihr allein von allen Gefährtinnen, daß ihr junges Herz der erste wahre, tiefe Schmerz treffen sollte und niemand auf der Welt imstande sein würde, ihr das zu sein, was der scheidende Lehrer ihr gewesen.

An die Mitschülerinnen knüpfte sie kein Freundschaftsband, sie standen ihr fern, denn Hedwig Wöllner war so ganz anders als sie alle, war immer anders gewesen. Ein ungewöhnlicher Gefühlsreichtum, ein Hang zur Schwärmerei und Träumerei hatte sie schon als Kind von den mehr nach außen lebenden Altersgenossen isoliert; dazu kam, daß sie ein einziges Kind war und ihr Vater, der Geheimrat Wöllner, wegen großer Kränklichkeit keinen Verkehr der jungen Welt in seinem Hause duldete. So blieb die kleine Hedwig bei ihren Spielen und Beschäftigungen allein und gestaltete dieselben nach ihrer Eigenart. Während andere kleine Mädchen die Puppen an- und auskleideten, am winzigen Kochherd mit winzigem Geschirr hantierten oder sich zu Gesellschafts- und Bewegungsspielen vereinigten, saß die sonderbare Kleine still über ihren Märchenbüchern oder erbaute für sich aus zinnernen Burgen und Schäfereien, aus kleinen Gärten und selbstgefertigten Papierpuppen eine eigne Welt, die sie mit ihrer reichen, schöpferischen Phantasie belebte. Die papiernen Puppen wurden ihr zu den Helden selbsterfundener Geschichten oder gelesener Märchen, die Burgen und Landschaften zum Schauplatz der wunderbaren Erlebnisse, die sie, die Puppen schweigend hin- und herführend, mit ihnen in Scene setzte. Alle diese dramatisierten Geschichten endeten befriedigend; aus den schrecklichsten Gefahren gingen die Guten siegreich hervor und gelangten zu unaussprechlichem Glücke, während die Bösewichter elend umkamen.

Diese Spiele waren aber nicht die einzige Quelle, aus der Hedwig ihre Kindheitsfreuden schöpfte, auch die Natur mit ihren unvergänglichen Reizen und nie erforschten Wundern war ihr ein Gegenstand des höchsten Entzückens. Was zum Lichte emporwuchs und was sich regte, das Moos zu ihren Füßen, der schimmernde Käfer, die Blume des Feldes, jedes Geschöpf Gottes, auch das unscheinbarste, erregte ihre Teilnahme, und hilflose Kreaturen fanden allezeit bei ihr liebevolle Schonung und Pflege. Am mächtigsten aber wirkte auf ihr Herz und ihre Phantasie der Zauber einer schönen Landschaft. Gedanken und Empfindungen wurden dabei in ihr rege, die nach Ausdruck, nach Gestaltung strebten, sie begann in kunstloser, kindlicher Weise das, was sie bewegte, den Eltern mitzuteilen und schrieb es heimlich auf, bis sie für diese Eindrücke, für ihr ganzes reiches Innenleben die poetische Sprache fand und, lange ehe sie die Töchterschule besuchte, zur Dichterin wurde.

Eine so angelegte Natur mußte im Kreise gewöhnlicher Kinder notwendig einsam und unverstanden bleiben. Sie war, als sie die Schule besuchte, von Anfang an eine Ausnahmeperson; instinktmäßig rechneten ihre Gefährtinnen bei ihr für alles das, was sie selbst beschäftigte, so wenig auf Interesse, wie sie ihrer Gedanken- und Gefühlswelt Teilnahme schenkten. Hedwig Wöllner imponierte ihnen, sie bewunderten sie wegen der vielen Kenntnisse und Fähigkeiten, die sie vor allen voraus hatte, namentlich wegen ihrer herrlichen, durchdachten und formvollendeten Aufsätze, sie beneideten sie um ihre Erfolge und die Gunst der Lehrer, – aber eine Freundin hatte sie nicht, noch suchte sie solche. Da war einer, dessen Zufriedenheit und Wohlwollen sie für alle Mädchenfreundschaft reichlich entschädigte, einer, der sie verstand und würdigte, an dessen geistiger Überlegenheit ihre junge Seele sich emporrankte, – der Kandidat Helmstädt. Mit freudigem Staunen hatte der junge Lehrer die ungewöhnliche Begabung, das herrliche Gemüt des Kindes erkannt, und je mehr sich die lieblichen und seltenen Eigenschaften der jungen Seele in seiner Obhut entfalteten, desto inniger und liebevoller ward seine Teilnahme. Er merkte gar nicht, wie diese Schülerin ihm allmählich so recht ins Herz hineinwuchs, wie er bei seinen Vorträgen eigentlich nur zu ihr sprach, nur sie im Sinn hatte, – und noch weniger war sich Hedwig bewußt, daß sie nur noch in seinem Sinn und Geist dachte, daß all ihre kindlichen Wünsche nur eine Richtung hatten: ihm zu gefallen, seine freundlichen Blicke, seinen Beifall zu erlangen. Demütig und dankbar nahm sie es hin, wenn er durch sanften Tadel den hohen Flug ihrer Phantasie herabzustimmen, sie der wirklichen Welt mehr zuzuführen suchte; sein Wort und Wille war ihr Gesetz, und bald bedurfte es zwischen ihnen kaum noch der Worte, denn sie verstanden einander ohne solche. So wie die reine Seele des jungen Mädchens offen vor dem Lehrer lag, so genügte dessen Blick, die leiseste Veränderung in seiner Miene, um Hedwig zu sagen, wie er es meinte. Ein ununterbrochener Verkehr verband die beiden, ohne daß Helmstädt die Schülerin sichtlich auszeichnete und ohne daß die wachsamen Augen der andern irgend etwas Auffallendes bemerkten.

Und dieser Freund sollte nun scheiden! Ihn würde sie hinfort nicht mehr sehen, seine Stimme nicht mehr hören! In selbstvergessenem Schmerz saß sie da, nur mit dem Gedanken an ihren Verlust beschäftigt, und merkte nicht, daß er, dem ihre Thränen galten, ins Klassenzimmer getreten war.

Ein Ausdruck von Befremden und Enttäuschung malte sich auf Helmstädts Gesicht, als er die ungetrübte Heiterkeit der Mädchengruppen gewahrte, aber nur für wenige Augenblicke; dann schritt er mit freundlicher Miene zu den einzelnen Gruppen hin, begrüßte jedes der Mädchen und sagte ihm, das mitgebrachte Buch oder Gedenkblatt überreichend, einige herzliche Abschiedsworte. Als er alle bedacht hatte und die Schülerinnen mit dem Lesen und Austauschen ihrer Blätter beschäftigt sah, suchte sein Auge Hedwig. Bei allen Gedanken an die Trennungsstunde hatte sie im Vordergrunde gestanden, sie allein machte ihm das Scheiden schwer, ja, jetzt, da er sie verlieren sollte, fiel plötzlich der verhüllende Schleier von seinem eignen Empfinden und er wußte auf einmal, wie unaussprechlich teuer sie ihm war. Spähend wanderten seine Blicke umher, und als er sie jetzt entdeckte, als er sah, wie sie sich gleich dem todwunden Reh mit ihrem Schmerz in den versteckten Winkel geflüchtet und da weinend saß, weinend um ihn, – da ergriff ihn ein nie gekanntes Gefühl von Rührung und überströmender Zärtlichkeit, von Trauer und Wonne zugleich.

Mit wenigen hastigen Schritten war er an ihrer Seite. »Hedwig,« rief er, sich zu ihr niederbeugend, »meine Hedwig!« – Sie schrak zusammen und blickte empor, gerade in seine Augen, die sich mit seltsam innigem, fragendem Ausdruck auf sie richteten. War es dieser Blick, war es der Ton seiner Stimme oder beides zugleich, das ihr plötzlich das Verräterische ihrer Absonderung und ihrer Thränen, die Bedeutung einer solchen Gefühlsäußerung zum Bewußtsein brachte? Eine heiße Röte überflog ihr kindlich anmutiges Gesicht und in Scham und Verwirrung wollte sie es wieder verhüllen, doch Helmstädt ergriff ihre beiden Hände und hielt sie mit festem Druck in den seinen. »Hedwig, liebe, liebe Hedwig,« begann er noch einmal, »ich scheide mit großem Schmerz von hier – Ihretwegen, – obgleich meine Berufung mir die Aussicht auf eine gute Laufbahn eröffnet; und auch Sie, – auch Sie zeigen, daß es Ihnen leid thut, mich gehen zu sehen, – daß ich Ihnen wert bin, liebe Hedwig. So lassen Sie uns denn denken, daß wir uns nicht für immer zu trennen, nicht zu verlieren brauchen. Nein, wir wollen einander nahe bleiben, trotz der räumlichen Trennung. Ich werde stets an Sie denken, – vergessen Sie auch meiner nicht, halten Sie mich in freundlichem Andenken, bis wir uns wiedersehen. Darf ich darauf rechnen, – werden Sie mich auch ferner – ein wenig lieb behalten, Hedwig?« Wieder traf sie sein ernster, dringend forschender Blick und erweckte in ihrer Seele eine Fülle nie gekannter, beängstigender und zugleich beglückender Empfindungen. Alles, was bisher unverstanden in ihr gelebt, all die Hingebung und Verehrung, die sie dem Lehrer gewidmet, all die Trauer und Seligkeit dieser Stunde spiegelte sich in ihren Augen, die sie jetzt zu ihm erhob, und er las darin noch mehr: ein süßes, schüchternes Bekenntnis, ein frommes Gelübde. Noch einmal drückte er fest und innig ihre Hand, in die er das Gedenkblatt gleiten ließ, noch einmal flüsterte er: »Wir sehen uns wieder!« dann war er von ihrer Seite verschwunden und Hedwig sah ihn nicht mehr.

Lange, nachdem er den Saal verlassen hatte, saß Hedwig noch wie traumbefangen auf ihrem Platze. Wie war ihr doch so Wunderbares geschehen! Er, der Teure, er bat, sie möge ihn nicht vergessen, ihn lieb behalten!

Als ob sie anders könnte, als ob nicht jeder ihrer Gedanken, jede Regung ihres Herzens und jede Faser ihres Seins ihm gehörte, ihm ganz allein! Und sie sollte ihn wiedersehen; wann, wo hatte er nicht gefragt, – gleichviel, sie sollte ihn wiedersehen! Jetzt erinnerte sie sich auch des Blattes, das er ihr gegeben, seines Abschiedsgrußes. Langsam entfaltete sie es, drückte verstohlen ihre Lippen auf die wohlbekannten festen Schriftzüge und las dann:

»Ihr seid Gottes Ackerwerk.«

Sie vermögen, meine liebe, teure Hedwig, Sie allein der Bedeutung dieses Bibelwortes nachzudenken. Leben Sie ihm auch nach, – auf welchen Boden die Vorsehung Sie führen mag, – und bleiben Sie gut

Ihrem treuen Lehrer
Karl Helmstädt.«


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