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3. Kapitel

Am Ende der Brüderstraße, da, wo sie mit dem grünen Gürtel des Festungswalles abschließt, erhebt sich die schöne, altertümliche Kreuzherrnkirche mit dem angrenzenden Kreuzherrnstift. Das Doppelgebäude gehörte einst dem Orden der Kreuz- oder Tempelherrn, und die im byzantinischen Stil erbaute Kirche giebt mit der Vollendung ihrer Form, mit ihren Meisterwerken der Malerei, Schnitz- und Bildhauerkunst im Innern, mit der ganzen Großartigkeit und ehrwürdigen Pracht ihrer Ausführung und Ausstattung Zeugnis von dem Kunstgeschmack und Reichtum der ehemaligen Besitzer. Jetzt halten die frommen Schwestern von St. Borromäus mit andern Gläubigen darin ihre Andacht, und das Stift dient ihnen zur Wohnung, einzelne Räume auch zu Lehrzwecken und zum Aufenthalt altersschwacher Pfleglinge.

Ein mit steinernen Bildwerken geschmücktes Portal führt von der stillen Straße in den noch stilleren Klosterhof. Auf den breiten, mit Gras durchwachsenen Steinfließen hallen die Tritte wieder; in der Mitte befindet sich ein großer, altertümlicher Springbrunnen, der leise wie träumerisch plätschert, dazu rauschen geheimnisvoll die uralten Bäume, die ihn, nur durch einen schmalen Rasengürtel von ihm getrennt, umgeben, – es ist alles märchenhaft, weltabgeschieden in diesem Raum. Und die Mauern, die ihn umgrenzen, – die der Kirche, die rechtwinkelig sich anfügende des Stiftes, sind grün bekleidet, von unten bis oben mit Epheu übersponnen; über das rostige Gartengitter aber ragen die alten Bäume und dichtes Strauchwerk ist durch die Eisenstäbe gewachsen, so daß auch das Gitter wie eine grüne Wand aussieht.

Nicht minder romantisch ist das Innere des Stiftsgebäudes. Ein riesiges Kruzifix erhebt sich am Gipfel der Treppe, das gleichsam das Heiligtum dieses Hauses bewacht und vor dem jeder Vorübergehende betend niederkniet. Da sind lange, hallende, mit alten, dunklen Bildnissen geschmückte Korridore, die Gestalten der Nonnen huschen lautlos wie Gespenster darüber, im ganzen Raum schwebt ein Duft von Weihrauch und Wachskerzen und zeitweise tönen aus der durch einen Gang mit dem Stift verbundenen Kirche feierliche Orgelklänge und Gesang herüber.

Eine andre Welt ist es, als die da draußen; die Poesie des Mittelalters lebt und webt in diesen Räumen, – aber doch verschließen dieselben sich nicht ganz dem Treiben der Gegenwart. An jedem Wochentage zu bestimmten Stunden belebt sich der große Mittelgang mit jugendlichen Gestalten in weltlicher Tracht, die in das zum Schulzimmer umgewandelte Refektorium wandern. Da sind zuerst in früher Morgenstunde die Kinder, die die Klosterschule besuchen mit Einschluß der kleinen Pensionärinnen, dann, an drei Nachmittagen der Woche, die kleinere Anzahl der erwachsenen Schülerinnen, die bei der Soeur Sophie, einer französischen Lehrschwester, Privatunterricht in deren Muttersprache nehmen.

Unter diesen jungen Mädchen finden wir die der Schule entwachsene Hedwig Wöllner. Anfangs nur von dem Wunsche, sich fortzubilden, zu dem Besuch der Stunden getrieben, war sie bald von dem romantischen Zauber des Ortes so eingenommen, so mit Herz und Sinnen gefesselt, daß die Stunden, die sie im Kloster zubrachte, ihr die schönsten und wertvollsten von allen dünkten. Wie in seligem Traum befangen, bewegte sie sich in dieser eng umgrenzten Welt, die ihre Phantasie mit wunderbarem, geheimnisvollem Reize umspann, ja sie wähnte bald, in diese Welt so recht eigentlich zu gehören, nur in ihr ein unbeschreibliches, überschwängliches, ihre ganze Seele erfüllendes Glück zu finden. Eine Natur wie die ihrige konnte nicht ohne hochgespannte Gefühle, nicht ohne Ideale bleiben. Der Lehrer war fern, sie hörte nichts von ihm, und wiewohl sein Bild unverändert in ihrem Herzen lebte, ließ er doch ihre immer wache, nach Anregung verlangende Phantasie unbeschäftigt. Er war und blieb der Leitstern ihres Lebens, der Inbegriff alles Guten, Edeln und Erhabenen, aber seit seinem Weggange mehr eine Idee, eine erhebende und läuternde Vorstellung, als etwas Wirkliches, ihr selbst Erreichbares, und so suchte das verwaiste, glühende Herz nach näherliegenden Gegenständen. Das Kloster, das so ganz den romantischen Träumen ihrer Mädchenseele zu entsprechen schien, das mit allen Einzelheiten auf ihre Sinne wirkte, war ein solcher Gegenstand; dazu kam, daß sie, ebenfalls ihrer Natur gemäß, eine schwärmerische Neigung für die Schwester Sophie faßte, – kurz, sie lebte und webte in dieser Traumwelt, die sie der wirklichen immer mehr entfremdete. Schwester Sophie bemerkte mit freudiger Rührung die ihr gewidmete Verehrung, sowie das ungewöhnliche Interesse Hedwigs für das Klosterleben, und sie zögerte nicht, auf jede Weise auch ihre Zuneigung dem jungen Weltkinde zu erkennen zu geben. Es bildete sich ein Freundschaftsverhältnis zwischen beiden, in dessen Folge Hedwig Erlaubnis bekam, zu jeder Zeit des Tages ins Kloster zu kommen und ungehindert alle Räume zu durchstreifen. Da saß sie denn oft, lange vor Beginn der Unterrichtsstunden, auf der Fensterbank des Refektoriums und schaute, das Fensterkreuz umklammernd, hinunter in den dämmerigen Garten, hinüber auf den grünen, lindenumsäumten Wall, oder sie lehnte, wenn es Abend wurde, im Hofe am plätschernden Springbrunnen und lauschte dem tiefen, melodischen Klange der alten Kirchenglocken, der sich mit dem Vespergesange der Nonnen mischte. Selig, selig dünkte es ihr, immer unter diesen Eindrücken, in dieser stillen Weltabgeschiedenheit nur der klösterlichen Freundin, nur der Poesie und ihren holden Träumen zu leben, und immer mehr gestaltete sich die Sehnsucht zum festen Entschluß, immer vertrauter wurde ihr der Gedanke, die Wünsche ihres Herzens zu verwirklichen.

Ihre Eltern ahnten nichts von dieser Verirrung der jugendlichen Phantasie. Wohl schlossen sie aus dem langen und häufigen Verweilen Hedwigs im Kloster auf ein besonders lebhaftes Interesse an den Lehrstunden oder der Lehrerin, wohl fiel ihnen bei der Tochter in letzter Zeit ein zerstreutes, träumerisches Wesen auf, aber sie waren weit entfernt, das Richtige zu erraten. Besonders die Mutter, die in Hedwigs Wesen viele Züge ihres eignen wiederfand, sah in dieser Ähnlichkeit die Erklärung für manches Wunderliche und Ungewöhnliche im Benehmen des Kindes und war völlig unbesorgt.

»Es ist kein Grund zur Unruhe,« sagte sie zu ihrem Gatten, als dieser von Hedwigs verändertem Benehmen sprach, »ich kenne das, habe es selbst durchlebt und weiß, wie wenig es bedeutet. Es giebt Zeiten im Mädchenleben, wo man auf alle Fälle etwas zum Verehren, zum Anschwärmen haben muß, und in Ermangelung passender Objekte greift man zu unpassenden. So habe ich nach einander die verschiedensten Ideale gehabt. Mein erstes war die Gattin des Schulvorstehers; ohne daß sie es erfuhr, betete ich sie heimlich an und kannte keinen höheren Wunsch, als sie mit Preisgabe meines eigenen Lebens aus großer Gefahr retten zu dürfen und von ihr betrauert und beweint zu werden. Dann kam die Frau eines Musikdirektors an die Reihe. Sie war früher Schauspielerin gewesen, hatte eine vom Tabakschnupfen gerötete Nase, eingesunkene Brust und hektisch rote Wangen, – aber gerade diese letzteren Eigenschaften, als Merkmale hochgradiger Schwindsucht, machten sie mir unendlich interessant. Als sie starb, übertrug ich die ihr gewidmeten Gefühle auf ihren Gatten. Der Mann war über die Vierzig längst hinaus und etwas korpulenter, als man sich Romanhelden gewöhnlich denkt, aber er sang einen hübschen Tenor und der hatte es mir angethan. Auch diese Neigung starb aus Mangel an Nahrung. Dann beschäftigte sich meine Phantasie nach einander mit verschiedenen geistig oder körperlich verkommenen Originalen der Stadt, bei denen ich mich in die beneidenswerte Rolle einer Pflegerin, eines Schutzgeistes dachte; von ihnen war es nur ein kleiner Schritt zu den fahrenden Leuten, den italienischen Leiermännern, den Seiltänzern, Gipsfigurenhändlern, Bärenführern u. s. w. Ein Vagabondenleben wie das ihre schien mir jedes Opfers wert; den jedesmaligen unfrisierten Helden meiner Träume dachte ich mir als Rinaldo, den ich als Rosa in des Waldes tiefsten Gründen zu einem unbeschreiblich herrlichen Liebesleben weckte. Zuletzt galt mein leidenschaftliches Interesse einem schlanken Menschen, der mit der Guitarre singend von Hof zu Hof zog. Am meisten imponierte mir das grüne Band, an dem er sein Instrument trug, und die Art, wie er beim Singen zu mir emporsah, ließ mich auf Erwiderung meiner Gefühle schließen. Ich hatte mir schon ausgedacht, wie ich dem schmachtenden Jüngling zu verstehen geben wollte, daß er hoffen dürfe, da – ja heute lache ich darüber, lieber Mann, und du lachst auch, aber mir war es heiliger Ernst, – da kam es eines Tages heraus, daß der Mann schielte und all die Male, wo ich sein Auge zu mir erhoben glaubte, nach einem Nachbarfenster geschaut hatte, wo ihm regelmäßig ein eingewickeltes Geldstück heruntergeworfen wurde.

Ich weiß nicht, ob meine romantischen Einbildungen damit ihren Abschluß fanden, jedenfalls aber ging ich schließlich aus allen als ganz vernünftiges, praktisches Mädchen hervor, – wie du ja am besten weißt, Richard. – Sie sind eben nichts als Kinderkrankheiten, die jedes lebhaft empfindende, phantasiebegabte Mädchen durchmacht. Man will seinen Roman haben, und kann man ihn nicht wirklich erleben, so spinnt man ihn in Gedanken aus, bis das Herz in einer wirklichen, berechtigten Liebe Beschäftigung findet.«

Der Rat lachte herzlich über die Bekenntnisse seiner Gattin und fühlte sich gleich ihr Hedwigs wegen beruhigt; beide aber unterschätzten die Bedeutung der Schwärmerei, um die es sich hier handelte. Schon hatte Hedwig gegen die Schwester Sophie von ihrem Wunsche und ihrer Absicht, ins Kloster einzutreten, gesprochen, schon wurden alle notwendigen Maßregeln, die dem Schritte vorangehen mußten, besprochen und selbst der Übertritt zum Katholizismus in Betracht gezogen. Daß die fromme Schwester dem Weltkinde gern auf jede Weise die Wege ins Kloster ebnen wollte, konnte ihr nicht verargt werden; sie liebte Hedwig; das Zusammenleben mit einem so liebenswürdigen, reich begabten Mädchen konnte ihr selbst und den andern Schwestern nur erwünscht sein und endlich wußte sie von ihrer jungen Freundin, daß dieselbe ihr Glück und Heil nur von diesem Schritt erwartete. So trug sie kein Bedenken, den Plan nach Kräften zu fördern und stimmte Hedwig bei, die nach geschehenem Übertritt zur katholischen Kirche mit dem fait accompli vor die Eltern treten und ihre Verzeihung, sowie ihre Erlaubnis zu dem weiteren Schritt ins Kloster erbitten wollte.

So standen die Dinge, als Hedwig eines Nachmittags, lange vor Beginn des Unterrichtes, das Refektorium betrat. Sie war heut nicht die erste; ein junges Mädchen in halb weltlicher Tracht saß in der Nähe des Fensters und fuhr bei ihrem Eintritt erschrocken zusammen. Hedwig, die sonst so Scheue, vergaß ihre Zurückhaltung, als sie den Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit in dem hübschen Gesicht und sogar Thränenspuren entdeckte. Sie trat zu ihr. »Warum weinen Sie?« fragte sie mit teilnehmender Stimme. Die Fremde antwortete nicht, sondern schüttelte nur traurig den Kopf. »Sie sind hier fremd, ich aber bin bekannt im Hause, – vielleicht kann ich Ihnen in etwas dienen, eine Schwester herrufen –« fuhr Hedwig fort. Der Ton der Stimme mochte der Fremden den Inhalt der Rede verraten haben, denn sie erhob die dunklen Augen zu der Sprecherin und sagte mit einem kleinen, dankbaren Lächeln: » Vous êtes très bonne, mademoiselle, – je vous remercie!« – »Ah, Sie verstehen kein Deutsch,« sagte Hedwig jetzt französisch, »da mag Ihnen freilich bange werden, – denn Sie wohnen doch hier? Aber die Schwester Sophie ist ja Ihre Landsmännin; warum sprechen Sie nicht mit ihr? Sie ist so gut, so liebenswürdig, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr – –«

»Und doch darf ich gerade ihr nicht sagen, was mich bekümmert, überhaupt niemand in diesem Hause; alle meine Zweifel muß ich in mein Herz verschließen.« – »Armes Fräulein!« sagte Hedwig mitleidig, »ich wollte, ich könnte Ihnen helfen; aber ich bin wohl die ungeeignetste Person dazu, – ein unpraktisches, träumerisches Mädchen und außerdem, wenn auch noch keine gegenwärtige, doch eine künftige Bewohnerin dieses Hauses, wenn meine heißesten Wünsche in Erfüllung gehen.« – »Wie, Sie wünschen hier zu bleiben, für immer?« Hedwig zog einen Stuhl heran, setzte sich zu der Fremden und begann eine glühende Lobrede auf das Klosterleben; aber da geschah ihr etwas Seltsames: während sie den Gefühlen, die bisher unausgesprochen, in traumhafter Unklarheit in ihr gelebt hatten, Worte gab, schienen ihr die Beweggründe, die sie zu dem wichtigen Schritt geleitet, plötzlich ganz merkwürdig nichtig, da war doch eigentlich gar nichts, was eines solchen Opfers wert war. Ein wenig Glockengeläut und Kirchengesang, – ein Garten am Fuße des Festungswalles, – ein wenig Weihrauchduft, – alles sehr schön zum Schwärmen und Dichten, aber doch nicht genug, um das Vaterhaus, die Liebe der Eltern, die Freiheit dafür zu opfern, und andere Beweggründe konnte sie beim besten Willen nicht auffinden. Was bisher ihr ganzes Herz erfüllt, was ihr himmlische Seligkeit erschienen, nahm sich jetzt, da sie es der aufhorchenden Fremden schilderte, in gesprochenen Worten, gleichsam in heller Tagesbeleuchtung und ohne den mystischen Schleier der überspannten Phantasie, ganz kläglich aus. Sie schämte sich förmlich vor der Fremden und brach ziemlich plötzlich ab, indem sie sagte: »Aber ich erzähle Ihnen da von meinen Angelegenheiten und Sie kennen mich noch gar nicht. Ich heiße Hedwig Wöllner und komme vorläufig nur hier zur französischen Stunde bei Schwester Sophie – –«

»Und mein Name ist Constanze Meunier,« sagte das Mädchen. »Seltsam! Sie wollen gegen den Willen der Eltern hier ins Kloster gehen, und ich – ich bin hergeschickt worden und sehr, sehr unglücklich, weil ich nur die Wahl habe, mein junges Leben hier zu vertrauern, oder meine Freiheit durch Ungehorsam gegen die Eltern zu erkaufen. Warum können wir nicht tauschen? Seit gestern Nachmittag bin ich hier und habe noch nichts gethan, als geweint und die heilige Jungfrau um Erleuchtung angefleht, aber in meinem Herzen ist es trübe und dunkel geblieben. Fräulein,« – sie ergriff plötzlich, wie hilfesuchend, Hedwigs Hand, »sind Sie es vielleicht, die die Mutter Gottes mir schickt, daß Sie mir raten? Sie sehen so gut, so redlich und klug aus, ich glaube, ich darf Ihnen vertrauen. –«

Statt aller Antwort drückte Hedwig die Hand der Fremden und sah ihr mit den kindlichen tiefblauen Augen so recht ermutigend in die ihren. »Sagen Sie mir, ich bitte,« begann nun Constanze, »ist es Sünde, frei sein und das Leben genießen zu wollen, wenn man für das Kloster bestimmt ist? Und wenn man solche Wünsche hat, ist es da erlaubt, ins Kloster zu gehen? Kann die heilige Jungfrau solchen Frevel verzeihen? Ich weiß nicht, was ich thun soll, – was ich auch beschließe, es ist Sünde dabei, besonders weil – weil ich so viel an ihn denken muß, der mir gesagt, daß ich nicht hier bleiben soll, – und weil ich es gar nicht ertragen könnte, hier eingekerkert zu sein und ihn nie wiederzusehen.«

Hedwig fand es schwer, auf so viele schwerwiegende Fragen sogleich Antwort zu geben, deshalb wollte sie sich vor allen Dingen einen genauen Einblick in die Sache verschaffen.

»Bitte, Fräulein, erzählen Sie mir alles,« sagte sie sanft, »dann werde ich Ihnen nach bestem Wissen raten.« Constanze berichtete nun von den Verhältnissen ihrer Familie, von der Fahrt hierher, von ihren Gesprächen mit Baron von Rechnitz und dem Versprechen, das sie ihm gegeben. Sie gestand, daß die Entschlossenheit, die seine Beredtsamkeit ihr eingeflößt, in der ersten Stunde ihres Hierseins geschwunden und sie seitdem allen Qualen des Zweifels und der Reue preisgegeben sei.

Hedwig hatte aufmerksam zugehört. Sie verglich in Gedanken die Lage und Gesinnung des fremden Mädchens mit ihrer eignen. Dieses Mädchen kämpfte heldenmütig, in kindlicher Pietät gegen den Entschluß, ihre Freiheit, ihre ganze Zukunft durch berechtigte Selbsthilfe zu schützen, während sie, Hedwig, im Begriff stand, ohne jeden innern Kampf den Eltern zu trotzen, sie bis zum Tode zu betrüben, indem sie um nichtiger Illusionen willen jene kostbaren, unwiederbringlichen Güter, die Constanze so teuer erkaufen wollte, hingab. Unendlich klein und kindisch kam sie sich gegen Constanze vor und es erschien ihr seltsam, daß diese von ihr Rat begehrte. Aber die dunklen Augen blickten sie so voll ängstlicher Erwartung an, daß sie nicht länger mit ihrer Antwort zögern durfte.

»Ihr Reisegefährte hatte Recht,« sagte sie, »und er ist es wert, daß Sie ihm das geleistete Versprechen halten, auch wenn Ihre Eltern nicht nachgeben. Ich bin Protestantin, aber ich weiß, daß die heilige Jungfrau kein Wohlgefallen an einer frommen Schwester haben kann, die mit der Sehnsucht nach der Welt im Herzen den Schleier nimmt; und dann, bedenken Sie, daß es sich um einen Eid, um ein Gelübde handelt. Können Sie jetzt noch mit gutem Gewissen vor den Altar treten und geloben, alle Pflichten Ihres Berufes mit freudiger Entsagung zu erfüllen? Können Sie schwören, daß keiner Ihrer Gedanken der Welt und ihren Freuden gehören werde? Nein, Sie können es nicht, denn niemand ist Herr seiner Gedanken; wenn Sie also dennoch das Gelübde thun, so ist es ein Meineid, nichts Anderes.«

In diesem Augenblick traten mehrere Schülerinnen ein und bald folgte auch Schwester Sophie. Diese nickte beiden Mädchen freundlich zu, sichtlich befriedigt darüber, daß sie schon Bekanntschaft geschlossen hatten. Mit einem vielsagenden Händedruck verließ Hedwig die neugewonnene Freundin, um sich an ihren Platz zu begeben. Bald waren die Schülerinnen vollzählig und der Unterricht begann. Viele neugierige Blicke flogen zu der Fremden hinüber, und Hedwig wurde von denen, die sie im Gespräch mit ihr gesehen, über Name und Art befragt, aber sie lehnte unter dem Vorwande der kurzen Bekanntschaft jede nähere Mitteilung ab.

Nach beendigter Stunde führte Schwester Sophie Hedwig zu dem Gegenstande der allgemeinen Neugier hin. »Ich habe mit Freude gesehen,« sagte sie, »daß Sie mit unsrer Chöre Constanze schon bekannt geworden sind. Bleiben Sie noch ein wenig bei ihr, – sie hat Heimweh, – erzählen Sie ihr, wie hübsch es bei uns ist, damit sie weniger traurig wird. Ich lasse Sie allein bei ihr, – versuchen Sie Ihr Bestes.«

Sie ging, aber kaum hatte sie den Saal verlassen, als aus dem Hintergrunde desselben eine schlanke Mädchengestalt hervortrat und sich den beiden langsam näherte. Die Ankommende war nicht regelmäßig schön zu nennen, aber die ganze Erscheinung trug so unverkennbar den Stempel echter Vornehmheit und edlen Stolzes, war so fein und distinguiert, daß sie überall angenehm auffallen mußte und man die Gesamtheit ihrer äußeren Eigenschaften am besten mit dem Worte »adelig« bezeichnen konnte. Zögernd blieb sie in einiger Entfernung stehen, aber Constanze, die die ältere Schwester ihres Reisegefährten in ihr erkannte, ging zu ihr hin und sagte ihr, auf Hedwig deutend, daß diese von allem wisse und man vor ihr ohne Rückhalt sprechen könne. Sie machte darauf die beiden mit einander bekannt. Man konnte kaum etwas Verschiedeneres sehen, als die formensichere, bei aller weiblichen Anmut fest in sich abgeschlossene Anna von Rechnitz und die kindliche, schwärmerische, herzenswarme Hedwig, – aber vielleicht fanden sie gerade deshalb sogleich ein so inniges Wohlgefallen an einander, daß sie alsbald wie alte Bekannte ins Plaudern kamen und ihre Bemühungen vereinigten, Constanzens letzte Bedenken zu zerstreuen. Schon an diesem Tage wurde manches besprochen und eingeleitet. Anna, die die Stunde zum ersten Mal, und zwar nur auf Veranlassung des Bruders, besuchte, hatte bereits ein Täschchen mit Schreibmaterialien mitgebracht. Constanze sollte bis zur nächsten Stunde den Brief an die Eltern schreiben und, um die nötige Zeit des Alleinseins dazu zu gewinnen, die sie Überwachenden durch ruhiges und gleichmäßiges Benehmen sicher machen. Die Antwort sollte sie, wie schon im Eisenbahnwagen besprochen worden, unter der Adresse der Baronin von Rechnitz erbitten und Anna wollte sie ihr heimlich übergeben.

Als die beiden Mädchen Constanze verließen, war diese wunderbar beruhigt und fest entschlossen, in jedem Falle den Weg der Freiheit einzuschlagen. Wußte sie doch, daß gute, teilnehmende Menschen sich ihrer annahmen und hatte doch Anna ihr beim Abschiede noch Grüße vom Bruder ausgerichtet, der, wie sie versicherte, nicht abreisen würde, ohne seinen Schützling wiedergesehen zu haben. Wie es möglich sein sollte, konnte Constanze freilich nicht begreifen; kein männliches Wesen durfte ja die Schwelle des Klosters überschreiten; aber doch umgaukelte sie der Gedanke an dieses Wiedersehen noch in der Zelle, die sie mit Schwester Sophie teilte, bis der Schlaf sie spät übermannte.


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