Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Schluß

Das psychogenetische Gesetz: Der Einzelne als Verkürzung der Menschheit

Das biogenetische Grundgesetz von Ernst Haeckel lehrt uns, daß der Mensch im Mutterleib alle die Stadien wieder durchzumachen habe, die von seinen Vorfahren in der Tierreihe verwirklicht worden sind. Jedes spätere Stadium löst das frühere vollkommen ab, hat es aber zu seiner organischen Voraussetzung. Erst wenn dieser ganze Weg in den Hauptzügen durchmessen ist, wird der Mensch als Mensch geboren. Dieses Gesetz, das den natürlichen Zusammenhang des einzelnen Individuums mit der Organismenreihe feststellt, setzt sich in ein psychogenetisches Gesetz fort, das aber nicht die Erbschaft des Blutes, sondern die der Kultur begründet (und also nichts mit Abstammungslehre zu schaffen hat): Der einzelne Mensch verwirklicht im Lauf seines Lebens die geistig-seelischen Stadien, welche die Menschheit gegangen ist. Aber während jeder menschliche Körper ganz ausgebildet sein muß, um leben zu können, so gibt es sehr verschiedene Grade von seelischer Vollkommenheit; nicht jeder Mensch macht sie ganz durch, viele beleben nur Bruchstücke, andere gar nichts. Ich verdanke Herrn Professor Hans Vaihinger den Hinweis auf seinen Vortrag »Naturforschung und Schule« (Köln 1889), worin der Gedanke von der Reproduktion des menschheitlichen Lebens im einzelnen Menschen klar formuliert und speziell für die Erziehung nutzbar gemacht wird. Daselbst ist auch der von mir angewendete Ausdruck »psychogenetisches Gesetz« zu finden, was hiermit ausdrücklich festgestellt sei. Vaihinger führt sehr überzeugend aus, daß Griechisch und Latein für die heranwachsenden Knaben nicht »tote«, sondern »lebendige« Sprachen sind, daß diese Sprachen mit der ganzen durch sie übermittelten Kultur ein notwendiges Stadium in der geistigen Entfaltung des Gegenwartsmenschen bedeuten. Er gibt ferner eine Reihe von Aussprüchen wieder, die sich durch die Jahrhunderte ziehen und beweisen, daß der Gedanke, Individualentwicklung sei Abkürzung der Stammesentwicklung, immer wieder auftaucht. Herder, Schiller, Locke, Kant, Schelling, Hegel, Comte, Spencer, Pestalozzi, Herbart und besonders Rousseau werden genannt, dessen Emile verschiedene Stufen früherer Menschheit durchmacht. »Du wirst nicht imstande sein, die Kinder zu verständigen Menschen zu erziehen, wenn du sie nicht erst als Wilde hast aufwachsen lassen.« Und Goethe faßt zusammen: »Wenn auch die Welt im ganzen vorschreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorn anfangen und das Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen.« – Vgl. ferner Fritz Schultze, Psychologie der Naturvölker, 1900. (Anmerkung zur 9. Auflage.)

Es ist hier nicht die Stelle, mit allen Einzelheiten auszuführen, wie sich die Gefühle und geistigen Leistungen früherer Kulturformationen im unreifen Menschen der Gegenwart wiederholen. Ich will nur auf charakteristische Elemente hinweisen, die dem Kind unserer Zeit mit primitiven Völkern gemeinsam sind. Die Verwandtschaft ist oft bemerkt und ausgesprochen worden, und man hat daher auch für letztere den sehr treffenden Namen Kindheitsvölker in Anwendung gebracht. Anthropologen, Ethnographen und Archäologen stimmen überein, daß wir uns die Vorfahren der Kulturmenschheit ähnlich, wenn auch nicht völlig gleich mit den wilden Völkern der Gegenwart zu denken haben.

Was die Menschen frühester Zeit getan haben und was die Primitiven der Gegenwart tun, das tun auch die Kinder der Kultivierten: Graben, Erdhütten bauen, mit Pfeil und Bogen schießen, gemeinsame Kämpfe und Tänze aufführen, Tiere fangen, mit Tieren sprechen, Tiere pflegen und lieben. Sonderlich die Beziehung des Kindes zu den Tieren ist eine lebendige Erinnerung vergangener Menschheitsstadien. Der zum Bewußtsein erwachende Mensch weiß sich den Tieren wesensgleich und blutsverwandt. Er spricht mit ihnen wie mit seinesgleichen und ist überzeugt, verstanden zu werden; wenn ein Büffel nicht schießen kann, so ist es nur darum, weil er keinen Bogen hat, meint ein Wilder. Über die ganze Erde ist der Glaube verbreitet, daß jede Menschengruppe von einem bestimmten Tier abstamme (Totemismus), oder auch daß der einzelne Mensch ein Tier zum Vater habe. (Damit hängt das am Beginn des Buches angeführte Vorrecht der wohlbekannten Mutter vor dem unbekannten Vater zusammen.) Aus der Blutsverwandtschaft mit den Tieren ergeben sich komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse unter den Menschen, die Frazer in seinem umfangreichen Werk » Totemism and Exogamy« beschrieben hat. Die Tierbilder, die sich auf den Wänden einiger Höhlen in Südfrankreich und Spanien finden und die aus der ersten Steinzeit, also vom Urbeginn des Menschen stammen, werden als Totemtiere gedeutet, als religiös empfundene Bildnisse mächtiger Ahnen. – Nicht anders fühlen sich unsere Kinder mit den Tieren befreundet und verwandt, sprechen mit ihnen wie mit Menschen, nicht etwa spielerisch, sondern ganz im Ernst, machen ihnen vertrauliche Mitteilungen. Ich habe ein dreijähriges Mädchen beobachtet, das ein Kaninchen anrief: »Hasi! Komm! Da hast du Gras!« – Der Hase hörte aber nicht, und das Kind schloß, es müsse näher kommen, ging hin und wiederholte die Ansprache. Es wurde auch nicht enttäuscht, und als der Hase das Futter nahm, war das Kind überzeugt, verstanden worden zu sein. – Diese Einheit von Mensch und Tier steht an der Wiege des Menschen, ist eine seiner ersten Erkenntnisse. Ich gehe an dieser Stelle nicht weiter darauf ein.

Aber nicht nur die Tiere, eine Unmenge, vielleicht alle Gegenstände sind für den Wilden und für das Kind mit ihm selbst gleichartig, belebt und bewußt; man pflegt dieses Stadium, das bis tief in die Geschichte reicht, anthropomorphistisch zu nennen. Kinder schlagen einen Tisch, an den sie sich gestoßen haben; Mädchen spielen mit ihren Puppen nicht wie mit einem Ding, sondern glauben fest an ihre Beseeltheit. Ich beobachtete einen vierjährigen Knaben, der zum abendlichen Himmel hinaufrief: »Mond! Komm!« (Genau so rufen wilde Stämme den Mond.) Ein verwandtes Gefühl ist noch heute im Künstler lebendig – aber für ihn hat diese Deutung der Naturdinge keinen erklärenden Charakter, sie will nicht Wissenschaft sein, sondern Nachfühlen des Gestalteten im Bild menschlichen Lebens.

Für Naturvölker hat die Zeichensprache eine viel größere Bedeutung als für kultivierte; je reifer und geistiger ein Volk wird, desto weniger Gebärden verwendet es, je gebildeter ein Mensch ist, desto weniger braucht er Bewegungen, um sich ganz verständlich zu machen. Kinder jedoch gestikulieren lebhaft und mit Freude, erfinden sich geheime Zeichen. Indianer verschiedener Stämme reden miteinander durch ein System von Zeichen, wie es bei uns nur die Taubstummen nach langem Studium beherrschen. ( Lubbock, Origin of Civilisation.) Vergnügen äußert sich bei den Wilden in Springen, Tanzen und Schreien, ebenso bei Kindern, während mit höherer Kultiviertheit diese primitiven Kundgebungen zurücktreten. Der Mensch bedarf seines Körpers immer weniger, um sein Innenleben auszusprechen. – Auch die Bilderschrift vergangener Zeiten – ein Bild spricht die entsprechende Sache aus, mehrere nebeneinandergesetzte Bilder erzählen recht und schlecht eine Begebenheit – wird von den Kindern immer neu erfunden und geübt, die Fibel, aus der ich lesen lernte, zeigte zur Verdeutlichung des »A« einen »Ast« im Bilde. Es ist von verschiedenen Forschern dargelegt worden, wie die ersten Zeichen- und Malversuche der Kinder und der bildenden Kunst Primitiver übereinstimmen.

Wenn man einen Blick auf die Sprachen der wilden Völker wirft, so fällt auf, daß ihnen wie der Kindersprache die Bezeichnungen für allgemeine und abstrakte Begriffe fehlen, ganz natürlich, weil diese Vorstellungen und Begriffe selbst nicht vorhanden sind. Den Primitiven mangelt ferner vielfach wie den Kindern die grammatische Form, sie stellen die Wörter unverbunden nebeneinander. Sie lieben es ferner, einzelne Silben und Wörter zu wiederholen (zu reduplizieren). Die Bakairi in Brasilien haben z. B. solche Wörter: Kulukulu, katukatu, kurakura; die Australier: muramura; die Neuseeländer: aki-aki awa-awa. (Nach v. d. Steinen, Frazer und Lubbock.) Genau so sprechen unsere Kinder, bevor sie ordentlich reden gelernt haben, und die Eltern und Pfleger passen sich instinktiv an. (»Will das Kleine trinkitrinki?«) Auch Bildungen wie »Papa« und »Mama« sind dem ersten Stammeln des Kindes reduplizierend entnommen und über die ganze Erde verbreitet. Kinder haben ferner die Gewohnheit, so viel als nur irgend möglich in Reimen zu sprechen, wobei es ihnen auf grammatische und sprachliche Richtigkeit durchaus nicht ankommt, die Wörter müssen gar keinen eigentlichen Sinn haben, wenn sie nur »klingen«. Je mehr Reime sich in einem Satz finden, desto mehr Spaß macht es ihnen. Dabei darf man vielleicht noch gar nicht von Reim im höheren Sinne sprechen, sondern nur von einem ähnlichen Klang, der ganz ohne Beziehung auf seinen Sinn angenehm empfunden wird. Das ist ja zweifellos die Vorstufe des künstlerisch verwendeten Reimes. Dieselbe Erscheinung findet sich bis zur Ermüdung in Gesängen wilder Völker, wie sie hin und wieder von Reisenden aufgezeichnet worden sind. V. d. Steinen gibt Beispiele, etwa: » Kujé, kujé kutapayó kujé kutapayó hohóhohohú yalivayáhahú ohohú uhó« usf. »Wilde Völker haben in ihren Gesängen eine bestimmte feststehende Form, woraus hervorgeht, daß sie dieselben als etwas von der gewöhnlichen Sprache Verschiedenes ansehen.« (Tylor, Anthropologie.) Nicht anders singen Kinder starre Formeln, die sich beständig wiederholen, oft ohne das Bewußtsein und das Verständnis der Worte; so erscheint ihnen das früh eingelernte tägliche Gebet. Für den Wilden wie für das Kind liegt in solchen halb verstandenen Formeln eine gewisse magische, zauberische Kraft. Wenn man Kinder bei ihren Spielen beobachtet, wird man oft genug Lautreihen heraushören können, die zwar einen ungefähren Sinn geben, bei denen es aber doch fast nur auf das klangliche Bild ankommt und die oft an jene Gesänge der Wilden erinnern. Völlig auf diesem Prinzipe beruht die Art des Refrains, die eine starre Folge sinnloser Silben von bloßem Lautwert ist. Das Kinderlied und das Volkslied bleiben diesen uralten Formen treu.

Was den Kindern Klang und Reim ohne Rücksicht auf den Inhalt bedeutet, das wird im Knabenalter durch Pathetik und Rhetorik verdrängt. Knaben lesen mit der größten Freude Verse, die nicht viel bedeuten, wenn sie nur gewaltig tönen, und man pflegt ja auch eine Moritat, die ganz auf Deklamation gestellt ist, eine Gymnasiastentragödie zu nennen. Alle einfachen Völker erzählen sich Geschichten, bei denen es nur auf gewaltige Abenteuer ankommt, und noch heute ernähren Jugend und Volk ihre Phantasie mit Räuber- und Ritterromanen; vor Jahrhunderten haben sich die Gebildeten an solchen Dingen ergötzt, aber nun geht keine rechte Wirkung mehr davon aus. Unsere Gesellschaft ist ja so kompliziert aufgebaut, daß verschiedene Schichten der Menschheit zu gleicher Zeit leben, viele Erwachsene bleiben immer im Jünglingsstadium. Das »Volk« stellt eine frühere Kulturform gegenüber den Geistigen dar.

Auch in unseren Dichtern lebt noch ein gutes Stück der Freude am Klang der Sprache, am Reim, am Vers, und es wäre ganz falsch, diese Freude als ein erledigtes Überbleibsel anzusehen. Das Lautelement der Sprache ist vielmehr der Dichtkunst wesentlich und vom Anfang der Menschheit dagewesen, ein Dichter, dem es fehlt, ist nicht ganz (aber auch ein Dichter, der stoffliche Reize, Spannung und was dazu gehört, verschmäht, hat einen Mangel). Der bloße Klang Homers und Dantes wirkt stark auf Leute, die nicht jedes Wort auffassen, denn das sinnliche Element der Sprache ist ein Urbesitz der Menschheit, der nicht verschwinden kann, solang es eine vollblütige Kunst gibt. Er lebt als ein Erbgut fort, verändert von Geschlecht zu Geschlecht, und ganz falsch wäre es, wollte man etwa schließen, daß die Kunst dem Kindheitsstadium der Menschheit angehört und ihre Rolle ausgespielt hätte. Die fortgeschrittene Intellektualität als Endgültiges hinzustellen, wäre der Bettelstolz des Verstandes und würde nichts als Verarmung bedeuten.

Weil das Bewußtsein des primitiven Menschen und des Kindes keine Abstraktion kennt, wird das unmittelbar Geschaute auch konkret und bildhaft ausgesprochen, und dieses sehr wesentliche Element haben die Dichter aller Zeiten mit ihnen gemein. Der Dichter einer vorgeschrittenen Kultur muß die sinnliche Unmittelbarkeit und die sprachliche Neuschöpfungskraft des Naturmenschen besitzen und dazu die geistige Höhe seiner eigenen Zeit noch überragen. Beides, von einer Kraft umschlossen und zur Einheit gestaltet, offenbart erst die ganze, im künstlerischen Genie zusammengefaßte Menschheit.

Sowenig wie das Kind nennt sich der primitive Mensch »ich«. Er besitzt noch keine persönliche Einstellung für diesen uns so unendlich wichtigen Mittelpunkt, er bezeichnet sich mit dem Namen, den ihm andere geben, er hat noch nicht den Akt vollzogen, durch den sich der Mensch als ein Subjekt von der Außenwelt sondert, hat ebensowenig Gefühl für das fremde Ich, das er erbarmungslos zerstört. Sein Bewußtsein orientiert sich so: Jedes Ding ist ihm lebendig, und keines ist doch ein mittelpunkthaftes Ich. Bei unseren Kindern tritt etwa im zweiten Jahre zuerst das Gefühl und damit das Wort »ich« auf.

Kinder verstehen nicht, was Sterben heißt, sie können den Gedanken, daß etwas tot sei, nicht fassen. Einem vierjährigen Mädchen war die jüngere Schwester gestorben, die es sehr geliebt hatte. Wenn man nun das Kind fragte: »Wo ist die Lotte?« – so ging ein freudiges Strahlen über sein Gesicht, es zeigte nach oben – wahrscheinlich hatte man es auf den Himmel gewiesen – und sagte vergnügt: »Tot!« – Ebensowenig verstehen die Wilden den Tod. Da sie sich selbst nur lebendig vorstellen können, ist ihnen der Gedanke, daß ein Ding oder gar daß ein Mensch ohne alles Leben sei, widersinnig, denn »Sein« und »Lebendigsein« bedeutet ihnen dasselbe. Sie nehmen an, daß die Seele woanders hingegangen ist, oder daß sie sich im Leib des Toten versteckt hat. Unendlich viele Bräuche und Zeremonien erklären sich durch diese Überzeugung, Ahnenkult und Geisterglaube (Animismus), die vielen Völkern die Religion ersetzen, beruhen darauf.

Der primitive Mensch ist ein Lügner ebenso wie das Kind. Doch dies hat nichts mit Moral zu tun, steht noch jenseits von Gut und Böse, vor unseren auf höheren Vorstellungen ruhenden Wertungen. Wilde und Kinder verstehen überhaupt nicht, was »wahr« bedeuten soll, sie leben ganz in unzusammenhängenden Sinneseindrücken und Gefühlswallungen und können zwischen dem, was objektiv richtig und objektiv unrichtig ist, nicht scheiden, weil ihnen das Verständnis für Objektivität fehlt. Man erfährt, daß Wilde ihre Meinungen über die Dinge mit der Wirklichkeit beständig verwechseln, daß sie gar keinen Sinn dafür haben, daß hier verschiedenerlei vorliegt, denn diese Unterscheidung ist erst bei einer höheren Ausbildung des Denkens möglich. Hermann Klaatsch spricht z. B. von der »Unfähigkeit der primitiven Menschen, das Reale zu erfassen. Für sie ist eben alles real, mag es aus der Außenwelt stammen oder durch innere Reize sich bemerkbar machen.« (Die Anfänge von Kunst und Religion in der Kulturmenschheit.) »Unlogik im Denken, Zwecklosigkeit im Wollen und Handeln stellen den Geist des erwachsenen Wilden auf die geistige Stufe unseres kleinen Kindes.« (Fritz Schultze, Psychologie der Naturvölker.) – Damit hängt wohl auch zusammen, daß dem Wilden ängstlich zumute wird, wenn er allein ist. Er fühlt sich nicht recht sicher, sieht unheimliche Dinge, die ihn bedrohen. Ebenso Kinder. Sie wollen eine Horde bilden, schreien und lärmen; Stille ist ihnen nicht ganz geheuer.

Heranwachsende Knaben benützen ähnliche oder gleiche Waffen wie die Primitiven, und es ist geradezu eine Industrie geworden, solche Waffen nachzubilden. Die Kampfspiele der Knaben mit Spieß und Pfeil erneuern in jeder Generation das Leben der auf täglichen Kampf gestellten menschlichen Horde (vielleicht auch die Bronzezeit, wie sie Homer schildert); gleich jenen Menschen gilt den Knaben nichts so hoch wie Körperkraft. Die Zeit des Lernens wiederholt das europäische Mittelalter, wo die neuen Barbarenvölker den antiken Kulturstoff aufgenommen haben; dabei fehlen nicht Kampf und Wettspiel, Fußball und Fechten entsprechen dem ritterlichen Turnier. Wer diese Wege der Erziehung, die ihm vom Kulturgeist gewiesen sind, nicht gegangen ist, wird auch den schweren Forderungen unserer Zeit nicht ganz genügen können, wer mit sechzehn Jahren ein regelmäßiger, arbeitsamer Bürger gewesen ist, wird immer ein beschränkter Kopf bleiben, wer mit zwanzig Jahren nicht geschwärmt und randaliert, sondern genossen hat, wird im trägen Behagen versumpfen. Proletarier, die allzufrüh anstatt zu spielen arbeiten mußten, sind für ihr Leben seelisch geschädigt, die Heiterkeit, das natürliche Recht des Kindes, ist ihnen für immer verloren. Sie werden freudlose, haßerfüllte Menschen. Darum ist es notwendig, daß sich die Knaben ihre Köpfe blutig schlagen, daß sie ihre Phantasie mit Indianerkämpfen, später mit Homer und den Nibelungen beschäftigen, denn Kampf ist die natürliche Speise, die in der Wiederbelebung vergangener Zustände von Körper und Geist gefordert wird. Je mehr Raufereien ein Knabe bestanden hat, je mehr Menschenjagden und Präriekämpfe er durchphantasiert hat, desto gründlicher ist mit dieser Art von Erlebnissen in seiner Seele aufgeräumt worden, desto friedlicher wird sein späteres Leben dahinfließen. Denn Kriegsspiele und abenteuerliche Lektüre erziehen nicht zu späterer Roheit, wie manche Erzieher glauben, sondern befreien davon, reinigen die Seele von gewalttätigen Trieben, indem sie mitten hindurchgeführt wird. Die rechte Art, mit einem seelischen Faktor fertig zu werden, ist nicht, ihn durch Erziehung und gutes Beispiel aus der Welt zu schaffen oder gar die Augen dagegen zu verschließen, sondern ihn aufnehmen und durchleben – und damit erledigen. – Es ist auch beachtenswert, daß Knaben immer die Partei der Indianer oder der Neger gegen die Weißen nehmen, wenn sie von diesen Kämpfen lesen, denn sie fühlen sich zu den Wilden gehörig, sind ihnen näher verwandt als den »Bleichgesichtern«. Rudyard Kiplings Dschungelbuch, die Geschichte eines Knaben, der unter wilden Tieren aufwächst, sich mit ihnen freut, mit ihnen leidet, ist die Erfüllung tiefster Knabensehnsucht.

Nach alledem – es ließe sich noch manches beibringen, etwa die Lust zur Nachahmung und die Fähigkeit dazu, die Neugierde, die Genäschigkeit – möchte ich glauben, daß die Spiele der Kinder nicht so sehr (wie Groos meint) Vorbereitungen für ihre künftige Tätigkeit sind; es sind vielmehr Erinnerungen früherer Menschheitsepochen. Denn das Leben des einzelnen von uns ist zum größten Teil ein Opfer, das er der vergangenen Menschheit darzubringen hat, er ist selbst nichts als eine Reproduktion des menschheitlichen Bewußtseins, bis er zur Erschaffung eines neuen und eigenen fortschreiten kann. So begreift sich, daß das Erwachen des Geisteslebens beim Kinde Staunen weckt: es wiederholt ja im Auszug Zehntausende von Jahren. –

Nicht nur bei den Kindern, auch bei den Frauen der Kulturvölker reproduzieren sich manche Gewohnheiten Primitiver, besonders im Körperschmuck. Die Haartracht wird bei den Völkern Afrikas und Südamerikas mit größter Sorgfalt behandelt, oft wird das Haar gefärbt, mit Muscheln, Federn, Stäbchen, Kämmen und anderen Dingen verschönt. Der Wilde trägt Schmuck um den Hals, der gleichzeitig etwas Wertvolles darstellt, Reichtum und Kraft des Besitzers zeigt, wie Metall oder Zähne von erlegten Raubtieren und in Nordamerika den berühmten Skalp, die Kopfhaut des getöteten Feindes. Man wird nicht leugnen, daß bei unseren Frauen das entsprechende Bedürfnis, sich zu schmücken, besteht, auch nicht, daß manche Halskette weniger um ihrer Schönheit als um ihrer Kostbarkeit willen getragen wird. Anderes, wenn auch nicht gerade ausgeschlagene Backenzähne und Kopfhäute, werden als Erinnerung an einen Sieg geschätzt. Man trägt Kämme im Haar, Ringe zwar nicht mehr in Nase und Unterlippe, aber doch im Ohrläppchen. Auch das Verschönern durch Bemalung ist nicht ausgestorben. Angesichts der Schleier, der durchsichtigen Ärmel und Strümpfe mit ihren eingewirkten Zeichnungen und Figuren wagen wir die Vermutung, daß dies die Tätowierung der Haut ersetzen soll. Ein Autor berichtet von Wilden: »Die Bemalung gewährt oftmals ein sehr schönes Aussehen, ja macht von ferne sogar den Eindruck der Bekleidung.« Man darf wohl sagen, daß die Bekleidung unserer Frauen oftmals den Eindruck der Bemalung macht. –

Auf dem Gebiete der Erotik lautet das psychogenetische Gesetz: Jedes wohlausgebildete männliche Individuum der Gegenwart erlebt der Reihe nach alle drei erotische Stufen wieder, welche die europäische Menschheit durchmessen hat. Nicht bei jedem sind alle drei in ihrer ganzen Reinheit ausgebildet, denn bei vielen entwickelt sich eben gar nichts, aber im Liebesleben jedes höher differenzierten Mannes sind sie deutlich nachweisbar, und je reicher und mächtiger die Seele eines Menschen überhaupt entfaltet ist, desto vollkommener wird sich die Geschichte der Menschheit in ihm reproduzieren. Der einzelne wohlveranlagte Mensch bietet in seiner Entwicklung einen Grundriß der menschlichen Kulturgeschichte, er hat seine Vorzeit, sein Altertum, seine mittlere Periode und seine neue Zeit; mancher bleibt im Altertum stecken, andere überspringen einzelnes oder scheinen gar wurzellos in der Luft zu schweben. Der Genius, der in sich die ganze Menschheit wiederfindet, hat ihre Vergangenheit erlebt und überwunden, um ihre Zukunft schaffen zu können.

Das Stadium der Gynäkokratie besteht noch heute tatsächlich in der Kinderstube. Hier ist die Mutter Herrscherin, der Vater ein Eindringling, die Brüder stehen unter der Botmäßigkeit der gleichaltrigen oder jüngeren Schwestern; haben doch die Frauen ein viel kürzeres Wachstum durchzumachen als die Männer und werden daher viel früher reif, das einzelne Individuum ebenso wie die Frau überhaupt in der Kulturgeschichte. – Dann folgt für den Knaben eine Periode, wo er sich mit anderen Knaben zusammentut, wo er nichts von Mutter und Schwestern wissen will und sich der weiblichen Verwandtschaft schämt. Die Jünglingsbünde der alten Zeit werden auf dieser Stufe des Individuallebens erneuert.

Zur Zeit der Pubertät regt sich beim Jüngling der physiologische Geschlechtstrieb, der, wenn er nicht erkannt, sondern nur empfunden wird, Ruhelosigkeit und seelische Depressionen mit sich zu führen pflegt. Ich glaube nicht, daß der Trieb von Anfang an auf die Frau, überhaupt auf etwas Äußeres geht, er ist im eigenen Körper lokalisierter Drang, der seine Entspannung sucht und sie auch meistens ohne Hilfe einer Frau findet. Das erklärt sich nicht durch den Mangel an Gelegenheit, durch Schüchternheit und Verleitung, sondern ist sachlich begründet, weil das Bedürfnis nach der Frau noch gar nicht besteht. Dieses Bedürfnis, sowie das sinnliche Wohlgefallen an den Frauen, tritt als ein ganz neues, gesondertes Moment später ein und eine gewisse Erfahrung ist nötig, um beide Instinkte – den physiologischen und den durch das Auge vermittelten – zusammenzuschmelzen. Der Lustkomplex tritt in diesem Stadium mit allen, auch nicht wesentlich dazugehörigen Begleitumständen als ein Ganzes und so ins Bewußtsein, wie er zuerst erfahren worden ist. Hat der Knabe den Trieb anfangs in männlicher Gesellschaft befriedigt (wie meistens in Erziehungsanstalten und Klöstern), so ist damit die Tendenz zur Pseudo-Homosexualität gegeben, die später in der Regel spurlos verschwindet, während einsame Befriedigung länger vorzuhalten pflegt. Bei schwankenden Naturen, die Möglichkeiten für beide Geschlechter haben, kann aber hier ein entscheidender Schritt geschehen, denn die Assoziation zwischen der ersten Befriedigung und dem Geschlechte des Partners ist von Bedeutung.

Ich lasse alles, was nicht ganz typisch ist, beiseite und lege nur darauf Gewicht, daß die Elemente: körperliches Bedürfnis und Projektion der Geschlechtslust auf die Frau von Anfang an zwei verschiedene Instinkte sind, die erst zusammenwachsen müssen (und bei manchen Männern niemals ganz Eins werden). Ist aber einmal die Erfahrung gewonnen, daß die vollkommenste Befriedigung durch eine Frau erfolgen kann, dann verhält sich der Jüngling in der Wahl seines Gegenübers nahezu indifferent. Die abstruse Behauptung Schopenhauers, eine Frau tauge so gut für diesen Zweck wie die andere, gilt für das Jünglingsalter in ihrer ganzen krassen Schärfe, die erste nur-sexuelle Stufe der Menschheit wird im Individuum reproduziert – und es ist besser, daß diese Stufe durchschritten, als daß sie gegen den Willen des psychogenetischen Gesetzes gehemmt werde. Kein unnatürlicher und durch soziale Mißstände hervorgerufener Zustand ist es – wie heute vielfach behauptet wird –, sondern das völlig Naturgemäße, daß der Jüngling, der die Liebe noch nicht kennen gelernt hat, einer wahllosen Sexualität frönt. Er stillt seinen Geschlechtshunger, und wer Hunger hat, sucht nicht lange. (Sehr viele Männer kommen ja über das erste Stadium niemals hinaus.) – Goethe charakterisiert dieses Alter kurz: »Mit Gewalt ergreift uns Liebreiz weiblicher Gestalt.« (Marienbader Elegie.) Und in Mozarts Cherubin ist der Jünglingstrieb, der sich selber noch nicht versteht und dem jedes weibliche Wesen gleich willkommen ist, künstlerisch verkörpert. – Dagegen gibt es Knaben, denen die blinde Befriedigung aus inneren Gründen widerstrebt; der Kampf zwischen dem Trieb, der diesem Alter natürlich ist, und der antezipierten Sehnsucht nach höherer Erotik schafft nicht selten Konflikte, die zur menschenscheuen und unausrottbaren einsamen Befriedigung, aber auch zum Selbstmord führen können (für den die Schule verantwortlich zu machen Konvention ist). – Oft genug kommt es auch vor, daß schon acht- bis zehnjährige Knaben eine ganz persönliche schwärmerische Zuneigung zu einer Frau fassen; in der Zeit der Geschlechtsreife aber unterliegen sie der Macht des Triebes.

Anders als beim Jüngling tritt der Geschlechtstrieb der heranwachsenden Mädchen mit viel geringerer Intensität auf und wird von gesunden und nicht extrem sinnlichen Naturen in der Regel gar nicht als etwas Spezifisches wahrgenommen. Geschlechtliche Bedürfnisse werden in der normalen und einheitlich organisierten Frau meistens erst durch die Neigung zu einem Manne wach oder von ihm erregt, um dann für immer mit der Vorstellung des Mannes – häufig mit der des einen, des ersten – verbunden zu bleiben. Weil sich der Geschlechtstrieb bei Mädchen nicht oft quälend bemerklich macht, ehe er von einem Mann erweckt wird, ist auch seine einsame Befriedigung unvergleichlich seltener und vorwiegend auf Hysterische beschränkt. – Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß die Beziehung des Triebes auf einen Menschen des andern Geschlechtes bei Knaben und Mädchen sehr oft in der Phantasie geschieht, so daß die eintretende äußere Erfahrung schon eine vollzogene innere Erfahrung vorfindet. –

Zwischen dem zwanzigsten und dem dreißigsten Jahr tritt beim Manne meistens eine überschwengliche seelische Liebe auf, die zu der bisher herrschenden Sexualität gar keine Vermittlung hat. Ich will das Entstehen dieser Liebe und die damit verbundenen neuen Gefühle nicht weiter schildern; wie einst die Persönlichkeit als Mittelpunkt des neuen Bewußtseins geboren worden ist, so erlebt jetzt der einzelne eine Reinigung und Wiedergeburt, er entdeckt durch die Geliebte sein Innerstes, von dem er bis dahin noch nicht viel gewußt hat, der gattungsmäßige, undifferenzierte Geschlechtstrieb wird durch die Liebe zu einer Einzigen zurückgedrängt, als niedrig und verächtlich empfunden. Was einst Guinicelli für die zweite erotische Stufe der Menschheit verkündet hat: Amor e cor gentil sono una cosa – das gilt heute für diese zweite Periode des Einzellebens. Es kommt aber auch öfter vor, als man vielleicht glauben möchte, daß im Herzen eines von der Realität nicht befriedigten Mannes allmählich eine weibliche Idealgestalt zu leben beginnt, die entweder eine wirkliche Frau idealisiert oder ganz unbestimmt und zerflossen ist: die Vergöttlichung der Frau erwacht in der Seele des einzelnen wieder. Zur Illustration erinnere ich an das sehr echte Gespräch, das der alte verkümmerte Schreiber Foldal mit John Gabriel Borkman (bei Ibsen) führt:

Borkman. So? Nenne mir eine, die etwas taugt!

Foldal. Nein, das ist es eben. Die wenigen, die ich kenne, die taugen nichts.

Borkman (höhnisch). Was hat es dann für einen Nutzen, daß es solche Weiber gibt – wenn man sie nicht kennt!

Foldal (mit Wärme). O doch, John Gabriel, es hat einen Nutzen. Denn ist es nicht ein herrlicher und erhebender Gedanke, gleichwohl da draußen, um uns her, in weiter Ferne irgendwo das wahre Weib zu wissen?

Borkman (mit einer ungeduldigen Gebärde). Aber so hör' doch auf mit deinem Dichtergewäsch!

Foldal (blickt ihn gekränkt an). Dichtergewäsch – so nennst du meinen heiligsten Glauben? –

Und schließlich will ich noch erwähnen, daß mir Weininger als ein tragisches Opfer der zweiten Stufe der Erotik erscheint, die in unserer Zeit schon an einer kaum zu überwindenden inneren Unzulänglichkeit krankt. –

Es muß nicht weiter ausgeführt werden, daß bei dem Menschen, der über die erste Stufe hinausgekommen ist, das Mannesalter die Einheit von Sexualität und Liebe mit sich bringt. Diese Vereinigung ist ja der eigentliche Sinn der modernen Ehe; ob er häufig oder selten erfüllt wird, kann ganz dahingestellt bleiben. –

Ich habe in früheren Abschnitten einzelne Erscheinungen des Liebeslebens an ein paar außerordentlichen Männern dargestellt; zum Schlusse will ich zeigen, wie sich alle erotischen Stufen der Menschheit in der seelischen Entwicklung Richard Wagners wiederbeleben und in Kunstwerken verewigen. Wagner wird uns als erotischer Repräsentant des modernen Menschentumes erscheinen, als einer, an dem typisch und groß zu erkennen ist, was in anderen nur unentschieden und halb an den Tag kommt. Die Liebe ist das Leitmotiv seines Lebens gewesen; das primitive Zaubermärchen »Die Feen« des Neunzehnjährigen schließt mit der »unendlichen Gewalt der Liebe« und die letzten Worte, die er zwei Tage vor seinem Tod aufgeschrieben hat, heißen: »Liebe – Tragik.«

Für das erste Stadium ist die (im Jahr 1834 geschriebene) Oper »Das Liebesverbot« überaus symptomatisch. Sie ist eine Vergröberung des derbsten aller Shakespeareschen Stücke »Maß für Maß« und hat als einzigen Gegenstand den sinnlichen Liebesgenuß, den alle suchen und der die Handlung in Bewegung setzt, sowie die Verspottung derer, die etwas anderes zu erstreben scheinen. Den Inhalt dieses Textes – den man eine Dichtung nicht nennen kann – zu erzählen, hätte keinen Zweck; er bietet nur biographisches und kein künstlerisches Interesse, belegt aber mit erstaunlicher Kraßheit das erste rein sexuelle Stadium des Einundzwanzigjährigen. Es war zudem die Zeit, da das »junge Deutschland« die Emanzipation der Sinnlichkeit auf sein Banner geschrieben hatte, Wagner selbst spricht von seiner »Auffassung, welche besonders gegen die puritanische Heuchelei gerichtet war und somit zur kühnen Verherrlichung der freien Sinnlichkeit führt. Das ernste Shakespearesche Sujet gab ich mir Mühe, durchaus nur in diesem Sinn zu verstehen.« Und in seiner »autobiographischen Skizze« sagt er: »Ich lernte die Materie lieben.« Wagner gibt ferner den Inhalt eines (verloren gegangenen) Operntextes »Die Hochzeit« aus noch früherer Zeit folgendermaßen an: »Ein wahnsinnig Liebender ersteigt das Fenster zum Schlafgemach der Braut seines Freundes, worin diese der Ankunft des Bräutigams harrt; die Braut ringt mit dem Rasenden und stürzt ihn in den Hof hinab, wo er zerschmettert seinen Geist aufgibt.«

Die zweite zwiespältige Stufe der Erotik ist im »Tannhäuser« verkörpert, den Wagner, 29 Jahre alt (1842), konzipiert hat. Es gibt wohl kein Werk eines modernen Künstlers, in dem das mittelalterliche Gefühl der Weltzerspaltenheit ähnlich erschütternd zum Ausdruck käme. Der Mann steht mitten inne zwischen Himmel und Hölle, der angebeteten Heiligen und der lockenden Sinnlichkeit, die von einer Teufelin verkörpert wird. Ein Mensch des Mittelalters hätte in diesem Werk seine Seele wiedererkannt. Ehe Wagner die zweite Periode noch recht erreicht hatte, war die Dichtung schon unter dem Namen »Der Venusberg« geplant, und in diesem Entwurf hat das Bloß-Sexuelle wohl einen noch größeren Raum eingenommen, wahrscheinlich im Anschluß an die alte Sage. Denn hier kehrt Tannhäuser unerlöst und voll Trotz gegen die ewigen Werte in den Venusberg zurück, um sich für ewig der Sinnenlust hinzugeben und auf alles höhere Leben zu verzichten. Dies ist später bis zur entscheidenden Schlußwendung beibehalten worden; endlich siegt doch die rein seelische Liebe zu Elisabeth über die unpersönliche Sinnlichkeit.

Wie sich der verzweifelnde Mönch des Mittelalters von der Liebe Gottes, die ihn von sich zu stoßen schien, abgewendet und dem Satan hingegeben hat, so wirft sich Tannhäuser, vom Gottesreich – das Wort des Papstes! – und von Elisabeths Liebe verstoßen, wieder der Sexualität in die Arme, die hier im Gegensatz zu der seelischen Liebe den Charakter des Dämonischen annehmen muß. Tannhäuser steht nicht etwa zwischen der Liebe zweier Frauen, einer mehr seelischen und einer mehr sinnlichen Liebe, sondern er steht zwischen der rein seelischen Liebe Elisabeths und der unpersönlichen chaotischen Sinnlichkeit, die in Frau Venus nur ihren repräsentativen Gegenstand gefunden hat, sich aber nicht auf sie als Individuum bezieht, sondern gleichmäßig über ihr ganzes Reich ausgegossen ist. Der Dualismus der Welt ist schroff, ohne jeden Übergang in Dichtung und Musik ausgeprägt, und Wagner hat selbst dem Sänger Schnorr von Carolsfeld den Grundzug der Hauptpartie als »höchste Energie des Entzückens wie der Zerknirschung, ohne jede eigentliche gemütliche Zwischenstufe, sondern jäh und bestimmt im Wechsel« erläutert. Die Worte der ersten Szene »Mein Heil ruht in Maria!« sind der eigentliche Umschwung und der Angelpunkt des Dramas. Ebenso unvermittelt wie dieser Übergang von Venus zu Maria erfolgt die Rückkehr zu Venus im dritten Akt. Und neben Maria steht als menschlichere, erdennähere, aber doch angebetete Frau wie Beatrice und Gretchen, Elisabeth.

Die Musik des Tannhäuser (besonders die Ouvertüre) bringt den Gegensatz zwischen den beiden erotischen Weltelementen grell und unvermittelt zum Ausdruck. Das einheitlich und musikalisch durchgebildete Motiv der religiösen Sehnsucht (der Pilgerchor), das Anfang und Ende der Ouvertüre bildet, wird von den kurzen Motiven der sinnlichen Lockungen und des Sinnenrausches, die den mittleren Teil einnehmen, bekämpft, wie eine Versuchung umspielen die zuckenden und kitzelnden Violinfiguren den heiligen Choral. Die Venusbergmusik ist wohl der stärkste Ausdruck der bloßen Sexualität, der jemals musikalisch erreicht worden ist, die vollkommene Übersetzung sinnlichen Sehnens und sinnlichen Taumels ins Musikalische. Noch reicher in der Ausführung dieses Vorwurfes ist die (für die Pariser Ausstellung) komponierte Venusbergmusik, und in den kürzlich veröffentlichten »Entwürfen« zur Venusbergszene stehen eine Menge Einzelheiten, die in der späteren Ausarbeitung fehlen. Die animalisch-dämonische Sinnlichkeit begnügt sich hier nicht mit Menschenpaaren, mit Nymphen, Mänaden, Sirenen und Faunen, es kommen noch tier-menschliche Wesen vor wie Zentauren und Sphinxe, Tiere, wie ein schwarzer Bock, Katzen, Tiger, Panther usf., endlich Vermengungen von Mensch und Tier (Europa mit dem Stier, Leda mit dem Schwan), Bilder und Symbole der vollkommensten Perversion. Wir finden ein großartiges dichterisch-musikalisches Bild der naturhaft wuchernden Geschlechtlichkeit, deren Königin die Frau unter dem Bild der Venus, die Priesterin der Sinnlichkeit, ist. Diese Welt bekommt durch die Sehnsucht Tannhäusers nach Menschheit und göttlich-reiner Liebe die Färbung des Dämonischen; denn das Dämonische ist nichts anderes als das Natürlich-Sinnliche, aber vom Standpunkte des Höheren, hier der seelischen Liebe angeschaut. Das Natürliche wird als gefährlich und teuflisch empfunden, wenn es sich dem Höheren feindlich gegenüberstellt. – In dem Augenblick, da Tannhäuser die jähe innere Wendung von Venus zu Maria vollzogen hat, muß die Welt der Venus wie ein nächtiger Spuk versinken. »Es war eine verzehrende üppige Erregtheit, die mir Blut und Nerven in fiebernder Wallung erhielt, als ich die Musik des Tannhäuser entwarf und ausführte« ... Wagner hat es selbst ausgesprochen, daß er von Sinnlichkeit und Genuß verlockt wurde, die ihn aber doch wieder mit Ekel erfüllten. Er spricht von der »Sehnsucht nach Befriedigung in einem höheren, edleren Element, das in seinem Gegensatze zu der einzig unmittelbar erkannten Genußsinnlichkeit der mich weithin umgebenden modernen Gegenwart in Leben und Kunst, mir als ein Reines, Keusches, Jungfräuliches, unnahbar ungreifbar Liebendes erscheinen mußte. Was endlich konnte diese Liebessehnsucht, das Edelste, was ich meiner Natur nach zu empfangen vermochte, wieder anderes sein, als das Verlangen nach dem Hinschwinden aus der Gegenwart, nach dem Ersterben in einem Elemente unendlicher, irdisch unvorhandener Liebe, wie es nur mit dem Tode erreichbar schien?« ...

In der Musik des Tannhäuser ist der Dualismus ganz durchgeführt, die beiden Elemente befehden sich, ohne jemals eine Verbindung eingehen zu können. Die für Elisabeth charakteristischen Teile der Musik sind pathetisch edel und ein wenig sentimental. Am Eingang des 2. Aktes aber ist sie noch nicht sie selbst, da kann sie noch wie ein unbefangenes Mädchen jauchzen; erst als sie von dem ihr verhängnisvollen, aber unheimlichen Wesen Tannhäusers wieder ergriffen wird und Kunde empfängt, wie tief er dem Venusberg verfallen ist, da wird sie groß und entschlossen und wirft sich den Schwertern derer entgegen, die den Sünder strafen wollen. Vor unseren Augen wird sie zu der Heiligen, die ihre Aufgabe erkennt und auf sich nimmt: heroischer als Beatrice und als Gretchen weist sie selber dem, der jubelnd ihr das Herz zerstach, den Weg der Erlösung. Wie ihre beiden Vorgängerinnen betet auch Elisabeth zu Maria um Rettung für den Geliebten – das Gebet für den Geliebten ist ja das echteste und tiefste Gebet der Frau.

Dieser Gedanke der Rettung des Menschen durch die hohe und unwandelbare Liebe hat schon den »Fliegenden Holländer« ganz beherrscht und spielt, wie man weiß, bei Wagner überhaupt eine große Rolle. Er ist deswegen merkwürdigerweise gerade von solchen oft verspottet worden, die sich für Verehrer Goethes ausgeben. Das große Erlösungsproblem Dante-Goethes stellt sich im Tannhäuser ganz rein auf erotischem Gebiet dar. Sein Sinn ist der, daß die Liebe aktiv in das Leben dessen einzugreifen vermag, der ihr innerlich zugewendet, aber verwirrt und der Versuchung verfallen ist. Der Schwankende fühlt die Liebe, die seiner denkt und die ihm entgegenflutet, und ergreift sie endlich, um sich an ihrer unzerstörbaren Treue zu retten. Dies mag ein Wunder sein, wie die »Gnade«, ist aber doch wieder seelische Wirklichkeit, weil die Liebe, die dem Sünder entgegenkommt, seinen Glauben an ihre Hilfe und an seine eigene Kraft weckt und festigt, weil er sich des Dunkeln und Bösen schämt und sich dem Licht zuwendet. Im Tannhäuser ist diese seelische Position, die in der letzten Szene des Faust eine solche Bedeutung hat, ganz klar ausgedrückt: niemals ist die Liebe zu Elisabeth stark genug in ihm gewesen, daß sie die von Venus immer wieder neu geweckte Begierde ganz hätte vernichten können, und schon will er sich wieder der Betäubung der Sinnenlust in die Arme werfen: Venus erscheint – da ruft ihm Wolfram den Namen: Elisabeth! entgegen; Tannhäuser weiß mit einemmal, daß Elisabeth Tag und Nacht für ihn zum Himmel gefleht hat, daß ihr ganzes Leben seiner Errettung geweiht gewesen ist. Und diese Gewißheit gibt ihn dem höheren Leben zurück, die Liebe von oben bricht als lauterer Strahl in seine Dunkelheit – »O heiliger Liebe ewige Macht!« – und trifft seine eigene Liebe, die nach oben quillt – er sinkt mit dem Ausruf: »Heilige Elisabeth, bitte für mich!« tot nieder. Sein Weg ist – wie der Faustens, wenn auch einseitig erotisch – der Weg aus Verworrenheit und Sünde zur reinen Liebe und zur Erlösung, nicht durch eigene Kraft, sondern mit der Hilfe, die ihm die göttlich gewordene Geliebte mit ihrer Liebe schenkt.

Dem ringenden und leidenden Mann, der zwischen Gott und dem Teufel, zwischen Elisabeth und Venus steht, geht der nicht in Versuchung geführte, reine Frauenanbeter, Wolfram zur Seite. Die beiden Extreme geraten nun im Sängerkrieg hart aneinander, Tannhäuser, der innerlich Zerrissene, wird durch die Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit der Wolfram die hohe Liebe preist, herausgefordert, ergreift die andere Partei und singt sein Loblied an Frau Venus und die Sinnenlust.

Man muß es wohl nicht besonders betonen, daß Wagner all dies zu jener Zeit seines Lebens in sich vorgefunden hat, daß solch ein Werk nicht »gemacht«, sondern ganz aus den Tiefen der Seele geschöpft wird, wie ja überhaupt die wenigen und großen Werke Wagners alle dies untrügliche Merkmal der Echtheit und Inbrunst an sich tragen (während man z. B. bei den Werken Goethes ziemlich leicht die echten, »notwendigen« von den bloß geistig und nicht seelisch erschaffenen unterscheiden kann).

Im Tannhäuser ist das Jünglingsstadium der europäischen Menschheit verewigt, die dritte einheitliche Stufe wird noch nicht einmal geahnt. »Lohengrin«, dessen Hauptgegenstand ja nicht erotisch ist, bedeutet doch schon den Übergang zum dritten Stadium, das Leib und Seele nicht mehr als widerstrebende Potenzen empfindet, sondern über beiden eine höhere Einheit sucht. Lohengrin kommt aus einem überirdischen Reich, um in der Liebe Elsas das Glück der Erde zu finden – aber er wird enttäuscht. Ich will hier auf keine Analyse eingehen, sondern lieber ein paar Sätze Wagners zitieren: »Lohengrin sucht das Weib, das an ihn glaubte: das nicht früge, wer er sei und woher er komme, sondern ihn liebte, wie er sei und weil er so sei, wie er ihm erschien« ... Es verlangt Lohengrin nur »nach Liebe, nach Geliebtsein, nach Verstandensein durch die Liebe. Mit seinem höchsten Sinnen, mit seinem wissendsten Bewußtsein wollte er nichts anderes werden und sein als vollkommener, ganzer, warm empfindender und warm empfundener Mensch, also überhaupt Mensch ...« Wagner spricht ferner von seiner Sehnsucht, »das Weib« zu finden, das Weib schlechthin, das sich ihm immer in anderer Form darstellte – und damit ist eigentlich die erotische Sehnsucht des Mannes ganz ausgesprochen – »das Weib zu finden, nach dem sich der fliegende Holländer aus der Meerestiefe seines Elendes aufsehnte; das Weib, das dem Tannhäuser aus den Wollusthöhlen des Venusberges als Himmelsstern den Weg nach oben wies, und das nun aus sonniger Höhe Lohengrin hinab an die wärmende Brust der Erde zog«. – Wir sehen hier die neue Form der Liebe zwar noch nicht ganz erfaßt, aber doch ersehnt und im Kunstwerk angebahnt.

Sie ist erst mit »Tristan und Isolde« ganz und sogleich in höchster Vollkommenheit erreicht. Wir besitzen in den Briefen und in den Tagebuchblättern für Mathilde Wesendonk auch die Dokumente des persönlichen Erlebnisses, aus dem der Tristan gewachsen ist, eines der ergreifendsten Liebesschicksale schließt sich darin auf. Da ich »Tristan und Isolde« schon früher besprochen habe, gehe ich jetzt weiter und führe nur noch einen Satz an, den Wagner an Liszt geschrieben hat zu der Zeit, als er Mathilde kennen lernte, und der die Einheit der dritten Stufe ersehnt: »Gib mir ein Herz, einen Geist, ein weibliches Gemüt, in das ich mich ganz untertauchen könnte, das mich ganz faßte – wie wenig würde ich dann nötig haben auf dieser Welt!« – Es ist sehr wichtig, daß neben Tristan die (etwas später gedichteten) »Meistersinger« stehen: denn hier ist die dritte Stufe der Liebe in ihrer idyllischen Möglichkeit durchgefühlt, die Synthese hat die Form der bürgerlichen Wirklichkeit, nämlich die Fixierung der Liebe in der Ehe angenommen – »Ich lieb' ein Weib und will es frei'n!« – und so gebührt diesem Werk, wenn auch der Grundton kein erotischer ist, der Platz neben dem Tristan mit seiner Forderung absoluter metaphysischer Erfüllung des Liebeslebens. –

Es ist erstaunlich, daß derselbe Genius die beiden Stufen so vollkommen hat erleben und inkarnieren können. Tannhäuser und Tristan sind zweifellos des großen Erotikers persönlichste Werke, voll zitternder Leidenschaft und fern der ungeheuren objektiven Welt der Nibelungen, der erhabenen Klarheit Lohengrins und der Weisheit Parsifals. Ich habe eine Analyse des Parsifal an anderer Stelle gegeben (»Grenzen der Seele«) 1. Teil, Seite 100-111).

Aus allem Dargelegten geht hervor, daß die Entfaltungen sowie die Verirrungen des Liebeslebens nur für den Mann bestanden haben und noch heute im großen und ganzen nur für ihn vorhanden sind. Er ist der Odysseus, der Himmel und Hölle befährt, um – vielleicht! – einmal ins Land der Heimat zu kehren, wo seiner die Ewig-Unveränderliche, die Frau, wartet. Was von Anfang an natürlicher Besitz der Frau gewesen ist, die Einheit des körperlichen und des seelischen Liebeslebens, dem strebt der Mann heute als einem höchsten erotischen Ideal zu. Seinen ungeordneten Geschlechtstrieb, das Erbe früherer Zeiten, empfindet er als niedrig und schlecht vor ihr, der Sexualität nur mit Liebe vereint gegeben ist, seine ins Metaphysische gesteigerte Anbetung scheint ihm haltlos und verstiegen vor der Ewig-Irdischen, die ihn vollkommen dünkt, weil sie besitzt, um was er kämpft. Dies und nichts anderes meint man unklar, wenn gesagt wird, daß die Frau im Erotischen höher stehe als der Mann: sie ist die ewig Gleiche, er ist immer neu und immer problematisch, niemals vollendet, er fällt in Wirrnis und Sünde, wo sie nicht irren kann, denn ihr Instinkt ist die Natur selbst – Hysterie heißt ja im Grunde nichts anderes als von der Natur abgeirrter Instinkt – und sie kennt die Sünde nicht. Was der Mann ihr auferlegt hat, das hat sie schweigend übernommen, sie hat sich zur Göttin und zur Teufelin machen lassen und ist doch immer die große Problemlose, die Natur, geblieben – innerlich fern allen Verirrungen, an die ihr Verstand so willig geglaubt hat. – Hieraus folgt aber etwas sehr Fundamentales für die Psychologie der beiden Geschlechter (was schon früher ausgesprochen worden ist): daß nämlich nur das Gefühl des Mannes eine Geschichte habe, nicht das der Frau. –

Wenn es Gesetz ist, daß sich die Menschheit im Menschen reproduziert, dann kann der sogenannte Atavismus als Abnormität nicht darin bestehen, daß Zustände, die in früheren Zeiten normal gewesen, dann aber verschwunden sind, unvermittelt oder scheinbar unvermittelt wieder aufleben; sondern er muß den Sinn haben, daß ein Mensch auf einer früheren und entschieden als niedrig empfundenen Stufe endgültig stehen geblieben ist und das heutige Maß – in irgendeinem Gebiete des Fühlens – nicht erreicht. Denn je mehr allgemein Menschliches einer in sich trägt, desto mehr wiederholt er auch, oder: je mehr des einst Lebendigen wiederholt und überholt wird, desto mehr Neues kann daraus wachsen. Atavismus ist also nicht das Bestehen des Früheren, sondern das Fehlen des Späteren. (Hiermit stimmt Freuds Auffassung des Neurotikers überein.) –

Es ist klar, daß die drei Stufen der Erotik nur der Ausdruck einer Zeit auf einem bestimmten Gebiete sind. Das Altertum ist ganz diesseitig, anschaulich und unpersönlich gewesen, das Mittelalter hat allen Wert ins Jenseits und in die Seele gelegt, die Schönheit des Frühlings durfte nur Zeichen einer anderen Schönheit sein.

Wie schön ist es hienieden!
Wie mag es erst dort drüben sein?

sagt Bruder Hans typisch. Unsere Zeit aber fühlt das tiefe Bedürfnis, das Erdenleben mit allen Wünschen und Vollendungen der Seele zu erfüllen, die jenseitigen Ideale nicht zu zerstören, sondern ihres metaphysischen Charakters zu entkleiden und ihre Idealität mit ihrem unvergleichlichen Wert im Leben wirken zu lassen, daß es erhöht und geheiligt werde. Nicht die Ablehnung des Jenseits ist der Wille der Besten, sondern das Verständnis vergangener Jenseitswerte als starke Richtlinien fürs Diesseits, eine höhere Einheit aus Wirklichkeit und Ideal, die Verklärung des Lebens unter dem Aspekt der Ewigkeit. – Dies gilt auch fürs Liebesleben: das Natürlich-Menschliche soll geadelt und verklärt werden durch den Gedanken der überschwenglichen, ewigen Liebe. –

Falls meine Aufstellungen Stand halten, wäre mit ihnen der ontologische Charakter des geschichtlichen Werdens und der prinzipielle Wert der Geschichtswissenschaft für die Erkenntnis der menschlichen Seele erwiesen. Denn es ist an einem speziellen und außerordentlich wichtigen Gebiete gezeigt worden, daß dasjenige, was für unsere Vorstellung den Menschen ausmacht, nicht von Anfang an dagewesen ist, sondern daß es sich in bekannter historischer Zeit gebildet hat, oder anders formuliert: Die Geschichte kann und muß uns lehren, wie der Geist und die Seele des Menschen entstanden sind (nachdem uns die Naturgeschichte gelehrt hat, wie sein Körper wurde). Nicht »wie es gewesen ist« (Ranke), wollen wir erfahren, wenn wir an die Geschichte mit philosophischem Sinn herantreten, sondern wie es geworden ist, wie wir selber haben zustande kommen können. Die Geschichtswissenschaft, die nicht auf die Gegenwart abzielt, die sich mit dem Wissen um Vergangenes genug sein läßt, ist antiquarisch und tot und hat im höchsten Fall ästhetischen und Liebhaberwert, nicht aber kulturellen. Nur das in der Vergangenheit ist historisch im höchsten Sinn, was produktiv gewesen ist, was lebendig gewirkt und das neue Wertvolle hervorgebracht hat.

Ein neues und enges Verhältnis zwischen Psychologie und Geschichte wird dadurch hergestellt: Die Hauptaufgabe oder wenigstens eine der Hauptaufgaben der Psychologie, nämlich die Konstruktion des Normalmenschen, hat eine neue Möglichkeit der Lösung empfangen: das Wesentlichste, das im Laufe der historischen Entwicklung in der Menschheit entstanden ist, muß im normal entfalteten Menschen von heute wieder zu finden sein. Der normale Mensch von heute ist nicht der normale Mensch einer früheren Zeit, er wird von Jahrhundert zu Jahrhundert reicher und komplizierter, ist aber immer intuitiv historisch (und nicht etwa statistisch oder experimentell) zu finden. So gefaßt ist die Geschichte eine Hilfswissenschaft der Psychologie oder Psychologie der ganzen Menschheit, wie sich die Entwicklungspsychologie des einzelnen (die noch so wenig behandelt worden ist) als abgekürzte Geschichte des Ganzen darstellt. Eine vergangene Kulturperiode kann prinzipiell im Leben des einzelnen voll entwickelten Menschen aufgesucht werden; wie umgekehrt die Stadien im Leben des einzelnen als Fingerzeige in die Geschichte hineinweisen.

Die so verbreitete und niemals bewiesene Meinung, daß alles Entscheidende und Große ja doch von Anfang an dagewesen sein müsse, so daß der Geschichte echter philosophischer Erkenntniswert nicht zukomme, ist demnach widerlegt, wenn die Entstehung grundlegender menschlicher Gefühle in bekannter historischer Zeit nachgewiesen werden kann. Die andere komplementäre Behauptung dagegen, daß nichts ganz verschwindet, was jemals bestanden habe, ist anzuerkennen: denn in der Seele des Menschen geht nichts völlig unter, es kommt vielmehr durch die neu eintretenden Motive und Wertungen in eine andere Stellung zum Ganzen; und mag es auch als Element noch immer dasselbe sein, im ganzen Seelenkomplex ist es doch etwas anderes geworden: die Sexualität, die am Anfang selbstverständlich und nicht weiter zweifelhaft gewesen ist, tritt später in Beziehungen zu den neuen Faktoren des erotischen Lebens und wird problematisch und dämonisch. – Man kann so lange von naturhaftem Dasein sprechen, als der Mensch ganz im Strom des Werdens eingebettet und noch nicht zum Bewußtsein seiner selbst gekommen ist. In dem Augenblick aber, da der Geist und das Selbstbewußtsein ins naturhafte Dasein eindringt, gibt es nicht mehr bloße Änderung – das Wachstum in der Natur –, sondern Kultur, deren Darstellung die Geschichte ist. Die Natur hat keine Geschichte im Sinn des Entstehens von Werten, bei den Völkern, die noch nicht in die Kultur eingetreten sind, wiederholt ebenso wie bei Pflanzen und Tieren jede neue Generation die früheren, es gibt wohl Veränderung durch Anpassung an die Umwelt, aber keinen Wert und damit keine Geschichte. –

Soviel über das Methodische und Formale, das vielleicht aus meinen Darlegungen erschlossen werden darf. Zum Schlusse noch eine Bemerkung über die letzten Konsequenzen des Gegenstandes selbst. Ich habe den tragischen Charakter verständlich machen wollen, der im höchst gesteigerten Gefühlsleben mit zwingender Notwendigkeit liegt, die Grenzen zeigen, die allem großen Fühlen gesetzt sind, und die Sehnsucht, die sie überfliegen möchte. Nur auf seinen unteren körperlichen Stufen findet das Gefühlsleben des Menschen, das seinem ganzen Wesen nach unbegrenzter Entfaltung fähig ist, wirkliche Befriedigung; Hunger, Durst und Sinnlichkeit können gestillt werden (daher weist auch die erste Stufe der Erotik nichts Tragisches auf). Das Gefühl aber, das die Seele ganz beherrscht, ist unstillbar. Nicht nur der Erkenntnistrieb des großen Denkers, die religiöse Sehnsucht des Mystikers, der ästhetische Wille des seltenen Künstlers – auch die Liebe und Sehnsucht des großen Erotikers muß über alles Erreichbare hinaus ins Unendliche streben. Die Erde ist einmal das Reich der mittleren Gefühle, der mittleren Taten, der mittleren Menschen. Und der Liebende, der die Schranken nicht zu ertragen vermag, schafft sich eine andere Welt – die Welt der metaphysischen Erotik.

 


 << zurück