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Dritte Stufe.
Die Einheit von Geschlechtstrieb und Liebe

1. Die Sehnsucht nach der Synthese

Die beiden erotischen Grundelemente sind bis in die neue Zeit ohne innere Vereinigung nebeneinander hergegangen. Immer hat die Sexualität in allen ihren Formen bestanden, der Genuß ist letztes Ziel aller zwischengeschlechtlichen Beziehungen; daneben hat es, selten und in verschiedenen Graden, eine seelische Liebe gegeben, von der ich Zeugnisse angeführt habe.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist nun, zuerst zaghaft, dann aber entschiedener, die Sehnsucht aufgetaucht, in der Persönlichkeit der Geliebten die einzige und eigentliche Quelle alles erotischen Fühlens zu finden, nicht mehr zweierlei in sich zu bergen, Sinnlichkeit und Liebe, sondern alle Erotik als Einheit zu begreifen. Körper und Seele sollen von der Persönlichkeit in einer höheren Synthese gebunden werden. Dieses Gefühl hat um die Zeit der Französischen Revolution – etwa mit Rousseau und Goethes Werther – eingesetzt, ist in der Romantik fortgebildet worden und stellt die typische Form der modernen Liebe dar, die ihre Möglichkeiten noch nicht erschöpft hat und noch heute nicht als vollendet gelten kann. Es ist das große Problem der Gegenwart auf erotischem Gebiete, der Kern ihrer viel beredeten »sexuellen Frage« (oder wie man es sonst noch nennen mag), diese ersehnte Einheit, die gleichbedeutend wäre mit dem Sieg des Persönlichsten im Menschen über die Einseitigkeiten des Leibes und der Seele, herzustellen und nicht mehr zu verlieren. Das Charakteristikum dieser dritten Form der Erotik ist die völlige Überwindung des Lustmomentes durch die Liebe, die Aufhebung des Sexuellen, Gattungsmäßigen im Seelischen, Persönlichen. Die körperlich-seelische Einheit der Geliebten ist so sehr höchste erotische Realität, daß eine Grenze zwischen Seele und Sinnen nicht mehr gemacht werden kann, die körperliche Vereinigung wird im extremen Fall – der kaum allzu selten ist – nicht mehr als etwas Besonderes, als etwas spezifisch Lustvolles bewußt, sie nimmt keine ausgezeichnete Stellung im ganzen erotischen Komplex ein, und damit ist die Lust, das allgemeine Erbe der Tierwelt, von der Persönlichkeit, dem Schatz des Menschen, überwunden. Es ist für die erste Stufe charakteristisch, daß das eine Element des erotischen Lebens, die Lust, sehr entschieden vorherrscht (dieses Stadium hat natürlich nie aufgehört weiter zu bestehen), sowohl die physiologische Lust der Berührung und Umarmung, als auch die ästhetische Freude an der Schönheit des menschlichen Körpers. Die zweite Stufe stellt diejenigen seelischen Eigenschaften in den Vordergrund, die hochgehalten werden, Tugend, Reinheit, Güte, Weisheit usf., weil die Liebe alles Vollkommene in der Menschenseele erlöst und umfaßt. Im dritten Stadium ist eigentlich beides, Lust und seelische Liebe, als etwas Gesondertes aufgehoben, die Persönlichkeit der Geliebten in ihrer individuellen Bestimmtheit allein ist vorhanden, sie bringe Lust oder nicht, sie sei gut oder schlecht, schön oder häßlich, weise oder einfältig. Die Persönlichkeit ist dem Prinzip nach einzige und höchste Quelle aller Erotik geworden. Es gibt in diesem Stadium keine Herrschaft des Mannes über die Frau – wie in der Sexualität –, keine Unterordnung des Mannes unter die Frau – wie in der anbetenden Liebe –, sondern nur völlige Gleichordnung beider Geschlechter, völlige Gegenseitigkeit von Geben und Nehmen. Ist die Sexualität unendlich wie die Materie, die seelische Liebe ewig wie das metaphysische Ideal – so ist die Synthese menschlich und persönlich.

Vor dem 18. Jahrhundert besteht dieses neue Liebesgefühl als Kulturerscheinung nicht; wohl aber könnte man hier und da Vorahnungen und Anklänge daran finden: schon einige der älteren deutschen Minnesänger (wie der Kürnberger und Dietmar von Aist), denen die romanische Form der Liebesdichtung noch nicht recht geläufig gewesen ist und die dem Volkslied nahestehen, verraten manchmal – und zwar besonders wenn die Frau spricht – ein Gefühl, ähnlich wie unsere heutigen sentimentalen deutschen Volkslieder. Bei Albrecht von Johansdorf treffen wir z. B. in folgenden Versen diese Gegenseitigkeit der Liebenden an, die für die moderne Erotik bezeichnend ist:

Wenn sich Herz zu Herz gefunden
Und ihr Minnen treulich ist,
Da soll niemand scheiden, dünkt mich,
Bis der Tod sie voneinander reißt.

Noch entschiedener modern ist dieses volkstümliche Lied empfunden:

Nur das allein ist Minne:
Zwei Herzen in einem Sinne.
Zwei Lieb' ein Lieb', und das nur so,
Daß beide sind ihres Glückes froh.
Im Leid ein Leid
Ohn' alle Unterschiedenheit.

(Obermann.)

Walter von der Vogelweide hat wohl die zeitgemäße Auffassung der Liebe als Quelle alles Guten und Edlen übernommen (»Sagt mir jemand, was ist Minne?«), sie aber doch niemals ganz akzeptiert:

Minne ist zweier Herzen Freude,
Teilen beide gleich, so ist die Minne da.

(Carl Pannier.)

Als noch älteres Zeugnis könnte man die Definition der Ehe bei dem Scholastiker Hugo von St. Viktor, der der mystischen Richtung nahesteht, anführen: »Die Ehe ist die Freundschaft zwischen Mann und Frau.«

Ich kann nicht alles kennen, aber ich glaube nicht, daß es vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Zeugnisse von Männern gibt, die ganz entschieden die einheitliche persönliche Liebe der dritten Stufe bekundeten. Man darf vielleicht sagen, daß die starke Spannung zwischen Sinnlichkeit und seelischer Liebe im Lauf der Jahrhunderte nachläßt, daß die Sinnlichkeit nicht mehr so sehr als teuflisch und die Liebe weniger als himmlisch empfunden wird; aber im Prinzip hat sich nichts geändert. Nur auf die Frauenbildnisse des Leonardo da Vinci muß hingewiesen werden, der wohl als erster die Synthese künstlerisch geahnt, wenn nicht vollzogen hat. Die Ausnahmestellung, die man seinen Frauen – besonders der Mona Lisa – zuzuschreiben geneigt ist, liegt zweifellos in diesem unzeitgemäßen Gefühlsbestandteil. Wir dürfen es glauben, daß Leonardo auch als Erotiker weiter gehalten hat als andere; aber er ist vereinzelt geblieben.

Die drei Stufen des Liebeslebens gelten nur für den Mann. Sein Gefühl ist von der Tierheit zur Göttlichkeit geflogen, um dann langsam irdisch zu werden, sein Gefühl allein hat eine Geschichte. Die Frau ist von allem, was ihn ergriffen, erschüttert und gewandelt hat, unberührt geblieben. Sie ist im Verhältnis zum Manne noch heute, was sie seit je gewesen ist: Natur. Immer ist ihr der Geliebte alles in Einem gewesen, sie hat ihn niemals bloß als Mittel zum sinnlichen Genuß gewertet, noch auch jemals zu ihm wie zu einem höheren Wesen in rein seelischer Liebe aufgeschaut, ihm hat jederzeit ihre unteilbare Liebe gegolten, die Körper und Seele in naiver Einfalt nicht zu scheiden weiß. Was dem Manne letzte erotische Sehnsucht ist, was er sich langsam und schwer erringen mußte und was er heute noch nicht ganz besitzt: über Sinnlichkeit und Seele hinaus ein Neues entstehen zu lassen, das ist den Frauen selbstverständlich. Ihnen, denen die Liebe eigentlicher Beruf ist, wird geschenkt, was die größten Männer mühsam und nur halb erkämpfen. Der tiefe Dualismus bleibt ihnen innerlich fremd, in der Einfachheit und Sicherheit des Instinktes, der keine Entwicklung hinter sich hat und daher auch nicht die Gefahren der Verirrung und des Atavismus birgt, ruht die Größe der Frauen – aber auch ihre Beschränkung. Denn die Kluft zwischen persönlicher Liebe und Geschlechtstrieb ist ihnen kaum bewußt. Wo es anders ist, da gibt es zwar hin und wieder geistige Größe (wie bei der Kaiserin Katharina von Rußland und bei manchen Künstlerinnen), fast immer aber nur Krankhaftigkeit, Zerrissenheit und Unproduktivität des Fühlens. Der natürlichen Frau erscheinen die Phänomene der zerspalteten Erotik, die wir beim Manne gefunden haben (und noch weiter finden werden), unbegreiflich, ja unheimlich. Es versteht sich ihnen eigentlich immer von selbst, daß alle Erotik nur einheitlich sein kann, so daß die dritte Stufe als die Sanktionierung des weiblichen Fühlens betrachtet werden darf. Auch heute, wo so viel Redens von der »modernen Frau« und ihren Wünschen umgeht, ist die Frau noch immer im Gefühl abgeschlossen, ist Ruhe und Problemlosigkeit gegenüber der Vielfalt und Zerspaltenheit des Mannes. Ebenso wie die rein seelische Anbetung gehört die undifferenzierte sexuelle Begehrlichkeit, aller Hysterie ungeachtet, noch heute zu den Seltenheiten und wird wie eine Ausnahme von der Norm empfunden.

Ist also die körperlich-seelische Einheit die Grundtatsache der weiblichen Erotik, so verhält es sich beim Manne anders. Ich glaube, daß die hierher gehörigen Erscheinungen besser verstanden werden können, wenn man das allmähliche Entstehen der erotischen Elemente beobachtet. Der primäre Geschlechtstrieb ist bei der Frau übers ganze Wesen verbreitet und hat sich ohne entschiedene Schwankung und Veränderung geläutert; beim Manne ist er immer nur auf abgegrenzte Bezirke seines körperlichen und seines seelischen Lebens beschränkt geblieben, etwas Neues, die seelische Liebe, hat hinzukommen müssen, damit die endgültige Form der persönlichen Liebe erreicht werde. Dieser Besitz ist bei ihm etwas Höheres als bei der Frau, weil er das Ergebnis eines langen Ringens darstellt, weil sich hier eine Aufgabe erfüllt hat, an der noch heute der Kampf und der Schmerz der Jahrhunderte hängen. Das Wort »Genießen macht gemein« ist jetzt Erlebnis geworden.

Ich will nun einige historische Einzelheiten über die Erotik der Frau anführen. Sogar aus der griechischen Antike läßt sich ein Beispiel für die unteilbare Liebe der Frau in Alkestis erbringen, die ihrem Gatten so ganz hingegeben ist, daß sie freiwillig den Tod auf sich nimmt, um ihm das Leben zu verlängern. Was die Eltern nicht vermögen, das hat die liebende Frau getan. Die »Alkestis« des Euripides bringt ein Gefühl zur Darstellung, das uns verwandt anmutet. – Ähnlich verhält sich's mit Penelope, der treuen Dulderin.

In der Zeit, da im Manne die seelische Liebe langsam und unter schweren Wirrnissen, begleitet von Narrheiten und lateinischen Traktaten, entstanden ist, hat die Frau schon das Gefühl besessen, das wir als modern empfinden. Hierfür sollen drei gewichtige Zeugnisse angeführt werden. Die auf bretonischen und walisischen (keltischen) Motiven beruhenden Lais der altfranzösischen Dichterin Marie de France atmen ein zartes sentimentales Liebesgefühl, das unserer volkstümlichen Poesie nahekommt. Wir lesen von ganz einfachen Empfindungen, von Liebessehnsucht und Liebesleid. Die rührende Geschichte von Lanval und Ginevra ist da und eine Episode von Tristan und Isolde –

De Tristan et de la reïne,
De leur amour qui tant fut fine,
Dont ils eurent mainte dolour
Puis en moururent en un jour.

Im Gegensatze zu der gleichzeitigen provenzalischen reifen und raffinierten Kunst, zu dem ganzen gelehrten Rüstzeug der Liebe spricht hier ein naives Empfinden. Ein Baron will keinem seine Tochter geben außer dem, der sie in seinen Armen auf den Gipfel eines Berges zu tragen vermöchte, denn er weiß, daß dies unmöglich ist. Keiner hat die Kraft, jeder muß sie auf halbem Weg niedersetzen. Aber der heimlich Geliebte geht in die Welt und findet nach jahrelangem Suchen einen Zaubertrank, der seine Kräfte ins Überschwengliche steigern soll. Er kehrt heim und beginnt, mit der Geliebten im Arm, den mühseligen Weg. Und die Liebe macht ihn so froh und stark, daß er des Trankes spottet. Sie aber fühlt, wie seine Kräfte schwinden – »Trink doch, Freund!« – »Oh, mein Herz ist stark! Ich will nicht so viel Zeit verschwenden!« – Und wieder: »Trink jetzt, Freund! Dein Arm erlahmt!« – Er aber will sie nur noch aus eigener Kraft gewinnen und erreicht wirklich den Gipfel, um tot niederzusinken. Sie neigt sich und küßt ihm Aug' und Mund und stirbt mit ihm.

Seht, dieses ist der Liebe Art,
Daß keiner seinen Sinn bewahrt!

Wir erkennen die neue Form der Liebe, die gegenseitige Hingebung, und wir finden in dieser einfachen Erzählung und in den oben angeführten Versen auch schon den Gedanken der Vollendung dieser Liebe – der sich erst sechshundert Jahre später erfüllen sollte –, den Gedanken des gemeinsamen Sterbens, des Liebestodes. Er ist der keltischen Seele entsprossen, wie die Frauenanbetung der romanischen (die germanische hat an der Ausbildung beider ihr Teil). Dieser Traum von der Vollendung der Liebe ist der Traum der früh unterdrückten keltischen Rasse, die ihre ganze Seele in Träume gelegt und manchen von solcher Innigkeit und Naturliebe hervorgebracht hat, daß wir noch heute davon erschüttert werden.

Dann gibt es drei Liebesbriefe eines deutschen Mädchens in lateinischer Sprache aus dem 12. Jahrhundert. Mit wahrhaft ergreifenden Worten sagt sie dem Geliebten, daß er nimmer aus ihrem Herzen gerissen werden kann. »Ich wende mich zu dir, den ich in meines Herzens Innerem eingeschlossen trage.« Sie verspricht ihm ewige Treue und verlangt ewige Treue wieder. »Du allein bist mir aus Tausenden erwählt, du allein bist mir genug, an meiner Liebe wird es dir niemals fehlen. Ich hab' mich dir vertraut, all meine Hoffnung hab' ich in dich gelegt.« Sie schließt: »Ich hätte noch mehr gesagt, aber es ist nicht nötig –« und nun folgen die unvergleichlichen deutschen Verse:

Du bist mein, ich bin dein,
Des sollst du gewisse sein.
Du bist verschlossen in meinem Herzen,
Verloren ist das Schlüsselein.
Du mußt immer drinnen sein.

Der dritte Brief geht Schritt für Schritt, wie zögernd, aus dem steifen Latein in ein herzliches einfaches Deutsch über. – Der Mann aber antwortet plump und mit sonderbaren Worten, die erkennen lassen, wie unsicher er sich fühlt: »Du hast an das Menschenhaupt einen Pferdehals gefügt und der schöne Frauenleib läuft unten in einen häßlichen Fisch aus.« – Es scheint, daß sie voneinander gehen müssen.

Das ergreifendste Beispiel aus dem Mittelalter ist aber das berühmte Liebespaar Abälard und Heloise. Die Briefe Heloisens sind wohl die ältesten erhaltenen Dokumente leidenschaftlicher weiblicher Hingebung, die sich vom modernen Gefühl in nichts unterscheidet. Abälard hat seine Geliebte ins Kloster geschickt, damit sie dort die Sünden der Wollust bereue – sie aber kennt Gott nicht, einzig den Geliebten: »Von Gott versehe ich mich keines Lohnes, da nimmermehr aus Liebe zu ihm geschehen ist, was ist getan! ... Nichts habe ich ja bei dir gesucht als dich selbst; dich nur begehrte ich, nicht das, was dein war, kein Ehebündnis, keine Morgengabe habe ich erwartet; nicht meine Lust und meinen Willen suchte ich zu befriedigen, sondern den deinigen, das weißt du wohl! Mag dir der Name ›Gattin‹ heilig und ehrbar scheinen, mir klingt es allezeit reizender, deine ›Geliebte‹ zu heißen, oder gar deine ›Dirne‹. Je tiefer ich mich um deinetwillen erniedrigte, desto mehr wollte ich dadurch Gnade vor deinen Augen finden ... Auf alle Freuden habe ich verzichtet, um deinem Willen zu leben, nichts habe ich mir zurückbehalten als den Wunsch, ganz und gar nur dir zu gehören.« – Abälards Antworten aber sind fromme Predigten und theologische Abhandlungen, er denkt an die vergangene Liebe nur als an »die fluchvollen Gelüste des Fleisches«, in die sie vom Teufel verstrickt worden sind, und fordert Heloise auf, Gott zu danken, daß sie nunmehr errettet seien. Er schreibt ihr: »Meine Liebe, die uns beide in Sünde verstrickte, verdiente den Namen Begierde, nicht den der Liebe. Befriedigung meiner sündhaften Lüste suchte ich bei dir, das war meine ganze Liebe« usf. Das blutige Verbrechen, das an ihm begangen worden ist, segnet er, weil es ihn für immer von der Sünde der Wollust erlöst hat. Was Heloise als ihre einzige und schönste Erinnerung hegt und liebt – das ist ihm Pfuhl und Teufelswerk. Und er schreibt ihr wie zum Hohn: »Welch reichliche Zinsen trägt das Pfund deiner Weisheit Tag für Tag dem Herrn! Wie viele geistliche Töchter hast du ihm schon geboren! Welch unheilvoller Verlust, wenn du dich den schmutzigen Lüsten des Fleisches hingegeben, mit Schmerzen wenige Kinder zur Welt gebracht hättest, während du jetzt mit Freuden eine zahlreiche Schar für das Himmelreich gebierst! Ein Weib wärest du geblieben wie alle anderen, die du jetzt hoch selbst über den Männern stehst!« – Tragisch steht hier der zerrissene Mann des Mittelalters der ewig gleichen, immer fertig aus den Händen der Natur hervorgegangenen Frau gegenüber. Der Mann hat noch einen weiten und mühseligen Weg vor sich, die Frau hat von Anfang an alles kampflos besessen. Wie seltsam klingt dieser Schrei einer mittelalterlichen Nonne: »Es scheint, als wäre die Welt alt geworden, als hätten die Menschen samt den anderen Kreaturen ihre ursprüngliche Jugendfrische verloren, als wäre die Liebe nicht bloß in vielen, sondern in allen erkaltet!«

Endlich ist noch Gudrun zu nennen, die jahrelang dem Geliebten Treue wahrt trotz Erniedrigungen, Beschimpfungen und Leiden. –

Was ist eigentlich der letzte Grund der Feindschaft des dualistischen Mittelalters gegen die Sinnlichkeit? Sollte er nicht im Erotischen selbst zu suchen sein? – Diese Feindschaft beruht darauf, daß es noch keine andere als die rein seelische Liebe gegeben hat. Und ihr Widerspiel ist eben die Sinnlichkeit, die der Mensch mit den Tieren gemein hat; in der Überwindung der Tierheit aber mußte alles Heil liegen – nicht nur für das Christentum, sondern für jede höhere Auffassung der Kultur. Es ist durchaus folgerichtig, wenn die dualistische Periode die niedrigere Form der Erotik verachtet und bekämpft, die Askese stellt die höchste Kulturform dar, welche jener Zeit möglich geworden ist. (Daß auch die seelische Liebe abgelehnt wird, wie wir gesehen haben, ist einfach eine Inkonsequenz des alles Kulturgefühls baren Klerus.) Das Christentum hat tatsächlich schon das Persönlichkeitsprinzip besessen und ihm in der Höchstschätzung der Seele Ausdruck verliehen. Denn was ist Seele anderes als das naiv und substanziell gefaßte Bewußtsein von der Persönlichkeit des Menschen? Die unpersönliche Sexualität mußte vor diesem Höheren gering erscheinen.

Es ist daher wohl historisch richtig, aber doch sachlich falsch, wenn man das Christentum noch heute als Religion der Askese auffaßt, da die Askese des Mittelalters nichts anderes gewesen ist als die erste unreife Stufe des Persönlichkeitsprinzipes. In dem Augenblick, da die seelische Liebe nicht mehr mit der Sinnlichkeit im Gegensatze gestanden hat, da eine Synthese eingetreten ist, hätte das Christentum die notwendige Folgerung aus seinem Grundprinzip ziehen und die einheitliche Liebe anerkennen müssen. Dies ist im Protestantismus halb und halb geschehen, die schwankende Stellung Luthers zur Geschlechtlichkeit ist sehr charakteristisch für diese unentschiedene Haltung. Im Grunde kann er nämlich die Sinnlichkeit nicht rechtfertigen und betrachtet sie ebenso wie die Kirchenväter als ein Übel, mit dem man sich schlecht und recht abfinden muß. Seine Heiligung der Ehe ist nichts als ein schiefer und schlecht begründeter Kompromiß und konnte nichts anderes sein, weil er auf dem Standpunkt des alten Dualismus gestanden hat. Im Augenblick aber, wo die neue sinnlich-übersinnliche Form der Liebe vorhanden ist, mußte sie auch vom Christentum als der Religion der Persönlichkeit anerkannt werden. –

Nach dieser Abschweifung kehre ich zu dem Zeitpunkte zurück, wo das dritte Stadium der Liebe einsetzt. Hätte ich eine richtige Geschichte der Erotik zu schreiben, so müßte ich nun das Zeitalter des Rokoko schildern, das durchaus rationalistisch und dem Genuß ergeben ist, das an nichts glaubt als an den nüchternen Verstand und an den Kitzel der Schleimhäute, das unter Liebe ausschließlich den Geschlechtsgenuß versteht. Ist die Sinnlichkeit bis dahin – wenigstens theoretisch – ein Übel gewesen, so wird sie nun (ganz anders als in der naiven Antike) in Lüsternheit gewandelt; sie hat alles Großartige und geheimnisvoll Kosmische abgestreift und ist zum wichtigsten Mittel des Amüsements geworden. Das 18. Jahrhundert ist für die Geschichte der Erotik interessant und wichtig, aber es bringt nichts eigentlich Neues. Wir haben einfach festzustellen, daß unter der unbestrittenen kulturellen Vorherrschaft Frankreichs ein Zeitalter bloßer Sexualität bestanden hat – vielleicht keiner anderen Epoche als dem frühen Orient vergleichbar. Selbst die Mutterfamilie des grauen Altertumes findet sich ohne Hehl bei Pariser Damen wieder. Casanova ist der sexuelle Heros dieser Zeit (und ein wenig Ideal der impotenten Gegenwart): unermüdlich auf der Jagd nach Frauen und bis ins späte Alter erfolgreich, ein manierlicher Sexualist ohne Feinheit und Tiefe. Der Vicomte de Valmont, der Held von Choderlos de Laclos' berühmten und völlig aus der Wirklichkeit geschöpftem Roman » Les liaisons dangereuses«, ein völlig kalter und raffinierter, nur mit dem Verstande zu Werke gehender Verführer, ist ihr Abgott. Ihnen sekundiert die genußfrohe Ninon de l'Enclos, die mit achtzig Jahren noch begehrt wird.

Auf das Raffinement ist der Überdruß an der Zivilisation und die Naturliebe eines Rousseau, Werther und Hölderlin gefolgt, die sich nicht mit ästhetischer Betrachtung begnügt, sondern ganz im Naturdasein untertauchen, ganz mit der Natur Eins werden möchte. Eng mit der Naturschwärmerei ist die sentimentale Liebe verwachsen, das unmittelbare Vorstadium der modernen Liebe. Ihr Wesen scheint mir darin zu liegen, daß sie, vom Seelischen ausgehend, doch im Seelischen nicht Genüge findet, sondern nach einer seelisch-körperlichen Einheit strebt und nun einer leichten Disharmonie, eben der Sentimentalität, verfällt. In Rousseau ist der romantische Naturkult und die sentimentale Frauenliebe zuerst lebendig. Er bedeutet den mächtigen Rückschlag gegen die Frivolität des ancien régime und den Beginn der dritten Stufe der Erotik. Seine » Nouvelle Héloise« (1759) dürfte das erste Werk sein, in dem sich die sentimentale Liebe ausgesprochen hat. Stärker und prinzipieller aber ist sie in Goethes » Werther« (1774) durchgeführt, der bekanntlich ein getreues Widerspiel von des Dichters persönlichem Fühlen darstellt. Im Anfangsstadium hat die Liebe Werthers die uns bekannte rein seelische Richtung. »Lotte ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart.« Gegen Schluß aber begehrt er Lotte in wilder Leidenschaft, ein Traum verrät ihm selbst seine Wünsche, und da er Lotte an sich reißt, fühlt er sich dem Gipfel seiner Sehnsucht nahe. So wäre hier der natürliche Weg der modernen Liebe schon durchmessen, welche die vorangehenden Stadien aufgehoben in sich trägt. – Es ist interessant, in zwei episodischen Männergestalten die extremen Pole verkörpert zu sehen: da gibt es einen, der aus anbetender Liebe verrückt geworden ist: im November sucht er Blumen für seine Königin. Und dann den jungen Bauernknecht, der in blinder sinnlicher Eifersucht seinen Rivalen erschlagen hat. Werther selbst aber geht zwischen ihnen den Weg in die moderne Liebe hinein, der ihn in den Tod führt.

Die neue Heloise und der Werther wollen die einheitliche Liebe sentimental von der Seele aus erobern. Friedrich Schlegel hat in der berühmten Lucinde (1799) den entgegengesetzten Weg versucht, er will die Einheit vom Sinnlichen her erreichen. Schlegel ist deshalb schwer angegriffen, aber auch in den Himmel gehoben und, als später die »Emanzipation des Fleisches« Devise war, wie ein Märtyrer verherrlicht worden. Der Philosoph und Theologe Schleiermacher hat die Lucinde als Erlösung von jahrhundertelangem Druck empfunden. – »Die Liebe ist wieder ganz geworden und aus einem Stück!« jubelt er und nennt dieses Werk »eine Erscheinung aus einer künftigen, Gott weiß wie weit noch entfernten Welt«. – »Die Liebe soll auferstehen, ihre zerstückten Glieder soll ein neues Leben vereinigen und beseelen, daß sie froh und frei herrsche im Gemüt der Menschen und in ihren Werken und die leeren Schatten vermeintlicher Tugenden verdränge.« Und Schleiermacher spricht auch den Gedanken der Synthese aus: »Sollen wir denn gerade hier bei diesem Gegensatz (nämlich zwischen Liebe ›als Blüte der Sinnlichkeit‹ und ›dem intellektuellen, mystischen Bestandteil der Liebe‹) stehen bleiben? Überall gehen wir ja darauf aus, die Ideen, welche aus der neuen Entwicklung der Menschheit hervorgegangen sind, mit demjenigen zu verbinden, was das Werk der früheren war.« – Der protestantische Geistliche Schleiermacher ist mit seinen »Vertraulichen Briefen über Schlegels Lucinde« der Philosoph der dritten Stufe der Erotik geworden, wie der Kaplan Andreas der Theoretiker der zweiten. Im Kreise der deutschen Romantiker hat sich denn auch die dritte Form zum erstenmal durchgesetzt, und die Frauen haben ihren großen Teil an diesem Sieg gehabt. Ich will auf Einzelheiten nicht weiter eingehen und nenne nur die Namen: Jean Paul, Henriette Herz, Brentano, Sophie Mereau, Dorothea Veit, Schelling, Friedrich Gentz. – Wilhelm von Humboldt berichtet ein Gespräch, das er im Jahr der Revolution mit Schiller hatte. Schiller steht unbedenklich auf dem Standpunkt der Einheit. »Sie (die Verknüpfung von Sinnlichkeit und Liebe) ist immer möglich und immer da.« Humboldt ist zaghaft und findet sich noch nicht recht in diese Auffassung hinein. »Ich sagte, es müsse die schönsten, zartesten Fäden zerreißen, es sei zu heterogen, um es anzuknüpfen; allein ich kam vorzüglich darauf zurück, daß es wenigstens nicht bei allen eine Verknüpfung zuließe ... Man muß erst glücklich lieben, um diese Verbindung als schön zu fühlen.«

Es gibt ein Dokument aus dem Jahre 1779, das die moderne einheitliche Liebe samt ihrer ekstatischen Krönung, dem Gedanken des Liebestodes, bereits völlig enthält und vor dem die späteren theoretisierenden Romantiker samt ihrer Lucinde verschwinden. Ich meine den einzigen erhaltenen Brief Gottfried August Bürgers an Molly, von dem ich ein Stück hersetzte: »Wie brünstig ich dich im Geist umfange, läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Es ist ein Aufruhr alles Lebensgeistes in mir, der, wenn er sich bisweilen regt, mich in solcher Ermattung an Geist und Seele zurückläßt, daß ich schier den letzten Odem zu ziehen meine. Jede kurze Stille gebiert noch heftigere Stürme. Oft möchte ich in der Finsternis sturm- und regenvollster Mitternacht aufspringen, dir zueilen, mich in dein Bette, in deine Arme, kurz in das ganze Meer der Wonne stürzen und – sterben. O Liebe, Liebe! Was für ein gewaltiges, wundersames Wesen bist du, daß du Leib und Seele so gefangen halten kannst! ... Ich lasse meine Phantasie ausfliegen durch alle Welt, ja durch alle Himmel und aller Himmel Himmel, lasse sie betrachten, was nur irgend wünschenswert ist, und es neben dir wägen, aber bei dem ewigen Gott! sie findet nichts, was ich so feurig wünschen könnte, als ich dich, du Himmelssüße, in meine Arme wünsche. Könnte ich dich mir damit erkaufen, daß ich nackend und barfuß durch Dornen und Disteln, über Felsen, Schnee und Eis die Erde umwanderte, o so würde ich mich noch heute aufmachen, und dann, wenn ich endlich verblutete, mit dem letzten Fünkchen Lebenskraft, in deine Arme sänke, und aus deinem liebevollen Busen Wollust und frisches Leben wiedersöge, dennoch glauben, daß ich dich für ein Spottgeld erkauft hätte!« –

Es wäre zwecklos, noch mehr Historisches über die moderne Liebe beizubringen; im nächsten Abschnitt werden wir ihre metaphysische Vollendung, den Liebestod, kennen lernen. Aber der nicht ganz zutage liegende Unterschied zwischen der synthetischen Liebe und der Sexualität, die sich auf einen bestimmten Menschen bezieht, muß kurz dargelegt werden. – Der Geschlechtstrieb tritt schon bei manchen höheren Tieren individualisiert auf, bleibt aber deshalb noch immer Trieb, der den zu seiner Befriedigung geeigneten Partner sucht. Alle die bekannten Theorien der »sexuellen Anziehung« von Schopenhauer bis Weininger, die in der Liebe nichts sehen wollen als die Ergänzung zweier Individuen zum Zwecke der bestmöglichen Fortpflanzung, sprechen eigentlich nicht von der Liebe in dem höchsten Sinn unserer Zeit, sondern vom Geschlechtstrieb; sie wissen nichts vom Persönlichen, sondern kennen nur das Gattungsmäßige, die Individualisierung ist ihnen Werkzeug der Gattung. Die wirkliche persönliche Liebe aber geht nicht vom Trieb aus, sie ist nicht differenzierter Geschlechtstrieb, sondern sie umfängt die seelisch-körperliche Einheit des andern, ohne zum Bewußtsein kommendes geschlechtliches Begehren. Sie hat mit der rein seelischen Liebe das gemein, daß der Mann die geliebte Frau erhöht und verklärt ohne Absicht und ohne Wunsch. Man könnte diese Scheidung haarspalterisch nennen und ich gebe zu, daß sie in der Wirklichkeit oft nicht zu machen ist: aber sie ist doch prinzipiell wichtig, weil sie auf die Quelle zurückgeht, und sie findet in der metaphysischen Vollendung der dritten Form, im Liebestod, ihre gattungsfeindliche Betätigung. Dabei kommt es oft genug vor, daß demselben Menschen gegenüber zu verschiedener Zeit seelische Liebe und sinnliche Anziehung bestehen können.

Allgemein, bei Gelehrten und Ungelehrten, wird heute an einen sogenannten Fortpflanzungstrieb geglaubt. Schopenhauer hat, wahrscheinlich als erster, den Gedanken in die Welt gesetzt, Liebe sei das Bewußtsein der im Dienste der Gattung stehenden unbewußten Instinkte und habe keinen anderen Inhalt und keinen anderen Endzweck, als den Willen der Gattung, eine möglichst gute Nachkommenschaft zu erzielen. Er hat diesen Gedanken, der unmittelbar aus seiner metaphysischen Weltansicht hervorgeht, besonders in dem Kapitel »Die Metaphysik der Geschlechtsliebe« seines Hauptwerkes breit ausgeführt und zu begründen versucht. »Alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch gebärden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja, ist durchaus nur ein näher bestimmter, spezialisierter, wohl gar im strengen Sinn individualisierter Geschlechtstrieb.« – Schopenhauer selbst hat keine Ahnung, daß es außer diesem spezialisierten Geschlechtstrieb noch etwas anderes gibt, von den Phänomenen, die ihm nicht passen – wie etwa den von mir behandelten – nimmt er einfach keine Notiz und erbringt nicht den geringsten Beweis für seinen Mythus vom Genius der Gattung, der über die werdende Generation seine Fittiche breitet (man wollte denn die billige Beobachtung dafür nehmen, daß sich Gegensätze anziehen, worauf alle seine »Beweise« hinauskommen). Mögen die Resultate der Tierzüchter immerhin auch auf Menschen übertragbar sein, mit Liebe haben sie schlechterdings nichts zu schaffen, und welches eigentlich die »besten« und »geeignetsten« Individuen sind, ob die gesitteten Staatsbürger oder die ruhelosen Neuerer oder vielleicht die Künstler und Denker – darüber pflegen die Gattungsgläubigen nichts verlauten zu lassen. Merkwürdigerweise ist die Mär vom Fortpflanzungstrieb, der sich in seinem dunkeln Drang des rechten Weges schon bewußt sein wird, heute auch bei Forschern verbreitet, die der Metaphysik Schopenhauers ganz ferne stehen, und bei Gegnern der Metaphysik überhaupt. Sie halten es für selbstverständlich und nicht einmal eines Beweises bedürftig, daß die Liebe nur den Zwecken der menschlichen Gattung dienen könne, und bemerken, wie es scheint, gar nicht, daß dies die ärgste metaphysische Teleologie ist, die der exakten Wissenschaft wahrlich nicht zur Ehre gereicht. Denn auch wenn man den Genius der Gattung beiseite läßt, wird seiner Einsicht in die »Zusammensetzung der nächsten Generation« nicht minder fromm vertraut. Selbst Nietzsche, der sich doch für einen argen Individualisten hält, steht ganz unter dem Bann dieses Dogmas. Zahlreiche Aussprüche beweisen dies, so die bekannte sozialistische Definition der Ehe als der Wille zu zweien, ein Höheres über sich hinaus zu schaffen, und auch die Meinung, daß der Mensch nicht Selbstzweck sei, sondern eine Brücke zu etwas anderem. Und wenn Nietzsche sagt, daß er die Frau noch nicht gefunden habe, von der er Kinder möchte – so spricht da, allerdings neu und prächtig instrumentiert, die philosophische Meinung Schopenhauers, der Aberglaube vom Genius der Fortpflanzung. Der innerliche Wert der Liebe ohne Hintergedanken, ohne Aussicht auf Vergnügen und Kinderkriegen scheint Nietzsche unbekannt zu sein – aber auch der Mensch soll nicht überwunden, sondern als Zweck an sich selbst verstanden werden und sich als Mensch vollenden.

Diese Lehre setzt den Sinn der Liebe nicht in den wirklichen Menschen, sondern in einen Begriff, nämlich in die menschliche Gattung, und vernichtet den Wert des Einzigen und Einmaligen. Jedes große Gefühl ist in sich selbst beschlossen, was man sonst noch von »Zwecken« und »Nützlichkeiten« hineinlegt, ist erfunden oder hat nichts mit dem Gefühl selbst zu tun. Daß aus der Liebesvereinigung Kinder hervorgehen können (wohlgemerkt: nicht müssen), lehrt die verstandesmäßige Erfahrung anderer, nicht mein eigener Instinkt. Die rein seelische Liebe der zweiten Periode zielt nicht auf Fortpflanzung ab und ist doch ein Gefühl, das an Größe nicht so leicht seinesgleichen findet. In der Vergöttlichung der Frau führt die Liebe sogar von der Geliebten fort in die Unendlichkeit, und bald werden wir das Phänomen des Liebestodes betrachten, das alle supponierten gattungsmäßigen Zwecke der Liebe unmöglich macht. Aber selbst wenn man die Liebe ganz ausschaltet und nur den Geschlechtstrieb gelten läßt, so ist sein himmlisches Wirken im Interesse der Gattung pure Phantasie und lange nicht auf der Höhe des geflügelten Liebesgottes, der die Paare zueinander führt. Der Trieb hat nicht die geringste »Weisheit«, kümmert sich durchaus nicht um Wohl und Weh des Menschengeschlechtes, sondern will sich selbst, seine Befriedigung, nichts mehr und nichts anderes. Er weiß so wenig von der Verbindung eines Spermatozoons mit einem Ei wie von dem entsetzlichen Unheil, das er so oft in die Welt bringt; wenn er erst einmal bei Syphilitikern, Tuberkulösen und hungernden Proletariern aussetzt, dann will ich seine instinktive Weisheit gelten lassen – früher nicht. – Durch den Nachweis Freuds, daß die Sexualität schon im frühen Kindesalter wirksam ist, wird zudem von einer anderen Seite her bewiesen, daß der Geschlechtstrieb in erster Linie kein Fortpflanzungstrieb sein kann (was Freud selbst übrigens nicht folgert).

Was sich ganz schön in die Metaphysik Schopenhauers einfügt, ist ohne sie halt- und sinnlos. Es gibt keinen Fortpflanzungstrieb, sondern nur einen Paarungsinstinkt und dann einen bewußten Wunsch, Nachkommenschaft zu haben. Beides sind sehr verschiedene Dinge, denn mit dem Paarungstrieb ist bekanntlich der Wunsch nach Kindern in der Regel nicht verbunden – daß er es »unbewußt« sei, kann man sich doch wirklich nur als Draufgabe zur Welt als Wille und Vorstellung gefallen lassen –, und die Sehnsucht nach Kindern tritt oft genug ohne jeden Gattungstrieb auf; aus diesen beiden innerlich nicht zusammengehörigen Dingen einen besonderen Trieb zu konstruieren, ist phantastische Metaphysik und entspricht keinerlei seelischer Wirklichkeit. Die ganze Geschichte des Altertums z.B. beweist dies mit völliger Evidenz, denn hier war dem Geschlechtstrieb sein besonderes Reich angewiesen, und ebenso dem Bedürfnis nach Nachkommenschaft, das oft durch eine gesetzliche Pflicht zur Fortpflanzung unterstützt werden mußte.

Die Sage vom Fortpflanzungstrieb, die heute so allgemein geglaubt wird, stammt zweifellos daher, daß man den Geschlechtsverkehr als Selbstzweck vom Standpunkt einer höheren Erotik aus wie etwas Niedriges empfindet. Weil man sich aber im Grunde seiner Seele mehr oder minder klar ist, daß der Geschlechtsverkehr doch meistens der wahre Sinn der Erotik ist, dasjenige, was man eigentlich ersehnt, und weil man nur selten den Mut hat, sich frei zu ihm zu bekennen – so sucht man ihn sozial zu entschuldigen. Hat früher der fromme Mann zu seinem Eheweibe gesprochen: »Nicht um der schnöden Wohllust willen beschreite ich itzo dein Lager, sondern weil Gott befohlen hat, daß der Christ seinen Samen fortpflanze« – so heißt es jetzt: »In dir habe ich das Weib gefunden, von dem ich Kinder möchte.« – Der gleiche Instinkt hat sich da zwei scheinbar verschiedene Ausreden zurecht gelegt, die beide gleich viel wert sind. –

Die Aufgabe, Lust und Liebe ins Gleichgewicht zu bringen, ist heute nicht gelöst. Was vielfach als »sexuelle Not« empfunden wird, geht darauf zurück, daß die Ausgleichung noch nicht vollzogen, die höhere Stufe noch nicht endgültig erreicht ist. Es gibt ja unendlich viele Formen der Verbindung, die alle einen Riß aufweisen. Die moderne Literatur mit ihrer unermüdlichen Behandlung der Erotik ist dessen Zeuge. Wenn die Einheit jemals hergestellt werden sollte, dann wird es wohl der germanischen Rasse vorbehalten sein, sie zu erfüllen, denn die romanischen Völker verstehen unter Liebe doch mehr oder weniger immer nur den individualisierten Trieb oder auch die seltene rein seelische Liebe. – Es sieht aber nicht danach aus, als ob sich die dritte Stufe als allgemeiner Zustand durchsetzen wollte, sie wird wohl noch für lange auf einzelne Menschen und auch bei ihnen nur auf gewisse Abschnitte ihres Lebens beschränkt bleiben. Die große Masse der Männer fühlt heute wie jemals, sie ist primitiv sexuell und diese Sexualität konzentriert sich in dem Zustand, den man »verliebt« nennt, auf eine bestimmte Frau, um dann langsam zu versintern. Von den Frauen aber darf man im großen und ganzen sagen, daß ihr Liebesleben noch heute dem der ältesten Welt gleich ist: Das Gefühl treibt sie einem Manne zu, dem sie ergeben bleiben, bis sich langsam alle ihre Instinkte in Liebe zu den Kindern umsetzen. Weil aber auch bei der durchschnittlichen Frau die fraglose Einheit von Körper und Seele besteht, so kann es zum schrecklichsten Augenblick ihres Lebens werden, wenn eine merken muß, daß sie dem Manne nur Gegenstand seiner Lust gewesen ist, während sie sich ihm ungeteilt hingegeben hat. Diese Zerlegung ihres Wesens durch den Mann, die so sehr gegen ihr Tiefstes geht, kann zugleich ihre innere Vernichtung bedeuten, sie empfindet sich fortan nicht mehr als etwas Ganzes, sondern als ein zerbrochenes Geschöpf. So erklärt sich das Entsetzen, das manche Frauen in der Erinnerung an die Hochzeitsnacht in der Seele tragen und das nach dem Zeugnis von Psychiatern zur bleibenden Hysterie werden kann: die einheitlich organisierte Frau wird von einem nur sexuellen Mann als Mittel der Geschlechtslust hingenommen. – Dies ist aber auch die Ursache des Grauens, das jede natürlich empfindende Frau vor der Dirne hat, als vor der Frau, die sich endgültig zum Werkzeuge der männlichen Sexualität gemacht und damit alle weibliche Einheit und alle Persönlichkeit verloren hat. Und es ist die Ursache, daß wir trotz ethischen Überzeugungen und logischen Beweisen die Untreue des Mannes anders empfinden und anders bewerten als die der Frau, denn die Sexualität ist im Mann als ein gesondertes Element vorhanden, ein Element allerdings, dem wir keinen Eigenwert zumessen, das aber doch die hohe Berechtigung der Existenz, und wie wir gesehen haben, eine historische Wurzel hat. Der Mann wird als Persönlichkeit nicht zerstört und kaum beeinträchtigt, wenn er seinem Triebe Freiheit gewährt. Anders bei der Frau: hier ist die selbständig gewordene Sexualität gleichbedeutend mit innerer Vernichtung, weil sie durch keine Vergangenheit gestützt wird und nicht abgesondert vom ganzen Wesen sich selber leben kann, sondern alles mit sich reißt. Beim Manne ist diese Vernichtung aus der erotischen Sphäre heraus nicht wohl denkbar, denn er ist von Natur nicht einheitlich organisiert. Der bloße Sexualist repräsentiert wohl ein überwundenes Stadium der männlichen Erotik, ist aber kaum jemals ganz ins Erotische gebannt und kann daher andere Teile seines Wesens zu hoher Entfaltung bringen. Die »doppelte Moral« findet so ihre sachliche Begründung (wenn auch vielleicht nicht ihre höhere Berechtigung), und wäre erst dann ganz hinfällig, wenn der Mann die erotische Einheit vollkommen in sich hergestellt hätte. –

Je vielfältiger sich das Leben gestaltet, desto reicher und komplizierter werden die Beziehungen, die der einzelne zu anderen und zu Gruppen haben muß. Er ist Mitglied einer Erwerbsgenossenschaft, hat politische, künstlerische, sportliche, gesellige Beziehungen, ist vielleicht Sammler, Liebhaber gewisser kultureller Erscheinungen usf. Jede Seite des menschlichen Wesens ist in der modernen Zivilisation vom ganzen Menschen losgelöst und in einen systematischen Zusammenhang mit gleichgerichteten Seiten anderer Menschen gebracht. Unser soziales Prinzip ist die Arbeitsteilung, nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern auch innerhalb des einzelnen. Mit dem kann ich nur über Philosophie sprechen, mit dem über Musik, mit dem über persönliche Dinge usf. Weil aber auf diese Art – anders als bei Barbaren und auch anders als bei Griechen – immer nur Wesensteile des Menschen befriedigt werden können, niemals der ganze Mensch, macht sich immer stärker, je weiter die Spezialisierung in der Gesellschaft und innerhalb des Menschen fortschreitet, das Bedürfnis geltend, irgendwo, an einer Leistung, aber auch an einem Menschen, sein ganzes Selbst zu bewähren. Je reicher und je synthetischer eine Natur angelegt ist, desto unabweisbarer wird ihr Bedürfnis, gegenüber all den Menschenteilen, die ihr zugewiesen sind, in einem Menschen alles zugleich zu finden und sich diesem Menschen als ein Ganzer hinzugeben. Diese in unseren Verhältnissen begründete Teilung des Menschen ist eine wichtige Quelle des Wunsches nach der großen und ganzen Liebe, von der man überall hört. Aus allem Relativen wird immer stärker die Sehnsucht nach dem Absoluten, nach dem Vollkommenen lebendig, das nicht mehr scheidet und auswählt, sondern den ganzen Menschen in einem umfängt, Körper und Seele in einem höheren Ganzen aufhebt, sich ganz hingibt und dafür ein Ganzes wieder empfängt. Die moderne Liebe ist ja ihrer Idee nach etwas so Außerordentliches und die ganze Breite des Menschlichen Umfassendes, daß sie vorher niemals ihresgleichen gehabt hat. Eine einzige Person soll die Menschheit in ihrer ganzen Fülle ersetzen und keine leere Stelle hinterlassen. Der geliebte Mann ist wohl für die Frau immer die Welt gewesen – weshalb ich schon gesagt habe, daß die moderne Liebe die eigentliche Liebe der Frauen ist –; der Mann aber hat außer der Geliebten immer noch vieles andere besessen. Unsere Zeit nun fordert – wo sie ihre eigene Erotik versteht –, daß auch die Frau dem Mann alles Seiende in einer höheren und reineren Form schenken soll; nicht nur völlige Befriedigung seiner sinnlichen Wünsche, die nicht einmal woanders hin schwärmen können, nicht nur die ganze Erhebung der seelischen Liebe muß sie geben, sondern auch die Männerfreundschaft soll sie ersetzen, den Freund, der dem Griechen und dem frühen Germanen soviel gewesen ist. Und man kann beobachten, daß der wahre Erotiker unserer Zeit wenig für Freundschaft übrig hat, während nicht eigentlich erotische, sondern mehr sexuelle Männer (die meistens die Frauen gering achten) tieferes Verständnis für echte Männerfreundschaft haben. Aber nicht nur alle rein menschlichen Beziehungen will die moderne Liebe ihrer Idee nach in sich vereinigen, auch alles andere, Arbeit und Erholung, Spiel und Kunst. Der instinktive Argwohn liebender Frauen gegen jede Beschäftigung oder Liebhaberei des Mannes beruht ja darauf, daß alles, was der Mann für sich allein hat, die Einheit der Liebe zu gefährden droht. Ob solch eine alles in sich aufsaugende Liebe bei reich angelegten Naturen überhaupt möglich ist, und ob hieraus nicht vielleicht neue Zerrissenheiten entstehen können – die Fragen sind hier nicht zu beantworten. Ihre letzte Erfüllung aber kann die große Liebe nicht mehr im Leben finden.


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