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2. Die Vergöttlichung der Frau

(Erste Form der metaphysischen Erotik)

 

Die Minne

Mîn êrste liebe der ich ie began
Diu selbe muoß an mir diu leste sîn
An vröiden ich des dicke schaden hân.
Jedoch sô râtet mir daz herze mîn,
Solde ich minnen mêr dan eine,
Daz enwaere mir niht guot.

Albrecht von Johansdorf.

Das lange Kapitel über die Geburt Europas ist nicht unnütz gewesen. Ich habe von möglichst vielen Seiten her zeigen wollen, wie im 12. und 13. Jahrhundert etwas völlig Neues aufgetreten und langsam reif geworden ist, ein neuer höchster Lebenswert, die Persönlichkeit, ist entstanden und als ihr Träger hat sich der europäische Mensch entwickelt. Wir sind nun vorbereitet, eines der größten Ergebnisse dieser neuen Bewußtseinslage, die seelische Liebe des Mannes zur Frau, die auf der Grundlage der Persönlichkeit ruht, in ihrer ganzen kulturellen und psychologischen Bedeutung zu würdigen. Und damit ist das eigentliche Thema hergestellt, das nun nicht mehr verlassen werden soll.

Man erinnert sich, daß für die alte Welt und den heutigen Orient nur die körperlich-geschlechtlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau bestehen, die im klassischen Griechentum aus ökonomischen und politischen Gründen zur Einehe geführt haben, niemals aber auf eine persönliche oder seelische Basis gestellt worden sind. Dagegen finden wir bei Platon und seinem Kreis eine sehr ausgebildete und sich ihrer Eigenart bewußte seelische Liebe, die von einem Mann auf den andern geht und in echt griechischer Weise die Tendenz hat, zum Höheren, Allgemeinen, zu den Ideen der Vollkommenheit zu führen, wobei die Schönheit und Weisheit des einzelnen, des Geliebten, nur als Staffeln des Aufstieges dienen sollen. Die seelische Liebe zu Göttlichem ist im Christentum Mittelpunkt des Fühlens und höchster Wert geworden. Das frühe Christentum schätzte den Menschen in der eigenen Person und in der des andern gering, es mißachtete die vom Altertum angebetete Körperschönheit und ließ nur das Göttliche als der Liebe würdigen Gegenstand übrig. Das Weib war verachtet und verdächtigt, alle Denker bis auf Thomas und Anselm sehen in ihm nichts anderes als das Werkzeug der Verführung. – In der Zeit, die wir ausführlich besprochen haben, wird nun in den Seelen ein neues und bis dahin unbekanntes Gefühl geboren: die seelische Liebe eines Mannes zu einer Frau. Im schroffen und bewußten Gegensatze zum sexuellen Verhältnis, das ja sowohl vom reifen Griechentum, als auch besonders scharf vom frühen Christentum negativ gewertet worden war, entsteht die seelische Frauenliebe. Drei Elemente lassen sich in ihr unterscheiden: Der platonische Grundgedanke, daß das Streben nach einem absolut Vollkommenen den höchsten Wert verleiht; das ist die Liebe als Weg zur eigenen Vervollkommnung. Zweitens: die im Christentum ausgebildete völlig unsinnliche Liebe zum Göttlichen, die sich selbst genügt und letzter Zweck des Daseins ist; endlich: das Verständnis für den Wert der einzelnen Persönlichkeit, das nun aufgeht. Aus diesen drei Elementen, dem edelsten Erbe der Antike, der zentralen Schöpfung des Christentumes und dem Angelpunkt des neugeborenen europäischen Geistes, entstand ein Neues, die seelische Liebe zur Frau, die für die Geschichte des erotischen Fühlens das zweite Stadium festlegt. Die Frau ist nun plötzlich etwas anderes geworden: nicht mehr Mittel zur Befriedigung der männlichen Sinnlichkeit oder zur Aufzucht von Kindern wie in der alten Welt, auch nicht stumme Dienerin und höchstenfalls fromme Schwester, wie im ersten Jahrtausend des Christentumes, oder Teufelin wie im Mönchsfühlen: sie ist Mensch geworden, ja noch mehr, Göttin. Sie wird mit überirdischer Hingebung geliebt und angebetet und diese Liebe ist nun einzige Quelle alles Guten und Hohen – die Frau wird Erlöserin und Königin der Welt.

Die Verwerfung aller Sinnlichkeit liegt tief im Wesen des frühen Christentums begründet, Held der Legende war, der seine sündhaften Triebe überwunden hatte. Seelische Liebe gab es nicht, man kannte nur den natürlichen Trieb, der ja schon in der späten Antike als minderwertig, nun als sündhaft galt, und neben ihm die Entsagung. Die über ganz Europa verbreiteten Legenden von Alexius und von Barlaam und Josaphat (die auch ihren deutschen Dichter gefunden hat, wahrscheinlich aber aus Indien stammt) bringen diese Sinnesart überaus deutlich zum Ausdruck. In der letzteren Erzählung heiratet der Prinz Josaphat, der ein frommer Christ ist, eine schöne Königstochter, berührt sie aber nicht, denn er wird von der Vision des himmlischen Paradieses umfangen, wo nur Keuschheit herrscht, und von der des irdischen Sündenpfuhles. Er erkennt in seiner jungen Frau einen Teufel, der ihn versuchen will, und flieht in die Wüste. – Wie diese Erzählung sind viele andere, durchaus typisch für die Unfähigkeit des ersten Jahrtausends, das Verhältnis zwischen Mann und Frau anders zu begreifen als unter dem Aspekt der primitiven Sexualität. Sie ist das Böse, ihre Bekämpfung das Gute.

Wahrscheinlich ist es nötig gewesen, daß alle Erotik erst ein Jahrtausend lang als sündhaft hatte gebrandmarkt werden müssen, damit aus dieser Ablehnung der Sinnlichkeit eine ganz neue Art der Liebe, die anbetende Frauenliebe, entstehen konnte. Erst aus der widernatürlichen Verdammung alles Erotischen im weitesten Sinn, aus dem Haß eines Tertullian und eines Origenes gegen Frau und Geschlecht – der letzteren, einen Griechen, zu der symbolischen Verzweiflungstat der Selbstentmannung getrieben hat – konnte dieses Widerspiel der Sexualität, die rein seelische Liebe mit ihrem letzten konsequenten Gipfel, der Vergöttlichung und Anbetung der Frau, hervorgehen. Es läßt sich nicht bezweifeln, daß das Ideal der seelischen Liebe unter der Mitwirkung des christlichen Keuschheitsideales entstanden ist. Denn gerade bei späteren Troubadours wie Montanhagol und Sordel und bei den Dichtern des süßen neuen Stiles in Italien wird im schroffen Gegensatze zur Sinnlichkeit und in bewußter Hinneigung zur religiösen Vertiefung die Identität von Liebe und Keuschheit gelehrt.

Eine unendliche Innigkeit klingt aus diesem neu erwachenden Frauenkult; es sieht aus, als wollte der Mann alle Erniedrigung gutmachen, die er der Frau seit tausend Jahren zugefügt hat. Sein Anbetungsbedürfnis hat auf Erden ein Wesen gefunden, dem sich nichts vergleichen läßt, vor dem er selbst vergeht. Im Angesicht der Frau entdeckt er die höchste Schönheit der Erde, kein Wort, kein Bild ist ekstatisch genug, um die ganze Inbrunst dieses Gefühles auszudrücken, eine neue Religion wird geschaffen, deren Gott die Frau ist. »Was wär' die Welt, wär' nicht das Weib, das schöne!« singt ein Deutscher, Johannes Hadlaub.

Noch einmal muß ich auf den Grundwert des europäischen Menschen und auf die Voraussetzung der Liebe zurückkommen, auf die Persönlichkeit. In der alten Welt, auch bei Griechen und Römern, ist die Persönlichkeit im höheren Sinne nicht vorhanden. Der Held ist die Zusammenfassung aller Volkskräfte, ein Name für das Streben der Gesamtheit, der Staatsmann ist lebendig gewordener politischer Wille, selbst der Künstler ist wenig persönlich, sein Ideal ist, den Typus des Hellenen nach allen Richtungen auszugestalten. Agamemnon ist einfach der kluge Fürst, Achilleus der eigensinnige Held, Odysseus der listenreiche Abenteurer. Der einzelne ist Glied und Diener eines als höher Empfundenen, des Stammes, der Stadt, des Staates, jeder weiß, daß der andere nicht wesentlich von ihm abweicht, selbst in der Zeit der athenischen Blüte sind die Unterschiede von einem zum andern gering, wenn man an neuzeitliche Menschen denkt. Aber anders als der Orientale, der Barbar, ging der Grieche nicht mehr im Naturleben auf; er empfand sich als abgeschlossene Individualität, als eine höhere Art von Natur.

Ansätze zu dem neuen schöpferischen Moment der Persönlichkeit finden sich zuerst in der platonischen Gestalt des Sokrates – und Sokrates ist der erste, der die Idee einer höheren, seelischen Liebe faßt, mit der Liebe zu den Ideen in Eins setzt und von dem Niedrig-Triebhaften schroff und feindlich sondert. Es ist noch keine persönliche Liebe im wahren Sinn, aber doch eine seelisch-göttliche Liebe, die von diesem an den Grenzen des Hellenentums stehenden Manne gelehrt wird. Der griechische Staat konnte ihn nicht ertragen – er hat ihn verurteilt und gerichtet. Aber dieser selbe Sokrates sagt (im Kriton), daß der Mensch dem Staat sein Dasein verdanke. »Nahm nicht aus Gehorsam gegen die Gesetze dein Vater deine Mutter zum Weib und zeugte dich?« – Das ist so antik wie nur möglich empfunden, und der Tod des Sokrates, wie ihn Platon überliefert hat, ist wohl die großartigste Besiegelung dieses griechischen Gefühles, daß der einzelne – selbst der Weiseste, der über das antike Empfinden schon hinauszuschreiten scheint – sich dem Gemeinwesen ganz unterordnet.

Noch mehr als die Kultur des alten Griechenland ist die Zivilisation des modernen China und Japan völlig unpersönlich. Percival Lowell legt dar, wie nur vom Gesichtspunkte der absoluten Unpersönlichkeit aus die verschiedenen, zum Teil so vollendeten Äußerungen dieses Geistes verstanden werden können. »Die ausgesprochene Unpersönlichkeit« ist ihm der hervorstechendste Charakterzug des fernen Ostens, »das Fundament, auf dem der Charakter des Fernorientalen ruht«. Es ist sehr lehrreich, zu sehen, wie dies für alle Gebiete des Lebens ausgeführt wird, wie es die Auffassung von Geburt und Ehe, Denken und Handeln, Leben und Sterben des einzelnen bestimmt. Dies geht so weit, daß besondere Ausdrücke für »ich«, »du«, »er« im Japanischen gar nicht vorhanden sind und durch sachliche Umschreibungen ersetzt werden müssen. »Und nicht damit zufrieden, unpersönlich geboren zu sein, strebt der Fernorientale unablässig darnach, sich immer noch unpersönlicher zu machen.« – Ich erinnere hier an die Heldentaten, welche von japanischen Soldaten während des letzten Krieges gemeldet worden sind: freiwillig haben einzelne den Tod auf sich genommen, um ihrer Gruppe einen kleinen Nutzen zu bringen. Uns europäisch empfindenden Menschen scheint dies Heldenmut – und es wäre als Tat eines Europäers Heldenmut. Der Japaner aber gibt mit dem eigenen Leben instinktiv das geringere Gut auf, wenn er es der Allgemeinheit opfert. Ebenso hatte bei Griechen und Römern das eigene Leben keinen allzu hohen Wert, der Selbstmord war überaus verbreitet und wurde ohne eigentliches Motiv geübt. – Da alle wirkliche Liebe auf der Persönlichkeit beruht, ist es unmöglich, daß die heutigen Ostasiaten Liebe in unserem Sinne kennen; dies bestätigt Lowell: »Die Liebe, wie wir das Wort verstehen, ist im fernen Osten etwas Unbekanntes.« – Und er berichtet, daß sich die japanischen Frauen ohne Scheu vor fremden Männern entblößen – wie die Griechinnen! –, weil sie die Kehrseite der Persönlichkeit, die Scham, nicht kennen. Sich schämen, heißt ja nichts anderes, als etwas Ichhaftes, Persönliches zu verbergen haben; wo dies nicht der Fall ist, gibt es auch kein Schamgefühl. Hierzu siehe in: »Grenzen der Seele«: Ich-Gefühle. – Und endlich will ich noch andeuten, daß die Pflege, die dem sexuellen Raffinement und der Perversität in China und Japan gewidmet wird, nur darauf zurückgeht, daß die Sexualität nicht prinzipiell überschritten werden kann und daher auf den Weg des Lasters und der Perversität gewiesen ist, um den Genuß zu verändern. –

Der erste Durchbruch der großen Persönlichkeit ist in Jesus verwirklicht und er hat die Religion der Liebe geschaffen. In ihm sind Persönlichkeit und Liebe Wechselkräfte, ja man darf sagen, miteinander identisch. Und er hat zum erstenmal diese geheimnisvolle Zusammengehörigkeit offenbart, zum erstenmal gezeigt, daß Liebe nur vor einer entschiedenen Persönlichkeit gefühlt wird, weil sie Ausstrahlung einer Seele, Schöpfung einer Seele ist, kein Naturtrieb.

Im 12. Jahrhundert ist es wieder die erwachende Persönlichkeit, die gegenüber der ewig gleichen Sexualität etwas Neues hervorbringt, die seelische Liebe, deren Gegenstand neben Gott und der Naturschönheit die Frau wird. Erst jetzt hat die Persönlichkeit ihren wahren Sinn gewonnen: sie bedeutet nicht mehr wie im reifen Griechentum den einzelnen von der Umwelt abgegrenzten Menschen, der einen bewußten Anfang und ein bewußtes Ende hat, sondern sie ist Prinzip der Synthese, eine höhere Einheit über der bloßen Person, Quelle alles Wertens und Geltens. Persönlichkeit ist die ihrer selbst bewußte individuelle Seele, die aus sich die allgemeinen ideellen (Kultur-) Werte hervorbringt, sich wieder mit ihnen erfüllt und sich ihrer höheren Form angleicht. Sie ermöglicht die Einheit des Subjektiven mit dem Allgemeingültigen, Ewigen, mit den Werten der Kultur, religiösen und künstlerischen, sittlichen und wissenschaftlichen. Die Persönlichkeit bringt als einziger schöpferischer Faktor diese mit Objektivitätscharakter ausgestatteten Werte hervor und strebt nach dem Größten: dem Einmaligen ewigen Sinn zu verleihen. »Die Persönlichkeit zeigt sich als die Einheit des Allgemeinen und Einzelnen,« sagt Kierkegaard, wenn nicht ganz in meinem Sinn, so doch in einem nah verwandten. –

Ich will nun die seelische Liebe des Mannes zur Frau – dieses Verhältnis läßt sich nicht etwa umkehren! – vom ersten Entstehen bis zur höchsten Vollendung darstellen und bemerke, daß man die Werke, die uns vornehmlich unterrichten, als unmittelbare Aussprache des Fühlens ansehen darf; diese rein lyrischen Dichter sind völlig subjektiv und immer nur mit sich selbst beschäftigt, es gibt kaum ein provenzalisches, altitalienisches oder mittelhochdeutsches Minnelied ohne das »Ich«.

Die seelische Liebe ist zuerst als ein naives Gefühl aufgetreten, ohne sich von ihrer besonderen Art Rechenschaft zu geben – und zwar bei den ersten Troubadours der Provence. In einem Streitgedicht wird von den Provenzalen gesagt, daß durch sie zuerst der Frauendienst erfunden worden sei, worauf der Gegner erwidert, dies sei allerdings wahr, aber damit könne sich niemand den Magen füllen. In diesen Worten ist der prinzipielle und unüberwindliche Widerspruch zwischen dem reinen Gefühl der seelischen Liebe und dem Genuß, dem, womit man sich den Magen füllen kann, ausgesprochen. Der christliche Dualismus Seele-Leib, Geist-Materie ist auf erotischem Gebiet festgestellt. – Unmittelbare echte Liebe ohne Spekulation und Metaphysik findet sich bei den frühen Troubadours. Der größte unter ihnen, Bernart von Ventadour hat als erster Mensch die reine Frauenliebe und gleich in vollendeten Versen besungen. Wenn einem Kulturschöpfer im Gedächtnis der Menschheit ein Denkmal gebührt, so ist es dieser Dichter.

Tot ist, wer Liebe nicht fühlt,
Ein süßes Zittern im Herzen!
Meine Liebe senkt mir in die Brust
Süße und Seligkeit,
Hundertmal sterb' ich vor Leid,
Lebe wieder in Lust!

Wie schön ist mein Liebesschmerz,
Mir teurer als alles Glück!
Leiden bringt Lust zurück,
Nach Lust kommt Schmerz. Ferner:

Ich hab' mir selbst nicht mehr getraut
Und war zur Stunde nicht mehr ich,
Als ich so in ihr Aug' geschaut,
In einem Spiegel wunderlich;
O Spiegel, drin ich mich gesehn
– In einem Seufzen starb ich schnell –
So mußte ich in ihr vergehn,
Wie einst Narzissus in dem Quell.

Der Deutsche Heinrich von Morungen nennt die Frau einen »Spiegel aller Weltenwonne« und singt:

Selig sei die süße Stunde,
Selig sei die Zeit, der werte Tag,
Da das Wort von meinem Munde
Kam, das meinem Herzen nahe lag.
Wie ich da vor Freude tief erschrak,
Und vor Liebe weiß ich kaum,
Was ich vor ihr sprechen mag.

Bei Bernart und vielen seiner Zeitgenossen war das sinnliche Element noch nicht völlig ausgeschieden; in diesen Gedichten, die alle echt empfunden sind und das Gefühl unverkünstelt aussprechen, werden Küsse ersehnt, manchmal auch mehr, aber die Tendenz zum Unsinnlichen und zum Übersinnlichen ist bereits da, sie wird in der Zukunft immer entschiedener betont. Die Liebe kennt nur eine einzige Frau, ganz regelmäßig kehrt der Gedanke wieder: es ist besser, die eine Jahre lang vergeblich zu lieben und jede Qual von ihr zu ertragen, als von anderen, und seien es die schönsten, Gunst zu empfangen.

Den ersten Troubadours ist das spätere Dogma, daß die reine Liebe einziger Quell des Wertes sei und den Menschen zur Vollkommenheit führe (das nicht ohne platonischen Einfluß entstanden sein wird), noch unbekannt – die Geliebte kann aus dem Anbeter machen, was sie will, Gutes und Schlechtes. So dichtet der frühe Troubadour Wilhelm von Poitiers:

Liebe macht Kranke gesund,
Manch Rüstigen aber sterben,
Sie kann dem Schönsten die Schönheit verderben.
Der Hofmann verbauert, und
Zum Narren wird der weiseste Kopf,
Edel ein tölpischer Tropf.

Es ist die typische Position dieser Liebesbegeisterung, daß die Geliebte, die Herrin, sozial höher steht als der Liebende, der sich selbst gern als Vasallen und leibeigen bezeichnet und all sein Gut von ihr zum Lohn erhalten haben will. Auch Könige und deutsche Kaiser haben Minnegedichte verfaßt und sehr wahrscheinlich hätten sie die Liebe ihrer Dame rascher erlangen können; aber immer wird die Stellung des Hinaufschauens, des Flehens gewahrt (während die Stellung des Mannes im sexuellen Verhältnis meist umgekehrt ist). Der Gedanke liegt hierbei zugrunde, daß die Liebe das Höchste und Größte in der Welt sei und daher jeden Standesunterschied ausgleiche, allen Reichtum hinfällig mache. »Lieber wollte ich einen freundlichen Blick von ihr empfangen als König von Frankreich sein« – so etwa drücken sich die Dichter gern aus. Diese Höchstschätzung der Liebe wurde denn auch bald anerkannte Theorie, und fortwährend wiederholt sich der Gedanke, daß nur die hohe Liebe den Menschen edel, rein, weise und gut machen könne. Ja, der bloße Gedanke der Geliebten vermag dies zu bewirken:

Ich kann nicht sündigen, wenn sie meiner denkt,

versichert der innige Sänger Guiraut Riquier und bittet Christus, daß er ihn wahre Frauenliebe lehre. – Dieser Auffassung, daß der Wert des Mannes aus der Frauenliebe stammt, geht eine meines Wissens vereinzelte Stelle bei Raimund von Miravals parallel, wo gesagt wird, daß auch der Wert der Frauen aus der Liebe entspringe, während sonst allgemein die ausgesprochene oder stillschweigende Meinung zu Recht besteht, daß der Wert der Frauen etwas schlechthin Unirdisches, Grundloses und Göttliches sei. Vielleicht die klassischeste Formulierung der neuen Lehre, daß die hohe Liebe alle Tugenden hervorbringe, die Mutter der Keuschheit sei, und daß es außer der Liebe nichts Edles gebe, findet sich bei dem etwas doktrinären Montanhagol:

Der Liebende, der nicht das Höchste liebt,
Ist nur ein Tor und macht sich selbst gemein.
Nur um die beste Liebe sollst du frein,
Daß sie dir reinen Sinn und Tugend gibt.

Und Walter von der Vogelweide sagt: Minne ist aller Tugenden ein Hort.

Immer schärfer wird die wahre seelische Liebe von der trügenden Sinnlichkeit abgegrenzt, sie verleiht dem erotischen Fühlen der Zeit ihren Stempel. Neben der reinen Liebe besteht die Sexualität weiter als etwas Niedriges, Verächtliches, des Edlen unwert, und ihre Erscheinungsform ist wirklich die derbste gewesen, wie wir durch viele Berichte wissen und aus gleichzeitigen französischen Fabliaux, aus späteren deutschen Schwänken, italienischen und französischen Novellen entnehmen können. Die seelische Liebe, die sich so scharf der Sexualität entgegenstellt, ist nicht etwa ein künstliches und theoretisches Produkt, sie ist echtestes Gefühl der höheren Geister und, wie wir noch sehen wollen, auch in späteren Jahrhunderten mächtig und produktiv gewesen. Seelische Liebe und Sinnlichkeit – das waren unüberbrückbare Gegensätze, und wer sie nicht so empfand, der kannte einfach die Liebe nicht und wurde als niedrig fühlendes Wesen betrachtet.

Ein Beispiel für viele:

Den rechten Weg der Lieb' hab' ich erwählt:
Ich liebe meine Herrin ohne Maß,
Sie kann mir alles tun, was ihr gefällt,
Kuß und Umarmung will ich nicht – denn das
Schien mir wie Frevel.

(Gaucelm Faidit.)

Unter den Troubadours sind die entschiedensten Verteidiger der reinen Liebe die späten Dichter Montanhagol, Sordel, Guiraut Riquier. Der erstere behauptet: »Der liebt nicht und verdient auch nicht geliebt zu werden, der von seiner Dame Unehrenhaftes verlangt.«

Nur der liebt wahrhaft, der die Herrin hoch
Hinauf hebt und ihr reinen Herzens naht.
Wer andres sucht, hat Liebe schon entweiht.

In einer Kontroverse zwischen Peire Guillem von Toulouse und Sordel heißt es:

»Sordel, ich habe einen Mann
Von Ihrer Art noch nicht gesehn,
Denn wer die Frauen liebt, der kann
Kuß und Umarmung nicht verschmähn.
Was jeder andere heiß begehrt,
Gilt Ihnen nicht der Rede wert?«

»Von ihr ersehn' ich Freud' und Ehr',
Und wenn sie noch ein Röslein flicht
In diesen Kranz, Herr Guillem Peire,
– Aus Gnade nur und nicht aus Pflicht! –
Dann wollte ich ganz glücklich sein –
O wäre diese Freude mein!«

»Sordel, bescheiden so wie Sie
War wohl ein Liebender noch nie!«

»Herr Peter, Sie benehmen sich
Nun eben nicht sehr anständig!«

Und Sordel:

So gebe ich mich treu und fromm
In Eure überirdischen Hände,
Daß ich lieber vor Schmerz verende,
Eh mir von Euch Genießen komm'.

Denn lieben kann ein Ritter nicht
Die Herrin ohne Falsch, wenn er
Nicht ihre Ehre liebt so sehr
Wie seiner Herrin Angesicht.

Diese seelische Liebe wirkte damals (so wie heute) bei Alltagsnaturen befremdlich und paradox und wurde mißverstanden und angezweifelt. Granet spöttelt:

Sordels Gewohnheit kennen wir genau:
Er liebt die Frauen sonder Wunsch noch Gier,
Will nicht die kleinste Gunst von seiner Frau,
Und schämen müßt' er sich, schlief' er bei ihr.

Es ist nun sehr aufschlußreich, daß Sordel, dieser typische Sänger der reinen Liebe, eine ganze Menge sehr handgreifliche Verhältnisse mit den verschiedensten Frauen gehabt hat, wie seine Lebensgeschichte bezeugt. Ein Zeitgenosse Bertran sagt: »Sordel hat wohl hundertmal mit seinen Damen gewechselt«, und er selber schamlos:

Nicht wundert mich's, sind Gatten eifersüchtig,
Denn in der Liebe bin ich sehr erfahren,
Und keine Frau – sie sei auch noch so züchtig –
Kann sich vor meinem Werben treu bewahren.

Drum nehm' ich's keinem, der mir feind ist, krumm:
Wenn seine Gattin heimlich mich empfängt
Und wenn sie mir nur ihren Körper schenkt,
Wirft mich sein Schmerz und seine Wut nicht um.
Kein Gatte soll mir mein Vergnügen stehlen,
Denn was ich wünsche, glückt; ich bin gefeit
Und kriege jede; Gatten-Lärm und -Streit
Wird mich nicht hindern, Frauen zu betören.

Im Original steht » aucir domnas«, Frauen zu töten (man denke an das gleiche englische Wort » ladykiller«). Diese rohe und sogar sadistische Ausdrucksweise muß bei solch einem schmachtenden Sänger der Liebe sonderbar berühren. Aber das Verhalten Sordels ist durchaus nicht paradox: er hat die Scheidung zwischen Sexualität und Liebe, die bereits völlig im Bewußtsein der Zeit lag, für sich selbst durchgeführt und es besteht in Wirklichkeit gar kein Widerspruch. Vor der einen erstirbt er in Demut und kann sich nicht genug herabsetzen, um die Herrin zu erheben; allen anderen Frauen gegenüber jedoch ist er bloßer Sexualist, Herr und Sieger. Er sagt, daß er sich bei Frauen wohl zu benehmen verstehe; vor dem Angesicht der einen aber schwinde ihm die Stimme und er wisse nicht, was er tut. – Petrarca, der sein Leben lang eine überirdische Gestalt unter dem Namen Laura besungen und indessen mit einer Konkubine gelebt hat, ist eine verwandte, wenn auch weniger brutale Natur. – Sordel kommt dem Typus des Liebessuchers oder des Don Juans nahe, den wir später noch kennen lernen werden.

Ein anderes Beispiel: Graf Rambaut III. von Orange gibt in einem Gedicht sehr handgreifliche Anweisungen, die Frauen zu gewinnen – »Schlagt ihnen mit der Faust die Nase ein!« – und fährt dann fort:

So kommt ihr wohl an euer Ziel! –
Ich aber folge anderer Art.
Um Liebe kümmer' ich mich nicht viel,

Die Frauen behandle ich so zart,
Als ob sie meine Schwestern wären;
Ergeben, treu, liebreich und mild
Will ich mich gegen Frau'n bewähren.

Er schließt aber: »Meine Handlungsweise ist jedoch die eines Narren und ich warne euch davor!«

In einer Tenzone mit dem Dauphin von Auvergne behauptet Peirol konsequent im Geiste der seelischen Liebe, daß die Liebe mit der geschlechtlichen Vereinigung auch schon verschwunden sei: »Ich kann nicht glauben, daß ein wahrhaft Liebender dann noch wirklich weiter liebt!« (So denkt auch Otto Weininger.) Schließlich meint Peirol ganz fein, wenn auch die Liebe aus dem Herzen geschwunden sei, so möge man sie der Dame wenigstens noch weiter vorspielen.

Die Troubadours werden nicht müde, die wahre, reine Liebe, den Amor, von der niedrigen Begierde ( drudaria und luxuria) zu sondern. Immerfort wiederholen sich die Klagen, daß Falschheit und Wollust herrschen, und die Beteuerungen, daß nur die reine und treue Liebe wahrhaft Liebe sei. Die mezura, die Wohlanständigkeit, wird der dezmezura, der Zügellosigkeit, entgegengesetzt. Die reine Liebe schafft alles Edle, von der Lust wird es zerstört. Ebenso scheiden die deutschen Minnesänger, bei denen die theoretische Seite der Sache nicht ausgebildet gewesen ist, die »niedere« von der »hohen« Minne. – Damit aber auch die Sinnlichkeit in der Kunst nicht ganz leer ausgehe, wird in Pastorellen gern eine Begegnung des Dichters mit einem hübschen Hirtenmädchen geschildert und diese Affäre (die oft mit der schnippischen Abweisung des Bewerbers endet) in einen Gegensatz zur hohen Liebe gebracht. Das merkwürdige Gedicht eines geistlichen Herrn Daude de Pradas stellt die hohe Liebe zur verehrten Herrin dem simplen Getändel mit einem einfachen Mädchen und dem Geschlechtsgenuß gegenüber. Zwei Strophen (die folgenden sind kaum wiederzugeben):

Ja, Minne will das rechte Maß;
Ich liebe meine Frau, um edel
Zu werden, und ich hab' mein Mädel
Zum Küssen. Denn das Beste, was
Ich kenne, ist ein frisches nettes
Mägdlein, so grade aus dem Ei,

Und in der Wärme ihres Bettes
Behagt's ein Nächtlein oder zwei
Im Monat meinem munteren Blut –
Der Liebe bring' ich den Tribut.

Der weiß von Frauendienst nicht viel,
Der seine Dame ganz begehrt.
Der Frauendienst ist nicht viel wert,
Der solchen Lohn sich setzt als Ziel. usf.

Da die feinsten Geister und die vornehme Gesellschaft nur die seelische und unsinnliche Liebe anerkannten, die Geschlechtlichkeit aber verachteten, so war es natürlich guter Ton, ebensolche Gefühle vorzuschützen und von Reinheit zu singen; sehr beliebt ist auch das Motiv, daß die Ehre der geliebten Frau nicht verletzt werden und daß ihr kein Wunsch nahe treten dürfe. Aber man merkt es meistens schnell, wo die Konvention spricht und wo das wahre Gefühl herrscht. Auch ist zu bedenken, daß Künstler ein Gefühl um seiner selbst willen lieben können, ohne es persönlich zu teilen. Mancher schöpfte dichterische Begeisterung aus einem ästhetisch gewendeten Gefühle, das als einziges und höchstes geehrt wurde; liebte er auch keine wirkliche Dame, so liebte er doch solch eine edle Liebe. Nicht allzu selten ist es auch vorgekommen, daß irgendein Troubadour die hohe Liebe gepriesen und die niedrige geschmäht hat – das gehörte nun einmal zum Metier –, bis er sich eines Tages auf seine wahre Natur besinnt, worauf es dann zu einem belustigenden Ausbruch zu kommen pflegt. Folquet von Marseille z. B. sieht nach mehr als zehnjährigem Schmachten ein, daß er ein Narr gewesen ist:

Der Zauber falscher Liebe lockt und bannt
Liebende Narren und er läßt sie nicht,
So wie die Flamme, deren blendend Licht
Den Schmetterling hinzieht in ihren Brand.

Ich sag' mich los und folge anderen Wegen!
Für meine Leiden hatt' ich üblen Segen,
Und wie ein jeder edle Dulder tut:
War ich erniedrigt, zeig' ich neuen Mut.

Und ein anderer, Gavaudan, erklärt: »Ihr Liebenden aber seid alle Narren! Glaubt ihr etwa, daß ihr den Frauen ihre Hitze abgewöhnen werdet?« Dies ist übrigens eine der ganz wenigen Äußerungen über die Frauen selbst, denn sonst erfährt man immer nur von ihrer engelgleichen Vollkommenheit, Weisheit, Schönheit und Unzugänglichkeit. – Der bedeutende Sänger Marcabru ist dagegen von Anfang an ein Feind der Frauen und der Liebe. Er sagt von sich selbst, daß er nie eine Frau geliebt habe und von keiner geliebt worden sei:

Von Minne, die immer lügt
Und alle Menschen betrügt,
Will ich nichts hören; bedenkt:
Nie hat sie mir Freude geschenkt.
Ich wünsch' ihr alles, was schlimm,
Denk' ich dran, steigt mir der Grimm.
Ein Narr war ich, der hinter ihr rennt –
Nun sind unsere Wege getrennt.

Er weiß sich im Schimpfen nicht genug zu tun und bringt über die Sittenlosigkeit der Frauen recht Kräftiges vor. Aber es ist für die alles beherrschende Meinung der Zeit sehr charakteristisch, daß auch dieser Misogyn (der ja auch nur ein Enttäuschter gewesen sein muß) die hohe Liebe preist:

O hohe Liebe, Quell des Reinen,
Du hast die ganze Welt entflammt!
Ich rufe dich, hilf mir! Verdammt
Will ich nicht elend dorten Nämlich in der Hölle. weinen.
Ich bin der deine ganz und gar,
Durch dich gestärkt, von dir geleitet,
Du meine Hoffnung immerdar! –

Die Scheidung von Liebe und sinnlichem Begehren war also im Fühlen der zuhöchst Differenzierten vollkommen festgelegt und hat auch ihre Theoretiker gefunden, vor allem den Hofkaplan Andreas, der ein gelehrtes und mit dialektischen Distinktionen erfülltes Buch in lateinischer Sprache über die Liebe verfaßt hat. Er spricht in Definitionen und Konklusionen das aus, was die gleichzeitigen Sänger in ihren Versen niedergelegt haben, und beweist damit, daß diese seelische Liebe nicht etwa eine dichterische Fiktion gewesen ist, sondern tiefste Überzeugung der Zeit, die sie mit ihrer ganzen philosophischen Rüstung gestützt hat. »Es gibt in der Welt kein Gut und keine Höfischkeit außer dem Quell der Liebe. Daher ist die Liebe alles Guten Anfang und Grund.« Es wird ferner bewiesen, daß der edle Mensch lieben müsse, weil er ja sonst keinen Wert gewinnen könne; die Liebe aber läßt über alles hinwegsehen und macht den Mann von niedriger Abstammung den Adligen gleich und überlegen. (Diese Auffassung des seelischen Adels, die in der späteren Theorie vom cor gentil ihre Vollendung gefunden hat, kam nur in der Provence und in Italien vor; in Frankreich und Deutschland ist sie unbekannt geblieben.) Sinnlichkeit wird von Liebe scharf abgesondert: »Der liebt nicht, den die Wollust quält.« Und: »Der Sinnliche ist nicht ein Liebender, sondern ein Zerstörer und Nachäffer der Liebe, ärger als ein schamloser Hund.« Andreas scheidet diese niedrige, den amor mixtus sive communis, von der reinen Liebe, dem amor purus, und lehrt in Übereinstimmung mit den Dichtern: »Die Liebe gibt dem Menschen die Kraft der Keuschheit, denn wer von dem Strahl der Liebe zu einer Frau getroffen ist, kann an die Umarmung einer anderen, wenn auch noch so schönen Frau nicht einmal denken.« Er beweist aus Substanz und Form, daß ein Mann nicht zwei Frauen lieben könne. Ebenso heißt es in einer umfangreichen provenzalischen Schrift aus dem 14. Jahrhundert, den Leys d'Amors, eigentlich einem Handbuch der Grammatik und der Dichtkunst: »Nun müssen die Liebenden unterrichtet werden, auf welche Art sie lieben sollen; und die tollen Liebhaber gezügelt, damit sie ihre üblen und ehrlosen Wünsche erkennen. Denn niemals hat sich ein guter Troubadour, der auch ein ehrlicher Liebhaber gewesen ist, der schlechten Liebe und unedlen Wünschen hingegeben.« – Dasselbe Gesetzbuch findet es unanständig, daß der Sänger von seiner Dame einen Kuß verlange. – Dagegen zieht Andreas die Grenze zwischen den beiden Arten der Liebe ziemlich weitherzig und läßt Küsse und auch noch mehr bei der wahren Liebe zu (worin ihm die besten Troubadours nicht beistimmen). – Hier muß einer mehrfach bezeugten Sitte gedacht werden: nicht selten kam es vor, daß eine Dame dem edel Liebenden erlaubte, eine Nacht lang bei ihr zu liegen, nachdem er ihr geschworen hatte, sie nicht zu umarmen. Die trotz all ihrer Bildung und Spitzfindigkeit doch innerlich naive Zeit meinte nämlich durch dieses Verhalten die Reinheit des Gefühls nicht verletzt zu haben. Erst bei den letzten Provenzalen und vor allem bei den tiefen Dichtern des neuen Stils ist diese ganz äußerliche und groteske Auffassung der »Reinheit« durch eine seelische und prinzipielle ersetzt worden.

Nach dem Vorbild der kirchlichen Scholastik hatte sich eine weltliche Liebesscholastik ausgebildet, die an die Stelle Gottes die Herrin setzte. Ihr hatte man Liebe, Ehrfurcht, Demut, Hoffnung usw. darzubringen. Huld und Gnade waren in ihr, man glaubte an sie wie an Gott. Einige Dichter hatten den Ehrgeiz, ihre Gefühle mit scholastischer Gelehrsamkeit zu »beweisen«, und besonders in der späteren italienischen Schule wurden amore, cor gentil, valore als Substanzen, Attribute, Inhärenzien usw. gefaßt. Die Allegorien von amore spielen eine große Rolle und zerstören manches Kunstwerk; von diesen Geschmacklosigkeiten, denen selbst Dante verfallen ist, haben sich die Deutschen freigehalten.

Bei solchem Fühlen mußten Liebe und Ehe streng gesonderte Dinge sein. Denn wo allein der reinen Liebe Wert beigemessen wird, kann die Ehe nur als etwas Minderes gelten. Wirklich wurden die Ehen in den höheren Ständen – um die es sich hier einzig handelt – durchweg aus politisch-ökonomischen Gründen geschlossen, der Baron wollte sein Gebiet erweitern, eine Mitgift erhalten, in eine mächtige Familie eintreten; niemals wurde das Mädchen gefragt, das ja erst durch die Ehe mit Menschen in Verbindung kam, die nicht zur Familie gehörten. Für sie bedeutete die Ehe die Erlaubnis zu glänzen, und von einem Manne – der nicht ihr Gemahl war – geliebt zu werden. Andreas stellt als regula amoris auf: »Es steht ganz fest, daß zwischen Gatten die Liebe keinen Platz hat,« und Fauriel übersetzt eine Stelle folgendermaßen: »Ein Gatte, der behaupten wollte, sich gegen seine Frau zu benehmen, wie ein Ritter gegen seine Dame, würde etwas tun, was der Ehre widerstreitet, da weder sein Wert noch der Wert der Dame dadurch wachsen könnte und da für sie nichts entstehen kann als was ohnehin schon von Rechts wegen bestanden hat.« – Ein Ehemann erklärt: »Ich habe allerdings eine recht schöne Gattin und ich liebe sie auch mit ehelicher Zuneigung. Weil aber doch zwischen Ehegatten wahre Liebe unmöglich ist und weil in dieser Welt nichts Gutes geschehen kann, das nicht der Liebe entstammte, so meine ich, mir außerhalb der Ehe einen Liebesbund wünschen zu müssen.« – All dies ist nicht etwa »Frivolität« gewesen, sondern die einzige konsequente Folgerung aus der dualistisch empfindenden Erotik, die Sinnlichkeit mit Liebe nun einmal nicht vereinigen kann. – In dem alten Roman Gérard von Roussillon wird die Prinzessin, die Gérard liebt, dem Kaiser Karl Martell angetraut und muß nun von ihrem Ritter scheiden. Da trifft sie zum Abschied mit ihm und einigen Zeugen unter der Anrufung von Jesus zusammen und spricht: »Wisset alle, daß ich meine Liebe dem Herrn Gérard schenke mit diesem Ring und dieser Blume von meinem Halsschmuck. Ich liebe ihn mehr als Vater und Gatten und ich muß jetzt bitterlich weinen.« Darauf trennten sie sich, aber ihre Liebe dauert unvermindert fort, ohne daß jemals etwas Unerlaubtes zwischen ihnen vorgefallen wäre, nur zarte Wünsche gab es und heimliche Gedanken.

Die Ehe durfte gar nichts vor dem wahren Liebesbund voraushaben, nicht einmal die kirchliche Weihe. Und es hat wirklich öfter eine Zeremonie unter geistlicher Assistenz stattgefunden, wenn ein Liebesbund geschlossen worden ist. Fauriel schildert, ohne seine Quelle anzugeben, diese Zeremonie analog dem Vorgang bei der feudalen Belehnung folgendermaßen: »Vor seiner Dame kniend und seine gefalteten Hände zwischen den ihrigen, weihte er sich ihr ganz, schwor, ihr treu bis in den Tod zu dienen und sie nach seinen Kräften vor Schaden und Kränkung zu bewahren. Die Dame erklärte sich dagegen bereit, seine Dienste anzunehmen, versprach ihm die besten Gefühle ihres Herzens und gab ihm als Zeichen dieser Verbindung meistens einen Ring. Dann hob sie ihn auf und küßte ihn, immer zum erstenmal und meistens zum letztenmal.« – Aus folgenden Versen geht hervor, daß auch die Trennung der Liebesleute als ein feierlicher Akt, ähnlich der Trennung der Ehe, behandelt worden ist:

Und daß der Schwur, den wir uns einst getan,
Beim Enden unserer Liebe nicht verletzt
Wird, gehen wir zu einem Priester jetzt:

Ihr gebt mich los, ich geb' Euch wieder los,
Dann können wir mit gutem Recht fortan
Uns betten in der neuen Liebe Schoß.

(Peire von Barjac.)

Die Ehe war viel leichter lösbar als der echte Liebesbund. Der Mann mußte nur behaupten, daß er in entferntem Grade mit seiner Frau verwandt sei, und die Kirche fand sich schon bereit, seine Ehe aufzulösen. Der Liebesbund aber, so erklärt Sordel in einem langen Lehrgedicht, soll fester sein als der Ehebund:

Nur einen einzigen darf die Frau
Lieben, drum achte sie genau,
Wen sie erwählt und sei ihm treu,
Denn wählen kann sie nicht aufs neu.
Ja, fester als der Ehebund
Ist Liebschaft, denn gar mancher Grund
Kann Ehen trennen – Tod allein
Darf wahrer Liebe Löser sein.

Die Auffassung, daß Ehe und Liebe nicht miteinander verträglich seien, ist also nur die Konsequenz des Grundgefühles, daß Liebe und Begehren derselben Frau gegenüber nicht statthaben können. Hätte man die eheliche Liebe gelten lassen, so wäre entweder im antiken und trivialen Sinn die bürgerlich geregelte Geschlechtlichkeit heilig gesprochen worden – dieses Auskunftsmittel hat bekanntlich die grundsätzlich asketische Kirche gewählt – oder man hätte im modernen Sinn die Einheit von Liebe und Geschlechtlichkeit kennen müssen. Über das eine war man innerlich hinaus, da schon das Ideal der absolut vollkommenen und unbefleckten Liebe in Geltung stand; für das andere war die Zeit noch nicht gekommen. Und die Tendenz der Besten ist es, die Liebe immer höher und reiner zu gestalten, sie jeden Erdenrestes zu entkleiden und dem Himmel nahe zu rücken. Schon einer der frühen Troubadours, Jaufre Rudel, Prinz von Blaya, hat dieses Gefühl zu einem gewissen Abschluß geführt, da er eine Dame liebte, die er nie gesehen hatte. Durch die Jahrhunderte berühmt war die Geschichte seiner Liebe. Jaufre (der um 1160 starb) ist der erste, bei dem die rein seelische Liebe historisch nachgewiesen werden kann (obgleich sie im Gefühlsleben der Zeit schon früher vorhanden war). Er liebte nämlich eine Gräfin von Tripolis, eine christliche Prinzessin, die er nie gesehen hatte, und seine ganze Seele war von diesem Gebilde seiner Phantasie erfüllt. Die provenzalische Lebensbeschreibung berichtet, daß er sie »wegen all des Guten liebte, das die Pilger von ihr erzählten«. Um sie zu sehen, nahm er das Kreuz und fuhr übers Meer; aber auf dem Schiff erkrankte er und wurde halb tot ans Land getragen. Und die Gräfin, die von seiner Liebe vernommen hatte, eilte in seine Herberge, Jaufre kam noch einmal zu Bewußtsein, da sie eintrat, erkannte sie sogleich und starb glückselig in ihren Armen. Sie war von dieser Liebe so tief gerührt, daß sie fortan der Welt entsagte. – Diese Erzählung ist vielfach bezeugt und kein Märchen, sie wird heute allgemein als echt anerkannt. Jaufre hat in ergreifenden Gedichten diese »Liebe nach dem fernen Land« besungen; er sagt, daß sie ihm »von Gott erweckt worden sei«, und sie ist keine » amour de tête«, wie von dieser ganzen Art der Liebe manchmal behauptet wird, sondern eine echte » amour de cœur« – rein seelische Liebe, die nichts von der Geliebten will, als sie lieben dürfen.

Ich weiß, daß sie mich nie beglückt,
Noch wird sie sich an mir erfreu'n.
Ihr Freund kann ich ja niemals sein,
Nie hab' ich sie an mich gedrückt.
Und war doch niemals so entzückt –
Sie wird mich noch zum Seligen weih'n.

Übrigens ist auch in späteren Zeiten ähnliches bei Phantasiemenschen nicht gar zu selten (Klopstock, Bürger). –

Es läßt sich nicht leugnen, daß diese ganze verstiegene Frauenverehrung für unser unbefangenes Gefühl etwas Befremdliches hat. Vielleicht kommt sie uns etwas näher, wenn wir dieselbe Erscheinung ganz unmittelbar und ohne Zeitmoden und höfische Theorien bei einigen Männern wiederfinden werden, die uns nahe stehen: ich meine Michelangelo, Goethe und Beethoven. Zugegeben also, daß alles bisher Vorgebrachte und noch vielmehr das Folgende eine Richtung des Fühlens spiegelt, die nicht die unsrige ist, so darf uns das nicht hindern zu erkennen, daß die Gefühlsweise dieser Männer, die in Dante gipfelt, doch ganz echt und aus dem Innersten der Seele geflossen ist. –

Die Kirche ist von den ersten Tagen an prinzipiell dualistisch und asketisch gewesen und hat die Sinnlichkeit als das eigentliche Übel bekämpft. »Wie Feuer und Wasser nicht zusammen sein können, so können geistige und körperliche Wonnen nicht zugleich sein,« schreibt der heilige Bernhard. Wenn man die Ehe notgedrungen gelten ließ, so ist das immer nur ein Kompromiß gewesen; es braucht ja nicht weiter bewiesen zu werden, daß für die Kirche die Keuschheit allein wahren Wert besaß. Auch noch Luther hat diesen Standpunkt nicht im geringsten überwunden, und bis heute ist eine Versöhnung zwischen Christentum und Sexualität nicht erfolgt, dem Katholizismus wie den protestantischen Kirchen hat die Ehe immer nur als das kleinere Übel gegolten, als eine Konzession, die man dem Feind machen mußte, um bestehen zu können. Es ist nun sehr interessant zu beobachten, welche Stellung die Kirche zu der neuen seelischen Frauenliebe eingenommen hat, die ja dem echtesten dualistischen Fühlen des Christentums entsprungen war, aber nicht Gott, sondern die irdischen Frauen zum Gegenstand hatte. Das einzig Logische wäre natürlich gewesen, daß die Kirche in der keuschen Frauenverehrung, der ja die Ehe als minderwertig galt, eine Bundesgenossin erkannt hätte. Zwei Kleriker, nämlich der Hofkaplan Andreas und der versereiche Matfre Ermengau, haben ja wirklich die Theorie der seelischen Liebe ausgebaut; aber nicht im Sinn der Kirche, sondern gegen ihn, und beide haben es nicht versäumt, rechtzeitig alles zu widerrufen und als das einzige Heil die Orthodoxie zu empfehlen. (Von dem welthistorischen Kompromiß, der schließlich eingetreten ist, werden wir später sprechen.) Nachdem Andreas alle wünschenswerten Details der Liebe nach Substanz und Akzidenzien festgestellt hat, deduziert er, jede Liebe müsse Gott beleidigen, die nicht ihm geweiht sei, und bringt achtzehn Gründe gegen die Frauenliebe vor. Zuerst hat er den Frauen ihren Platz im Himmel angewiesen und nun kommt er mit den altbekannten Argumenten von der Niedrigkeit des Weibes daher, erklärt alle Frauen von Natur aus für habgierig, neidisch, gefräßig, unbeständig, geschwätzig, widerspenstig, hochmütig, eitel, lügnerisch, sinnlich usf. und dekretiert: »Wer der Liebe dient, kann Gott nicht wohlgefallen. Denn Gott haßt und will jeden bestraft sehen, der außer der Ehe die Werke der Venus betreibt. Was könnte denn dort auch Gutes gefunden werden, wo nur gegen den Willen Gottes gehandelt wird?« – Wir sehen hier das Groteske, daß der offizielle Kirchenstandpunkt der Standpunkt der Sinnlichkeit, nämlich der Ehe, in Feindschaft zu der neuen höheren Stufe der asketischen Seelenliebe ist, und das muß, wenn auch nicht im Geist der Religion und im Widerspruch mit dem asketischen Prinzip, aber doch im Geiste der Orthodoxie konsequent genannt werden und ist auch von der ganzen Scholastik vertreten worden: denn was nicht für sie ist, das ist gegen sie. Der wackere Abbé mit dem Januskopfe spricht hier nicht für sich allein, sondern für die gesamte Geistlichkeit; ihr galt jede Liebe, die nicht Gott geweiht war, kurzweg als fornicatio, als Unzucht. Und in seinem Widerruf nimmt Andreas auch wirklich die Ehe, die ihm bisher so verächtlich gewesen ist, gegen die Liebe in Schutz, denn – »die Liebe zerstört die Ehe«. Und genau dasselbe tut Matfre; nachdem er in seinem Breviari d'Amor alle guten Lehren der höfischen Frauenliebe dargelegt hat, klappt er um (er hält aber schon bei Vers 27 455):

Satan schürt ihre Torheit so,
Facht ihre Glut ganz lichterloh,
Daß sie, von ihm getrieben,
Die Frauen anbeten, nicht lieben,
So wie den Schöpfer selbst – das soll
Dann wahre Liebe sein, und toll
Mit ihrem Herzen, Kopf und Sinn
Geben sie sich den Frauen hin.
Sie beten an – o Sündengraus!
Und machen ihre Gottheit draus.
Zu ihnen betet mancher Mann
Und betet doch den Teufel an.

Dreihundert Jahre später wettert der wilde Savonarola: »Wie eure Kurtisanen kleidet ihr die Mutter Gottes und schmückt sie und verleiht ihr die Züge eurer Geliebten!« – was uns bald in buchstäblicher Wahrheit entgegentreten wird.

Mit dem sicheren Instinkte, der nicht den Sieg der höheren geistig-kulturellen Idee, sondern das Fortbestehen des Bisherigen will, ist die Geistlichkeit gegen diese Lehren der cortezia und cavalaria aufgetreten, und vielleicht muß ihr, wie manche meinen, wirklich ein Teil des Verdienstes zugeschrieben werden, daß die Frauenminne später die Wendung zur Marienminne genommen hat. Wir sehen vor uns den Prozeß, der mehr als einmal im Lauf der Zeiten wiederholt worden ist: das geistig mystische Prinzip des Christentums trat in ein neues Stadium, es bemächtigte sich eines neuen und bedeutenden Gebietes; die starre Kirche aber hielt dem zu Trotz lieber an dem überwundenen Niedrigen fest, als daß sie eine Änderung zugegeben hätte. Wäre sie ganz konsequent gewesen, so stände ihr größter Dichter heute auf dem Index, denn er hat seine Beatrice in den katholischen Himmel eingeführt, dem eigenen Gefühle folgend und keinem versteinten Dogma. –

Die neue seelische Liebe hat ihre Karikaturen mit sich geführt. Unter den Provenzalen ist hier der begabte Peire Vidal zu nennen, der, um seiner Dame zu gefallen, mancherlei erstaunliche Streiche begangen hat. Aber er steht weit hinter Ulrich von Liechtenstein zurück. Als Page trank er das Wasser aus, in dem sich seine Dame die Hände gewaschen hatte, und begann so seine ruhmvolle Laufbahn. Einmal ließ er sich die Oberlippe amputieren, die seiner Angebeteten nicht recht gefallen wollte, denn »was ihr an mir nicht behagt, das wird auch von mir gehaßt«. Ein anderes Mal schnitt er sich einen Finger ab und verwandte ihn, in Gold gefaßt, als Schließe zu einem Büchlein mit Liebesgedichten, das er seiner Herrin sandte. Dabei war er – ein Beispiel des »Liebesknechtes«, der uns noch beschäftigen wird – gar nicht metaphysisch gesinnt und ging auf sehr greifbaren Minnesold aus, begnügte sich aber meistens doch mit einem freundlichen oder auch einem unfreundlichen Wort. Gelegentlich erfährt man auch, daß er verheiratet gewesen ist, während seine einzige Beschäftigung war, Heldentaten zum Ruhm seiner Dame auszuführen. Nicht erst in dem Roman des Cervantes, schon durch das Leben dieses Ritters und Minnesängers ist das höfische Treiben – allerdings unbewußt – ins Lächerliche gezogen und so als Ideal vernichtet worden. –

Die Provenzalen hatten zwar die seelische Liebe entdeckt, aber erst bei den tieferen und größeren Italienern wurde sie in ihren Konsequenzen vollendet. Was bei den Troubadours naives Gefühl war, hat im Kreis Dantes die ganze Seele ergriffen, ist Weltanschauung und Religion geworden. Man darf den provenzalisch dichtenden Italiener Sordel als das unmittelbare Bindeglied und als den Vorläufer der großen Italiener ansehen. Er ist um 1270 gestorben und reicht also bis in die Zeit Dantes, der ihm in der Komödie ein ehrenvolles Denkmal gesetzt hat. – Nach der Lehre, die dem dolce stil nuovo zugrunde liegt, ist die Liebe eines edlen Herzens Ursprung aller Vollkommenheit und alles Wertes auf Erden wie auch im Himmel. Die rein seelische Frauenliebe ist ein absolutes Gut. Was der letzte provenzalische Troubadour Guiraut Riquier ausgesprochen hatte – Liebe ist die Lehre alles Hohen – das ist hier Philosophie geworden. Eines der herrlichsten lyrischen Gedichte aller Zeiten und Sprachen von Guido Guinicelli beginnt so:

Dem reinen Herzen naht die Liebe wieder,
So wie die Lerche, wenn es lenzt, der Flur.
Am gleichen Tage schuf ja die Natur
Ein reines Herz und Liebe und die Lieder.

Ein wundervolles Sonett von Guinicelli lautet:

O edle Magd, vom höchsten Preis bekrönt,
Des Lobgesangs und jeder Ehre wert,
Noch nie ward Euresgleichen uns beschert,
Von allem Wert vollendet und verschönt.

Des hohen Liebesgottes Huld, o Maid!
In Eurer Seele ist sie ganz verzückt,
Mit jedem höchsten Glanz seid Ihr geschmückt,
Mit der Vollendung aller Göttlichkeit!

Ein Lächeln strahlt von Eurem Angesicht:
So klar, daß jede Schönheit schönster Frauen
Zum Schatten wird in diesem hohen Licht.

Durch Euch darf man erst wahre Schönheit schauen,
Sonst unbekannt; aus jedem Kelche bricht
Die schönste Blume, naht Ihr Euch den Auen.

Und Cavalcanti:

Sagt, wer ist die, der wir uns staunend neigen?
In hellem Lichte muß die Lust erbeben,
Wenn sie sich naht, von Liebe ganz umgeben;
Nur Seufzer hallen, Worte aber schweigen.

Und mit dem Gefühl, das sich in diesen Versen verrät, sind wir schon in die höhere Sphäre eingetreten, die uns von jetzt ab zum Hauptgegenstand werden soll: Die geliebte Herrin wird immer höher gehoben, immer geringer fühlt sich der Liebende vor ihr, sie wird angebetet und vergöttlicht. Das überschwengliche Gefühl, die Sehnsucht nach metaphysischem Werte, das die ganze Zeit beseelt, hat hier seine höchste und charakteristische Vollendung erreicht. Es bewährt die ewige Eigenschaft des menschlichen Fühlens: keine Befriedigung finden zu können und ins Unendliche zu streben, es überfliegt das, was doch scheinbar sein Gegenstand ist, und sucht im Metaphysischen seine Vollendung. Frauenliebe und mystische Gottesliebe werden zu einer höheren Andacht vereinigt, die Liebe ist einzige Spenderin des ewigen Wertes und des Trostes geworden, den der Irdische ersehnt. Das Christentum hat gelehrt, hinaufzuschauen; jetzt verlor der Blick alles Starre und ersah lebendige Schönheit – die metaphysische Erotik entstand, die Heiligsprechung und Vergöttlichung der Frau. Der Liebende begnügte sich nicht mehr damit, was noch den meisten Troubadours Ideal gewesen war, die Geliebte keusch und andächtig aus der Ferne zu lieben, vielleicht in der Hoffnung, ein gütiges Wort, einen Gruß von ihr zu empfangen; sie sollte ein göttliches Wesen sein, über Menschenlust und -leid thronend, eine Königin der Welt. Die überlieferte Religion wurde umgewandelt, damit die Frau eine Stelle darin empfangen könne.

Es ist durchaus begreiflich, daß die seelische Liebe gleich beim Entstehen als etwas Überirdisches, Göttliches empfunden wurde. In einigen Menschen war ja etwas lebendig geworden, das bisher völlig unbekannt gewesen war und das unmittelbar zum Himmel wies. Die Seele, der Mittelpunkt des tieferen christlichen Bewußtseins, hatte hier einen neuen freudigen Inhalt empfangen, ein Gefühl von solcher Intensität entstand, daß es nur der religiösen Ekstase des wahren Mystikers vergleichbar ist, man ahnte, daß es Neues und Großes erschaffen werde – mußte das nicht göttlich geachtet und als höchstes Ideal proklamiert werden? Schon die Troubadours hatten es gekannt. Bernart von Ventadour hatte schon gesungen:

Allerschönste Fraue,
Der Euch treulich liebt,
Zittert, daß sein Herz zertaue,
Das er Euch ergibt.
Mit gefalteten Händen trete
Ich vor Euch hin und bete!

Cavalcanti:

Ich fühle, wie ihr Wert mich macht erbeben,
Ein heimlich Seufzen geht durch mein Gemüt:
Gib acht, wenn dir ihr hoher Anblick glüht,
Dann wird dein Heil hinauf zum Himmel schweben.

Von göttlicher Art ist die Schönheit der Angebeteten. Montanhagol sagt, Dante vorausahnend:

Drum sag' ich euch – und Wahrheit ist nur dies:
Daß ihre Schönheit uns vom Himmel kommt,
Geschaffen wurde sie im Paradies
Und irdischen Wesen kaum ihr Anblick frommt.

Und in einer Kanzone, die dem Cavalcanti, dem Cino da Pistoja und dem Dante zugeschrieben wird, heißt es:

Von dieser Frau muß jede Lippe schweigen.
In höchster Schönheit schreitet sie vollendet.
Des irdischen Geistes Kraft vergeht und endet
Vor ihrem Anblick. Und sie ist so edel:
Will ich das innere Auge aufwärts heben,
So fühl' ich meine Seele tief erbeben.

Die Vollkommenheit, die der Anblick der Geliebten schenkt, wird weiter und freier gefaßt: nicht nur der Liebende selbst – alle Menschen werden von ihrer Erscheinung ergriffen, verwandelt und verklärt. Das Gefühl des Liebenden strebt danach, objektive Wahrheit zu werden. (Dante hat das vollendet.) Dies ist ein wichtiges Stadium auf dem Weg von der seelischen zur vergöttlichenden Frauenliebe, die ich metaphysische Erotik nenne. Wieder ist ein Stück der Entwicklung vollzogen, durch welche die Geliebte zur Königin der Welt und zur Göttin gemacht wird, zu einem Wesen, das neben Gott thront.

Guinicelli sagt:

Sie geht dahin, so lieblich und vollkommen,
Daß jeder demutvoll vor ihrem Nicken
Verstummen muß und gläubig sich ihr neigt.
Wer niedrig fühlt, kann ihr nicht nahe kommen,
Ihr höchster Zauber wohnt in ihren Blicken:
Der kann nicht fehlen, dem sie sich gezeigt.

Und derselbe in der schon einmal angeführten Kanzone » Al cor gentil«:

Sie leuchtet uns, wie Gott den Engeln leuchtet.

Wenn Madonna stirbt, empfangen sie die Engel jubelnd und freuen sich, daß sie ihnen genaht ist. Der Provenzale Pons von Capduelh nimmt Dante voraus:

Wir wissen, daß jetzt alle Engel droben
Ob ihres Todes freudig jubilieren.
Ich hab's vernommen und mir will's gefallen:
Den Herren loben, die den Troß ihm loben.
Ich weiß, sie ist in jenen reichen Hallen,
Umblüht von Rosen und von Lilienstengeln,
Singend gebenedeit von seligen Engeln.
Aus meinem Mund soll lautere Wahrheit schallen:
Im Paradiese thront sie über allen!

Cino von Pistoja spricht folgendes Sterbegebet:

In Eure Hände, Herrin, meine süße,
Empfehl' ich meinen Geist, der nun entflieht.

Man erkennt, wie sich die seelische Liebe religiös färbt. Die Herrin tritt an die Stelle Gottes, von ihrer Huld kommt Trost und Freude für den scheuen Verehrer, ja für alle Menschen, sie führt den Sterbenden ins ewige Leben ein. Gott übergibt seine Stellung der Geliebten, sie tritt neben ihn, über ihn. Aus der Liebe des Mannes entsteht etwas Neues: die Frau, an der doch noch der Fluch der Kirche haftet, wird kraft des männlichen Gefühls zu einem vollkommenen, zu einem himmlischen Wesen umgeschaffen. Der Gott des Christentums ist in Gefahr – wird sich über der Religion des Volkes eine neue Religion der gebildeten Geister erheben, die Religion der Frau, die keinen Gott neben sich ertragen könnte? Wird eine Reformation eintreten und die überlieferte Religion in metaphysische Erotik wandeln, Gott entthronen, eine Göttin einsetzen? – Man kann nicht sagen, welcher Schritt sich in der Geistesgeschichte Europas vollzogen hätte, wäre Dante bloß ein metaphysisch Liebender und nicht auch ein gelehrter und gläubiger Theologe gewesen, wenn er nicht bis zur Schau des göttlichen Geheimnisses vorgedrungen, sondern schon vor dem Angesicht Beatrices vergangen wäre ...

Die Frauenanbetung hat mit der bestehenden Religion einen Kompromiß geschlossen, der dadurch möglich wurde, daß sich im Christentum eine Frauengestalt fand, die bis dahin keine bedeutende Rolle gespielt hatte, aber immerhin eine Ausnahmestellung besaß: Maria, die Mutter des Erlösers. Sie hat von 400-1200 etwa wie eine der antiken Göttinnen gegolten; jetzt wird sie von dem neuen Gefühl ergriffen und belebt. Aus dem starren, seelenlosen Bild mit dem kreisrunden goldenen Schein ums Haupt wird langsam eine menschliche Frau, deren Vorbild man auf Erden geschaut hat. Und dieses Gefühl hat in Italien die Kunst der großen Madonnenmalerei und die Individualisierung des menschlichen Bildnisses überhaupt hervorgerufen. Die übermächtige Tradition wurde durchbrochen – war man doch allgemein davon überzeugt, daß die historische Maria so ausgesehen hatte, wie sie von der byzantinischen Kunst abgebildet wurde –, man schöpfte, ergriffen von der alles übersteigenden und umwertenden Frauenliebe, aus der Fülle der Wirklichkeit. Ich kann nicht glauben, daß die moderne beseelte und individualisierte Kunst ihre anfängliche Inspiration von der Legende des heiligen Franz genommen hat, wie Thode will; sondern das stärkste Gefühl der kultiviertesten Geister muß ihre erste lebensvolle Quelle gewesen sein, und das ist die seelische Liebe.

Mit großer Deutlichkeit prägt sich hier das katholische und das protestantische Weltprinzip aus. Der Katholizismus mit seinem Streben nach absoluter Einheit, das keine individuellen Unterschiede anerkennt, sondern alles Leben und alle Lehre nach einem definitiven Ideal gestalten will, hat konsequenterweise eine einzige historisch bestimmte Frau als göttlich erklärt und zum Gegenstand der allgemeinen Anbetung aufgestellt. Dieser Glaube mußte starr, unveränderlich und nahezu inhaltsleer sein. Auch hier ist wieder das historisch-heidnische Prinzip des Katholizismus durchgeführt, welches etwas einmal in der Welt Geschehenes verewigt und als Religion erklärt, eine religiöse Neuschöpfung jedoch ausschließt (wie im vorigen Abschnitt gezeigt). Diese Lehre legt alles wahrhaft Geltende in die Vergangenheit, und zwar in einen ganz bestimmten Punkt der Vergangenheit, der jeder historischen Kritik entzogen sein muß. – Mit dem beginnenden individuellen Geistesleben aber wird das universale Madonnenbild der Kirche langsam lebendig und persönlich differenziert. Wie im protestantischen Sinn – der mit den Waldensern und Franziskus beginnt – jeder sein persönliches Verhältnis zu Gott suchen muß, das veränderlich ist, weil die Individualität gilt und nicht ausgeschaltet werden soll wie im Katholizismus: so schaffen sich nun auch die phantasiebegabten Erotiker ihre persönliche Himmelsfrau. Oft glauben sie – besonders Mönche – noch die Göttin der Kirche anzubeten, und haben doch schon eine persönliche metaphysisch-erotische Schöpfung vollzogen. Die große italienische Kunst seit dem 14. Jahrhundert, die romanische und deutsche Mariendichtung ist ihrem tiefsten Wesen nach, wenn auch scheinbar noch orthodox, doch dem persönlichen Liebesbedürfnis entkeimt und hat so den Boden der Kirche verlassen, sie ist protestantisch. Dem steht durchaus nicht im Wege, daß die Kirchen, die sich protestantisch nennen, die Maria scheel angesehen haben, daß sich ein gerader und wenig feiner Geist wie Luther ärgert: »Die Maria hat man im Papsttum zu einem Gott gemacht und damit greuliche Abgötterei aufgerichtet.« Die wahre Himmelskönigin ist eben eine Schöpfung der Künstler und der Liebenden, unverständlich für Nurdenker und Moralisten.

Durch die Anerkennung einer göttlichen Frauengestalt ist offene Feindschaft von Frauenreligion und Kirchenreligion vermieden worden. Zwischen Gott und die Menschen tritt eine Frau als Mittlerin, Fürbitterin und wahre Erlöserin. Jeder metaphysisch Liebende durfte sie denken, wie er wollte, durfte sie lieben und zu ihr beten, und war doch kein Ketzer und Teufelsdiener! Hatte Matfre geklagt:

Zu ihnen betet mancher Mann
Und betet doch den Teufel an –

so war auch schon der Weg gefunden, die anzubeten, zu der einen das Herz zog, und doch Gott nicht abtrünnig zu werden, ja ihm näher zu kommen. Denn hin und wieder erinnerte man sich wohl auch, daß die angebetete Frau genau genommen seine Mutter war – schon der Inquisition wegen, die von den Dominikanern unter dem besonderen Schutz der Maria begründet worden war, gewissermaßen als ihre Miliz gegen die allzu weltlichen Geister. Nicht immer, nur selten sogar, wird die angebetete irdische Frau mit der offiziellen Himmelskönigin identifiziert – am häufigsten noch von Mönchen –; manchmal ist die Geliebte einzige Göttin – bei Guinicelli und Michelangelo – oder sie thront neben Maria – bei Dante und für den Faust Goethes. Alles dies wird zu untersuchen sein.

Hier unterbreche ich die Darstellung, die von den Anfängen der seelischen Liebe zur vollendeten metaphysischen Erotik führt, um kurz zu skizzieren, welchen Rang Maria im Abendlande von der ersten Zeit des Christentums an eingenommen hat. –

 

Die Himmelskönigin

In den ersten zwei Jahrhunderten hat Maria bei den christlichen Gemeinden keine weitere Bedeutung gehabt und noch im 4. Jahrhundert war sie eine menschliche Frau, der Chrysostomus göttliches Wesen absprach, sie sogar eitel sein ließ wie andere Frauen (weshalb er später von Thomas getadelt wurde). Aber je höher Christus über die Menschheit hinauswuchs und je dogmatischer und starrer er – besonders in der griechischen Kirche – gefaßt wurde, desto stärker machte sich das Bedürfnis rege, Mittelwesen zwischen der Gottheit und den Menschen aufzustellen, die man sich als Menschen denken durfte, aber doch mit besonderen Kräften ausgestattet, etwa in der Art der antiken Halbgötter; und als solche Mittlerin gewann die Mutter des Erlösers mehr und mehr Ansehen. Sie war eine menschliche Frau, die menschliche Wünsche verstehen konnte, und hatte den Gott geboren – mußte ihre Fürsprache nicht Gewicht haben bei dem göttlichen Sohn? Zugleich mit der sich ausbreitenden Höchstschätzung der Askese drang die Lehre durch, daß Maria jungfräulich empfangen hatte und Augustinus nimmt Maria (in der Schrift de natura et gratia) als einziges menschliches Wesen von der Erbsünde aus. Dies ist der erste wichtige Schritt, die Mutter des Heilands der Menschlichkeit zu entkleiden und als ein gottähnliches Wesen anzusehen.

Bis jetzt hatte noch niemand zu Maria gebetet, sondern alle nur zu Gott und zu Christus. Dieser neue Gedanke kommt zum erstenmal in der gegen Ende des 4. Jahrhunderts entstandenen Schrift »Über den Tod der Maria« vor und Gregor von Nazianz denkt sich Maria im Himmel, besorgt um das Wohl der Menschen. Im 4. und 5. Jahrhundert wurden dann die ersten Marienhymnen gedichtet, und zwar in syrischer Sprache; aber fromme Bischöfe erhoben Einsprache dagegen, daß Maria nicht nur geehrt, sondern auch religiös verehrt wurde. Epiphanus (Ende des 4.Jahrhunderts) sagt: »In Ehren sei Maria, aber angebetet werde der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.«

Man darf hiebei etwas sehr Wichtiges nicht vergessen: alle Mittelmeervölker, sowohl Semiten und Ägypter wie Griechen und Römer, hatten seit alters her zu Göttinnen gebetet. Ist doch die Frau als das Geschlechtswesen den alten Völkern immer mehr oder weniger wie etwas Zauberhaftes und Geheimnisvolles erschienen (ebenso wie das männliche Zeugungsglied). Es war nicht ganz geheuer, daß die Frau aus ihrem Schoß einen lebendigen Menschen hervorzubringen vermochte, und in allen Kulten hat die mütterliche Frau ihre große Stellung gehabt. Sollte dieses uralte und so natürliche Bedürfnis plötzlich durch das Christentum vernichtet worden sein? Wir wissen doch, wie viele antike Überreste assimiliert und von der Kirche aufgenommen worden sind. Ebenso ist es mit der Verehrung der Göttinnen gewesen. Die großen asiatischen Naturmütter waren nicht vergessen; die uralte babylonische Istar (Astarte), die kleinasiatische Rhea Kybele und vor allem die ägyptische Isis lebten in den Herzen weiter, halb bewußt wahrscheinlich, wie erhabene heilige Erinnerungen, aber doch wirksam und Ehrfurcht heischend. Die ägyptische Isis mit dem Horusknaben auf dem Schoß ist das unmittelbare Vorbild der Madonna mit dem Kind, sie repräsentiert die Erde, die ohne Befruchtung gebiert (auch Isis hat ihr Kind vaterlos geboren). »Dieser religiöse Brauch (die Anbetung der Isis) übte auf das werdende Christentum einen mächtigen Einfluß aus. Die Behauptung ist nicht zu gewagt, daß wir ohne die Ägypter in unserer Religion keine Madonna gekannt hätten.« (Flinders Petri.)

Das vordringende Christentum hatte die nationalen Himmel entvölkert; ein Gefühl der Leere mußte, besonders in den ungebildeten Schichten des Volkes, vorhanden sein, und es gehört nicht viel psychologische Divination dazu, um einzusehen, daß der Mangel weiblicher Gottheiten als besonders beängstigend empfunden wurde. Das Volk wollte wieder eine Göttin haben – und in Ephesus, dem klassischen Sitz der kleinasiatischen fruchtbaren Erdenmutter, der hundertbrüstigen Diana, ist ihm die geraubte Göttin wiedergegeben worden. Unter den Theologen gab es drei Richtungen; die einen wollten Maria nur die »Menschengebärerin« sein lassen, die andern erkannten sie als »Gottesgebärerin« an, Nestorius trat für den vermittelnden Namen »Christusgebärerin« ein. Auf der Synode zu Alexandrien im Lande der Isisverehrung (430), und auf dem Konzil zu Ephesus (431), wurde Nestorius verdammt und seines Bischofsamtes entsetzt. Maria war fortan δεοτόκος, Gottesgebärerin, und ihre Anbetung war von der Kirche sanktioniert. Als die Verdammung des Nestorius verkündet wurde, jubelte das Volk: »Der Feind der heiligen Jungfrau ist besiegt; Ehre sei der großen, erhabenen Mutter Gottes!« – Die höchste Autorität hatte die große Göttermutter wieder eingesetzt, zu der man so lange nur heimlich hatte beten dürfen. Das alte Heidentum hatte über das spirituelle Bewußtsein der höheren Geister gesiegt. Nach antiker Sitte wurden der Maria Opfer dargebracht; die zweite Periode in der Geschichte der Maria begann.

Im Orient war die Verehrung der Göttinnen älter und echter als im geistigen Abendland, und so ist auch der Marienkult des Orients älter. Die folgenden Jahrhunderte haben nichts Prinzipielles geändert. Langsam drang die Verehrung Marias nach Italien und von da aus in die neu christianisierten Länder. Die Gestalt, die anfangs ihre bestimmte historische Stellung in der evangelischen Geschichte gehabt hatte, war daraus gelöst und ein selbständiger Gegenstand der Anbetung geworden. Feste wurden zu Ehren Marias eingesetzt, Kirchen wurden ihr geweiht, der Wille des Volkes hatte sich in der Liturgie durchgesetzt und die bildende Kunst bemächtigte sich des dankbaren Gegenstandes. Immer entschiedener machte sich die Tendenz geltend, Maria Christus gleichzustellen. Ihre ursprüngliche passive Teilnahme am Erlösungswerk als Gebärerin des Heilandes wandelt sich endlich in selbständige Erlösungskraft, Johannes von Damaskus (8. Jahrhundert) nannte Maria zuerst ơώ𝝉ε𝒍α 𝝉oṽ 𝘬ó𝞭μoν und bald hieß sie auch im Abendlande »Erlöserin der Welt«. Nun tritt die Verehrung Marias in ihre dritte Periode, die uns zu beschäftigen hat: sie wird Gegenstand der metaphysischen Frauenliebe.

Werfen wir aber vorher noch einen Blick auf die alten germanischen Stämme. Auch sie haben Göttinnen und heilige Frauen verehrt, das Moment der Jungfräulichkeit – das bei den Orientalen fehlt – hat hier immer in hohem Ansehen gestanden: nach Tacitus und anderen galt ja den Germanen die Jungfrau als geheimnisvolles und der Gottheit näheres Wesen. So sind hier vielleicht noch mehr als bei den Mittelmeervölkern die Voraussetzungen des Marienkultes gegeben. Die Eigenschaften der Holda und der Freya sowie ihre vollkommene Schönheit gingen auf Maria über, die Namen der alten hilfreichen Göttinnen werden durch den Marias ersetzt. In den ältesten deutschen Evangeliendichtungen gilt Maria noch nicht als Göttin, sondern als die vollkommenste aller irdischen Frauen. »Der Frauen Schönste, aller Weiber Schmuckste« heißt sie im Heliand (um 830) und »aller Weiber Gott die Angenehmste, Edelstein du weißer, Magd du leuchtende!« in der Evangelienharmonie des Mönches Otfried von Weißenburg (um 860). –

Maria wird jetzt neben Gott gestellt und allgemein »Göttin« genannt. Anselm von Canterbury erklärt: »Gott ist der Vater der geschaffenen Dinge, Maria die Mutter der wiedergeschaffenen  ... Gott erzeugte den, durch welchen alles geschaffen ist, Maria gebar den, durch welchen alles erlöst ist.« Auf dem Fresko des Camposanto zu Pisa, das dem Orcagna zugeschrieben wird, sitzt sie in der Glorie neben Christus, nicht unter ihm. – Um diese Zeit entstanden auch die vielen Legenden, in denen Maria ihre treuen Verehrer – oft gegen Anstand und Gerechtigkeit – aus jeder Gefahr befreit, darunter das berühmte Gedicht von Theophilus, dem Vorgänger des Faust. In einer deutschen Fassung (des Brùn von Schoenebeck aus dem 13. Jahrhundert) schwört Theophilus Gott und allem Göttlichen ab mit Ausnahme der Maria, und darum rettet sie ihn vor der Hölle (wie überhaupt der Sieg über die Hölle immer mehr ihren eigentlichen Ruhm ausmacht). Hier steht also Maria sogar über Gott.

Und nun tritt die Marienverehrung in ihr drittes Stadium: die neue seelische, metaphysisch gewordene Liebe des Mannes strahlt auf sie aus, man naht ihr mit lebendiger Frauenliebe. Die beiden Ströme, deren einer aus der Seele des übersinnlich Liebenden, der andere aus der Überlieferung der Kirche stammt, treffen zusammen: der echte seelisch empfundene Marienkult ist eine freie Schöpfung der großen metaphysischen Erotiker, die nicht nur vom 12. bis zum 14. Jahrhundert gelebt haben, sondern auch später nicht allzu selten gewesen sind; das unabweisliche Bedürfnis des Mannes, die Frau liebend über sich zu erheben und anzubeten, hat die wahre Gestalt der Madonna geschaffen, um derentwillen Romantiker aller Zeiten in den Schoß der Kirche »heimgekehrt« sind – die aber im Grunde der Kirche fremd ist, weil sie immer neu und lebendig aus der Seele der metaphysisch Liebenden geboren wird. Die Kirche hat es jedoch verstanden, diese anbetende Liebe in ihre Bahnen zu lenken: der metaphysisch Liebende erhob seine Herrin über alles Menschliche und betete vor ihrem Bild; und die Religion sprach: Die himmlische Frau, zu der du liebend beten darfst, ist hier, bei mir. Du mußt sie nur so nennen, wie ich es tue, und du bereitest dir das Himmelreich!

Andererseits aber deckt der Name Marias bis heute und zweifellos noch weit in die Zukunft eine dogmatisch anerkannte Göttin – die von protestantischen Geistern als heidnischer Überrest erkannt und gehaßt wird –; zu ihren Statuen betet das Volk in Italien und in Spanien heute wie zur Zeit der römischen Könige. Diese Göttin ist unveränderlich und ohne Interesse für den Psychologen. Es ist begreiflich, daß beide Gestalten (besonders in der Seele der Mönche um die Zeitenwende) oft nicht geschieden sind; lag doch ein Interesse dabei, sie in eins verschwimmen zu lassen, und noch ein Romantiker des 19. Jahrhunderts, Zacharias Werner, sagt ein wenig tendenziös:

Meine königliche Herzensdame
Und du, des Himmels Königin und Frau
(Ich weiß euch beide immer nicht zu trennen).

Wir aber wollen beide, soweit es geht, auseinander halten, und so knüpfe ich wieder an die Äußerungen der Dichter an, die ich vorhin zitiert habe, und fahre in der Darstellung des Vergöttlichungsprozesses fort. Die metaphysischen Erotiker haben sich fast immer begnügt, ihr Gefühl ausströmen zu lassen und die geliebte Frau über die Erde hinaus zu heben. Das außerordentliche Bedürfnis, ihr eine Stellung im ewigen Gefüge der Welt zu verleihen, sie zu einem Angelpunkt des Kosmos zu machen, ist eigentlich nur in dem einen Dante lebendig, der hier aus katholischem Einheitsstreben und alles hinter sich lassender großartiger Frauenanbetung etwas Neues geschaffen hat.

Von den späteren Provenzalen ist Guiraut Riquier besonders charakteristisch. Bei mehreren seiner Gedichte läßt sich nicht recht ausmachen, ob sie an eine irdische Frau oder an die Himmelskönigin gerichtet sind; diese Gedichte bilden gewissermaßen den Übergang. Da sie datiert sind, kann man verfolgen, wie die Liebe immer spiritueller und religiöser wird, der Dichter geht langsam von seiner Dame zu Maria über. In dem einen Gedicht bittet er seine Dame (?), »die von allen wahrhaft Liebenden angebetet wird«, sie möge machen, daß er auf rechte Weise liebt, und bereut seine frühere allzu irdische Liebe.

Eine Strophe als Beispiel:

's gibt ohne Liebe keinen wahren Frieden,
Denn Liebe schenkt uns Weisheit, edlen Sinn
Und Treue und der Demut Anbeginn –
Wie selten gibt es wahres Glück hienieden!
Dir, Jungfrau, höchster Minne Mutter, sei
Dies Lied geweiht – und duldest du's, so bist
Du jetzt mein »Schönes Glück« – o fleh zum Christ
Für mich aus Liebe, mach' mich sündenfrei!

Hier gibt er also Maria den Namen »Schönes Glück« (Bel Deport), mit dem er früher eine Gräfin bezeichnet hat (diese Verstecknamen waren allgemein üblich).

Lanfranc Cigala widmet der Gottesmutter ein richtiges Liebesgedicht. Eine Strophe:

Ich liebe eine hohe Frau
Von heiterem Sinn und schön geschmückt,
Und was sie tut, ist hehr. Ich schau
An ihr so edle höfische Art,
Ihr Lächeln hat mich süß beglückt
Und ihre Liebe ist so zart.
Küßt sie mich gar, bin ich entzückt –
Mir wird die höchste Seligkeit geschenkt,
Wenn sie mit ihrer Gnade mich bedenkt!

In anderen Gedichten wendet sich dagegen Cigala ganz entschieden von der geliebten Madonna zur kirchlich gedachten hin und scheint sich so eine Art Buße für früheres übles Verhalten aufzuerlegen:

Und war ich töricht einst und sang
Von schlechter Liebe manchen Vers,
So wend' ich jetzt mein ganzes Herz:
Und Eure hohe Liebe will
Ich einzig singen, andrer Sang
Und andre Liebe gab mir nur
Kummer, doch Glückes keine Spur.
Von Eurer Liebe einzig kommt
Das Heil, das meiner Seele frommt!

Und derselbe Dichter gibt der Geliebten die Beiwörter, die für Maria (oder für Christus) gebraucht werden: Alles Guten Wurzel und Gipfel, Blüte, Frucht und Samen.

Etwas älter ist ein erotisches Marienlied von Peire Guillem von Luserna; ein paar Zeilen daraus:

Euch darf man preisen ohne jede Reue,
Denn wer Euch preist, der fehlt und lügt nicht mehr.
Der Schönheit Blume seid Ihr, wahre Treue,
Blüte der Huld und aller Seligkeit,
Die unsrer Welt das höchste Glück verleiht.

Ein Liebeslied, das an eine irdische Dame gerichtet scheint und erst am Schluß erkennen läßt, daß eigentlich die Himmelskönigin gemeint ist, findet sich bei Bernart von Auriac:

Von der edelsten der Frauen
Mach' ich ein zartes Gedicht,
Andere sing' ich nicht,
Nur die Jungfrau voll Süße.
Wie könnt' ich andern meine Lieder weihn
Als ihr, des Himmels allerliebster Frau?
Ich fleh' zu ihr, daß sie mir niederschau,
Der Gott wollt' alles höchste Gut verleihn.

Alles, was früher aus der Frauenliebe gequollen ist, Ehre, Freude, Lohn, kommt nun aus der Liebe der Himmelsfrau. Auch diese Sänger werden wie die Jünger Platons durch die seelische Liebe zu allem Guten geführt; aber der Frauenliebe allein ist jetzt diese Kraft gegeben. – Unterschiedlos nennen sich diese Dichter »Freunde« und »Liebhaber« ( amans) der Jungfrau, die ihnen die »wahre Freundin« (d. h. die Geliebte) ist.

Guilhem von Autpol hat ein schönes Liebesgedicht an die Himmelskönigin:

Du Hoffnung aller, die nach Hoffnung bangen,
O Strom der Anmut, Quelle jeder Huld,
Beschwichtigung du von unserer Ungeduld,
Du Trost der Besten, die nach Trost verlangen!
Du Gotteswohnung, Garten alles Guten,
Ruh' ohne Ende und der Waisen Hort,
Glück ohne Trauer, Blume, die nicht dorrt.
Dem Tode fremd und Zuflucht in den Fluten
Des Lebens jedem, der zu dir kommt – Frau
Des höchsten Himmels, selig ohne Not,
Des Paradieses Licht und Morgenrot!

Am weitesten in der Vermengung seiner irdischen mit seiner himmlischen Herrin geht Folquet de Lunel. Einige seiner Gedichte lassen sich nicht mit Sicherheit zuordnen.

Dieser doch so echte Gefühlsüberschwang kommt uns seltsam vor, wir können ihn nicht mehr recht nachfühlen. Ein moderner Philologe, Karl Appel, hat die innigen Liebeslieder, die Jaufre Rudel an die ferne Geliebte richtet (vgl. S. 126):

»O Lieb' im fernen Lande,
Wie tut das Herz mir weh um dich!« –

als Madonnenlieder gedeutet; es ist aber für das Gefühl des Liebenden ganz gleichgültig, ob sich der metaphysisch gewordene Drang seines Herzens eine unbekannte Gräfin von Tripolis oder eine noch unbekanntere Frau im Himmel erwählt hat. Nicht auf die Geliebte kommt es an – was wissen wir denn von all den besungenen Damen und was interessieren sie uns im Grunde? Sie sind in Staub zerfallen und ihre Vollkommenheit ist sicherlich nicht größer gewesen als die, von der wir heute umgeben sind. Aber die Liebe der Dichter lebt und ist uns aufbewahrt als ein ewiges Dokument des menschlichen Herzens, als eines der großen Stadien, welche das Verhältnis zwischen Mann und Frau durchmessen hat.–

Ich will noch ein deutsches Minnelied von Steinmar anführen, das später auf Maria umgedeutet worden ist:

Sommerzeit, wie froh ich bin
Daß ich nun darf schauen
Eine hübsche Häuslerin,
Krone aller Frauen.

Die Übertragung:

Himmelreich, ich freu' mich dein,
Daß ich dort darf schauen
Gott und liebe Mutter sein,
Unsre schöne Frauen. –

Tiefer und prinzipieller als die Provenzalen haben die Dichter des neuen Stiles die Geliebte (die ihnen immer Madonna heißt) zur Göttin gemacht und sich tief vor ihr gedemütigt. Hier sind alle gesellschaftlichen Verhältnisse, die in der Provence und den nördlichen Ländern eine so große Rolle spielen, verschwunden. Nicht mehr die Fürstin, die Gemahlin des Herrn und Brotgebers, wird von dem armen Sänger gepriesen und geliebt; all dies kommt gar nicht mehr in Frage: der Dichter ist freier Bürger einer Stadt, nur dem Gefühl seines Herzens untertan, sein Lied trägt den Lohn in sich selbst. Nicht verheiratete Frauen werden geliebt und besungen, wie in der Provence ganz ausnahmslos, sondern Mädchen bürgerlicher Abstammung, in denen sich für den Dichter Reinheit und Vollkommenheit entschiedener aussprechen. Wir wissen, daß Lapo Gianni, Dino Frescobaldi, Guinicelli und Dante selbst ihre Anbetung einer Jungfrau geweiht haben, die sie niemals auch nur mit einem sinnlichen Gedanken berühren; und Frescobaldi entscheidet die Frage, ob eher eine Frau oder ein Mädchen geliebt werden solle, zugunsten des Mädchens.

Rein und erhaben ist das Gefühl dieser Liebenden und sie wissen es vollendet auszusprechen.

O Engelsbild, du wolltest niederschweben
Vom Himmel, daß dein Heil uns Menschen werde.
Der hohe Gott der Liebe
Hat einzig dir all seine Kraft gegeben.

(Lapo Gianni.)

In einer Kanzone, die dem Cavalcanti und dem Cino da Pistoja zugeschrieben wird, heißt es von der verstorbenen Geliebten: Gott wollte den Himmel durch sie vollenden, und alle Heiligen verehren sie. Auf Erden ist sie schon ein Wunder gewesen, nun aber –

Blick auf zu deiner Herrin Seligkeiten!
Heilig wird dein Gedenken – unter Sternen
Ward sie gekrönt; zu Paradiesesfernen
Muß jetzt die Hoffnung ihre Arme breiten.
Im Kreis der Seligen denkt sie jetzo deiner
Und spricht: Da ich noch eine Erdenmaid,
Ward Huldigung von diesem mir geweiht,
Er pries mich in Gesängen wie sonst keiner.

Diesen Gedanken hat Dante wiederholt; und am Schlusse seiner schönsten Kanzone »Al cor gentil« sagt Guinicelli, nächst Dante zweifellos der größte Dichter des Mittelalters und von Dante selbst »mein Vater und der Vater der besten Liebesdichter« genannt: »Gott wird mich nach meinem Tode fragen: wie konntest du anderes lieben als mich? – Darauf will ich antworten: sie stammte aus deinem Reich und hatte das Aussehen eines Engels. Daher bin ich dir nicht untreu geworden, wenn ich sie liebte!« – Hier ist das Gefühl metaphysischer Erotik vollendet: die Geliebte ist Gott, wer sie liebt, liebt in ihr Gott.

Cavalcanti hatte in einem Gedicht behauptet, daß eine Marienstatue eigentlich seine Geliebte vorstelle:

Ein Bildnis meiner Herrin betet man,
Guido, zu San Michel in Orto an.
Von schönem Anblick, sittsam, fromm und hehr,
Zuflucht den Sündern, alles Trosts Gewähr.
Wer sich vor ihm in Demut beugen kann,
Sehnsüchtig aufblickt, dem wird Trost fortan.
Sie heilt die Kranken, treibt Dämonen aus,
Wer blind war, geht mit hellem Blick nach Haus. usw.

Und darauf antwortet ihm Guido Orlandi vom kirchlichen Standpunkt wie einem Verlorenen: Hättest du so von Maria gesprochen, dann hättest du die Wahrheit gesagt. Nun aber muß ich deine Irrtümer beweinen.

In den Sonetten des Petrarca kann man sehen, wie die metaphysische Liebe schablonenhaft erstarrt ist. Hier wird die Anbetung zur Phrase (etwa wie Amor bei den früheren Dichtern). Seine Laura liebt er offenbar nur darum so sehr, weil das Wortspiel mit lauro, dem Lorbeer, dem Ruhm, es ihm angetan hat. Ich kann in dem vielgerühmten Kanzoniere keine wahre Leidenschaft finden, nur Gelehrsamkeit und Formkunst. Unter den wenigen echt empfundenen gibt es ein schönes Mariengedicht: Vergine bella che di sol vestita! das auch nicht ohne erotische Wärme ist. Aber der dichtende Humanist drückt sich diplomatisch aus:

O du, des Himmels Herrin, unsere Göttin
– Wenn sich's geziemt, ein solches Wort zu sagen! –

Wir haben nun den einen Strom verfolgt, der von der geliebten Frau ausgeht, sie in überirdische Regionen hebt und zu einem vollkommenen Wesen macht; die Geliebte wird alles Irdischen entkleidet, die Sehnsucht, die auf Erden nicht befriedigt werden kann, steigt zum Himmel auf. Wir wollen nun den anderen entgegengesetzten Strom betrachten, der in der Madonna der Kirche, der für alle gleichen Himmelsfrau – wohlgemerkt, in ihrem letzten Stadium, da sie schon neben Gott thront – seinen Ursprung nimmt und sie mit den Augen des Liebenden ansieht, dem jede andere Liebe verwehrt ist. Mancher Mönch wurde so zu einer rein seelisch-metaphysischen Liebe gedrängt, der vielleicht gar nicht dazu berufen gewesen ist – er brachte der übermächtigen Strömung der Zeit sein Opfer dar. Denn die Himmelsfrau durfte er ohne Bedenken lieben. Sie war die Schönste und bei ihm stand es, sich das »schönste« so auszumalen, wie es ihm gemäß war. Schließlich ist ja auch dieses Gefühl der Phantasie des Liebenden entsprungen.

Ihren Höhepunkt hat die gefühlsmäßige Verehrung der kirchlichen Maria in Bernhard, dem Doktor Marianus, erreicht, von dem schon früher gesprochen worden ist. Er hat Reden und Homilien zum Lobe Marias verfaßt, die sich zum Teil in ekstatischen Tönen bewegen, und er hat auch ihre dogmatische Anbetung dadurch vollenden geholfen, daß er Maria als Erlöserin neben Christus stellte. »Schicklicher war es, daß zu unserer Erneuerung beide Geschlechter beitrügen, da keines von beiden ermangelt hatte, zu unserer Verderbnis zu wirken« ... »Der Mensch, der durch das Weib gefallen ist, nur durch das Weib wird er vom Fall erhoben. Vor dir kniet die Menschheit, da von einem Wort deines Mundes der Trost der Elenden, die Erlösung der Gefangenen, die Befreiung der Verurteilten, das Heil der unzähligen Söhne Adams, deines ganzen Geschlechtes, abhängt. O so eile denn, o Jungfrau, zu antworten! Sprich, Jungfrau, das Wort, das die Erde, das die Unterhölle, ja das die Himmel erwarten, ja er selbst, der König und Herrscher aller, so sehr er deiner Zierde begehrt, harrt er auf dein Jawort, in welchem er die Welt zu retten beschloß.« – Und mit immer entschiedenerer erotischer Betonung von kirchlicher Erlösungsidee zu liebender Inbrunst übergehend: »ein Garten heiliger Wonne ist dein heiligster Leib uns, o Maria! denn Blumen der vielfältigsten Freude pflücken wir darin, so oft wir uns zu Gemüte führen, welch eine große Fülle von Süßigkeit der ganzen Welt zum Heile daraus entsproß ... Lieblich treibst du, Vortreffliche! ein Beet himmlischer Spezereien, besät von dem himmlischen Farbenspender, die köstlichsten Blüten aller Tugenden, unter welchen wir drei der reizendsten Blumen bewundern, mit denen du das ganze Haus des Herrn mit lieblichstem Wohlgeruch füllst, o Maria! du Veilchen der Demut, du Lilie der Keuschheit, du Rose der Liebe!« usf. usf. – So beginnt mit Bernhard die Vermengung von Erotik mit halb sinnlosen, unvorstellbaren Allegorien und Phantasien, um jahrhundertelang fortzudauern. Wieder erkennen wir hier das Ideal der metaphysischen Erotik, das sich bei einem treuen Kirchenmanne wie Bernhard nur auf die offizielle Himmelskönigin beziehen durfte und teils wirklich gefühlte Liebe, teils allegorisch konstruierte Beziehungen zur Kirchenlehre aufwies.

Die Töne, die Bernhard zuerst angeschlagen hat, wurden bewundert und verstanden; seine Autorität hatte alle Bedenken fortgeschafft, die vielleicht dieser handgreiflichen Ausmalung der Reize Marias hätten im Wege stehen können. Er ist allen späteren Mariendienern Vorbild gewesen, Seuse z. B. zitiert ihn oft und Bruder Hans nennt ihn »ihres hohen Lobes Harfner und Fiedler«.

Die seelische Marienliebe zog besonders in Deutschland weite Kreise. Unter den liebenden Mönchen ist Seuse der innigste, er hebt den Unterschied zwischen niedriger und hoher Liebe hervor: »Wenn niedere Minne mit Liebe anfängt und ein Ende mit Leiden nimmt, da fängt die süße Minne mit Leid an, wird aber Liebe, bis daß Lieb' mit Liebe in Ewigkeit vereinigt wird.« Das ältere Motiv der Marienanbetung, daß nämlich der Mensch ein vermittelndes mildes Wesen zwischen sich und der unerreichbaren Gottheit brauche, ist in seiner Seele lebendig: »O du Gottes auserwähltes Herzenstraut, du schön goldener Ton der ewigen Weisheit, erlaube mir armem Sünder, daß er ein klein wenig von seinen Leiden vertraulich und zart mit dir spreche. Meine Seele fällt vor dir nieder mit zaghaften Augen und verschämtem Angesicht. Ach, du Mutter aller Gnaden, mir ist ja, als bedürfte nicht meine Seele und nicht eine andere sündhafte Seele Erlaubnis von dir, noch eines Mittlers zu dir; denn du bist selbst die Mittlerin aller Sünder.« Deutlich merkt man hier die Intimität heraus im Vergleich mit dem älteren Bernhard. – Seuse schildert den Himmel nach Art einer irdischen Blumenau und läßt Maria Hof halten wie eine Fürstin der Erde. »Nun geh' weiter und sieh, wie die süße Königin des himmlischen Landes, die du so herzlich minnest, würdig und in Freuden allem himmlischen Heer voranschwebt, zart und zu dem Geliebten herniedergeneigt mit Rosen und Lilien! Sieh, wie ihre wonnige Schönheit Wonne und Freude und Wunder gibt dem himmlischen Heer! Eya, schau auf zu ihr, die Herz und Mut erfreut, und sieh, wie die Mutter der Barmherzigkeit die Augen, die milden barmherzigen Augen, so gnadenvoll zu dir und zu allen Sündern gekehrt hat, wie sie ihr geliebtes Kind gewaltig schützt.« – Und das ganze 16. Kapitel des »Büchleins der ewigen Weisheit« ist ein aus dem tiefsten Herzen quellender Hymnus an die Madonna, fast vergleichbar dem seligen Gebet, das Bernhard bei Dante an Maria richtet. Es ist etwa um die Zeit von Dantes Tod, also nicht viel nach den letzten Paradiesesgesängen entstanden.

Das »Leben Seuses« (die erste deutsche Lebensbeschreibung) bietet Zeugnisse für die anbetende Liebe zur himmlischen Frau: in seiner Heimat bestand die Sitte, daß die Burschen in der Neujahrsnacht zu ihrer Liebsten gingen und Lieder sangen, bis ihnen ein Kränzlein gegeben ward. »Das gefiel seinem jungen minnereichen Herzen so wohl, als er davon hörte, daß er in derselben Nacht auch zu seinem ewigen Lieb hinging und um eine Liebesgabe bat. Vor Tag ging er zu dem Bild, wo die reine Mutter ihr zartes Kind, die schöne ewige Weisheit, auf ihrem Schoß ans Herz gedrückt hielt, und kniete nieder und hob an, mit leisem süßem Getön seiner Seele eine Sequenz zu singen, daß ihm die Mutter erlaubte, ein Kränzlein von ihrem Kinde zu gewinnen ...«

»Mit leisem süßem Getön seiner Seele« tritt dieser Liebende vor das Bild der Himmelskönigin. Jeder wird die Frauenliebe durchfühlen, sie hat vom kirchlich Gebotenen nur einen besonderen Nebenton empfangen. – Noch andere weltliche Feste sind von Seuse auf seine himmlische Frau übertragen worden, so ein »Maibaumsetzen«, und wiederholt wendet er Bilder und Gebräuche aus dem ritterlichen Frauendienst auf die reine Marienminne an. Er hat sich selbst nach Art der Liebenden mit einem Rosenkränzlein um die Stirn abgebildet. In seinem »Leben« findet sich diese Stelle, die den besten Minnesängern nicht nachsteht: »Wenn der schöne Sommer kam und die zarten Blümlein aufsprossen, da brach er keines, eh' er nicht seinem geistlichen Lieb, der zarten, blumigen, rosigen Magd Gottesmutter gedacht hatte mit seinen ersten Blumen. Als es ihm Zeit schien, brach er die Blumen mit vielen minniglichen Gedanken und trug sie in die Zelle und machte ein Kränzlein daraus und ging in den Chor oder in unserer Frauen Kapelle und kniete vor der lieben Frau demütig und setzte ihrem Bild das minnigliche Kränzlein auf, da er meinte, sie würde die ersten Blumen von ihrem Diener nicht verschmähen, ist sie doch selbst die allerschönste Blume und seines Herzens Sommerwonne.« – Man kann hier auch an die schöne mittelalterliche Legende von dem jungen Klosterbruder denken, der jeden Tag ein Rosenkränzlein für seine himmlische Herrin flocht und zum Danke von ihr errettet wurde.

Wir erkennen eine Analogie zur Religiosität der wahren Mystiker. Noch immer glaubt der metaphysisch Liebende zu der Maria der katholischen Kirche zu beten; aber wie sich dem Mystiker der dogmatische Christus längst zum göttlichen Funken in der eigenen Seele gewandelt hat, so ist die Liebe zu Maria unkirchlich geworden, sie ist reine Frauenanbetung, das Ideal der großen Liebenden dieser Zeit. –

Nächst Seuse ist unter den deutschen Madonnenverehrern Konrad von Würzburg (gest. 1287) zu nennen, der seine Laufbahn als Minnesänger begann, später Mönch wurde und eine umfangreiche und stellenweise sehr poetische Dichtung zum Lobe der Himmelskönigin verfaßt hat. Die »goldene Schmiede« ist ein interessantes Beispiel für die Vermischung von echter metaphysischer Erotik und traditionellen Kirchenlehren. Konrad bringt alle jemals ausgeheckten biblischen Allegorien, die sich wohl oder übel auf Maria anwenden lassen, die Erzählungen der Evangelien, die Lehre von der unbefleckten Empfängnis usf. mit seinen eigenen Gefühlen in eine unauflösliche, oft erstaunlich geschmacklose Verbindung und schafft so eine Gefühlswelt, die, wenn auch in den meisten Teilen überkommen, so in ihrer sonderbaren Einheit etwas Neues darstellt. Ein kurzes Beispiel für die anbetende Liebe:

Dein herrliches Bild
Ist von Schönheit ganz umflossen
Und hat doch niemals ergossen
Glut in eines Mannes Brust,
So daß unkeusche Lust
Aus deiner Klarheit quelle.

Auch Konrad schildert das himmlische Paradies nach Art eines lieblichen Gartens, in dem Maria als Fürstin auf und nieder wandelt, und sagt von den himmlischen Mägdlein (vielleicht eine Erinnerung an die altgermanischen Wunschmägde?):

Deine Hand will mit Blumen
Schmücken ihre Kränze,
Du zeigst ihnen die Tänze
Dort in dem Paradeis,
Und brichst von Zweig und Reis
Die lichten Himmelsrosen.

Jacopone schildert Marias Aufstieg zum Himmel, wo sie von den froh singenden Engeln empfangen wird. »Statt ›sanctus sanctus‹ tönt jetzt ›sancta sancta‹!« – eine Göttin ist eingesetzt an Stelle Gottes.

Gottfried von Straßburg, der Dichter des sinneglühenden Epos von Tristan und Isolde, sagt in einem längeren Gedicht, das dem Lob Marias geweiht ist, in den uns bekannten Tönen des liebenden Anbeters:

Du aller Süße süßer Schein,
Du süßer stets als jeder Wein,
Die Süße dein
Sei mir zum Heil entsprungen!

Du bist der süße Minnetrank,
Den süß die Gottheit durchdrang,
Sirenensang
Ist nie so süß erklungen.

Du gehst durch Ohr und Augen hin
Zu Herzen und zu Sinne,
Da schenkst du wonnereichen Sinn
Und gibst Gewinn
Von echter Herzensminne.

Der Dichter von Isoldes Liebestrank nennt die Himmelskönigin also den »süßen Minnetrank«, was mit der Kirchenlehre wohl wenig zu tun hat. Auch auf den so oft wiederkehrenden süßen Duft sei hingewiesen, den wir heute nicht mehr als durchaus himmlisch gelten lassen würden.

Eigentümlich zart und gemütvoll sind die Marienminnelieder des schon erwähnten Bruder Hans, eines sonst unbekannten Mönches aus dem 14. Jahrhundert. Er erzählt selbst, daß er seine irdische Geliebte um der Himmelskönigin willen verlassen hat. Vielleicht kann die Entzweiung zwischen irdischer und überirdischer Liebe nicht mehr schärfer zum Ausdruck kommen als durch dieses Geständnis; hier hat nicht die anbetende Liebe endlich auf die universale Frau, auf Maria, geführt, sondern eine irdische Liebe ist vernichtet worden, damit die himmlische reine lebe:

Meine süße Meisterin,
Ich falle dir zu Füßen
Mit Herz und allem Sinn!

Ein richtiges deutsches Liebeslied ist dieses:

So wie im Mai die Blümlein aus dem Tau
Aus neuer Erde fröhlich sprießen,
Laß jetzt aus meinem einfältigen Herzen
Wohl hundert Lieder, dir zum Lobe, fließen!

Sein Verhältnis zu Maria ist liebevoll, zutraulich und intim:

Mir ist tief verborgen
Im Herzen eine Klause.
Am Abend und am Morgen
Bist du darin die Wirtin von dem Hause.
Da fühl' ich tief dein minnigliches Walten.
Wenn du mir's nicht gewährst,
So dünkt mich, ist die Wirtin nicht zu Hause.

Ein anderes Mal bittet er Maria, daß sie ihm erlaube, ein Stückchen von ihrem Rock abzureißen, damit er sich im Winter daran wärmen könne.

Wie Cino (in dem auf S. 139 angeführten Gedicht) seine sterbende Seele nicht Gott, sondern der Geliebten empfiehlt, so Bruder Hans einige Male:

Meine Seele geb' ich in deine Hände,
Wenn sie ins fremde Land muß gehen,
Wo Weg und Steig ihr unbekannt.

Und das tief empfundene Gedicht schließt:

Hilf denn, du zarte, traute Frau,
Deinem leibeigenen Lehensknecht,
Dann tust du recht.

Und:

Komm doch zu mir, du Gottesbraut,
Wenn meine Seele von mir geht!

Endlich ist noch ein Motiv zu erwähnen, durch welches das Bild der göttlichen Frau gewissermaßen vollendet wird: Wie die Männer irdische Frauen lieben und begehren, so liebt Gott die Frau des Himmels. Schon Bernhard hat diesen naiven Gedanken ausgesprochen, der Gottvater ein wenig wie den alten Zeus ansieht: »Er selbst, der König und Herrscher aller, so sehr er deine Zierde begehrt, so sehr harrt er auf dein Jawort, in welchem er die Welt zu retten beschloß. Und ihm, dem du in der Stille gefällst, wirst du mehr noch durch dein Wort gefallen, da er selbst dir vom Himmel rief: O Schöne unter den Weibern! Laß mich deine Stimme vernehmen! Läßt du deine Stimme ihn hören, so wird er unser Heil dir zeigen!« Bernhard, der Felsen der Orthodoxie, stellt also Gott als schmachtenden Liebhaber Marias dar! – Seuse ist auch in diesem Punkte rein, Konrad aber sagt, die Farben auf Marias Antlitz glänzten so lieblich und machten es so minniglich,

Daß selbst des Himmels Herr
Nach dir trägt Begehr
Und alle Engelprinzen.

Und Bruder Hans meint, Gott sei von dem süßen Rosengeruch Marias angezogen worden und demütig zu ihr vom Himmel herabgestiegen, »in ihren maidlichen Bauch«. –

So war denn um die Wende des 14. Jahrhunderts die große Veränderung im Himmel vollzogen: Neben Gott, ja an Stelle Gottes thronte eine Frau. Das Volk trieb primitiven Götzendienst, der Klerus führte unter Anleitung der wetteifernden Dominikaner und Franziskaner Marientage in den Kalender ein und erfand den Rosenkranz, um das Avebeten zu erleichtern; weltliche Ritterorden begaben sich unter den Schutz der Jungfrau (» La chevalerie de Sainte Marie«), die feinsten Geister aber hoben die Geliebte in den Himmel und verehrten sie als göttliches Wesen. Die alte Religion hatte mit dem großen Gefühl der Zeit, mit der metaphysisch gewordenen Liebe, eine Verbindung eingehen müssen, um weiter die abendländische Menschheit zu beherrschen.

Damals hat etwas seinen Ursprung genommen, was noch heute den europäischen Kulturkreis vom Orient unterscheidet: Die Achtung vor den Frauen. Sie geht auf die Frauenverehrung der höfischen Kreise, auf die Madonnenliebe der Mönche zurück. Zwar hatte schon Jesus die Göttlichkeit der Menschenseele gelehrt und die Frauen als Menschen anerkannt, auch hier das Bewußtsein Europas antezipierend; aber in diesem Punkte hatten sich die Instinkte des Orients und Griechenlands stärker gezeigt: die Frau wurde zwölfhundert Jahre lang mißachtet und mehr als einmal ist in Frage gestellt worden, ob auch sie eine Seele habe, das heißt ein Mensch sei. Die rohen und primitiv dualistischen Geister dieser Epoche haben ja in der Frau nichts als ihre eigene Sinnlichkeit gesehen, den Feind, den sie bekämpften und dem sie sich doch untertan wußten. Das wichtigste Argument, welches das erste Jahrtausend für die Frauen anzuführen wußte, war, daß der Heiland von einer Frau geboren worden war, daß also auch die Frau am Erlösungswerk teil hatte. Und durch die »andere Eva« war ein Teil der Evaschuld gesühnt worden. – Wirkliche Schätzung und Achtung aber konnte die Frau erst finden, nachdem man der niedrigen Sinnlichkeit die hohe Liebe entgegengestellt hatte, deren Trägerin wiederum die Frau war. Nun zog das Ewigweibliche – der Gegensatz des Irdischweiblichen – die Liebenden hinan; und von diesem neuen Gefühl ist auf das ganze Geschlecht ein Glanz gefallen, der nie mehr ganz erlosch; wenn heute die Frauen geachtet und in ihren Bestrebungen nach selbständiger Geltung gefördert werden, so ist das nicht, wie man manchmal hört, das Verdienst der Lehre Jesu; es ist das Verdienst der weltlichen Kultur, die zuerst an den Höfen der Provence geblüht hat, deren Ideale schließlich zu den maßgebenden in Europa geworden sind und deren innerster Kern unverändert und, von der Oberfläche gesehen, nicht mehr kenntlich noch heute fortwirkt.

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß wir hier in der Periode der Achtung vor den Frauen – wenn auch nicht vor allen Frauen! – stehen; ich lasse das höfische Wesen beiseite und führe als einzigen historischen Beweis eine Episode aus dem Leben des Dominikaners Seuse an: »Er ging einst über Feld, und auf dem schmalen Wege kam ihm eine arme ehrbare Frau entgegen. Da sie nahe kam, wich er vom trockenen Weg und trat in die Nässe und ließ sie vorgehen. Die Frau kannte ihn und sprach: ›Lieber Herr, wie meint Ihr das, daß Ihr, ein ehrwürdiger Herr und Priester, mir armen Frau so demütig ausweichet, da ich doch viel eher ausweichen sollte?‹ – Da sprach er: ›Ei, liebe Frau, es ist meine Gewohnheit, daß ich allen Frauen gern Ehre erweise um der zarten Mutter Gottes willen im Himmelreich.‹« –

Merkwürdigerweise gibt es auch einen deutschen Philosophen, der für ein so völlig unphilosophisches und eigentlich paradoxes Gefühl wie den Madonnenkult Sinn und Schätzung gehabt hat. Ich meine Ludwig Feuerbach, den Feind des Christentums. In seinem »Wesen des Christentums« und in seinem Aufsatz »Über den Marienkultus« kommt er mehrere Male darauf zurück. »Die heilige Jungfrau Maria, die Mutter Gottes, ist die einzige göttliche und positive, das heißt die einzige verehrungs- und liebenswürdige, die einzige poetische Gestalt des Christentumes; denn Maria ist die Göttin der Schönheit, die Göttin der Liebe, die Göttin der Menschlichkeit, die Göttin der Natur, die Göttin der Freiheit vom Dogma.« – Feuerbach hat recht: Die Himmelsfrau bedeutet die Befreiung vom Dogma, weil sie einem echten Gefühl entstammt, das sich nur notdürftig etwas aus dem Dogma herausgesucht hat. Und er sagt weiter (in dem großen Werk): »Die Mönche gelobten die Keuschheit dem göttlichen Wesen, sie unterdrückten die Geschlechterliebe an sich, aber dafür hatten sie im Himmel, in Gott, an der Jungfrau Maria das Bild des Weibes – ein Bild der Liebe. Sie konnten um so mehr des wirklichen Weibes entbehren, je mehr ihnen ein ideales, vorgestelltes Weib ein Gegenstand wirklicher Liebe war. Je größere Bedeutung sie auf die Vernichtung der Sinnlichkeit legten, je größere Bedeutung hatte für sie die himmlische Jungfrau: sie trat ihnen selbst an die Stelle Christi, an die Stelle Gottes.« – Hier ist der Gegensatz der sinnlichen und der übersinnlichen Liebe schön erkannt. –

Ich verlasse jetzt alles Historische, um das Gefühl, das in seiner Wirklichkeit und Wirksamkeit bewiesen worden ist, zeitlos zu betrachten. Denn es kommt mir doch immer auf das Seelische und speziell auf die metaphysischen Vollendungen des Liebesgefühles an; das viele Material, das ich herbeizubringen genötigt bin, ist nur bestimmt, die Existenz und Bedeutsamkeit alles dessen zu bezeugen, was in der Seele lebendig ist und was im späten Mittelalter so besonders mächtig nach Ausdruck gerungen hat. Meine Auffassung, Geschlechtlichkeit und Liebe seien entgegengesetzt, wird zweifellos abgelehnt werden, da man ja unter dem Einfluß der Entwicklungstheorie übereingekommen ist, alle Liebe nur als verfeinerten Geschlechtstrieb gelten zu lassen. Ich halte ( beim Manne) beide für dem Wesen nach verschieden und habe versucht, ihre Fremdheit historisch nachzuweisen. Daß sie in letzter Linie zusammentreffen können und sollen, ist ja auch meine Überzeugung und dies wird im dritten Teil begründet werden. – Vielleicht noch fremdartiger dürfte aber berühren, daß etwas, was so grundlegend für alle Menschlichkeit scheint wie die persönliche Liebe eines Mannes und einer Frau, nicht von Anfang an dagewesen sein soll – wo doch Darwin schon Beispiele von individualisiertem Geschlechtstrieb aus dem Tierreich zu berichten weiß –, sondern daß die Liebe erst im Lauf der Geschichte, und nicht allzu fern von unserer Zeit entstanden sei. Der entgegengesetzten, tief eingewurzelten Ansicht kann ich nur vorhalten, daß ich Tatsachen habe sprechen lassen und nicht Meinungen, und glaube im übrigen, daß es ein viel großartigerer Beweis für eine wahre innere Entwicklung der Menschheit ist – man muß ja bei diesem Worte nicht immer nur an die Ausbildung der Hirnwindungen und die Rückbildung des Schwanzes denken –, ihr Bestes werden zu sehen, zu erkennen, wie die Liebe an die sich bildende Persönlichkeit gebunden ist, als alles fertig aus den Händen der viel mißbrauchten und so geduldigen Natur geschenkt zu empfangen. Wir wissen ja auch, wie das religiöse Bewußtsein von der Göttlichkeit der Menschenseele in historischer Zeit aufgetreten und seitdem nicht mehr ganz verschwunden ist. –

Jede starke Liebe, die keine Erwiderung findet, birgt den Ansatz zu unendlicher Entfaltung, sie kann sich des ganzen Wesens bemächtigen und es tragisch färben. Aber diese Tragik ist nicht die eigentliche und höchste, denn das Gefühl bricht hier an einem Widerstande zusammen, der außerhalb seiner liegt, der es hemmt und niederhält, es schafft die Entzweiung nicht aus sich selber. Mancher, der an unglücklicher Liebe leidet, trägt allerdings im Innersten die Tendenz, unglücklich zu werden, den heimlichen Willen zur Wollust des Schmerzes und der Wehmut in sich, er will seine innere Zerrissenheit genießen, vielleicht an ihr produktiv werden. So kann diese selbstgewollte unglückliche Liebe – die meisten glauben an Äußerem zu scheitern – als eine Analogie zur wahren metaphysischen Erotik angesehen werden. Denn die Frauenanbetung ist ihrem ganzen Wesen nach unendliches Streben, ihr Gegenstand bleibt immer unerreichbar, eine Illusion. Jede irdische Liebe, auch wenn sie gar keine Erwiderung findet, ist doch prinzipiell erfüllbar, unglücklich wird sie erst durch äußere Widerstände. Die Madonnenliebe aber birgt die tragische Unmöglichkeit der Erfüllung in sich selbst, ihr liegt eigentlich die Erkenntnis oder die Ahnung zugrunde, daß die Frauen der Erde zu gering sind für diese ins Unendliche hingewandte Leidenschaft.

Und so hat der Liebende, der die Sehnsucht fühlt, eine Frau zu vergöttlichen und sie als himmlisches Wesen anzubeten, oftmals eine leise Enttäuschung erfahren. Entweder die Geliebte ist – wie Beatrice – jung gestorben, ohne daß er ihr nahe gekommen wäre; seine frühe Liebe blickt nun unwillkürlich nach oben – die Phantasie hat freien Spielraum, die Tote umzuwandeln und zu verherrlichen. Oder er ist im Zusammensein mit der Geliebten enttäuscht worden; er hat Allzumenschliches merken müssen, wo er ganz auf rein seelische Liebe gestimmt gewesen ist (man denke hier an das Verhältnis des Novalis zu Sophie von Kühn). So flüchtet er von der Wirklichkeit zum Traum und umgibt die Frau mit dem mystischen Schleier des Geheimnisses und der Göttlichkeit. Die rein seelische Liebe ist ein intensives Gefühl, und da die Menschen in der Wirklichkeit nicht immer intensiv empfinden können, stellen sich leicht Stunden der Herabstimmung und der Enttäuschung ein. Eine Illusion wird zu Hilfe gerufen, die immer mehr Selbstzweck wird: allmählich erschafft der Liebende eine unerreichbar hohe Frau im Himmel. Denn die rein seelische Liebe will ganz überirdisch sein, sie verträgt es nicht, in den Alltag gezogen zu werden. – Die Psychologen der Gegenwart glauben durchweg, daß ein Gefühl an Kraft verliert, wenn es sich vergeistigt – die Geschichte lehrt uns, daß bei großen Naturen das Gegenteil statt hat.

Das sind Andeutungen, welche das Entstehen einer überschwenglichen Liebe verständlich machen wollen; der echte metaphysische Erotiker braucht alles dies kaum, er ist von Anfang an auf das Unerreichbare eingestellt. In seinem Wesen müssen gewisse Gefühlselemente zugleich vorhanden sein: und zwar eine religiöse, aufs Metaphysische gerichtete Grundstimmung, das Bedürfnis, etwas Göttliches, Heiliges, anzuerkennen, auf dem alles Leben als auf seinem tiefsten Grunde ruht, das alles Leben als seinen höchsten Gipfel krönt. Dann ein mächtiges und rein seelisches Liebesbedürfnis, das vielleicht schon in der Jugend unbewußt verletzt worden ist. Endlich bildende Kraft der Phantasie, künstlerische Anlage. Auch der Mystiker muß das Bewußtsein des Göttlichen in der Seele tragen, auch ihm ist die große Liebe gegeben, aber sie ist nicht Frauenliebe, sondern etwas Allgemeines, Nichtindividuelles, die Welt, das All, Gott. Von ihm gilt die erste Zeile des Goethischen Verses:

Gar manches Herz verschwebt im allgemeinen,
Doch widmet sich das edelste dem Einen. (Eros.)

Die zweite Zeile aber trifft den, der das Jenseitige gestaltet hat. Denn während der Mystiker die unvorstellbare Gottheit selbst zu ergreifen und sich einzuverleiben sucht, baut der Madonnenverehrer wie der Künstler ein Bild vor sich auf, mit dem er nicht verschmelzen will, sondern das er sich gegenüberstellt, zu dem er sich eine möglichst große Distanz schafft. Der Mystiker ist sozusagen blind, er ist ganz Sehnsucht und will Gott in seine Seele zwingen. Der metaphysisch Liebende braucht ein gestaltetes Wesen, das ihm im allerhöchsten Falle die ganze Welt repräsentieren kann, und dieses Wesen soll eine Frau sein. Es ist ein bloßer historischer Zufall, daß diese Frau oft an eine von der kirchlichen Tradition gegebene angeknüpft worden ist, ein Zufall, verstärkt durch unzulängliche Schaffenskraft, oft auch durch zu geringen Mut und mangelndes Selbstvertrauen; der Liebende ist hier dankbar, eine Unterstützung zu finden und im Fertigen ausruhen zu können. Die größten metaphysisch Liebenden, Dante, Goethe und Michelangelo, haben ihre Frauengestalt frei erschaffen; der Protestant Goethe – dem manche Leute sogar Heidentum nachsagen, weil er durch die Periode der Sinnlichkeit naiv hindurchgegangen ist – hat sich dabei (in der Schlußszene des Faust) noch am meisten an die katholische Maria gehalten. Die Madonnenanbetung ist die Liebe der großen Einsamen; und wie Goethe beweist: auch der Großen in den Stunden ihrer letzten Einsamkeit. –

Solange es nur einen unindividualisierten Geschlechtstrieb gab, konnte die Keuschheit der Frau keinen Anwert finden; wir haben vielmehr gesehen, daß sie im alten Orient möglichst bald beseitigt, in Griechenland nicht geschätzt worden ist. Die Frau galt am höchsten, die ihren Beruf, Mutter zu sein, am besten erfüllt hatte; die unfruchtbare konnte bei Orientalen, Juden und Römern verstoßen werden. Die einzigen Frauen, die sich bei den Hellenen der Blütezeit um ihrer selbst willen einiger Achtung erfreuten, sind die Hetären gewesen. Erst mit der Wertung der Askese wird auch der Jungfräulichkeit Bedeutung beigemessen, mit der entstehenden persönlichen Liebe empfängt sie von der Erotik her einen neuen Wert. Die Frau soll ja jetzt nicht mehr der Geschlechtslust dienen, sondern zur reinen Liebe hinaufführen. Und in der Vereinigung des ersten Frauenideales, der Mutter (die als Heilandsmutter von der Religion anerkannt und geheiligt worden war), mit dem neuen, der Jungfrau, hat das späte Mittelalter sein eigentliches Ideal gefunden: die Jungfrau mit dem Kinde. Hier ist die natürliche Bestimmung des Weibes mit dem ihr vom Manne auferlegten phantastischen Beruf zu einem paradoxen Höheren vereinigt und es braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, wie die religionslosesten Geister der Renaissance und aller späteren Zeiten bis heute dieses Ideal anerkannt haben und nicht müde geworden sind, es neu zu bilden.

In der Verehrung der mütterlichen Jungfrau liegt aber noch etwas, was der Mann der Frau gegenüber empfindet und was hier gesteigert auftritt: Das Geheimnisvolle. Das Mädchen, das noch von keinem Anhauch der Sinnlichkeit getroffen worden ist, hat für den Mann etwas Fremdes und Rätselhaftes (dies ist wohl ein Ergebnis des europäischen Fühlens); und seit alters her wurde die Frau, die Mutter geworden ist, mit leiser, oft abergläubischer Scheu betrachtet. Die mädchenhafte Mutter aber vereinigt diese beiden unklar verehrenden Gefühle; sie ist dem Manne fremd und ehrfurchtgebietend, er beugt sich, wo er ein Geheimnis ahnt. –

Otto Weininger hat als erster eine Psychologie des Madonnenkultus gegeben, die volles Verständnis für diese Gefühlslage beweist. Er hat den Gegensatz von Sexualität und Erotik (wie er Geschlechtstrieb und Liebe nennt) eingesehen und begründet, aber er hat die beiden Prinzipien, seiner extremen Geistesart gemäß, in unversöhnlicher Entzweiung gelassen, während ich diese Antithese nur für ein historisches Stadium ansehen kann, dem die versöhnende Synthese folgen muß. Weininger befindet sich, wie ich glaube, mit der seelischen Wirklichkeit im Widerspruch, wenn er (nicht von psychologischen, sondern von ethischen Erwägungen geleitet) die Theorie aufstellt, daß der Mann alle die höchsten Werte in die Geliebte hineinversetzt, die er für sich selber wünscht. »Er projiziert sein Ideal eines absolut wertvollen Wesens, das er innerhalb seiner selbst zu isolieren nicht vermag, auf ein anderes menschliches Wesen, und das und nichts anderes bedeutet es, wenn er dieses Wesen liebt.« – »Alles, was man selbst sein möchte und nie ganz sein kann, auf ein Individuum häufen, es zum Träger aller Werte machen, das heißt lieben.« – Es ist alltägliche Erfahrung, daß eine wahre Liebe Neues und Außerordentliches in der Seele zu wecken vermag, wogegen das bisher Gekannte nichtig erscheint. Dieses Neue kann den Liebenden wie ein Meer auf seinen Wogen ins Unendliche tragen, oder ihm wenigstens die Ahnung des Unendlichen schenken. Er sieht unerwartet sein ganzes Wesen aufgeschlossen, er ist aus den Grenzen getreten, die ihm immer selbstverständlich gewesen sind, die Schranke zwischen ihm und der Welt stürzt ein, alles ist ihm frei gegeben, der Egoist kommt den Menschen näher, der Grausame wird mild, der Stumpfe hellsichtig, jeder fühlt, daß er menschlicher und größer geworden ist. Dies ist weder eine Illusion noch eine Projektion, noch sonst ein raffinierter seelischer Trug – es ist ganz einfach Wirklichkeit. Wenn Weininger dahinter argwöhnisch eine Täuschung wittert, so ist dies eine Konsequenz seines asketischen Solipsismus, der von keinem anderen Menschen Hilfe zur Selbstvervollkommnung annehmen will, eine Konsequenz des einseitigen und sterilen Kultes der eigenen Seele, ein edler, aber knabenhafter Stolz, der nichts der Welt und nichts anderen Menschen danken mag, es ist der fanatische metaphysische Dualismus, der uns bei der zweiten Stufe der Erotik, welcher Weininger ganz angehört, so oft begegnet. Gerade in dieser Einseitigkeit liegt ja seine Genialität, zu deren Hochschätzung ich mich nicht erst zu bekennen brauche.

Weininger schrickt am allermeisten davor zurück, daß ein Mensch als »Mittel zu einem Zweck« gebraucht werde anstatt als Selbstzweck. Ich glaube, daß Weininger diese von Kant für die reine Ethik geprägte Formel mit zweifelhafter Berechtigung auf die empirische Psychologie überträgt. Einen Menschen nur als Mittel für Zwecke zu gebrauchen, die ihm innerlich fremd sind, das heißt ihn gegen sein Wesen zu mißbrauchen, das ist allerdings unsittlich. Aber alles soziale Leben beruht darauf, wird erst dadurch möglich, daß jeder Mensch zugleich Zweck für sich selbst und Mittel für einzelne andere sowie für die Gesellschaft ist. Dies versteht sich von selbst und muß, besonders an dieser Stelle, nicht weiter bewiesen werden. Der Lehrer ist ein Mittel im Hinblick auf seine Schüler, der Schriftsteller für alle, die Belehrung oder Unterhaltung bei ihm suchen. Und sie finden Befriedigung damit. Wollte man in der Brandmarkung dieser Tatsachen konsequent zu Ende gehen, so müßte es als unsittlich angesehen werden, etwas von Eltern und Lehrern zu übernehmen, so müßte man jeden guten Einfluß ablehnen, der ja immer von außen kommt, und ganz in der Kultivierung der eigenen Seele aufgehen. Ja, man dürfte sich nicht einmal zeugen und gebären lassen, man müßte sich selbst aus dem Nichts schaffen. Hat es dagegen nicht immer als die schönste Gabe großer Menschen gegolten, auf andere veredelnd einzuwirken? Wo sollte nun der Grund liegen, der den Einfluß einer geliebten Frau auf die Seele des Liebenden verwerflich machte? – Was wir als unsittlich empfinden, das ist vielmehr die Herabwürdigung des Menschlichen im Menschen zu unmenschlichen Zwecken, wie etwa der Zwang zu unendlich spezialisierter toter Arbeit für einen Menschen, der nach Gänze strebt.

Der Irrtum, den ich Weininger speziell auf erotischem Gebiet nachweisen möchte, liegt darin, daß er die Liebe unter eine Formel zwingt, die schlechterdings nicht darauf anwendbar ist. Die Liebe steht völlig außerhalb jeden Zweckverhältnisses, der Liebende fühlt, daß der Geliebte immer Selbstzweck im höchsten Sinn ist, es wäre ihm innerlich gar nicht möglich, ihn und sich unter die Relation von Mittel und Zweck zu stellen. Nicht selten achtet er sich selbst, sein Wohlsein und sein Leben, gering, um dem Geliebten zu dienen. Die ganze Formulierung ist schief. Wenn Weininger behauptet, daß im Augenblick der Umarmung für jeden Mann die Frau nur Mittel zur Befriedigung seiner Lust sei – und umgekehrt –, so ist das einfach nicht wahr. Es ist geradezu ein Charakteristikum der wirklichen Liebe – jetzt schon in dem einheitlichen Sinn der dritten Stufe vorausgenommen –, daß die sinnliche Umarmung gar nicht ins Gewicht fällt, kaum bewußt wird. Die Persönlichkeit des Geliebten ist alles, die eigene Körperempfindung nichts. Weininger identifiziert hier (was er doch Schopenhauer mit Recht vorwirft) Liebe mit Geschlechtslust und ist gerade in diesem Punkte vom untrüglichen Bewußtsein vieler zu widerlegen. In der Liebe gibt es weder Mittel noch Zweck; wenn schon kategoriale Formeln angewendet werden müssen, so könnte man allenfalls von Wechselwirkung reden. Und ebenso falsch ist die entsprechende Behauptung, daß der Künstler die Frau seelisch – im Sinne der Vergöttlichung – liebt, um zum Kunstwerk inspiriert zu werden. Wenn er sie liebt, ist ihm diese Liebe Anfang und Ende seines Strebens, und wenn er außerdem noch die Gabe hat, von der Liebe mit einem Kunstwerk befruchtet zu werden, so ist das wertvoll und gut, weil es schöpferisch ist. –

Ich mache diesem extrem individualistischen Ideal den prinzipiellen Vorwurf, daß es zu einer völlig unproduktiven Weltauffassung führen muß. Alle Askese ist unproduktiv und damit gerichtet. Ich kann einen indischen Fakir, der so gottähnlich geworden ist, daß er nur noch sechs Reiskörner im Tag verspeist und alle Viertelstunde einmal Atem holt – von Waschen und Reden ganz zu schweigen –, wohl als einen sehr sonderbaren Kauz anstaunen; aber etwas Bedeutendes und Positives sehe ich in ihm nicht (wobei ich mich aber von allen utilitaristischen Neigungen frei weiß und durchaus nicht wünsche, daß dieser Asket den Pflug führe oder Bücher schreibe). Der Weg vom Einzelnen zum Ganzen kann nicht die Verneinung der Welt sein, sondern nur ihre Vervollkommnung, die aus Produktivität hervorgeht, aus Produktivität des Geistes, der Seele oder der Tat. Wer prinzipiell alles Wirken aus sich heraus ablehnt, verurteilt sich selbst zum Nichtsein im höheren Sinn. Allerdings tut auch der etwas Großes, der an sich selbst arbeitet; aber es ist das unerklärliche Geheimnis alles wahrhaft schöpferischen Tuns – in der höchsten wie in der niedrigsten Bedeutung –, daß es endlich in die Welt hinaus wirken muß und in die Ewigkeit. Die stärksten Affekte, die innere Erleuchtung des Mystikers und die Liebe des großen Erotikers, sind »in des Herzens Herzen« empfangen worden und wachsen endlich doch über ihren Schöpfer hinaus, vom Einzelnen ins Allgemeine. Vielleicht wird die Wirkung um so später und reicher sein, je innerlicher und mächtiger der Schöpfertrieb gewesen ist. Aber das Band, das den großen Einzelnen mit der Menschheit verknüpft, kann nicht abgerissen werden, endlich tritt das Werk hinaus, das Werk der Tat, das Werk des Geistes, das Werk der Liebe – ich sage nicht, in die Öffentlichkeit, ins »Publikum«, aber ins Dasein, in die Welt. Aus der schöpferischen Persönlichkeit allein gehen ja die objektiven Kulturwerte hervor – und sei es gegen den Willen eines extremen Individualisten (wie bei Pascal).

Die große Liebe, die Dante, Goethe und Wagner auf den Gipfel der Menschheit geführt hat, ist etwas im höchsten Grad Positives, Schöpferisches. Und gerade wer die Liebe von allem Geschlechtstrieb geschieden weiß, wem sie als etwas rein Persönliches, ganz Ungattungsmäßiges, sogar Gattungsfeindliches gilt, der muß diesem Gefühl höchsten Wert beimessen. Eine entgegengesetzte Ethik ist steril, indisch, nicht produktiv, europäisch. – Ich weiß wohl, daß Weininger diese Konsequenz nicht explizite gezogen hat, aber er lehnt die reine Liebe darum ab, weil sie neue Kräfte schenkt, zu wachsen und vollkommener zu werden, und vertritt so im letzten Sinn die Philosophie des Nichts.

 

Dante und Goethe

Tu m'ai di servo tratto a libertate!

Dante.

 

Die Frauenanbetung ist mit Dante für alle Zeiten vollendet worden. Durch die Jugenddichtung La vita nuova und die Göttliche Komödie hindurch können wir alle einzelnen Stadien des Weges verfolgen, der beim ersten Anblick eines jungen Mädchens in Florenz beginnt und damit endet, daß eine Frauengestalt dem Gefüge der Welt einverleibt wird. Ein außerordentlicher Prozeß der Umbildung hat sich hier vollzogen: das einige Male gesehene und jung gestorbene Mädchen ist in der Seele des Liebenden Jahr um Jahr weiter gewachsen, der Wille, die Frau ins Ewige zu erhöhen, sie zu einem Glied im Gottesreich werden zu lassen, hat sich ganz erfüllt. Das Gefühl eines einzelnen ist so stark, seiner selbst so gewiß, daß es nicht trügen kann, daß es nicht nur für den Dichter, sondern für alle Menschen ewige Geltung haben muß. Was die Troubadours angebahnt, die Dichter des süßen neuen Stiles rein erfaßt haben, das ist in Dante vollendet worden.

Wir haben gesehen, wie die späteren Troubadours die unklare Neigung empfanden, ihre Herzensdame mit der allgemeinen Himmelskönigin in Eins fließen zu lassen; das Bedürfnis, die Geliebte zu vergöttlichen, hat da manch Zweifelhaftes hervorgebracht, und sie sind wohl auch unter dem lähmenden Bann der Inquisition gestanden (die in Italien niemals mächtig gewesen ist). Die neuen Dichter haben dann das Gefühl vertieft, haben alles Äußerliche und Höfisch-Gesellschaftliche abgetan und treten ohne jedes Zeremoniell, einfach als Liebende, vor die angebetete Frau. Sie bedürfen nicht der dogmatischen Unterstützung der Kirche, das eigene Gefühl ist ihnen sichere Gewähr. Dante hat zudem den Drang nach einem völlig abgeschlossenen und widerspruchslosen Weltsystem besessen, aber auch die Kraft, es aufzubauen und mit großen Gestalten zu erfüllen; und in diesem System, das die Vollendung und Krönung des mittelalterlich-katholischen Weltbildes ist, nimmt die früh Geliebte einen hohen und unwandelbaren Platz ein, neben den Gestalten der Religion. Dante hat so sein Gefühl zum allgemeinen Glaubenssatz erhoben, er hat den katholischen Himmel um seine persönliche Geliebte bereichert. Was zwei Jahrhunderte lang Ahnung und Wunsch geblieben ist, das wird nun Glaube und Wahrheit. Jetzt erst ist die Liebe völlig Religion geworden, die Liebe zu einer Frau in das System der ewigen Wahrheiten eingeordnet, die Liebe zur Frau und die Liebe zur Ewigkeit sind Eines. Die Liebe, »welche die Sonne und alle Gestirne bewegt«, ist endgültig als Grundgefühl anerkannt. Die Verankerung des Subjektiven im Ewigen vollzieht sich in dieser metaphysischen Setzung, in der Vergöttlichung der Geliebten. Und dies ist das Größte, was dem Menschen gegeben ist: die Schöpfung metaphysisch wahrhaftiger Wesen und Werte. Alles Bisherige enthüllt sich nun als Vorbereitung für diese Tat: die Geliebte thront inmitten der Geheimnisse Gottes.

Die Jugenddichtung, die ein verklärter historischer Bericht ist und zugleich das größte Zeugnis metaphysischer Liebe, stellt vom ersten Augenblick an die erhebende, reinigende Wirkung, die von der Geliebten ausstrahlt, in den Vordergrund. Beatrice ist »die Vernichterin alles Bösen und die Königin der Tugend«. – »Wenn sie mir von irgendeiner Seite her erschien und ich auf ihren wonnesamen Gruß hoffen durfte, so gab es für mich keinen Feind mehr, ja, ich wurde von einer Flamme der Nächstenliebe ergriffen, die mich antrieb, jedem zu verzeihen, der mir jemals Übles getan. Wer immer etwas von mir erbeten hätte, meine Antwort hätte unfehlbar gelautet: Liebe! – und mein Antlitz wäre voller Demut gewesen.« – Noch ehe seine Liebe den Aufschwung ins Jenseitige genommen hat, schildert er die rein seelische Liebe so zart wie kaum ein anderer. Die Frauen von Florenz fragen Dante: »Sag uns doch, worin besteht diese Seligkeit?« – »In den Worten, die meine Herrin preisen!« (Also im Gefühl, das nicht über sich hinaus will und in seiner künstlerischen Gestaltung.) – Niemals hat der Liebende ein Wort mit ihr gesprochen; dies eine Wort wäre ja schon der Versuch gewesen, sich mit ihr in eine wechselseitige Beziehung zu setzen, eine leise Berührung herbeizuführen, Beatrice hätte aus ihrem idealen Zustand heraustreten müssen und sich als ein Mädchen wie andere weisen. Erst nachdem die Vergöttlichung vollzogen ist, denkt Beatrice (am Anfang der Komödie) des Liebenden und kommt, ihn zu erretten. – Man fühlt durch die ganze Dichtung, wie Dante anfangs über sich selbst im unklaren ist und erst allmählich in seiner Seele das neue Bewußtsein entdeckt; von Kapitel zu Kapitel wird ihm die Geliebte ferner und heiliger.

Mit alledem stimmt ganz überein, daß man nicht recht weiß, wer diese achtzehnjährige Beatrice eigentlich gewesen ist; bekanntlich wollen einige Kommentatoren nur eine Phantasiegestalt in ihr sehen, die niemals gelebt hat, oder (die kirchlich gesinnten) eine Allegorie der Weisheit, der Tugend, der Kirche, der Theologie usf. Beim Tod ihres Vaters benimmt sich Beatrice wieder wie ein anderes irdisches Mädchen. In allen diesen Meinungen steckt schließlich ein Körnchen Wahrheit, denn Dante ist ein bedeutender Scholastiker gewesen und hat später das Bedürfnis gefühlt, die frühe Liebe irgendwie mit dem System der Kirche in Zusammenhang zu bringen, was auf die so beliebte mehrdeutig-allegorische Art ohne innere Unwahrheit geschehen konnte.

Dunkle Gestalten, die dem Liebenden selbst noch geheimnisvoll sind, gären in der Vita nuova und in den Gedichten, Visionen bemächtigen sich des Liebenden in Schlaf und Krankheit. In der dritten Kanzone spricht Dante von der Unmöglichkeit, das zu verstehen, was ihm eine Ahnung über das Wesen der Herrin eingegeben hat. Das Vorgefühl von neuen und großen Dingen ist da, aber alles muß sich erst langsam ans Licht ringen, ist es doch etwas Unerhörtes, ein Weltsystem so zu gestalten, daß die persönliche Liebe zu einem seiner tragenden Pfeiler wird. In der Vita nuova erobert Dante Stück um Stück von der Gefühlswelt, die dann in der Komödie als schöpferische Kraft wirkt. »Wenn sie spricht, neigt sich ein Geist vom Himmel.« Die Engel flehen Gott an, daß er dies »Wunder, aus einer Seele hervorgegangen«, in ihre Mitte gebe, Gott aber will, daß sie sich noch gedulden, bis die »Hoffnung der Seligen« erscheint.

Immer wieder kehrt das Motiv von der Schönheit, vor der die Welt hinsinken muß. In einem Sonett, das nicht in das Neue Leben aufgenommen ist, heißt es:

Im höchsten Himmel wurde sie geboren
Und kam herab, zu unserm Heil erkoren.

Und der Liebende erkennt sein Schicksal: »Ich habe meinen Fuß in den Abschnitt des Lebens gesetzt, aus dem es keine Rückkehr mehr gibt.« – Er ahnt »das dunkle Los, das Amor mir bestimmt«. – Aber auch anderen geht eine Ahnung auf, daß dieser »vielleicht von der Liebe mehr erhofft als die Menschen sonst«, und sie bitten ihn, zu erklären, was die Liebe sei – worauf er das berühmte Sonett dichtet:

Amor e cor gentil sono una cosa –
Ein edles Herz und Liebe sind nur Eines.

Einen wichtigen Gedanken dieses Gedichtes haben wir schon bei seinen Zeitgenossen gefunden: Erst dadurch, daß auch andere die Macht dieser Frau erkennen, wird ihre Göttlichkeit über jeden Zweifel gestellt. Die Menschen sprechen: »Nicht eine Frau ist dies, sondern einer der schönsten Engel des Himmels.« – »Dies ist ein Wunder! Gelobt sei der Herr, der so Wunderbares schafft!«

Und:

Sie scheint ein Wesen, das vom Himmel kam,
Um hier auf Erden Wunder zu enthüllen.

Als Beatrice stirbt, geschehen Zeichen wie beim Tod Christi, die Sonne verfinstert sich, Sterne erscheinen, Vögel fallen tot aus der Luft nieder und die Erde bebt. Gott selbst greift in den Gang der Welt ein:

Das Leuchten ihrer Demut drang mit so
Gewaltiger Kraft in alle Himmel ein,
Daß auch der Herr der Ewigkeit den Schein
Erschaute, und ein Sehnen, süß und froh
Erfaßte ihn, er winkte, daß die fromme
Seligkeit nahe komme,
Denn er erkannte: Dieses trübe Leben
Kann solchem Wesen keine Heimat sein.

In dem uns heute nicht mehr ohne weiteres verständlichen 29. Kapitel wird mit Hilfe einer Zahlensymbolik ein Zusammenhang zwischen Beatrice und der göttlichen Dreieinigkeit hergestellt: die Vergöttlichung der geliebten Frau ist im Gefühl und in Gedanken vollzogen, die Religion ist um eine Gestalt reicher geworden. »Neue Erkenntnis hat die Liebe weinend in mein Herz gelegt,« heißt es am Schlusse der Jugenddichtung. Ich habe anderswo ausgeführt und mit Stellen der Göttlichen Komödie bewiesen, daß Dante niemals Dichtungen in unserem Sinne, das heißt Fiktionen schaffen wollte, sondern daß er in jeder Stunde seines Lebens überzeugt gewesen ist, nur die volle Wahrheit zu verkünden; er wußte sich ausersehen, den Menschen Aufschluß über das ewige Gefüge der Welt zu geben. Vgl. »Stufen der Genialität«, zweiter Teil der »Grenzen der Seele«.

Am Ende der Vita nuova ist Beatrice ein überirdisches Wesen, das fühllos im Himmel thront; in der Komödie ist sie Erlöserin und Retterin des Liebenden und durch ihn Helferin der Menschheit geworden. Was für das Florentiner Mädchen nicht gegolten hat: daß ihr nämlich die Liebe des Jünglings irgendeinen Eindruck gemacht hätte, das darf nun von der Vergöttlichten gesagt werden:

Liebe beseelt mich und sie schenkt mir Worte.

Beatrice fürchtet für Dante, der in der Welt verirrt ist, und als die Botin Marias mahnt: »Warum hilfst du nicht dem, der dich so sehr geliebt hat?« – da sendet sie den Führer Vergil und naht dem Geretteten endlich selber, um ihn zu Gott zu leiten. Sie neigt sich seiner Liebe und sie hat sogar um ihn geweint. Diese endlich erfüllte, immer keusch verschwiegene Sehnsucht nach Gegenliebe gibt der Frauenanbetung Dantes einen ganz besonderen, edlen Reiz. Am Ende seines Lebensweges betet er zu der wieder Entschwundenen und bekennt als letztes:

Du schufst mich Sklaven um zum freien Mann!

Die Liebe hat ihr größtes Wunder an ihm vollbracht: sie hat ihn gewandelt und geläutert, sie hat aus einem Knecht der Welt und seiner Gelüste die Persönlichkeit geschaffen – womit wieder das Grundmotiv hergestellt ist. –

Unmittelbar an die metaphysische Liebe Dantes schließe ich die Besprechung der letzten Szene des Faust, in der Goethe sein Schönstes und Tiefstes gegeben, sein innigstes Gefühl offenbart, sein letztes Urteil über das Dasein ausgesprochen hat. Die innere Identität beider Lebensbeichten wird sich uns bis ins einzelne enthüllen. Ist die Göttliche Komödie der Weg des Menschen durch die Reiche der Welt, einmalig und exemplarisch, im Sinne des katholischen Mittelalters für alle gleich, so ist die Faustdichtung ihrer Grundidee nach nichts anderes: der Wille des Menschen, den rechten Weg durch die Welt zu finden. Auch hier soll dieser Weg endgültig und vorbildlich sein, aber er wird ein halbes Jahrtausend später unternommen und hält sich meistens an der Oberfläche der Erde – um endlich doch im Himmel zu enden. Die Hölle ist hier nicht mehr in einem unterirdischen Raum, sondern in einer Gestalt verkörpert, die den Menschen durchs Leben begleitet und in Versuchung führt; der Mensch der Gegenwart hat nicht einen treuen Führer zur Seite, er muß den Weg, der dem Mittelalterlichen durch die Bibel vorgezeichnet ist, selber finden. Die Jugendliebe, die bei Dante ein eigenes Büchlein erfüllt, ist am Anfang der Fausttragödie eingeschaltet – durch die Reiche der Welt irrt der Liebende und findet wieder zu der früh Geliebten zurück.

Die letzte Szene ist die Auseinanderfaltung der metaphysischen Liebe in ihre eigene Vielheit; sie trägt die metaphysische Frauenliebe als Gipfel. Alles Streben des Menschen wird durch die erlösende Liebe bekrönt und beschlossen. Faust hat endlich keinen besonderen Namen mehr, denn er hat alles Subjektive abgetan, er wird kurzweg »ein Liebender« genannt, wie Dante ist er Repräsentant der Menschheit geworden. Die erste Jugendliebe, die er im Drang eines reichen Lebens scheinbar vergessen hatte, ist in seinem Herzen nicht ganz erloschen, die Stunde des Todes bringt ihm die lebendige Erinnerung wieder, Gretchen ist da und führt ihn (wie Beatrice seinen Bruder) hinauf zum Ewig-Weiblichen, das heißt zur metaphysischen Erfüllung alles männlichen Liebenssehnens. Die »Liebe von oben« hat an Dante und an Faust teilgenommen und beide können erlöst werden.

Und wenn die seligen Knaben, die gleich den Engeln in beiden Dichtungen nicht fehlen, singen:

Den ihr verehret,.
Werdet ihr schauen!

so meinen sie wiederum den überirdisch Liebenden. Ebenso wie Beatrice betet auch Gretchen für den Geliebten – das tiefste Gebet des Weibes – zur Himmelskönigin:

Neige, neige
Du Ohnegleiche,
Du Strahlenreiche,
Dein Antlitz gnädig meinem Glück!
Der früh Geliebte,
Nicht mehr Getrübte,
Er kommt zurück!

Dies ist intimer und menschlicher als die Worte Beatrices, aber im Grunde dasselbe. Als Dante der Beatrice wieder begegnet, sagt er:

Und meine Seele, die seit vielen Jahren
Vom Zauber ihrer Nähe hingerafft,
Dies zitternde Erlähmen nicht erfahren:
Sie fühlte durch geheime Magierschaft,
Die von der Herrin herkam, ohne Blicke
Der frühen Liebe übergroße Kraft.

Wie er sie aber endlich nicht nur durch magische Kraft ahnt, sondern wirklich schaut, da muß, der doch soviel zu sagen vermocht hat, stumm werden:

Die Schönheit, die sich jetzt mir aufgetan,
Geht über Menschenkraft, so daß allein
Ihr Schöpfer selbst sie ganz erfassen kann.

Beatrice hat Dante aus den Händen seiner Lehrer übernommen und unterweist ihn nun selbst in den Geheimnissen des Lebens. Ebenso Gretchen:

Vergönne mir, ihn zu belehren.
Noch blendet ihn der neue Tag!

Und darauf die Antwort von oben, die Gretchen anleitet, das zu tun, was die symbolisch belastete Beatrice schon weiß:

Komm, hebe dich zu höheren Sphären,
Wenn er dich ahnet, folgt er nach!

Und wie Beatrice naht, erklingt es:

O neige, neige deine heiligen Augen
Jetzt dem Getreuen, der, um dich zu schauen,
Bis her gewandert ist!

Und mit dem Grundgefühl der Danteschen Komödie schließt Faust:

Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.

Die irdische Liebe der Jugend ist in dem Traum metaphysischer Liebe, in dem Traum von einer göttlichen Frauengestalt erfüllt worden. Der Genius schafft sich am Schlusse seines Lebens die Vollendung aller Sehnsucht. Paradox zu sagen – aber wie Dante und wie Peer Gynt hat auch Faust durch alle Wirrnisse der Welt unbewußt nach Gretchen gesucht, nicht nach dem Kind, das er einmal verführt und verlassen hat, sondern nach dem Ewig-Weiblichen, nach der rein seelischen Liebe, die er schon damals geahnt und, in der Gelüste Ketten verstrickt, zerstört hat. Für Dante, dem Dichtung und Leben Eines sind, und für Goethe-Faust ist das Bild der Jugendgeliebten Typus jedes echten und großen Gefühles geblieben, Liebe und Beatrice sind Eines für Dante. Und selbst seine glühende Liebe zur Ewigkeit führt durch sie, das heißt durch ihr göttlich gewordenes Phantasiebild. In der Seele dieser Männer ist langsam die metaphysische Liebe entstanden, die Sehnsucht nach dem Ewigen im Weibe, das sie auf Erden nicht gefunden haben. Und sowohl bei Dante als auch bei Goethe steht diese vergöttlichte Geliebte neben einer anderen Frau, der Himmelskönigin der katholischen Religion. Im Paradies Dantes und Goethes werden zwei Frauen geliebt und angebetet – eine persönliche und eine allgemeine. Und auch diese zweite Frau hat ihren besonderen ekstatischen Anbeter. Bernhard, der Doctor marianus Dantes, wirft sich vor der Himmelskönigin nieder und richtet das sublime Gebet an sie:

O Jungfrau, Mutter, Tochter deines Sohnes!

Und bei Goethe ist es wieder der Doctor marianus als Vertreter der Gesamtheit, der »in heiliger Liebeslust brennt« (bei Dante:

Die Himmelskönigin, um die ich ganz
In Liebe brenne)

und das schönste Madonnengebet spricht, das die Welt besitzt – es stimmt nahezu mit dem Danteschen überein:

Jungfrau, rein im schönsten Sinn,
Mutter, Ehren würdig,
Uns erwählte Königin,
Göttern ebenbürtig.

Und auf dem Angesicht anbetend:

Blicket auf zum Retterblick
Alle Reuig-Zarten,
Euch zu seligem Geschick
Dankend umzuarten!
Werde jeder beßre Sinn
Dir zum Dienst erbötig;
Jungfrau, Mutter, Königin,
Göttin bleibe gnädig!

Bernhard bei Dante:

O Frau, du bist so groß und so vollendet,
Daß, wer die Gnade nicht zu deinen Füßen
Erflehen wollte, wäre ganz verblendet!

Der Chorus mysticus aber könnte durchaus auch als Abschluß der Komödie stehen. Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis – das ist, was schon die Provenzalen als »Narrheit« empfunden haben, als eine Paradoxie: die metaphysische Frauenliebe, die immer nur Ahnung und Sehnsucht bleibt, nie aber erfüllt wird – das Ewig-Weibliche.

Wie die Mater gloriosa einherschwebt, heißt es (bei Dante):

Und wäre wirklich meine Kraft, zu sagen,
Gleich dieser Schau – ich dürfte nimmermehr
Von solcher Huld ein leises Wort nur wagen!

Und bei Goethe:

Die Herrliche mittenin
Im Strahlenkranze,
Die Himmelskönigin,
Ich kenn's am Glanze.

Hier feiert die »heilige Liebeslust«, die metaphysische Erotik, ihre Vollendung. Das All erscheint unter dem Bild einer göttlichen Frau und der Mann gibt sich ihm betend hin. Goethe endet so; Dante aber ist noch weiter geschritten, ins ewige Licht der Gottheit hinein, um in ihm zu vergehen. –

Ich habe schon früher gesagt, daß die letzte Szene des Faust die Auseinanderfaltung der metaphysischen Erotik in einzelne Gestalten sei, und will dies weiter begründen. Bisher ist der Ausdruck »metaphysische Erotik« immer in dem engeren Sinne der Frauenliebe gebraucht worden. Nun soll er die umfassendere Bedeutung der mystischen Liebe überhaupt, jeder Liebe, die sich auf ein Jenseitiges, Göttliches bezieht, annehmen. – Das Gefühl ist der eigentliche Bereich des Menschen, seine Macht, seine Essenz. Und im höchsten Gefühl, in der Liebe, kann ein Zusammenhang zwischen Irdischem und Ewigem geahnt werden. Daher das Urmysterium des Christentums, daß Gott seinen Sohn der Welt aus Liebe hingegeben habe; dies will besagen, daß er der Welt nicht anders nahen konnte als im Verhältnis der Liebe, er opfert sich selbst den Menschen zuliebe. Wir sind nicht wohl imstande, uns das Höchste mit einer andern Grundfunktion vorzustellen als liebend; denn Gefühl, Liebe ist das Innerste und das Tiefste im Menschen und muß daher nach einem Urpostulat auch das Wesen der Welt sein. Die Liebe ist das eigentlich Menschliche und daher das Göttliche. Dies könnte, rein objektiv genommen, eine Täuschung sein, aber jedenfalls ist es eine Täuschung, die von Menschen nicht durchschaut werden kann, die für sie letzte Wahrheit ist. In diesem Punkte sind alle Mystiker und alle metaphysischen Erotiker einig, was ich hier nicht weiter ausführen will. »Gott ist die Liebe,« sagt das Johannes-Evangelium; »die Liebe, die Bewegerin der Sterne«, schließt Dante sein Weltgedicht; und bei Goethe bekennt der Pater profundus:

So ist es die allmächtige Liebe,
Die alles bildet, alles hegt.

Er ist derjenige, der um die göttliche Liebe ringt, der noch mit den Anfechtungen des Zweifels (des Denkens) zu kämpfen hat –

O Gott! beschwichtige die Gedanken,
Erleuchte mein bedürftig Herz!

Der wahre begeisterte Gottesliebende aber, der sich selbst vernichten muß, um in Gott aufzugehen, der keinen Unterschied mehr zwischen Schmerz und Lust kennt, ist unter dem Namen des Pater ecstaticus dargestellt. Der Zustand der Ruhe ist ihm fremd, er muß auf und nieder schweben, und er singt:

Ewiger Wonnebrand,
Glühendes Liebesband,
Siedender Schmerz der Brust,
Schäumende Gotteslust.
Pfeile durchdringet mich,
Lanzen bezwinget mich,
Keulen zerschmettert mich,
Blitze durchwettert mich;
Daß ja das Nichtige
Alles verflüchtige,
Glänze der Dauerstern
Ewiger Liebe Kern.

Mit diesen Ausrufen ist das Gefühlsleben des sich selbst zerstörenden metaphysischen Erotikers völlig erschöpft – er besitzt nichts als diese eine glühende Liebe, vor der alles andere hinschwindet. In ihm ist auch die zweite Form der metaphysischen Liebe, die noch zu besprechen sein wird, der Tod aus der Liebe und in der Liebe – hier aber nicht in der Frauenliebe, sondern in der reinen Gottesliebe – erreicht. Dieser Gestalt muß der einzige Jacopone da Todi als Vorbild gedient haben. Jacopone besitzt nur diesen einen Grundton, der immerfort neue Ekstasen aus sich heraus schafft, sein ganzes Leben ist eine einzige Verzückung:

Mir ward zerstückt das Herze,
Am Boden blieb ich liegen;
Der Liebe Flammenerze,
Die von der Armbrust fliegen,
Durchschossen mich mit Schmerze,
Aus Frieden ward ein Kriegen.
Ich sterb' in süßem Schmerze,
In Glut mich Liebe zückte.

Ich sterb' in Wonnebeben,
Nicht staunet ob der Kunde,
Vom Liebesspeer gegeben
Ward mir die tiefe Wunde.
Am breiten Stahl erheben
Sich Stacheln in der Runde,
Die ganz im Herzen schweben.
In Glut mich Liebe zückte, usf.

Und:

O Liebe, Liebe, Jesus mein Verlangen!
O Liebe, dich umfassend will ich sterben!
O Liebe, Liebe, die ich halt' umfangen!
O Liebe, Liebe, Tod möcht' ich erwerben!
O Liebe, Lieb', in dich ganz aufgegangen
Umfass' ich dich und darf dich ganz ererben!

(Übersetzt von Schlüter und Storck.)

Von Jacopone wird erzählt, daß aus allzu großer Liebe sein Herz zersprungen sei. Dies wäre ein Liebestod von der kosmischesten Größe.

Vor Jacopone hat der heilige Bernhard, bei dem sich alle Spielarten der metaphysischen Erotik finden, ähnliches gefühlt. Es gibt ein paar lateinische Gedichte von ihm, die sehr an Jacopone erinnern; und er schreibt: »Selig und heilig der, dem verliehen ward dies hienieden, in diesem sterblichen Leben, oder wenn auch nur einmal, nur flüchtig, wenn auch kaum eine Minute hindurch zu empfinden. Denn gleichsam in dir selbst zerrinnen, als ob du nicht wärest, ganz leer von dir selbst, ganz in heiliges Gefühl aufgelöst zu sein, das ward dem sterblichen Leben nicht verliehen, es ist der Zustand der Seligen.«

Man erkennt, daß es sich bei dieser Gottesliebe nicht um eine eigentliche Schöpfung des Liebenden handelt wie bei der Vergöttlichung der Frau, sondern um die mystische Liebe, der ihr Gegenstand, Gott oder die Ewigkeit, von selbst gegeben ist. Die Jesusliebe Jacopones und des späteren Zinzendorf z. B. ergreift eine historische Erscheinung, will aber im wesentlichen dasselbe. Auch die Gottesliebe – man könnte hier etwa noch Jakob Boehme, Alphonso de Liguori, Novalis anführen – ist metaphysische Erotik; aber ich habe meinen Gegenstand auf die metaphysische Frauenliebe eingeschränkt und will nicht weiter gehen; nur der Charakter der letzten Faustszene hat noch ein wenig erhellt werden sollen.

Des Pater seraphicus – Franziskus und Bonaventura haben diesen Beinamen geführt – sei nur kurz gedacht: auch er singt die metaphysische Liebe, die Essenz der höchsten Geister:

Denn das ist der Geister Nahrung,
Die im freiesten Äther waltet:
Ewigen Liebens Offenbarung,
Die zur Seligkeit entfaltet.

Die »geeinte Zwienatur« alles Menschlichen aber (Leib und Seele) kann selbst von den »vollendeteren Engeln« nicht abgestreift werden – ein entschiedenes Bekenntnis zum metaphysischen Dualismus –

Die ewige Liebe nur
Vermag's zu scheiden. –

Die Identität der letzten Faustszene, der größten Schöpfung Goethes, mit dem Schluß der Göttlichen Komödie muß nun so augenfällig sein, daß sich ihr niemand wird verschließen können. Der Grundgedanke beider Dichtungen ist schon angedeutet worden und könnte leicht noch weiter ins einzelne verfolgt werden. Ich beschränke mich aber auf die letzte Szene, die alle metaphysisch-erotische Sehnsucht zusammenfaßt, und meine nun, es ist doch wohl sehr merkwürdig: Ein Menschenalter ist seit der Dichtung der Gretchentragödie verstrichen, Faust (und mit ihm Goethe) ist uralt, weise und ein wenig kalt geworden, hat Liebschaften mit Halbgöttinnen gehabt und ist endlich über die Frauenliebe hinausgekommen, in ununterbrochener fruchtbarer Tätigkeit hat er seine Aufgabe und sein Glück gefunden. Er hat den letzten Wert im Schaffen erkannt. Aber der Himmel, den der Greis schon abgetan hat, tut sich auf – und die längst vergessene Jugendgeliebte schwebt ihm entgegen. Sie hat alles Irdische von sich gestreift und ist göttlich geworden, aber sie liebt ihn immer noch und führt ihn der Erlösung zu, die sich unter dem Aspekt des Ewig-Weiblichen darstellt – alles wie bei Dante. Dieses übereinstimmende Fühlen bei den beiden größten subjektiven Dichtern Europas (Shakespeare ist größer als beide, aber ganz unpersönlich) muß doch wohl einen gemeinsamen Grund haben. Denn die logische Möglichkeit, daß Goethe nur den Dante nachgebildet und seine tiefsten Lebenswerte einem andern entlehnt habe, ist wohl ganz abzuweisen. Das Gemeinsame ist nun die in beiden vorhandene Sehnsucht nach der metaphysischen Erotik. Als diese großen Liebenden zum erstenmal das Gefühl der Liebe erfuhren, tat sich ihr Herz weit der Welt auf, sie hatten das erste starke Erlebnis der Ewigkeit und sie sind zum Dichter geworden. Die erste Liebe und das kosmische Bewußtsein des Genius sind zu gleicher Zeit da gewesen, waren im Grund der Seele nur Eines. (Anders beim Philosophen, für den die Frauenliebe keine so entscheidende Bedeutung gewinnt.) Dieses Gefühl der ersten Liebe, die das Bewußtsein der Ewigkeit geweckt hatte, ist fernerhin allem Religiösen und Metaphysischen – das heißt aller über das Natürliche hinausreichenden Sehnsucht – verwoben geblieben. Und wenn auch der Greis geglaubt hat, dies alles liege längst im Dunkel der Vergessenheit, so hat es doch in seinem tiefsten Wesen fortgelebt; und die Ahnung des Sterbenden, die ins Göttliche hineinführt, erhält wieder von dem ersten, aus verschütteten Tiefen aufsteigenden Erlebnis Färbung und Gestalt.

Der Wille, die Welt in sich aufzunehmen und von der eigenen Seele durchtränkt neu werden zu lassen, ist die Quelle von Dantes und von Goethes Dichtung, die mystische Liebe zur Ewigkeit und die ins Jenseits gewachsene Frauenliebe sind ihre geheimen Triebkräfte, die sich am Ende rein entfalten dürfen. Für Goethe, der nach konkreter Gestaltung dürstet, sind Gott und die Ewigkeit selbst zu ungreifbar und zu geheimnisvoll ferne – aber die mit religiös-erotischer Inbrunst geliebte Frau ist ihm vertraut. Das Ewig-Weibliche, das uns hinanzieht, birgt so nichts Unverständliches, es ist vielmehr der notwendige Abschluß, der gar nicht anders sein könnte. Denn dieser Schluß ist ein Bekenntnis zur metaphysischen Erotik, das heißt zum Ewig-Weiblichen (dem Gegensatz des Irdisch-Weiblichen). Dante, der fromme Sohn des Mittelalters, und Goethe, der Verkünder einer diesseitigen Kultur, fordern kraft des eingeborenen Rechtes ihrer Genialität die Erfüllung aller mystischen Liebessehnsucht in einem anderen Leben und vollziehen die Schöpfung der himmlischen Frau. Gerade weil Gretchen nicht mehr gewesen ist als eine deutsche Kleinstadtgans, hat Goethe aus ihr etwas Neues schaffen können; denn je größer die Spannung zwischen dem Material und dem in der Seele Erschauten, desto größer wird auch die Aufgabe und desto mächtiger die Schöpfungskraft, die sich an ihr entfalten kann. – Man hat wohl gesagt, daß Goethe in dieser Szene Anwandlungen zum Katholizismus gehabt habe. Ich will es nicht geradezu bestreiten, muß aber darauf dringen, daß dies in dem nun so ausführlich dargelegten Sinn genommen werde. Goethe hat aus der Überlieferung die Elemente ergriffen und umgedeutet, die imstande gewesen sind, sein Seelenleben einzukörpern. Wir dürfen glauben, daß er nichts übernommen hat, als was ihm gemäß gewesen ist; in der Madonna hat er sein tiefstes Gefühl vorgebildet gefunden und er hat ebenso wie Dante (hierauf lege ich das größte Gewicht) eine neue Vergöttlichung unter dem Bilde der Jugendgeliebten geschaffen, die neben der allgemeineren Himmelskönigin, der durch die Liebe umgebildeten Madonna der katholischen Kirche, steht.

Das Gefühlsleben Dantes und das Gefühlsleben Goethes stimmen im Grunde überein. Der Unterschied beruht weniger im Fühlen, als im Denken und im Glauben. Dante besitzt den unerschütterlichen Glauben an die Wirklichkeit seiner Gesichte, die ewige Liebe in Gestalt Beatrices erwartet ihn, seine Vision kündet die reine, die ewige Wahrheit. Des Späteren Vision aber ist Sehnsucht und Dichtung, tragischer, weil dem modernen Dichter nur in seltenen Stunden dieser ahnende Glaube des Überirdischen gegeben ist, weil er sich seine metaphysische Erfüllung nicht gewähren darf. Der Moderne muß suchen, streben und irren, wo der Mittelalterliche besitzt. –

Die vergöttlichende Frauenliebe ist, wie wir gesehen haben, die extremste Ausbildung der zweiten Stufe, wo Geschlechtstrieb und seelische Liebe geschieden sind, wo der Mann den Drang seines Leibes verachtet und bekämpft oder ihm frönt – was prinzipiell auf eines hinauskommt –, seine Seele aber in anbetender Liebe nach oben wendet. Dieser Dualismus des Fühlens entspricht dem konsequenten Dualismus des Christentumes und des gesamten Mittelalters. Da Goethe aber meistens obenauf als »Monist« gilt, wird man es vielleicht nicht glauben wollen, daß er in eroticis dualistisch empfunden habe; und doch liegt gerade sein Liebesleben ungewöhnlich klar vor unseren Augen. Die erste bedeutende Äußerung, der Werther, zugleich eines der wichtigsten Denkmäler der sentimentalen Liebe, enthält wirklich Ansätze zur modernen Form der Liebe, die Sinnlichkeit und Seele nicht mehr als zweierlei gelten läßt, sondern in der Persönlichkeit der Geliebten zu vereinigen strebt. Über den Werther wird noch zu sprechen sein; diese dritte Form, die Liebe der Gegenwart, ist in den »Wahlverwandtschaften« sozusagen programmatisch festgestellt. Aber alle anderen und sehr zahlreichen Zeugnisse seines Liebeslebens weisen das typisch dualistische Empfinden auf. Die einfache Geschlechtlichkeit hat sich in vielen Jugendgedichten, in den venezianischen Epigrammen und vor allem in den römischen Elegien entschieden und mit positiver Wertung ausgesprochen. Die dritte Elegie z. B. schließt die Sinnlichkeit des Dichters unmittelbar an die berühmten antiken Liebespaare und lehnt alles ab, was etwa darüber hinausgehen könnte. Motto dieser Gesinnung ist:

In der heroischen Zeit, da Götter und Göttinnen liebten,
Folgte Begierde dem Blick, folgte Genuß der Begier.

Ebenso enthält der »Westöstliche Diwan« eine spielerisch leichte Sinnlichkeit, die im »Buch des Schenken« homosexuelle Einschläge aufweist. Die sinnliche Seite von Goethes Erotik hat sich zum Teil in dem Verhältnis mit Christiane Vulpius ausgelebt. Als Gegenstück zu dem berühmten Briefwechsel mit Charlotte von Stein führe ich hier eine Stelle aus einem Brief an Christiane an, der auf der Reise geschrieben ist: »Es sind überall ganz breite Betten und du solltest dich nicht beklagen, wie es manchmal zu Hause geschieht! Ach! Mein Liebchen! Es ist nichts besser als beisammen zu sein!«

Vertritt Christiane die bloße Sinnlichkeit, so ist Frau von Stein der wichtigste Gegenstand seines seelischen Liebesbedürfnisses; bekanntlich haben sich beide Verhältnisse teilweise zur selben Zeit abgespielt; während Goethe in Rom saß und die Elegien dichtete, schrieb er die berühmten Briefe an Charlotte. Er antwortet ihr naiv und konsequent dualistisch, als sie ihm wegen seiner Liebschaft mit Christiane Vorwürfe macht: »Und welch ein Verhältnis ist es? Wer wird dadurch verkürzt?« – Frau von Stein ist um sieben Jahre älter gewesen als Goethe, sie zählte 34 Jahre und hatte schon sieben Kinder geboren, da er sie kennen lernte. Nach dem Zeugnis Schillers kann sie »nie schön gewesen sein«, und derselbe schreibt an Körner: »Man sagt, daß ihr (Goethes und Charlottens) Umgang ganz rein und untadelhaft sein soll.« Es ist ein arger Irrtum, wenn dieses Verhältnis nicht als ein rein seelisches aufgefaßt worden ist, Goethe hat Charlotte niemals begehrt, er nennt sie seine »Schwester« und seine »Seelenführerin«, er hat ihr seine kleinen Liebeleien mit verschiedenen Mädchen erzählt und ist niemals auf ihren Gatten eifersüchtig gewesen. Ein paar charakteristische Stellen aus seinen Briefen lauten (chronologisch): »Du Einzige, die ich so lieben kann, ohne daß mich's plagt!« – Ganz im Geist des dolce stil nuovo: »Ihre Seele, an die Tausende glaubten, um selig zu werden.« – »Das Verhältnis, das reinste, schönste, wahrste, das ich außer meiner Schwester je zu einem Weibe gehabt.« – »Dein Verhältnis zu mir ist so heilig sonderbar, daß ich erst recht bei dieser Gelegenheit fühlte: es kann nicht mit Worten ausgedrückt werden, Menschen können es nicht sehen.« – Und wie klingen diese Worte, die Guinicelli oder Dante gesprochen haben könnten, im Munde des dreißigjährigen Goethe: »Sie kommen mir eine zeither vor wie Madonna, die in den Himmel fährt, vergebens daß ein Rückbleibender seinen Arm nach ihr ausstreckt, vergebens daß ein scheidender tränenvoller Blick den ihrigen noch einmal niederwünscht, sie ist nur in den Glanz versunken, der sie umgibt, nur voll Sehnsucht nach der Krone, die ihr überm Haupt schwebt.« – »Ich möchte in dreifachem Feuer geläutert werden, um Ihrer Liebe wert zu sein.« – Er richtet an sie ein Gebet und spricht: »Ich bitte dich fußfällig, vollende dein Werk und mache mich recht gut!« – »Ich habe gleich am Tasso schreibend dich angebetet.« Sie aber weiß instinktiv, was er bei ihr sucht – und sie verharrt in der schweigenden Fühllosigkeit der Madonna. – Allen diesen Äußerungen steht kein einziges sinnliches oder nur leidenschaftlich heißes Wort gegenüber.

Im Lauf der Jahre wird die Gleichheit zwischen beiden Liebenden mehr und mehr hergestellt, die anbetende Stellung schwindet, der Ton seiner Briefe ändert sich in der Richtung zur Freundschaft und Vertrautheit. »Leb' wohl, süße Freundin und Geliebte, deren Liebe und Umgang mich allein glücklich macht.« Und er sagt einmal, daß ihm in der Welt nichts mehr zu suchen übrig bleibe, da er in Charlotte alles gefunden habe. – Wie sich die seelische Liebe mehr und mehr der mittleren Linie einer vertrauten Freundschaft annähert, so hat er die ungeordnete Sexualität auf eine einzige Frau, auf Christiane konzentriert, auch hier ein Mittleres suchend, wobei es aber sehr wichtig ist, daß das dualistische Grundempfinden bewahrt wird. Es gibt keine Frau in Goethes Leben, der gegenüber er die höhere Einheit erreicht oder auch nur angestrebt hätte.

Schon vor der Bekanntschaft mit Frau von Stein, zur selben Zeit, als er mit Lili Schönemann verlobt war, hat Goethe, der Augenmensch, eine seelische Liebe für ein Mädchen empfunden, das er nie gesehen hatte. Er nennt Gräfin Auguste Stolberg seinen »Engel«, sein »einzigstes, einzigstes Mädchen«, sein »goldenes Kind« usf. und schreibt ihr: »Ich hab' immer eine Ahnung, Sie werden mich retten, aus tiefster Not, kann's auch kein weibliches Geschöpf als Sie.« – In diesen Briefen steht auch der charakteristische Satz: »Unseliges Schicksal, das mir keinen mittleren Zustand erlauben will.« – Und über seine Jugendliebe Lotte schreibt Goethe an Kestner: »Ich wußte wahrlich nicht, daß das all in ihr war, denn ich habe sie viel zu lieb von jeher gehabt, um auf sie acht zu haben.«

Charlotte ist das Vorbild der Prinzessin im Tasso und der Iphigenie geworden (die den Orest aus Ruhelosigkeit und Wahnsinn erlöst). Tasso erscheint durchaus als der phantastische Frauenanbeter, was Leonore mit sicherem Gefühl erkennt:

Er scheint sich uns zu nahn und bleibt uns fern;
Er scheint uns anzusehn, und Geister mögen
An unserer Stelle seltsam ihm erscheinen.
Mit mannigfaltigem Geist verherrlicht er
Ein einzig Bild in allen seinen Reimen.
Bald hebt er es in lichter Glorie
Zum Sternenhimmel auf, beugt sich verehrend
Wie Engel über Wolken vor dem Bilde;
Dann schleicht er ihm durch stille Fluren nach
Und jede Blume windet er zum Kranze.
Uns liebt er nicht – verzeih, daß ich es sage! –
Aus allen Sphären trägt er, was er liebt
Auf einen Namen nieder.
Er heftet sich an Schönheit und Gestalt
Nicht gleich mit süßem Atem fest und büßet
Nicht schnellen Rausch mit Ekel und Verdruß.

Das entscheidende Wort, das Dante endlich vor Beatrice gesprochen hat, das Siegel auf alle große seelische Liebe: Vom Sklaven schufst du mich zum freien Mann! – wiederholt Goethe in den Briefen an Charlotte und wiederholt Tasso:

Ich fühle mich im Innersten verändert,
Ich fühle mich von aller Not entladen,
Frei wie ein Gott, und alles dank' ich dir!

Und in der späten »Trilogie der Leidenschaften« heißt es dann:

In unseres Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten,
Wir heißen's: fromm sein! – Solcher seliger Höhe
Fühl' ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.

Hier erscheint die Geliebte als Weckerin der Andacht und Religion, wie es im Freundeskreis Dantes gelehrt worden ist. Das größte und von Goethe selbst durch seine Stellung hervorgehobene Denkmal, die letzte Szene des Faust, wo die seelische Liebe zur Vollendung geführt wird, hat uns schon beschäftigt. Wichtig ist ferner eine Bemerkung, die Eckermann wiedergibt: »Die Frauen sind silberne Schalen, in die wir goldene Apfel legen. Meine Idee von den Frauen ist nicht von der Erscheinung der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren oder in mir entstanden, Gott weiß wie.« – Dieser mit Überlegung ausgesprochene bedeutungsvolle Satz enthüllt uns das Fühlen Goethes sehr klar; er weiß, daß ein wenig Selbsttäuschung in seiner Stellung zur Frau liegt, aber er hält die Täuschung mit Bewußtsein und Liebe fest. All dies sind nicht etwa Widersprüche, für den genialen, allseitig ausgebildeten Menschen einer reifen Kultur ist es vielmehr natürlich, ja fast wesentlich, daß der ganze Reichtum des menschlichen Fühlens in ihm wiederbelebt wird. Alles Seelische ist ihm wenigstens der Möglichkeit nach gegeben, ein Element ums andere wird lebendig und produktiv. Bei der Besprechung von Richard Wagner wird uns das ganz besonders deutlich werden, eine innere Verbindung des einzelnen mit der ganzen Menschheitsentwicklung wird einleuchten.

Merkwürdigerweise findet sich auch bei Dante ein undatiertes Gedicht, in dem klar ausgesprochen wird, daß die geliebte Frau die ihr zugesprochenen Eigenschaften nicht wirklich besitzt, sondern daß sie ihr von der Phantasie des Liebenden verliehen worden sind:

So schmückt sie Phantasie, die nimmer ruht,
In meinem Geist aus, drin ich sie bewahre,
Nicht, daß sie von sich selbst wär' auserlesen
Für solch ein hohes Gut,
Nein, deiner Macht verdankt sie solchen Mut
Wie man ihn von Natur sonst nie gesehen.

(Zoozmann.)

Von den vielen anderen, die zu allen Zeiten ebenso empfunden haben wie Dante und Goethe, will ich nicht mehr ausführlich berichten; nur noch der eine Michelangelo muß gesondert betrachtet werden. Meist sind es Künstler, die sich ihr Frauenideal selbst erschaffen haben, weil sie von der Wirklichkeit nicht befriedigt worden sind. Erinnert sei noch an Beethoven und seinen ergreifenden Brief an die »unsterbliche Geliebte« (»Mein Engel, mein Alles, mein Ich!«), deren Namen man trotz allem Forscherfleiße noch nicht mit Sicherheit kennt; und sollte er einmal festgestellt sein, so ist die unsterbliche Geliebte doch eine Phantasiegestalt, die sich nur an eine irdische Frau geknüpft hat. – Dann erwähne ich den anderen alten Junggesellen Grillparzer mit seiner »ewigen Braut« Kathi Fröhlich, und den kritischen Hebbel, der zur Zeit, da er die Genoveva dichtete, in sein Tagebuch schrieb: »Alle irdische Liebe ist nur der Durchgang zur himmlischen.«

 

Michelangelo

Dalle più alte stelle
Discende uno splendore
Che'l desio tira a quelle,
E quel si chiama amore.

 

Bei Michelangelo ist der Geist Platons und die in eine höhere Sphäre gehobene Formkraft des Griechentums mit dem Gefühl des absoluten seelischen Wertes, der eigentlichen Glorie des Christentums, in Eines gewachsen. In ihm ist die brennende Liebe zur ewigen und unveränderlichen Schönheit, die Platon göttlich macht, das tiefe Erlösungsbedürfnis und die noch niemals in der Welt gewesene Kraft, alles Fleisch von Seele getragen zu sehen; dann aber die bis zur Selbstvernichtung gesteigerte Anbetung der geliebten Frau, die ihn nächst Dante als größten metaphysischen Erotiker aller Zeiten enthüllt. Die Begeisterung Platons und die Leidenschaft Dantes einen sich in einer höheren Genialität.

Am Mediceerhofe zu Florenz war von Ficinio eine platonische Akademie gegründet worden, die zuerst nach zweitausend Jahren das Werk des Meisters und seines größten Schülers Plotin übersetzte und verstehen lehrte. Viele lasen und einige lernten, aber in Michelangelo allein ist der Geist des platonischen Griechentums wahrhaft neu geboren und produktiv geworden; das platonische Ideal einer rein männlichen, ästhetisch und seelisch vollendeten Kultur hat sich in ihm wieder belebt, der unbedingte Schönheitskult und die Liebe zum blühenden männlichen Körper, die aus den Dialogen spricht, ist wieder da, sie bildet Knaben und Jünglinge, deren gleichen nie mehr geschaffen wurde.

Fast alle jugendlichen Männergestalten Michelangelos – vielleicht mit Ausnahme des riesigen David – nähern sich vom entschieden Männlichen dem Mittleren, Allgemein-Menschlichen, und erhalten so für unser Empfinden weiblichen Charakter, ja, weisen einzelne bestimmte weibliche Merkmale auf. Ich erinnere vor allem an die Jünglinge der Sixtinadecke (die seelenerfülltesten Jünglingsgestalten, die es gibt), dann an Bacchus, Johannes, Adonis und die Figuren im Hintergrund der heiligen Familie zu Florenz. Cupido und David-Apollo (im Bargello) sind nahezu hermaphroditisch gebildet und sogar Adam und die bärtigen nicht vollendeten Sklaven der Boboligärten zeigen weibliche Einzelheiten. Ohne ins Spezielle einzugehen, mache ich besonders auf die Brüste und auf die Schenkelpartien aufmerksam und auf anderes, das geradezu den primären Geschlechtscharakter in Frage stellt (man betrachte daraufhin das Jünglingspaar oberhalb der erythräischen Sybille). Sie muten aus einer größeren Entfernung gesehen direkt weiblich an, während der Jüngling oberhalb Jeremias ein vollkommen hellenischer Ephebe ist. Dagegen finden wir unter allen seinen Gestalten – von zwei frühen, wenig selbständigen Madonnen und der Eva abgesehen – keine einzige verklärte Frau; sie haben alle etwas leidend-bedrücktes, unliebliches oder ins Unendliche hinaus gerichtetes; einige alte Frauen – am auffallendsten die cumäische Sybille – zeigen völlig männliche Züge, männlichen Körperbau und riesenhafte Muskulatur. Das antike Ideal des Menschen, der weder Mann noch Frau ist, sondern Mensch schlechthin, des Hermaphroditen, ist in ihm wieder lebendig, aber auf einer höheren, seelischen Stufe. Sein Ideal ist wie das des Griechentums ein Mensch, weder Mann noch Weib; alles Extreme, aber auch alles Besondere und Persönliche, die Menschheit im letzten Sinn Störende soll, wenn nicht aufgehoben, so doch zurückgedrängt werden. Dieses Ideal ist uns fremd und sogar ein wenig verächtlich, denn das moderne Ideal sind zwei Menschen; aber es hatte gerade in der Verwischung des Geschlechtes und in der Betonung des Reinmenschlichen einen hohen kulturellen Wert: Die Jünglingsliebe des platonischen Kreises und Michelangelos ist eigentlich reine Menschenliebe, Liebe zum vollkommenen menschlichen Körper und zur vollkommenen Seele, deren reinste Harmonie man im heranwachsenden Jüngling fand. Ist es doch auch für uns außer Zweifel, daß nur in ihm männliche und weibliche Linien zugleich gegeben sind.

Wo Männerfreundschaft bei Kulturen und Individuen dominiert, ist sie sehr oft mit starkem, plastischem Sinn verbunden. Künstler und Dichter, die weniger musikalisch als plastisch veranlagt sind, haben nicht selten homosexuelle Neigungen. So ist es bei der ganzen griechischen Kultur (die wir ruhig unmusikalisch nennen dürfen), bei Michelangelo, Platen, Oskar Wilde. Dagegen ist die musikalische Richtung fast durchwegs mit Liebe zur Frau verbunden, unter allen großen Musikern weiß ich keinen, der zur erotischen Männerfreundschaft neigte, und ebensowenig unter den Dichtern, für die das Lied charakteristisch ist. Das einfache Strophenlied legt die Vermutung der Frauenliebe, das kunstvolle Versmaß, etwa der griechische Rhythmus, die Vermutung der Männerliebe nahe. – Ich möchte hier übrigens nur auf diesen Zusammenhang hindeuten, ohne weitere Konsequenzen daraus zu ziehen.

Aus den Gedichten, die Michelangelo an Tommaso dei Cavalieri gerichtet hat, schlägt einem die tiefe Sehnsucht nach Freundschaft und vollkommener Hingabe, vor allem aber nach Erwiderung der Zuneigung entgegen. Keine Schranke soll zwischen den Freunden stehen dürfen – »denn eine Seele lebt in zwei Gestalten«. Diese Gedichte sind ruhig und ausgeglichen, ganz anders als seine übrigen.

Wenn beide füreinander liebend brennen,
Doch keiner selbst sich liebt, wenn jeder täglich
Zum höchsten Ziel den andern will begeistern –

(Deutsch von Sophie Hasenclever.)

Für Tommaso hat Michelangelo den Raub des Ganymed gemalt und noch im späten Alter verfaßte er Gedichte auf Cechino Bracci, der 17 Jahre alt gestorben war.

Daneben steht bei Michelangelo die Geringschätzung der Frauen, ohne die ja auch der klassische Griechengeist nicht zu denken ist.

So süß wie Mus ist dein Gesicht, o Schöne,
So glatt, als wär' ein Schnecklein drauf spaziert,
Wie Rüben zart, es gleichen deine Zähne
Den Pastinaken, und dein Auge stiert
So wie die Theriakpflanze grün; ich wähne,
Durch solchen Glanz wird selbst ein Papst verführt.
Wie Zwiebeln weiß und blond sind deine Haare –
Erbarm dich schnell, sonst lieg' ich auf der Bahre.

(Hasenclever.)

Das platonische Element ist im reifen Mannesalter vor dem anderen großen in seiner Seele zurückgetreten. Über die formale Körperschönheit der antiken Statuen hinaus sind seine späteren Werke mit einem ganz besonderen, nur ihm angehörigen seelisch-leidenschaftlichen Momente geladen, wir empfinden seine Gestalten unmittelbar und im höchsten Grade von innen heraus flammend und erregt. Diese Gebilde sind eigentlich nicht mehr Menschen der Erde, ein Hauch von etwas Höherem, Ewigem umweht sie, das platonische Erbe, welches alles Irdische nur als geringes Sinnbild der ewigen Schönheit gelten läßt, wird von der Trauer um alles Menschenlos und der Glut der Erlösungssehnsucht befruchtet und verklärt. Und ihm erscheint als altem Manne Vittoria Colonna, ein Bild und Symbol aller göttlichen Vollkommenheit. Die Liebe, die ihn ergreift, wandelt sein ganzes Wesen um, kehrt es von der Erde ab und hebt es ins Religiöse. Seinem maßlosen Charakter entsprechend war diese erste und späte Frauenliebe Anbetung und religiöser Schauder, eine Ekstase, die alles Irdische überflog. Ist für Michelangelo kein anderes Verhältnis mit dem geliebten Freunde als das völliger Hingabe und Gleichheit erträglich gewesen, so hat er sich vor der Herrin in den Staub geworfen und bis zur Selbstzerstörung erniedrigt. Es ist das Gefühl, das wir schon kennen und das seine unauslöschliche Spur in den Gedichten hinterlassen hat.

Dieses Buch der Gedichte ist von einer unvergleichlichen Sehnsucht nach der Vollendung der irdischen Schönheit und nach der Ewigkeit erfüllt, und einziges Symbol dieser metaphysischen Vollkommenheit ist ihm die geliebte Herrin. Alle Erdenschönheit ist nur ein unzulängliches Abbild der geahnten göttlichen, die in der Geliebten sichtbar wird. Durch ihre Schöpfung muß die Natur alle Kraft eingebüßt haben, sie ist dem Tode nah. Wir finden alle die bekannten Motive wieder: Er ist nichts vor ihr, unwürdig des Daseins, gleich dem Monde, der von der höchsten Sonne sein Licht empfängt. Ihre Liebe erst macht ihn zu etwas Besserem und lehrt ihn zugleich die Nichtigkeit alles dessen, was er bisher wert gehalten hat.

In Eurem Herzen wird, was ich ersinne!

und:

Ach, wie irrt jeder, der da glauben wollte,
Mein Werk, gering und so vergänglich, könnte
Je Eure Huld und Göttlichkeit erreichen.

Und so empfindet er ihre Liebe:

Denn von den höchsten Sternen quillt
Ein Leuchten nieder und erfüllt
Das Herz und facht ein Sehnen
– Liebe ist's!

In diesen Gedichten – die ihn zum großen Dichter machen müßten, wäre er nicht ein noch größerer Bildner – lebt eine Intensität des Gefühles, die nicht ihresgleichen hat. Wir lernen in ihm die ganze Gefühlswelt der Vergöttlichung verstehen wie kaum noch einmal. Wenn wir nicht wüßten, daß Vittoria Colonna eine historische Frau gewesen ist, nicht viel jünger als Michelangelo und nach dem erhaltenen Porträt häßlich, mit einer großen männlichen Nase, so könnten wir versucht sein zu glauben, eine legendäre Erscheinung in ihr zu sehen wie in Beatrice Portinari oder in der Schöpfung Goethes. Und die Überzeugung, daß nur in ihr die wahre Vollkommenheit zu finden sei, tritt nun seiner Kunst gegenüber und wirft ihren entsetzlichen Schatten über sie.

»Michelangelo hat nicht anders über die Liebe gedacht als wie schon bei Plato geschrieben steht,« sagt sein Freund und Biograph Condivi; aber noch mehr ist wahr: In der Brust Michelangelos hat die ungeheure Auseinandersetzung zwischen griechischem Schönheitskult und der Religion des Jenseits stattgefunden, er hat die reinste Blüte der Antike mit dem tiefsten Geist des Christentumes in Eins gebildet, Platon und Dante sind zu einem neuen Höheren geworden, der eroico furore seines Zeitgenossen Giordano hat eine Verkörperung gefunden. In der vergöttlichten Frau treffen die beiden großen Linien seines Lebens zusammen, die vollendete irdische Schönheit, zu der ihn das Geschick berufen hatte, und die alles übersteigende religiöse Sehnsucht, die letzte Grundkraft seiner Seele. Vittoria tritt ihm als Lösung der Weltendisharmonie entgegen, als eine Lösung, die er nicht erwarten durfte, als ein Wunder. Sie ist das größte Erlebnis seines großen Daseins, unter dem er fast zusammengebrochen ist. Mehr als einmal macht ihn der Gedanke an Vittoria jäh erstarren. In ihr hatte er Welt und Gott in Einem erschaut. Wie mußte das auf eine düstere Natur wirken, die bis ins Alter auf sich selbst geruht hatte und wenig Verständnis bei Gönnern und Freunden hatte finden können, der die Frauen nichts bedeutet haben? Nun war plötzlich ein Mittelpunkt da, nicht nur für sich selber, sondern für alle Zerrissenheiten des Daseins, für den ewigen Zwiespalt der irdischen mit der göttlichen Welt. Das ist nicht eine Jünglingsliebe, die ins Jenseitige hinauswächst, sondern der letzte Glaube eines einsamen Lebens, das nichts gekannt hat als Schönheit und Göttlichkeit. Und mit der Leidenschaft, die wir an ihm kennen, stürzt er sich ganz in das Neue, macht es sich zu seinem Schicksal und wirft Kunst und Welt von sich. Vor Vittoria hört er auf Bildner zu sein und wird Beter.

Wir verstehen den tiefen Unterschied zwischen dieser Anbetung und der eines Dante. Dante ist früh zum Dichtertum erweckt worden und hat das Bewußtsein der Ewigkeit gefunden. Er hat nie an der tiefsten Wahrheit, an der metaphysischen Bedeutung seiner Liebe gezweifelt; bei Michelangelo tritt die Altersliebe als letztes Ergebnis in ein Leben, das von Ruhelosigkeit verzehrt worden war. Die Anbetung dieses Frauenverächters ist fast eine Tat der Verzweiflung, nicht sicheres Ausruhen aus aller Zerrissenheit, Harmonie des Seins, sondern Quell neuer Erschütterungen. Sie stellt das ganze frühere Dasein in Frage und macht das Werk des Lebens nichtig. Denn vor diesem Neuen – der Vollkommenheit, die ihm in irdischer Gestalt entgegentritt – versagt die Kunst. Der größte Bildner hat nie einen Versuch gemacht, die Schönheit, die seiner Seele erschienen war, in Marmor oder mit dem Pinsel festzuhalten, denn er ist tief überzeugt, daß sie allem irdischen Mühen unerreichbar bleibt.

Vor Vittoria wird Michelangelo seiner selbst am tiefsten bewußt, in ihr findet seine Sehnsucht Richtung und Symbol; sie ist die Vollendung, um die er immer gerungen hat – und er verzweifelt an seiner Kunst. Die Einsicht, daß nur die ewige Idee der Schönheit wahrhaft gelte, alles Irdische aber vor ihr nichtig sei, wird stärker und quälender. Für viele Beispiele eines:

Vom Ewigen kann die Schönheit sich nicht lösen,
Wie sich vom Feuer nimmer löst die Hitze.

Ebenso wie die Nichtigkeit aller irdischen Kunst empfindet er die Nichtigkeit aller irdischen Liebe vor der hohen, metaphysischen:

Zum Himmel zieht es den, zur Erde jenen,
Dem ist die Seele, dem die Sinne Heimat.

Das Wort des Plotin ist in ihm lebendige Wirksamkeit geworden: »Die von dem Irdischen aus zur Erinnerung an das Intelligible gelangen, lieben den irdischen Gegenstand als das Bild des Intelligibeln, denen aber, die aus Unkenntnis dieser Leidenschaft nicht zur Erinnerung gelangen, erscheint das Sinnlich-Schöne als Wahrhaft-Schönes.«

Es ist nun ein überaus tragischer Prozeß, wie Michelangelo langsam an seiner eigenen Kraft und an der Kunst verzweifelt. Immer herrschender werden die Gedanken von der Vergänglichkeit alles Lebens und aller Erdenschönheit. Der religiöse Gedanke der Ewigkeit und der überirdischen Schönheit, der forma universale, bleibt letzte Zuflucht. Immer mehr grübelt er über Sünde und Erlösung, Gottmenschentum und Kreuzigung. Die geliebte Herrin ist einzige Verkünderin alles Ewigen geworden. Schwermut und Trauer lassen seine Seele nicht mehr frei, das einzig glückselige Los scheint ihm, gleich nach der Geburt zu sterben.

Michelangelo ist sich seiner tiefen Verwandtschaft mit Dante bewußt gewesen, er hat ein Exemplar der Göttlichen Komödie mit Handzeichnungen geschmückt – es ist verloren gegangen – und hat folgende Worte über Dante gesprochen:

Wär' ich wie er! Zu seinem Los geboren:
Verbannt, doch voll des Geistes und der Kraft,
Gern hätt' ich jedes Glück der Welt verloren!

Die Gemälde der Sixtinischen Kapelle mit ihren plastisch gestalteten Gedanken von Bestimmung, Vergeltung und Ewigkeit sind einem Gefühl entstammt, ähnlich dem der Göttlichen Komödie, und ebenso wie dort ist hier die Schöpfung himmlischer und höllischer Geister aus der unendlichen Sehnsucht der Bildnerphantasie gequollen. Die menschliche und schöpferische Leidenschaft beider hat nur an dem Allergrößten und Universalsten einen Gegenstand gefunden, um sich zu entäußern, die ewige Bestimmung des Menschen, Schicksal, Schuld und Vergänglichkeit, das Verhältnis der Welt zu Gott, die Liebe, die über alle Grenzen der Menschheit ins Ewige gesteigert ist – all dies ist ihnen gemeinsam. Aber Dante konnte widerspruchslos und im Einklang mit sich selbst das Weltbild schaffen, das ihm als wahrhaftiges Abbild der ewigen Weltordnung galt. Seine Welt ist ein in sich geschlossener Raum, hat einen Anfang und ein Ende, und sein Lebenswerk bleibt im Einklang mit der eigenen Seele und mit dem Kosmos. In Michelangelo lebt die viel tiefere tragische Zerrissenheit, die in nichts Ruhe finden kann als im Letzten, die das Letzte im Herzen trägt und zu gestalten begehrt – und der endlich auch das nicht Genüge leistet. Georg Simmel hat in einer tiefsinnigen Arbeit erkannt, wie über allen Gestalten Michelangelos die unendliche Schwermut liegt, die nicht zu befriedigen ist, weil die Gebilde seiner Kunst im tiefsten etwas sein wollen, was der Kunst verwehrt ist. Selbst die höchste bildnerische Verkörperung der Leidenschaft und der Sehnsucht zum Überirdischen kann seine Seele nicht stillen. Diese Tragik ist die über ihr Gebiet erweiterte Tragik des metaphysischen Erotikers, die wir schon kennen. Vermochte Dante noch an den absoluten Wert seines Werkes und an die Wahrheit seiner in der Ewigkeit vollendeten Liebe zu glauben – dieser Glaube ist ja die eigentliche Nahrung seines Daseins gewesen –, so verliert Michelangelo endlich den Glauben an sein Werk: Kunst und Liebe sind ihm in ein Jenseits entschwebt, das er ahnen, aber nicht mehr erfassen kann. Sein Glaube ist nicht beseligende Gewißheit, Michelangelo hat immer nur die trübe Kehrseite erblickt, die Unvollkommenheit alles Irdischen, auch des Höchsten, seiner Kunst und seiner Liebe.

Shakespeare hat alles Menschliche zu gestalten vermocht und in diesem Tun volle Befriedigung gefunden. Michelangelos plastischer Schöpferkraft scheint keine Grenze gezogen zu sein, er besitzt alles, was der Künstler überhaupt besitzen kann – und von Jahr zu Jahr fühlt er tiefer, wie unzulänglich dies alles doch ist. Er pocht an das eherne Tor der Menschheit, sein Meißel und sein Hammer zersplittern daran – und er verstummt in Gram. Jeder Genius ist einmal an dieses Tor gekommen und jeder hat sich hier zu legitimieren gehabt, hat hier sein tiefstes Wesen enthüllen müssen. Dante hat das Jenseitige in einer ungeheuren Vision zu empfangen versucht, Goethe ist scheu vor ihm zurückgewichen.

Wenn man die Propheten und Jünglinge der Sixtina betrachtet oder die gefesselten Männer im Louvre, die schier nicht mehr im Dasein verharren können und deshalb »Sklaven« der Erde sind, noch mehr aber die halbfertigen Sklaven der Boboligärten, die in wilder Sehnsucht nach höherer Existenz fast den Stein zerbersten; oder wenn man die letzten Sonette liest: so kann man ahnen, was das tiefste in diesem Mann gewesen ist: die Schwermut nicht mehr eines Einzelnen, sondern der ganzen Menschheit, die sich aufs Metaphysische gewiesen sieht und sich endlich nicht mehr selber täuschen will und kann. Vielleicht ist es die größte Tragik, daß der Künstler, dessen gleichen wir nicht kennen, auf sein Lebenswerk mit dem Blick der Verzweiflung schaut:

Denn Geist und Kunst und Leidenschaft versinken,
Unzählige Werke, immer neu und groß,
Sind sterblich Tand nur vor des Himmels Gnade.

Und dem Vasari sendet er ein Sonett, das die Künstlerphantasie anklagt, die sich der Kunst ganz verschrieben hat –

Trug ist, was wir hienieden so ersehnen!

Er nennt den Glauben »die Gnade aller Gnaden« – denn er hat niemals seine tiefste Gewißheit besessen.

Den letzten Sonetten hat Michelangelo sein Herz ganz anvertraut. Wir schauen in dies einsame und heroische Alter, das von dem Gedanken an Tod und Vergänglichkeit überschattet ist. Alle Bezirke seiner Seele haben sich umdüstert, die Kunst ist wertlos, die Liebe wird Trauer, der Gedanke der Nichtigkeit rankt sich um das Bild der Herrin wie ein Kranz aus schwarzem Lorbeer. Der Greis denkt an sein Leben zurück und findet

Nicht einen Tag, der wirklich mein gewesen!

Dieser Mensch der höchsten Schöpferkraft wirft sich vor, seine Zeit vergeudet zu haben.

Michelangelo hat niemals genesend einen Dankgesang an die Gottheit richten können, wie Beethoven doch einmal oder zweimal. Er hat niemals eine Stunde wahrhafter innerer Ruhe gekannt. In ihm sehen wir das metaphysische Weltgefühl, welches der Frauenvergöttlichung (neben dem erotischen) zugrunde liegt, großartig und auf höherer Stufe wieder: Nicht nur die Liebe, sondern das ganze Dasein wird in sich selbst als unvollendbar empfunden und weist über die Welt hinaus in ein Jenseits. War es zuerst die irdische Frauenliebe, die sich nicht zu erfüllen vermochte – so ist es jetzt alles Bestehende, das erst jenseits seiner Grenzen, in einer metaphysischen Existenz, höchsten Sinn und letzte Wahrheit erringt. Die Tragik der metaphysischen Liebe hat sich zur höchsten Tragik des Lebens ausgeweitet.


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