Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Josef Veillich

Frankfurter Zeitung, 21.3.1929

Der alte Veillich ist gestorben. Gestern wurde er begraben.

Wer mich kennt, weiß, wen ich meine. Wer mein Kunde war, hat ihn gekannt. Sein Tod wird eine große Änderung in der menschlichen Wohnung zur Folge haben. Um das zu erklären, muß ich weit ausholen.

Man weiß, daß das ganze Kunstgetue im Wohnungswesen – in allen Landen – keinen Hund vom warmen Ofen lockt; daß der ganze Betrieb durch Bünde, Schulen, Professuren, Zeitschriften, Ausstellungen usw. usw. keine neue Anregung gegeben hat; daß die ganze Entwicklung im modernen Handwerk, soweit sie nicht durch Erfindung beeinflußt wurde, auf zwei Augen ruht. Und das sind die meinen. Das heißt, man weiß es nicht. Und ich warte nicht auf meine Nekrologe. Ich sage es gleich selber.

Ich bin mir bewußt, welche Empörung diese Zeilen, wenn sie zu meinen Lebzeiten in Druck gelangen sollten, zur Folge haben werden. Aber, lieber Leser, kannst du dich erinnern, welche Möbel und Wohnungseinrichtungen dir in den letzten Jahren zugemutet wurden? Ist nicht alles, was nur zehn Jahre alt geworden ist, ästhetisch vollkommen unmöglich geworden (du nennst es unmodern geworden) wie ein Damenhut? »Schaun Sie sich den Dreck an, den hab ich vor drei Jahren gemacht«, sagte der moderne Architekt und wurde wegen dieses Ausspruches als der große Mann gefeiert, der alle Jahre sich selbst zu überwinden weiß. Kein Handwerker wäre solcher Worte fähig. Mit einer solchen Lebensauffassung aber stempelt man sich zum Künstler.

Es wird erst anders werden, wenn die Menschen rein und klar zwischen Kunst und Handwerk unterscheiden werden, wenn die Hochstapler und Barbaren aus dem Tempel der Kunst vertrieben werden. Mit einem Wort, wenn meine Aufgabe erfüllt sein wird.

Man sieht, daß ein großer Weg zurückgelegt ist. Etappen: Aufgefordert im Jahre 1899 an einer Kunstgewerbe-Ausstellung der Secession mitzuwirken, antwortete ich: »Ich werde erst dann ausstellen, wenn Koffer vom Würzl und Kleider vom Frankl zur Ausstellung gelangen werden.« Empörung. Aber in Paris waren vor drei Jahren mitten unter den »Kunstgegenständen« Exzesse des Spieltriebes. (Nebenbei, die Wiener Sumperer huldigen ja auch dem Spieltrieb, das Neueste, auf das sich unsere angewandten Künstler ausreden, und spielen Tarock, aber keiner verlangt, daß die Menschheit ihm seine dafür angewandte Zeit bezahlt.) Also mitten unter diesen Exzessen der »Edelarbeit« waren Reisekoffer eines anständigen Lederindustriellen ausgestellt, die allerdings Veränderungen von der korrekten Form aufwiesen, wegen denen man sich vor jedem Hotelportier genieren müßte, aber – sonst wären sie nicht angenommen worden.

Im Jahre der Gründung der Wiener Werkstätte:

Ich sagte: Man kann euch ein gewisses Talent nicht absprechen, aber es liegt auf einem ganz anderen Gebiet, als ihr glaubt. Ihr habt die Phantasie des Damenschneiders. Macht Damenkleider. Empörung. Ein paar Jahre später wurde der Wiener Werkstätte eine Damenmode-Abteilung angegliedert, und diese allein wäre ein Unternehmen auf gesunder kaufmännischer Basis (welch Horror in den Ohren der Künstler) und nicht eine Sache der Gönner, wie man stolz verkündete.

Aber von diesem steten Überwinden aller dieser künstlerischen Individualität haben unsere Gebrauchsgegenstände gar nichts, und ihre Form fand keine Verbesserungen. Nur darauf wartet die Menschheit. Ich habe mich von diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten fern gehalten. Man wird sagen, die Trauben waren mir zu sauer, was ja wahr ist. Denn als ich es in Stuttgart versuchte, auch ein Haus ausstellen zu dürfen, wurde es mir rundweg abgeschlagen. Über die Ausrede dieser Verfügung waren sich die Veranstalter der Ausstellung nicht einig. In Stuttgart sagten sie, der Bürgermeister wäre gegen meine Person gewesen. Entrüstetes Dementi des Bürgermeisters. Dann sprachen sie von Platzmangel. Aber in letzter Stunde mußte noch Architekt Bourgois einspringen, obwohl der Besitzer gerne ein Haus von mir gehabt hätte. In Frankfurt am Main meinte der dortige Vorstand der Ortsgruppe des Deutschen Werkbundes, ich wäre nicht genügend deutschnational. Auch wahr, in diesem Sinne. In diesen Kreisen wird mein Ausspruch: Warum haben die Papua eine Kultur und die Deutschen keine, als antideutsch oder als böser Witz gewertet werden. Daß dieser Ausspruch der Ausfluß einer blutenden deutschen Seele ist, wird man diesen Deutschen nicht beibringen können. Ich hätte etwas auszustellen gehabt, nämlich die Lösung einer Einteilung der Wohnzimmer im Raum, nicht in der Fläche, wie es Stockwerk um Stockwerk bisher geschah. Ich hätte durch diese Erfindung der Menschheit viel Arbeit und Zeit in ihrer Entwicklung erspart. Denn das ist die große Revolution in der Architektur: das Lösen eines Grundrisses im Raum! Vor Immanuel Kant konnte die Menschheit noch nicht im Raum denken, und die Architekten waren gezwungen, die Toilette so hoch zu machen wie den Saal. Nur durch Teilung in die Hälfte konnten sie niedrigere Räume gewinnen. Und wie es einmal der Menschheit gelingen wird, im Kubus Schach zu spielen, werden auch die anderen Architekten den Grundriß im Raum lösen. Es gibt aber keine Entwicklung gelöster Dinge. Die bleiben in der gleichen Form durch Jahrhunderte, bis eine neue Erfindung sie außer Gebrauch setzt oder eine neue Kulturform sie gründlich verändert. Für Uneingeweihte, die den aggressiven Ton dieses Aufsatzes nicht verstehen: Der Unterschied zwischen mir und den anderen ist dieser: Ich behaupte, daß der Gebrauch die Kulturform, die Form des Gegenstandes schafft. Die anderen, daß die neugeschaffene Form die Kulturform (sitzen, wohnen, essen usw.) beeinflussen kann. Das Sitzen bei Tisch während des Essens, der Gebrauch des Bestecks usw. hat sich seit zwei Jahrhunderten nicht verändert. Genau so wie sich seit Jahrhunderten das Befestigen und Entfernen einer Holzschraube nicht verändert hat, wodurch wir keine Veränderung des Schraubenziehers zu verzeichnen haben. Seit 150 Jahren haben wir dasselbe Besteck. Seit 150 Jahren haben wir denselben Sessel. Und wenn sich alles um uns verändert hat: statt des gesandelten Bodens der Teppich, weil wir auf ihm sitzen; statt der reichen bildergeschmückten Decke die weiße glatte Fläche, weil wir unsere Bilder nicht am Plafond betrachten wollen; statt der Kerzen das elektrische Licht; statt der reichgetäfelten Wand das glatte Holz, besser noch Marmor – die Kopie des alten Sessels (jede handwerkliche Leistung ist Kopie aus vergangener Zeit, ob sie nun einen Monat oder ein Jahrhundert alt ist), sie paßt in jeden Raum wie der Perserteppich. Nur jeder Narr verlangt nach seiner eigenen Kappe.

Das Entwerfen eines neuen Speisezimmersessels empfand ich als eine Narretei, eine vollständig überflüssige Narretei, verbunden mit Zeitverlust und Aufwand. Der Speisesessel aus der Zeit um Chippendale herum war vollkommen. Er war die Lösung. Er konnte nicht übertroffen werden. Wie unsere Gabel, wie unser Säbel, wie unser Schraubenzieher. Leute, die nicht eine Schraube einziehen können, Leute, die nicht fechten können, haben es leicht, neue Schraubenzieher, neue Säbel und neue Gabeln zu entwerfen. Sie machen es mit Hilfe ihrer, sie nennen es Künstler-Phantasie. Aber mein Sattlermeister sagt dem Künstler, der ihm einen Entwurf zu einem neuen Sattel bringt: »Lieber Herr Professor, wenn ich so wenig vom Pferd, vom Reiten, von der Arbeit und vom Leder verstehen würde wie Sie, hätte ich auch Ihre Phantasie.«

Der Chippendale-Sessel ist so vollkommen, daß er in jeden Raum, der nach Chippendale entstanden ist, also auch in jeden Raum von heute hineinpaßt. Allerdings kann ihn nur der Sesseltischler erzeugen. Nicht der Tischler. Aber die neuen Sessel sind vom Tischler erzeugt. Beide erzeugen Dinge aus Holz. Der Koffermacher und der Sattler, beide erzeugen Dinge aus Leder, und doch würde der Reiter einen vom Taschner erzeugten Sattel zurückweisen. Warum? Weil der Reiter etwas vom Reiten versteht.

Wer die Sessel begreifen kann, die aus Zeiten herrühren, in denen man noch verstand beim Speisetisch zu sitzen, wird die Sessel, die Sesselgespenster von heute zurückweisen. Er wird Kopien der alten Sessel wählen, die der Schranktischler nicht einmal erzeugen kann. Da der Sesseltischler ausstirbt, da es an Nachwuchs fehlt, wurde ich häufig gefragt: »Was werden Sie machen, wenn der alte Veillich nicht mehr lebt?«

Gestern wurde er begraben. Veillich hat alle meine Speisezimmersessel gemacht. Durch dreißig Jahre war er mein treuer Mitarbeiter. Bis zum Kriege beschäftigte er einen Gehilfen, dessen Mitarbeit er hoch hielt. Auf die Leute von heute war er nicht gut zu sprechen. Der wurde ihm im Krieg erschossen. Seither arbeitete er allein. Er wollte nicht schlechtere Sessel liefern als bisher, sie wären auch zu teuer gekommen. Und schließlich war selbst für ihn allein nicht genug Arbeit. Meine Schüler im Auslande beschäftigten ihn. In jungen Jahren hatte er in Paris gearbeitet. Er war taub wie ich, daher verstanden wir uns gut. Wie war das Holz für jede Form des Sessels ausgesucht! Die Bretter vom unteren Teil des Stammes bildeten die Rückfüße und die Jahresringe mußten sich genau der geschweiften Form anpassen. Und – nein, warum soll ich die Geheimnisse einer ausgestorbenen Werkstatt preisgeben?

Sechsundsiebzig Jahre ist er alt geworden, sagt die Parte. Bis zum Tage, an dem er sich zu Bett gelegt, hat er allein in der großen Werkstatt gearbeitet, allein den ganzen Tag geschuftet und gedacht, die besten Sessel zu liefern für Leute, die keine Ahnung davon haben konnten, welche Schätze sie für billiges Geld erhielten. Einen besseren Dienst dafür, daß sie mir Arbeit gegeben haben, habe ich meinen wenigen Kunden nicht erweisen können, als sie zu Veillich zu führen. Ihre Enkel werden noch einmal meiner dankbar gedenken.

Aber die Besteller haben einen unvergeßlichen Eindruck. Der taube Meister allein in der großen Werkstatt. Die treue Gattin, die jedes Wort vermittelt. Goldene Hochzeiter. Philemon und Baucis. Und mit nassen Augen betrat man wieder die Straße.

Für mich bleibt nur die bange Kundenfrage: Was werden Sie anfangen, wenn er nicht mehr ist? Da die Sesseltischler ausstarben, ist der Sessel, der Holzsessel, auch gestorben. So sterben die Dinge. Würden sie gebraucht werden, würde es einen würdigeren Nachwuchs geben. Die Nachfolge des Holzsessels wird der Thonet-Sessel antreten, den ich schon vor 31 Jahren als den einzigen modernen Sessel bezeichnet habe. Jeanneret (le Corbusier) hat das auch eingesehen und propagiert ihn in seinen Bauten. Allerdings leider ein falsches Modell. Und dann die Korbsessel. In Paris, in einem Schneidersalon, habe ich rotlackierte Korbsessel. Im Speisezimmer meines letzten Wohnhauses – jawohl es ist das in der Starkfriedgasse, Pötzleinsdorf, und bildet unterdessen noch den Schrecken harmloser Wintersportler – Thonet-Sessel.

Aber dir, du toter Meister, sage ich meinen Dank. Wir hatten beide Glück, daß sich unsere Lebenswege trafen. Ohne mich wärest du verhungert, ohne dich hätte ich keine Sessel gehabt, oder zu einem Preise, den ich meinen Kunden nicht zumuten konnte. Sie hätten das Dreifache deiner Erzeugnisse gekostet. Deine Bedürfnislosigkeit, du toter Meister, hat diese Sessel ermöglicht.

Der soziale Mensch und der Nationalökonom verstehen, warum der Thonet-Sessel und der Korbsessel die Herrschaft antraten, während wir trauernd dem alten Veillich seinen Hobel mit ins Grab legten.


 << zurück