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Eines Tages wurde Martin sich bewußt, daß er einsam war. Er war gesund und stark und hatte nichts zu tun. Er schrieb nicht mehr, Brissenden war gestorben, und Ruth hatte ihn verlassen, und alles das schuf eine ungeheure Leere in seinem Leben; und das gute Leben in feinen Lokalen und das Rauchen ägyptischer Zigaretten konnte sein Leben nicht ausfüllen. Es war richtig, die Südsee rief ihn, aber er hatte das Gefühl, daß seine Rolle in den Vereinigten Staaten noch nicht ausgespielt war. Zwei Bücher sollten bald erscheinen, und weitere Bücher warteten auf den Verleger. Er konnte Geld für sie erhalten und dann mit einem Sack voll Gold in die Südsee reisen. Auf den Marquesas kannte er ein Tal und eine Bucht, die er für tausend chilenische Dollar kaufen konnte. Das Tal erstreckte sich von der hufeisenförmigen Bucht bis zu den hohen wolkenbedeckten Bergesgipfeln und hatte einen Umfang von vielleicht zehntausend Morgen. Es war voll von tropischen Früchten, wilden Hühnern und wilden Schweinen, gelegentlich stieß man auf eine Herde wilden Viehs, und in den Bergen gab es Herden wilder Ziegen, die von Rudeln wilder Hunde gejagt wurden. Es war wirklich eine Wildnis. Keine menschliche Seele wohnte dort, und alles das und die Bucht dazu konnte er für tausend chilenische Dollar kaufen.

Die Bucht war, wenn er sich recht erinnerte, prachtvoll, das Wasser war tief genug, daß die größten Schiffe dort ankern konnten, und so sicher, daß die Seefahrtskarten sie für den besten Überholungsplatz für Schiffe auf Hunderte von Meilen empfahlen. Er wollte einen Schoner kaufen – eines jener yachtartigen kupferhautbeschlagenen Fahrzeuge, die wie der Teufel selbst fuhren – und sich dann auf den Handel mit Kopra und Perlen zwischen den Inseln legen. Tal und Bucht wollte er zu seinem Hauptquartier machen. Er wollte sich ein patriarchalisches Grashaus wie das Tatis bauen und Haus wie Schoner mit dunkelhäutigen Dienern füllen. Er wollte den Faktor von Taiohae, die Kapitäne der vorbeikommenden Schoner und die besten der aus aller Herren Ländern auf den Südseeinseln zusammengelaufenen Abenteurer bewirten. Er wollte offenes Haus halten und sie königlich bewirten. Und er wollte die Bücher, die er gelesen, und die Welt, die sich ihm als Illusion erwiesen hatte, vergessen.

Aber um alles das zu tun, mußte er in Kalifornien warten, bis sein Beutel gefüllt war. Und das Geld begann schon hereinzuströmen. Hatte nur eines der Bücher wirklichen Erfolg, so konnte er wahrscheinlich den ganzen Manuskripthaufen losschlagen. Er konnte auch alle Erzählungen und Gedichte in einem Bande sammeln und sich auf diese Weise Bucht und Schoner sichern. Schreiben wollte er nicht mehr – dazu war er fest entschlossen. Aber während er auf das Erscheinen der Bücher wartete, mußte er sich etwas anderes vornehmen, als nur zu schlafen und schlaff und dumpf in dem Trancezustand von Gleichgültigkeit, in den er verfallen war, einherzugehen.

Eines Sonntagsmorgens bemerkte er, daß die Maurer einen Ausflug nach dem Shell-Mound-Park unternahmen, und so fuhr er nach dem Shell-Mound-Park. Er hatte in früheren Zeiten Arbeiterpicknicks genug mitgemacht, um zu wissen, wie es dabei zuging, und als er den Park betrat, merkte er, wie die alten Gefühle wieder in ihm erwachten. Schließlich waren sie ja doch seinesgleichen, diese Arbeiter. Er war unter ihnen geboren, hatte unter ihnen gelebt, und wenn er sich auch für eine Weile von ihnen entfernt hatte, so tat es doch gut, sie einmal wieder aufzusuchen.

»Ist das nicht Mart!« hörte er eine Stimme sagen, und im nächsten Augenblick legte sich eine Hand mit kräftigem Schlag auf seine Schulter. »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Auf See? Komm, laß uns eins trinken.«

Er befand sich mitten in der alten Bande – der alten Bande, die hier und dort eine Lücke und hier und dort ein neues Gesicht aufwies. Sie waren keine Maurer, aber wie in alten Tagen machten sie alle Ausflüge mit, weil sie Anlaß zu Tanz, Prügelei und Vergnügen gaben. Martin trank mit ihnen und begann sich wieder als Mensch zu fühlen. Er war ein Tor, daß er sie je verlassen hatte, dachte er bei sich; und er war vollkommen sicher, daß er glücklicher gewesen wäre, wenn er sie nicht verlassen hätte, statt sich mit Büchern und Leuten in hohen Stellungen abzugeben. Dennoch war es ihm, als schmeckte das Bier nicht so gut wie in alten Tagen. Es schmeckte nicht so, wie es einmal geschmeckt hatte. Er kam zu der Erkenntnis, daß Brissenden ihm den Geschmack am Bier verdorben hatte, und mußte sich unwillkürlich fragen, ob die Bücher ihm nicht doch den Geschmack am Umgang mit den Freunden aus alten Tagen verdarben. Er beschloß, sich nichts mehr verderben zu lassen, und ging zum Tanzboden. Dort traf er Jimmy mit einem hochgewachsenen blonden Mädchen, das ihren Tänzer augenblicklich verließ und zu Martin trat.

»Ganz wie in alten Tagen!« erklärte Jimmy den übrigen Mitgliedern der Bande, die ihn auslachten, als Martin und das blonde Mädchen sich in einen wirbelnden Walzer stürzten. »Und ich bin ihm weiß Gott nicht böse. Ich freue mich viel zu sehr, ihn wiederzusehen. Wie die tanzen, was? Wie geschmiert. Müssen die Mädchen ihm nicht nachrennen?«

Aber Martin lieferte Jimmy das blonde Mädchen wieder ab, und dann blieben die drei mit einem halben Dutzend Freunden stehen, beobachteten die tanzenden Paare und lachten und scherzten miteinander. Alle freuten sich, daß Martin zu ihnen zurückgekehrt war.

Keines seiner Bücher war erschienen, und er hatte in ihren Augen keinen eingebildeten Wert. Sie liebten ihn um seiner selbst willen. Er kam sich wie ein Fürst vor, der aus dem Exil heimgekehrt war, und sein einsames Herz sonnte sich in der Freundlichkeit, die ihm von allen Seiten erwiesen wurde. Es wurde ein toller Tag, aus dem er soviel wie möglich herausholte. Er hatte Geld genug, und wie in alten Tagen, wenn er mit der Heuer in der Tasche von See zurückgekommen war, ließ er die Dollars springen.

Einmal sah er Lizzie Connolly in den Armen eines jungen Arbeiters vorbeitanzen; und als er später die Runde durch den Pavillon machte, traf er sie an einem Tische sitzend an. Als die erste Überraschung sich gelegt hatte und Grüße gewechselt waren, führte er sie in den Garten, wo sie miteinander reden konnten, ohne der Musik wegen schreien zu müssen. Von dem Augenblick an, als er mit ihr sprach, war sie sein. Das wußte er. Das las er in der stolzen Demut ihrer Augen, in jeder zärtlichen Bewegung ihres stolz getragenen Körpers und in der Art und Weise, wie ihre Augen an seinen Lippen hingen. Sie war nicht mehr das junge Mädchen, das er seinerzeit getroffen hatte. Sie war jetzt Weib, und Martin bemerkte, daß ihre wilde trotzige Schönheit größer als je war, weil sie gleichsam größere Herrschaft über sie erlangt hatte, ohne daß sie deshalb etwas von ihrer Wildheit verloren hatte. »Eine Schönheit, eine vollkommene Schönheit!« murmelte er bewundernd. Und er wußte, daß sie sein war, daß er nur zu sagen brauchte: »Komm!« damit sie ihm bis ans Ende der Welt folgte.

Aber im selben Augenblick, als dieser Gedanke ihm durch den Kopf flog, erhielt er einen heftigen Schlag, der ihn fast zu Boden geschleudert hätte. Es war die Faust eines Mannes, der so wütend war, daß er in der Eile nicht das Kinn, gegen das der Schlag gerichtet war, getroffen hatte. Martin drehte sich taumelnd um und sah wieder die Faust auf sich losfahren. Er duckte sich, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, und die Faust flog vorbei, ohne ihn zu treffen, während der Mann, dem sie gehörte, wie ein Kreisel herumschnurrte. Dann schlug Martin selbst mit der Linken zu, und der Mann stürzte, sprang aber wieder auf die Füße und ging rasend auf ihn los. Martin sah in ein von Leidenschaft verzerrtes Gesicht und dachte, welchen Grund die Wut des andern wohl haben mochte. Während er dies aber dachte, schlug er wieder mit der linken Faust zu und legte das ganze Gewicht seines Körpers in den Schlag. Der Mann stürzte rücklings nieder und blieb auf dem Boden liegen, während Jimmy mit einigen von der Bande angelaufen kam.

Martin bebte am ganzen Körper. Das waren die alten Tage wieder mit ihrer Rache, ihrem Tanz, ihrem Kampf und ihrer Lust. Er behielt seinen Gegner genau im Auge, warf jedoch einen Blick auf Lizzie. Gewöhnlich kreischten die Mädchen, wenn die Burschen sich prügelten, aber sie hatte nicht gekreischt. Sie sah ihn mit zurückgehaltenem Atem an, vor Spannung ein wenig vorgebeugt, die eine Hand gegen die Brust gepreßt, mit roten Wangen und einem erstaunten, bewundernden Ausdruck in den Augen. Der Mann war wieder auf die Füße gekommen und versuchte sich von den Händen, die ihn hielten, freizumachen.

»Sie wartete auf meine Rückkehr«, verkündete er all und jedem. »Sie wartete auf meine Rückkehr, und da kommt so ein neuer Lümmel und drängt sich dazwischen. Laßt mich los, sage ich. Ich will es ihm zeigen!«

»Was fällt dir ein?« fragte Jimmy, während er half, den jungen Burschen zurückzuhalten. »Der Lümmel ist Mart Eden. Wo der hinschlägt, wächst kein Gras mehr, das sage ich dir. Und wenn du mit ihm anbindest, frißt er dich mit Haut und Haaren.«

»Er kann sie mir nicht so stehlen«, wandte der andere ein.

»Er hat den Fliegenden Holländer vermöbelt, und den kennst du«, fuhr Jimmy in seinen Ermahnungen fort. »In fünf Runden hat er ihn abgetan. Du kommst nie gegen ihn auf, daß du's weißt.«

Diese Mitteilung schien besänftigend auf den zornigen jungen Mann zu wirken. Er beehrte Martin mit einem Starren, das ihn vom Kopf bis zu den Füßen maß.

»Er sieht nicht gerade so aus«, spottete er; aber der Spott kam ihm nicht recht von Herzen.

»Das dachte der Fliegende Holländer auch«, versicherte ihm Jimmy. »Aber jetzt komm; laß uns rausgehen, es gibt Mädchen genug auf der Welt. Kommt!«

Der junge Bursche ließ sich nach dem Pavillon führen, und die Bande folgte ihm.

»Wer ist das?« wandte Martin sich an Lizzie. »Und was bedeutet das?«

Der Kampfeseifer, der in alten Tagen so stark und andauernd in ihm gewesen, hatte sich schon gelegt, und er entdeckte, daß er sich jetzt zu sehr beobachtete, um noch so primitiv, mit einfachen Gedanken und Wünschen zu leben.

Lizzie warf den Kopf zurück.

»Ach, es ist nichts mit ihm!« sagte sie. »Ich bin nur so ein bißchen mit ihm gegangen. Ich mußte das, weißt du«, erklärte sie nach einer Pause. »Ich fing an, mich so einsam zu fühlen. Aber ich habe nie vergessen.« Ihre Stimme sank, und sie blickte vor sich hin. »Ich würde ihn jederzeit deinetwegen laufen lassen.«

Martin sah ihr abgewandtes Gesicht und wußte, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu nehmen; ihm fuhr der Gedanke durch den Kopf, ob eine reine Aussprache alles in allem so viel wert sei, und er vergaß ganz darüber zu antworten.

»Du hast es ihm tüchtig gegeben«, fühlte sie sich mit einem Lachen vor.

»Er ist aber doch ein tüchtiger Kerl«, räumte er großmütig ein. »Wenn die andern ihn nicht weggeholt hätten, würde er mir noch tüchtig zu schaffen gemacht haben.«

»Wer war die Freundin, mit der ich dich an dem Abend sah?« fragte sie plötzlich.

»Ach, eben nur eine Freundin«, lautete seine Antwort. »Es ist lange her«, murmelte sie nachdenklich. »Mir ist, als wären tausend Jahre seitdem vergangen.«

Martin ging nicht weiter auf die Angelegenheit ein. Er brachte das Gespräch auf andere Bahnen. Sie frühstückten im Restaurant, wo er Wein und andere gute Dinge bestellte, und nachher tanzte er mit ihr und mit keiner andern, bis sie müde war. Später, am Nachmittag, wanderten sie unter Bäumen, wo sie sich auf die gute alte Art und Weise niedersetzte, während er sich der Länge lang, den Kopf auf ihrem Schoße, auf den Rücken legte. Halb schlafend lag er, während sie ihm zärtlich das Haar streichelte und ihn voller Liebe anblickte. Als er plötzlich die Augen öffnete, las er die Regung in ihrem Antlitz. Ihre Lider senkten sich, dann aber schlug sie die Augen auf und blickte ihm mit einem stolzen, liebevollen Blick ins Gesicht.

»Ich hab' mich all diese Jahre ordentlich gehalten«, sagte sie so leise, daß es wie ein Flüstern klang.

Martin wußte, daß dies, so wunderbar es klang, die Wahrheit war. Eine starke Versuchung überkam ihn. Es stand in seiner Macht, sie glücklich zu machen. Wenn auch ihm das Glück versagt war, warum sollte er sie nicht glücklich machen? Er konnte sie heiraten und sie mitnehmen nach seinem Grasschloß auf den Marquesas. Der Wunsch, das zu tun, war stark in ihm, aber noch stärker war etwas in seiner Natur, das es ihm verbot. Trotz allem war er immer noch der Liebe treu. Die alten Tage mit ihrer Zügellosigkeit und Gleichgültigkeit waren vorbei. Er konnte sie nicht wieder zurückrufen und konnte auch nicht wieder zu ihnen zurückkehren. Er war ein anderer geworden – wie sehr, das wußte er erst in diesem Augenblick.

»Ich gehöre nicht zu den Männern, die sich verheiraten, Lizzie«, sagte er leichthin.

Die Hand, die sein Haar streichelte, hielt einen Augenblick inne, dann aber streichelte sie weiter, sanft und liebkosend wie zuvor. Er sah, wie ein harter Ausdruck in ihr Antlitz trat, aber es war die Härte, die einem großen Entschluß folgt, denn ihre Wangen behielten ihre warme Röte, und ihr ganzes Wesen glühte in Liebe.

»Das meinte ich nicht«, begann sie, doch die Stimme versagte ihr. »Aber einerlei, mir ist es gleichgültig! Mir ist es gleichgültig!« wiederholte sie. »Ich bin stolz darauf, deine Freundin zu sein. Ich würde alles für dich tun. So bin ich nun einmal.«

Martin setzte sich auf. Er nahm ihre Hand in die seine. Er tat es in voller Überlegung, warm, aber ohne Leidenschaft; und diese Art Wärme kühlte sie ab.

»Laß uns nicht weiter davon reden«, sagte sie.

»Du bist ein großes, edles Weib«, sagte er. »Und ich sollte stolz auf dich sein. Und ich bin es auch, ich bin es! Du bist für mich ein Lichtstrahl in einer sehr dunklen Welt, und ich muß ehrlich gegen dich sein, ebenso ehrlich, wie du es gegen mich gewesen bist.«

»Es ist mir gleich, ob du ehrlich bist oder nicht, du könntest alles mit mir machen. Du könntest mich in den Schmutz werfen und mit Füßen treten. Und du bist der einzige Mann in der Welt, der das dürfte«, fügte sie mit einem Anflug von Trotz hinzu. »Ich habe nicht umsonst auf mich geachtet, seit ich ein kleines Kind war.«

»Und gerade deshalb möchte ich es nicht gern«, sagte er sanft. »Du bist so groß und edel, daß du mich zu ebensolchem Edelmut anspornst. Ich kann nicht heiraten, und ich kann nicht – nun ja, lieben, ohne zu heiraten, wenn ich der Liebe auch in alten Tagen nicht aus dem Wege gegangen bin. Es tut mir leid, daß ich hergekommen bin und dich getroffen habe. Aber dabei ist jetzt nichts mehr zu machen, und ich hätte nie gedacht, daß es so kommen sollte. Aber nun sieh mal, Lizzie! Ich kann dir nicht erzählen, wie gern ich dich habe. Ich habe dich mehr als gern. Ich bewundere und achte dich. Du bist prachtvoll, und du bist von einer prachtvollen Güte. Aber was hilft es, davon zu reden? Und doch möchte ich gern etwas für dich tun. Du hast ein hartes Leben hinter dir – laß es mich dir erleichtern.« (Ein glücklicher Ausdruck trat in ihre Augen, verschwand aber gleich wieder.) »Ich glaube bestimmt, daß ich bald viel Geld verdienen werde – massenhaft Geld.«

In diesem Augenblick gab er den Gedanken an das Tal und die Bucht und das Grasschloß und den zierlichen weißen Schoner auf. Was bedeutete das alles schließlich? Er konnte fortziehen, wie er so oft getan, als einfacher Matrose, auf irgendeinem Schiff, irgendwohin.

»Das Geld möchte ich dir gern überlassen. Es muß doch irgend etwas geben, was du dir wünschest – zur Schule oder auf die Handelshochschule zu gehen. Vielleicht zu studieren oder Stenographie zu erlernen. Das könnte ich für dich ordnen. Oder vielleicht leben deine Eltern noch. Ich könnte ihnen einen Krämerladen oder sonst etwas kaufen. Sag' mir, was du dir wünschest, ich kann es dir schaffen.«

Sie antwortete nicht, sondern starrte mit trockenen Augen vor sich hin und saß unbeweglich und mit einem stechenden Schmerz in der Kehle da, den Martin so deutlich spürte, daß ihn gleichsam seine eigene Kehle schmerzte. Er bereute, daß er gesprochen hatte. Es war so jämmerlich, was er ihr geboten hatte. Er bot ihr etwas rein Äußerliches, von dem er sich schmerzlos trennen konnte, sie aber bot sich selbst, mit Entehrung, Schande, Sünde und all ihrer Hoffnung auf die ewige Seligkeit.

»Laß uns nicht mehr davon reden«, sagte sie, und ihre Stimme versagte, was sie durch Husten zu verdecken suchte. Dann stand sie auf. »Komm, laß uns heimgehen. Ich bin todmüde.«

Es war Abend geworden, und die Ausflügler waren fast alle schon verschwunden. Als aber Martin und Lizzie aus dem Gehölz kamen, wartete die Bande noch auf sie. Martin wußte sofort, was das bedeutete. Es war Gefahr im Verzuge. Die Bande war seine Leibwache. Sie gingen dann durch die Pforte, und ein Stückchen hinter ihnen her kam eine andere verstreute Bande – Lizzies Liebster, der seine Freunde gesammelt hatte, um sich zu rächen. Auch ein paar Schutzleute waren da, die gemerkt hatten, daß es etwas geben sollte. Sie folgten, um einschreiten zu können, und trieben die beiden Banden einzeln vor sich her, bis sie sie im Zuge nach San Franzisko hatten. Martin sagte Jimmy, er wollte auf der Sixteenth-Street-Station aussteigen und mit der Straßenbahn nach Oakland fahren. Lizzie war sehr still und interessierte sich offenbar nicht für das Bevorstehende. Der Zug erreichte die Sixteenth-Street-Station, und sie konnten die wartende Elektrische sehen, deren Schaffner ungeduldig klingelte.

»Da ist sie,« sagte Jimmy, »lauft ihr nach – wir halten sie schon zurück. Los, macht, daß ihr fortkommt!«

Die feindliche Bande war durch das Manöver einen Augenblick verwirrt, dann aber setzte sie den Flüchtigen nach. Die ruhigen, nüchternen Oaklander Bürger, die im Wagen saßen, beobachteten kaum den jungen Mann und das junge Mädchen, die angelaufen kamen und sich auf eine der vordersten Bänke des offenen Wagens setzten. Sie brachten das Paar nicht mit Jimmy in Verbindung, der auf das Trittbrett sprang und dem Wagenführer zurief:

»Dampf auf, alter Knabe, und mach', daß du weiterkommst!«

Im nächsten Augenblick war Jimmy herumgewirbelt, und die Passagiere sahen, wie er einem Manne, der angelaufen kam und in den Wagen zu steigen versuchte, die Faust ins Gesicht pflanzte. Und überall im Wagen pflanzten sich Fäuste in die Gesichter von Männern, die aufzusteigen versuchten – es waren Jimmy und seine Bande, die in einer langen Reihe auf dem Trittbrett standen und Front gegen die angreifende Bande machten. Der Schaffner klingelte heftig, und der Wagen setzte sich in Bewegung, während Jimmys Bande, die jetzt die letzten Angreifer verjagt hatte, absprang, um den Kampf auf der Straße fortzusetzen. Der Wagen fuhr weiter und hatte das Kampfgetümmel bald weit hinter sich gelassen, aber die verblüfften Fahrgäste ließen sich nicht einen Augenblick einfallen, daß der ruhige junge Mann und die junge Arbeiterin, die in einer Ecke des offenen Wagens saßen, die Ursache des ganzen Auftritts gewesen waren.

Martin hatte sich über den Kampf gefreut, die alte Kampfesfreude hatte ihn wieder durchbebt. Aber dies Gefühl verschwand schnell, und eine unendliche Traurigkeit senkte sich auf ihn herab. Er fühlte sich sehr alt – um Jahrhunderte älter als die sorglosen, unbekümmerten jungen Leute, die in den entschwundenen Tagen seine Kameraden gewesen waren. Er hatte es weit gebracht – zu weit, um noch umkehren zu können. Ihre Lebensweise, die einmal auch die seine gewesen, war ihm jetzt zuwider. Alles enttäuschte ihn. Er war ihnen entfremdet. Wie das Bier schal geschmeckt hatte, so war auch ihre Gesellschaft ihm schal erschienen. Er hatte sich zu weit von ihnen entfernt. Zwischen ihm und ihnen lagen viele Tausende von Büchern, die er geöffnet hatte. Er hatte sich selbst ausgeschlossen. Er hatte das mächtige Reich der Kenntnisse so weit durchreist, daß er nicht wieder heimfinden konnte. Andrerseits aber war er nur ein Mensch, und sein Drang nach der Gesellschaft anderer Menschen war immer noch unbefriedigt. Er hatte kein neues Heim gefunden. So wenig wie die Bande, wie seine eigene Familie, wie die Bourgeoisie ihn verstehen konnte, so wenig konnte das junge Mädchen neben ihm, das er doch so hoch schätzte, ihn oder die Ehre verstehen, die er ihr bezeugte. Und als er hieran dachte, erhielt seine Traurigkeit einen Anstrich von Bitterkeit.

»Vertrag' dich lieber wieder mit ihm«, sagte er zu Lizzie, als er sich vor der Arbeiterkaserne, in der sie wohnte, verabschiedete. Er sprach von dem jungen Burschen, den er heute verdrängt hatte.

»Ich kann nicht ... jetzt nicht«, sagte sie.

»Ach was,« sagte er scherzend, »du brauchst ja nur zu pfeifen, dann kommt er angelaufen.«

»Das meinte ich nicht«, sagte sie einfach.

Und er wußte, was sie gemeint hatte.

Sie lehnte sich an ihn, als sie gute Nacht sagen wollte, aber sie tat es nicht verlockend oder verführerisch, nur träumerisch und demütig. Er war tief gerührt. Seine große Nachsicht überkam ihn wieder. Er schloß sie in seine Arme und küßte sie, und er wußte, daß der Kuß, den sie auf seine Lippen drückte, so rein und ehrlich war, wie je ein Kuß, den ein Weib einem Manne geschenkt hatte.

»Mein Gott!« schluchzte sie. »Ich könnte für dich sterben! Ich könnte für dich sterben!«

Plötzlich riß sie sich von ihm los und lief hinauf. Er fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen traten.

»Martin Eden,« sagte er bei sich, »du bist keine Bestie, und du bist ein verflucht schlechter Nietzscheaner. Wenn du könntest, würdest du sie heiraten und ihr bebendes Herz mit Freude füllen; aber du kannst nicht, du kannst nicht! Und das ist eine verfluchte Schande!«

»›Der arme alte Vagabund zeigt seine alten Schwären‹«, zitierte er murmelnd Henley. »›Das Leben ist, glaube ich, eine Dummheit und eine Schande‹. Es ist – eine Dummheit und eine Schande.«

 

* * *


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