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Arthur blieb vor der Haustür stehen, während Ruth Marias steile Treppe emporklomm. Sie hörte das schnelle Klappern der Schreibmaschine, und als Martin ihr öffnete, war er gerade auf der letzten Seite eines Manuskripts. Sie wollte sich den bestimmten Bescheid holen, ob er am Dankfest zum Essen käme oder nicht, ehe sie aber sagen konnte, was sie wollte, sprang Martin in das hinein, was ihn selbst erfüllte.

»Ich muß es dir vorlesen«, rief er, während er die Durchschläge fortlegte und das Manuskript ordnete. »Es ist meine letzte Arbeit und ist sehr verschieden von dem, was ich bisher gemacht habe. Es ist so verschieden davon, daß ich mich fast davor fürchte, und trotzdem habe ich eine heimliche Ahnung, daß es gut ist. Jetzt sollst du Richter sein. Es ist eine Geschichte aus Hawaii. Ich habe sie ›Wiki-Wiki‹ genannt.«

Die Schöpferfreude warf einen warmen Schimmer über sein Gesicht, während Ruth in dem kalten Stübchen vor Kälte zitterte und bei der Begrüßung vor seiner kalten Hand erschrocken war. Sie hörte ihm aufmerksam zu, als er las, und obwohl er nur hin und wieder Mißbilligung in ihrem Gesicht bemerkt hatte, fragte er doch, als er fertig war: »Nun, ehrlich, wie findest du es?«

»Ich – ich weiß nicht recht«, antwortete sie. »Wird sie – glaubst du, daß du die Geschichte verkaufen kannst?«

»Ich fürchte, nein«, gestand er. »Sie ist zu kräftig für die Zeitschriften. Aber sie ist wahr – mein Wort – sie ist wahr!«

»Aber warum schreibst du nur solche Sachen, wenn du weißt, daß du sie nicht verkaufen kannst«, fuhr sie unerbittlich fort. »Du schreibst doch, weil du davon leben willst, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt; aber die elende Geschichte ist einfach mit mir durchgegangen. Ich mußte sie schreiben. Sie wollte geschrieben sein.«

»Aber der Held, der ›Wiki-Wiki‹ – warum läßt du ihn so roh reden? Das muß doch die Leser verletzen, und daher kommt es wohl, daß die Redakteure deine Arbeiten ablehnen.«

»Weil der wirkliche ›Wiki-Wiki‹ so gesprochen haben würde.«

»Aber das ist kein guter Geschmack.«

»Das ist das Leben«, erwiderte er hart. »Es ist realistisch. Es ist wahr. Und ich muß über das Leben schreiben, wie ich es sehe.«

Sie antwortete nicht, einen Augenblick saßen sie schweigend da. Er konnte sie nicht verstehen, weil er sie liebte, und sie ihn nicht, weil er so groß war, daß er weit über ihren Horizont hinausragte.

»Na, das Honorar vom Transcontinental habe ich also bekommen«, sagte er mit einem Versuch, das Gespräch auf weniger gefährliche Bahnen zu lenken. Er lachte bei dem Gedanken an das bärtige Trio, wie er es zuletzt gesehen, nachdem er ihm die vier Dollar neunzig und die Fahrkarte für die Fähre abgenommen hatte.

»Dann kommst du also!« rief sie beglückt. »Darum bin ich hergekommen.«

»Ob ich komme?« murmelte er geistesabwesend. »Wohin?«

»Morgen zum Essen natürlich! Du weißt doch, daß du gesagt hast, du wolltest deinen Anzug einlösen, wenn du das Geld bekämst.«

»Das hatte ich vergessen«, sagte er demütig. »Weißt du, heute morgen hat der Aufseher endlich Marias zwei Kühe und das Kälbchen abgefaßt und – nun, es traf sich so unglücklich, daß Maria kein Geld hatte, und da mußte ich die Kühe für sie einlösen. Die fünf Dollar, die ich vom Transcontinental hatte, spazierten in die Tasche des Mannes.«

»Dann kommst du also doch nicht?«

Er sah an seinen Kleidern hinunter.

»Ich kann nicht.«

Ihre blauen Augen standen voll Tränen, Tränen der Enttäuschung und des Vorwurfs, aber sie sagte nichts.

»Nächstes Jahr lade ich dich zum Essen bei Delmonico ein,« sagte er tröstend, »oder in London, oder in Paris, wo du willst. Das weiß ich.«

»Ich las vor einigen Tagen in der Zeitung,« sagte sie plötzlich, »daß mehrere neue Beamte bei der Post angestellt worden sind. Du warst doch zuerst an der Reihe, nicht wahr?«

Er mußte zugeben, daß er die Aufforderung erhalten, aber abgeschlagen hatte.

»Ich war meiner – bin meiner so sicher«, schloß er. »In einem Jahre werde ich mehr als ein Dutzend Postbeamte verdienen. Wart' es nur ab.«

»Ach!« Das war alles, was sie sagte, als er schwieg. Sie stand auf und zog sich die Handschuhe an. »Ich muß gehen, Martin. Arthur wartet auf mich.«

Er nahm sie in seine Arme und küßte sie, aber sie war sehr zurückhaltend. Es war keine Spannkraft in ihrem Körper, sie schlang nicht die Arme um ihn, und ihre Lippen begegneten den seinen ohne den gewohnten Druck.

Sie ist mir böse, sagte er bei sich, als er sie hinausbegleitet hatte. Aber warum? Es war natürlich Pech, daß der Aufseher Marias Kühe erwischt hatte. Aber das war nur eine Fügung des Schicksals, für die niemand etwas konnte. Es fiel ihm auch nicht ein, daß er anders hätte handeln können, als er gehandelt hatte. Nein, es war doch nicht recht, daß er die Aufforderung der Post abgeschlagen hatte, war sein nächster Gedanke. Und außerdem hatte ihr »Wiki-Wiki« nicht gefallen.

Oben auf der Treppe machte er kehrt, um dem Briefträger, der seine Nachmittagsrunde machte, entgegenzugehen. Das alte Gefühl fieberhafter Erwartung überkam ihn wieder, als er den kleinen Packen länglicher Briefe entgegennahm. Einer von ihnen war nicht länglich. Er war kurz und dünn, und auf dem Umschlag stand als Absender »New-Yorker Rundschau«. Er riß den Umschlag auf, bedachte sich dann aber. Es konnte nicht die Mitteilung von einer Annahme einer seiner Arbeiten sein, denn er hatte der Zeitschrift kein Manuskript eingesandt. Vielleicht – und sein Herz stand fast still bei dem wahnsinnigen Gedanken –, vielleicht bestellten sie einen Artikel bei ihm, aber im nächsten Augenblick ließ er diesen Gedanken als gänzlich unmöglich fallen.

Es war ein kurzer geschäftsmäßiger, vom Redaktionssekretär unterschriebener Brief, der Martin ganz einfach mitteilte, daß sie ihm einen, bei ihnen eingegangenen anonymen Brief schickten, und daß er sicher sein könnte, daß die Redaktion unter keinen Umständen anonyme Briefe berücksichtigte.

Der beiliegende Brief war ein sehr plumpes, handgedrucktes Schreiben. Es war ein Sammelsurium unbeherrschter Angriffe auf Martin, die in der Behauptung gipfelten, daß der »sogenannte Martin Eden«, der Erzählungen an Zeitschriften verkaufte, gar nicht Schriftsteller wäre, sondern in Wirklichkeit die Geschichten aus alten Zeitschriften stähle, sie auf der Maschine abschriebe und als seine eigenen verschickte. Der Umschlag trug den Poststempel »San Leandro«. Martin brauchte sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen, wer der Verfasser war. Higginbothams Wendungen, Higginbothams ganzes Denken war von Anfang bis Ende unverkennbar. Martin sah in jeder Zeile nicht die schönen italienischen Typen, sondern die plumpe Krämerfaust seines Schwagers.

Aber weshalb denn nur? fragte er sich vergebens. Was hatte er Bernard Higginbotham getan? Es war so dumm, so sinnlos. Und im Laufe der Woche erhielt Martin fünf oder sechs gleichlautende Briefe von verschiedenen Redakteuren in den Oststaaten. Er fand keine Erklärung dafür. Die Redakteure benahmen sich im übrigen, wie Martin fand, sehr anständig. Sie kannten ihn gar nicht, und doch schrieben einige von ihnen direkt verständnisvoll. Er sah, daß der boshafte Versuch, ihm zu schaden, mißglückt war. Wenn überhaupt etwas dabei herauskam, so nutzte die Sache ihm eher, denn eine ganze Reihe von Redakteuren hatte jetzt seinen Namen beachtet. Wenn sie eines Tages eines der Manuskripte, die er ihnen schickte, lasen, so erinnerten sie sich vielleicht des Mannes, über den sie einen anonymen Brief erhalten hatten. Und vielleicht konnte diese Erinnerung sie dann ein wenig zu seinen Gunsten beeinflussen.

In dieser Zeit geschah es, daß Martin tief in der Achtung Marias sank. Eines Morgens traf er sie weinend und stöhnend vor Schmerz in der Küche, wo sie vergebens versuchte, einen großen Haufen Wäsche fertig zu plätten. Er stellte sofort eine Grippe fest, verordnete ihr eine Dosis heißen Whiskys – den Rest der Flaschen, die Brissenden ihm gebracht hatte – und hieß sie sich hinlegen. Aber Maria widersetzte sich. Sie behauptete, das Plätten müsse besorgt und die Wäsche noch am selben Abend abgeliefert werden, sonst wäre am nächsten Tage kein Essen für die sieben kleinen hungrigen Silvas im Hause.

Zu ihrem großen Erstaunen (und bis zu ihrem Tode hörte sie nicht auf, es immer wieder zu erzählen) sah sie, wie Martin ein Plätteisen vom Herd nahm und eine feine Bluse auf das Plättbrett legte. Es war Kate Flanagans beste Sonntagsbluse, und Kate Flanagan war die anspruchsvollste und bestgekleidete Dame in der Welt Marias. Fräulein Flanagan hatte ihr zudem besonders eingeschärft, daß sie die Bluse zum Abend brauchte. Wie jeder wußte, war sie mit John Collins, dem Schmied, verlobt, und wie Maria unter der Hand erfahren hatte, wollten Fräulein Flanagan und Herr Collins am nächsten Tage einen Ausflug nach dem Golden Gate Park machen. Maria machte vergebliche Anstrengungen, das kostbare Kleidungsstück zu retten. Martin führte die wankende Frau zu einem Stuhl, und von hier aus beobachtete sie ihn mit großen runden Augen. In einem Viertel der Zeit, die sie dazu gebraucht hätte, war die Bluse geplättet, und zwar so gut, als hätte sie es selbst getan, wie sie Martin auch einräumen mußte.

»Ich könnte noch schneller arbeiten,« erklärte er, »wenn Ihre Eisen nur heißer wären.«

Sie fand, daß die Eisen, die er schwang, weit heißer waren, als sie sie je zu benutzen gewagt hatte.

»Sie sprengen die Wäsche nicht gut«, sagte er nach einem Augenblick. »Das muß ich Ihnen beibringen. Man muß sie dabei pressen; wenn Sie das gesprengte Zeug pressen, können Sie viel schneller plätten.«

Er holte eine Kiste aus dem Brennholzstapel im Keller, machte einen Deckel dazu und plünderte den Alteisenvorrat, den die Silvaschen Sprößlinge für den Lumpenhändler sammelten. Dann legte er die gesprengte Wäsche in die Kiste, legte den Deckel darüber, preßte ihn mit dem alten Eisen nieder, und damit war der Apparat fertig und in Gebrauch.

»Passen Sie jetzt auf, Maria«, sagte er, warf Jacke und Weste ab und ergriff ein Plätteisen, das, wie er sagte, »richtig heiß« war.

»Und als er fertig mit plätten, er waschen Wollwäsche«, beschrieb sie später. »Er sagen, Maria, Sie großes Schaf. Ich zeigen Ihnen, wie Wollwäsche waschen, und er zeigen mich. Zehn Minuten er machen Maschine – ein Faß, eine Radnabe, zwei Stangen – so.«

Martin hatte den Kniff von Joe in Shelley Hot Springs gelernt. Die alte Radnabe, die am Ende der senkrechten Stange befestigt war, bildete den Stempel. Der wurde dann wieder an einer andern Stange befestigt, die an die Zimmerdecke gebunden war, und nun hämmerte die Nabe auf die Wollsachen im Fasse los, und er konnte sie mit einer Hand gründlich bearbeiten.

»Nichts mehr Maria waschen Wolle«, schloß sie stets ihren Bericht. »Ich lassen Gören arbeiten mit Stange und Nabe und Faß. Er fixer Mensch, Herr Eden.«

Aber dennoch sank er durch seine große Geschicklichkeit und die Verbesserungen, die er in ihrer Wäscherei einführte, ungeheuer tief in ihrer Achtung. Der Schimmer von Romantik, mit dem sie ihn in Gedanken umgeben hatte, schwand vor der unangenehmen Tatsache, daß er früher Wäscher gewesen war. Alle seine Bücher und die vornehmen Freunde, die ihn im Wagen oder mit zahllosen Whiskyflaschen besuchten, bedeuteten nichts mehr. Alles in allem war er nur ein gewöhnlicher Arbeiter aus ihrer eigenen Klasse und Kaste. Er war menschlicher und zugänglicher geworden, aber er war von jetzt an kein Mysterium mehr.

Seiner Familie wurde Martin immer mehr entfremdet. Kurz nach Higginbothams heimtückischem Angriff zeigte Hermann von Schmidt ihm die Faust. Martin hatte das Glück gehabt, ein paar Kurzgeschichten, einige humoristische Verse und Witze zu verkaufen, was einen vorübergehenden Wohlstand zur Folge hatte. Er konnte nicht allein Abzahlungen auf seine Rechnungen machen, er hatte auch noch Geld übrig, um seinen schwarzen Anzug und sein Fahrrad einzulösen. Das Rad, bei dem ein Kugellager in Unordnung geraten war, mußte repariert werden, und um seinem zukünftigen Schwager eine Freundlichkeit zu erweisen, schickte er es in seine Werkstatt. Am Nachmittag desselben Tages wurde Martin dadurch angenehm überrascht, daß ein kleiner Junge ihm das Rad zurückbrachte. Schmidt war also freundlich gestimmt, wie Martin aus dieser ungewöhnlichen Gunstbezeugung schloß – man mußte nämlich in der Regel reparierte Fahrräder selbst abholen. Als er aber nachsah, war nichts an dem Rad gemacht. Er rief an und erfuhr, daß der Bräutigam seiner Schwester »in keiner Art und Weise« etwas mit ihm zu tun zu haben wünschte.

»Hermann von Schmidt,« antwortete Martin heiter, »ich hätte nicht schlecht Lust, hinzukommen und Ihnen tüchtig eins auf die Nase zu versetzen.«

»Wenn Sie sich in meinem Geschäft sehen lassen,« lautete die Antwort, »schicke ich nach der Polizei. Und ich lasse Sie einsperren, jawohl. Ich kenne Sie gut, und mir können Sie nichts vormachen. Ich will nichts mit Leuten Ihres Schlages zu tun haben. Sie sind ein Herumtreiber, jawohl, das sind Sie, oder ich will nicht Schmidt heißen. Es wird Ihnen nicht gelingen, mich auszunutzen, weil ich Ihre Schwester heirate. Warum suchen Sie sich nicht Arbeit wie andere Leute und verdienen sich Ihr Brot auf ehrliche Weise? Wie? Bitte, antworten Sie mir!«

Martins Philosophie half ihm, seinen Ärger zu verscheuchen, und er hängte den Hörer mit einem langgezogenen, ungläubigen Pfiff an. Die Sache belustigte ihn, aber dann folgte die Reaktion, und er fühlte sich von seiner Einsamkeit bedrückt. Niemand verstand ihn, niemand schien ihn gebrauchen zu können, niemand außer Brissenden, und der war verschwunden, Gott allein wußte, wohin – .

Es dämmerte, als Martin das Obstgeschäft verließ und, seine Einkäufe im Arm, heimging. Vor ihm an der Ecke hielt die Straßenbahn, und als er unter den Aussteigenden eine ihm wohlbekannte magere Gestalt sah, klopfte ihm das Herz vor Freude. Es war Brissenden, und in dem kurzen Augenblick, bis die Straßenbahn sich wieder in Bewegung setzte, hatte Martin die schwellenden Manteltaschen bemerkt; die eine enthielt Bücher, die andere eine Whiskyflasche.

 

* * *


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