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An einem schönen Spätsommertage, einem Tage, ähnlich dem im vergangenen Jahre, als Martin und Ruth sich ihre Liebe gestanden hatten, las er ihr seinen »Liebeszyklus« vor. Es war Nachmittag, und wie damals waren sie nach ihrem Lieblingsplätzchen in die Berge gefahren. Hin und wieder hatte sie ihn beim Vorlesen mit kleinen Freudenausbrüchen unterbrochen, und als nun der letzte Bogen des Manuskriptes zu den übrigen gelegt war, wartete er auf ihr Urteil.

Sie bedachte sich einen Augenblick, dann sprach sie zögernd, als würde es ihr schwer, die Härte ihrer Gedanken in Worte zu kleiden.

»Ich finde sie schön – sehr schön; aber du kannst sie doch nicht verkaufen, nicht wahr? Du verstehst, was ich meine«, sagte sie fast bittend. »Dein Schreiben hat keinen praktischen Wert. Irgend etwas – vielleicht liegt es am Publikum – hindert dich, dir dein Brot damit zu verdienen. Bitte, Liebling, versteh mich nicht falsch. Ich fühle mich selbstverständlich stolz und geschmeichelt – ich wäre ja keine richtige Frau, täte ich das nicht –, daß du solche Gedichte über mich schreibst. Aber sie schaffen nicht die Bedingungen, daß wir uns verheiraten können. Verstehst du das nicht, Martin? Glaub' nicht, daß ich berechnend bin. Es ist die Liebe, der Gedanke an unsere Zukunft, der mich bedrückt. Ein ganzes Jahr ist vergangen, seit wir uns unsere Liebe gestanden, und unser Hochzeitstag ist nicht näher gerückt. Halte mich nicht für taktlos, daß ich von unserer Hochzeit spreche, denn alles, was ich bin und fühle, steht auf dem Spiele. Warum suchst du dir nicht eine Stellung bei einer Zeitung, wenn du so auf das Schreiben versessen bist? Warum wirst du nicht Journalist ... vorläufig wenigstens?«

»Das würde meinen Stil verderben«, antwortete er mit leiser, klangloser Stimme. »Du ahnst nicht, wie ich an meinem Stil gearbeitet habe.«

»Aber die Kurzgeschichten?« fuhr sie fort. »Du nanntest sie selbst Tagelöhnerarbeit. Du hast doch eine Menge geschrieben, haben die deinen Stil denn nicht verdorben?«

»Nein, das ist etwas anderes. Die Kurzgeschichten habe ich aus meinem Gehirn ausgepreßt, wenn ich meine andern Arbeiten erledigt hatte. Aber die Arbeit eines Journalisten ist eine Plackerei von morgens bis abends, die das ganze Leben beherrscht. Das Leben eines Reporters ist der reine Wirbelwind – er lebt nur für den Augenblick ohne Vergangenheit oder Zukunft, und sicher ohne an etwas anderes zu denken als an den Reporterstil, der jedenfalls mit Literatur nichts zu tun hat. Jetzt, da mein Stil Form annimmt und sich kristallisiert, Journalist zu werden, wäre literarischer Selbstmord. Tatsächlich war jede Kurzgeschichte, jedes Wort jeder Kurzgeschichte eine Kränkung meiner Persönlichkeit, meiner Selbstachtung, meines Respekts vor allem, was schön ist. Ich sage dir, es war zum Krankwerden; ich beging ein Verbrechen, und im stillen freute ich mich, als ich sie nicht mehr anbringen konnte – wenn ich auch mein Zeug ins Leihamt tragen mußte. Aber die Freude, die ich beim Schreiben des »Liebeszyklus« fühlte! Das war Schöpferfreude in ihrer edelsten Form. Das war Ersatz für alles.«

Martin wußte nicht, daß das Gefühl der Schöpferfreude Ruth völlig unbekannt war. Sie gebrauchte den Ausdruck – aus ihrem Munde hatte er ihn zuerst gehört, sie hatte davon gelesen, als sie für ihr Universitätsexamen arbeitete, aber sie war alles andere eher als ein origineller oder schöpferischer Geist, und wenn sie über kulturelle Dinge sprach, so gab sie nur wieder, was sie von andern hörte.

»Kann der Redakteur mit seinem Verbessern deiner ›Seelyrik‹ nicht recht gehabt haben?« fragte sie. »Vergiß nicht, ein Redakteur muß doch etwas können, sonst wäre er kein Redakteur.«

»Das ist wieder einmal das Festhalten am Bestehenden«, antwortete er, während sein Zorn gegen den ganzen Redakteurstand ihn wieder zu übermannen drohte. »Was besteht, ist nicht nur richtig, sondern auch das Beste. Daß etwas existiert, ist ein hinreichender Beweis für seine Existenzberechtigung – wie die große Masse glaubt – nicht nur unter den augenblicklichen, sondern unter allen Bedingungen. Es ist natürlich ihre Unwissenheit, die sie dergleichen Unsinn glauben läßt. Diese Unwissenheit, die nicht mehr und nicht weniger ist als der von Weininger beschriebene mörderische Geistesprozeß. Sie glauben zu denken, und solche gedankenlosen Geschöpfe bestimmen über das Leben der wenigen Menschen, die wirklich denken.«

Er schwieg, denn er hatte das peinliche Gefühl, daß er an Ruths Ohr vorbeisprach.

»Ich weiß wirklich nicht, wer dieser Weininger ist«, erwiderte sie; »und du verallgemeinerst so schrecklich, daß ich dir nicht folgen kann. Ich sprach von der Befähigung der Redakteure –«

»Und ich sage dir,« unterbrach er sie, »daß neunundneunzig Prozent aller Redakteure überhaupt keine Befähigung haben. Sie können gar nicht schreiben. Du wirst nicht glauben, daß sie es vorziehen, an das Pult gefesselte Sklaven ihrer Abonnenten und Verleger zu sein, statt zu schreiben. Sie haben versucht zu schreiben, aber es ist ihnen nicht geglückt Und das ist ja gerade das verfluchte Paradox. Jedes Tor, das ins Reich der Literatur führt, ist von diesen Hofhunden bewacht, die selbst kein Glück in der Literatur gehabt haben. Redakteure, Redaktionssekretäre, Lektoren, Verleger – fast alle sind sie Männer, die erfolglos zu schreiben versucht haben. Und doch sollen gerade sie, die von allen Menschen unter der Sonne am wenigsten dazu geeignet sind, entscheiden, was im Druck erscheinen soll oder nicht – sie, die selbst bewiesen haben, daß es ihnen an Originalität und an dem heiligen Feuer fehlt, sollen über Originalität und Genie zu Gericht sitzen. Und nach ihnen kommen die Kritiker, die ebenso verfehlte Existenzen sind. Erzähle mir nicht, daß sie nicht ihre Träume geträumt und versucht haben, Gedichte oder Romane zu schreiben, denn das haben sie, und es ist ihnen nicht geglückt. Weißt du, diese üblichen Besprechungen sind widerlicher zu schlucken als Lebertran. Aber du kennst ja meine Meinung über die Referenten und die sogenannten Kritiker. Selbstverständlich gibt es große Kritiker. Aber sie sind so selten wie Kometen. Wenn ich als Schriftsteller kein Glück habe, so habe ich doch jedenfalls bewiesen, daß ich für einen Redakteurposten die nötigen Fähigkeiten besitze. Davon kann man doch jedenfalls leben.«

Ruth dachte schnell, und ihre Mißbilligung der Ansichten Martins erhielt neue Nahrung in dem Widerspruch, den sie in seinen Argumenten fand.

»Aber Martin, wenn dem so ist, und wenn alle Türen verschlossen sind, wofür du ja so überzeugende Beweise hast, wie war es dann aber möglich, daß sich die großen Schriftsteller überhaupt durchsetzen konnten?«

»Sie haben eben das Unmögliche möglich gemacht«, antwortete er. »Sie haben eine so flammende herrliche Arbeit geleistet, daß sie ihre Gegner zu Asche verbrannt haben. Sie haben sich durchgesetzt kraft eines Wunders, indem sie eine Schlacht gewannen, bei der tausend gegen eins zu wetten war, daß sie sie verlieren würden. Sie haben sich durchgesetzt, weil sie die narbigen Krieger sind, von denen Carlyle spricht, die sich nicht unterjochen lassen. Und das muß ich auch: ich muß das Unmögliche möglich machen.«

»Aber wenn es dir nicht gelingt? Du mußt doch auch an mich denken, Martin.«

»Wenn es mir nicht gelingt?« Er betrachtete sie einen Augenblick, als sei der Gedanke, den sie ausgesprochen, ganz unfaßbar. Dann trat ein verständnisvoller Ausdruck in seine Augen. »Wenn es mir nicht gelingt, dann werde ich Redakteur – und du wirst die Frau eines Redakteurs.«

Sie runzelte die Stirn über seinen Scherz, und dies Stirnrunzeln war so reizend, daß er sie in seine Arme schloß und es fortküßte.

»So, jetzt ist's genug«, drängte sie und befreite sich gewaltsam von dem Zauber, den seine Kraft immer wieder auf sie ausübte. »Ich habe mit Vater und Mutter gesprochen. Noch nie bin ich so fest ihnen gegenüber aufgetreten. Ich verlangte, daß sie mich anhörten. Ich war sehr ungehorsam. Sie sind gegen dich, das weißt du ja; aber ich versicherte ihnen immer wieder, wie sehr ich dich liebte, und zuletzt sagte Vater, wenn du wolltest, könntest du sofort auf seinem Bureau anfangen. Und dann sagte er von selber, er wolle dir soviel Gehalt geben, daß wir heiraten und irgendwo ein kleines Häuschen haben könnten. Ich finde das furchtbar nett von ihm – du nicht?«

Martin griff, dumpfe Verzweiflung im Herzen, mechanisch in die Tasche nach Tabak und Papier (die nicht mehr dort waren), um sich eine Zigarette zu drehen, und stammelte etwas Unartikuliertes, und Ruth fuhr fort:

»Ehrlich gesagt – aber du darfst nicht böse sein: ich will dir sagen, wie er sich zu dir stellt. Ihm gefallen deine radikalen Anschauungen nicht, und er hält dich für faul. Ich weiß natürlich gut, daß du das nicht bist. Ich weiß, daß du schwer arbeitest.«

Wie schwer, ahnt sie nicht, dachte Martin.

»Nun,« sagte er, »was ist mit meinen Anschauungen? Findest du sie auch so übermäßig radikal?«

Er blickte ihr in die Augen und wartete auf ihre Antwort.

»Ich finde sie – nun ja, sehr beunruhigend«, antwortete sie.

Die Frage war für ihn beantwortet. Und das Grau, das über dem ganzen Dasein lag, bedrückte ihn so, daß er den Vorschlag, den sie ihm soeben gemacht hatte, ganz vergaß.

Sie aber war nun einmal so weit gegangen, und so wollte sie auf die Antwort warten, um wieder auf die große Frage zurückzukommen.

Sie brauchte nicht lange zu warten. Martin hatte ihr selbst eine Frage zu stellen. Er wollte wissen, wie weit ihr Glaube an ihn ging, und ehe die Woche um war, waren beide Fragen beantwortet. Martin hatte es sehr eilig, ihr seinen Aufsatz »Die Schande der Sonne« vorzulesen.

»Warum wirst du nicht Journalist?« fragte sie, als er fertig war. »Du liebst das Schreiben so, und ich bin sicher, daß du es zu etwas bringen und dir einen Namen machen würdest. Es gibt doch eine ganze Reihe großer Sonderkorrespondenten. Sie werden hoch bezahlt, und ihr Feld ist die ganze Welt. Sie werden überall hingeschickt – ins Herz von Afrika, wie Stanley, zu einem Interview des Papstes oder zur Erforschung des unbekannten Tibet.«

»Dann gefällt dir also mein Essay nicht?« fragte er. »Du glaubst, ich hätte Aussichten als Journalist, aber nicht in der Literatur?«

»Nein, nein, es gefällt mir sehr gut Es liest sich gut Aber ich fürchte, daß die meisten deiner Leser es nicht verstehen – ich jedenfalls verstehe es nicht, so schön es auch klingt. Deine wissenschaftliche Ausdrucksweise ist mir zu hoch. Du gehst immer zu weit, Liebling, und was dir ganz einfach erscheint, ist uns andern vielleicht nicht so verständlich.«

»Ich kann mir denken, daß die philosophische Ausdrucksweise stört«, war alles, was er sagen konnte. Sein ganzes Wesen war durch das Vorlesen des reifsten Gedankens, dem er bisher Ausdruck verliehen, in Brand geraten, und ihr Urteil lähmte ihn.

»Laß es noch so armselig geschrieben sein«, beharrte er; »aber siehst du denn nicht, daß etwas darin steckt – in dem tragenden Gedanken, meine ich?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein; es ist so anders als alles, was ich gelesen habe. Ich lese Maeterlinck und verstehe ihn – .«

»Seinen Mystizismus – den verstehst du?« fiel Martin ihr ins Wort.

»Ja, aber deinen Mystizismus, der ein Angriff auf ihn sein soll, den verstehe ich nicht. Natürlich, was Originalität betrifft –«

Er unterbrach sie mit einer ungeduldigen Handbewegung, schwieg aber. – Plötzlich merkte er, daß sie schon eine Weile sprach.

»Alles in allem ist das Schreiben eine Spielerei für dich gewesen«, sagte sie. »Aber jetzt hast du sicher lange genug gespielt. Es wird Zeit, daß du das Leben ernst nimmst – unser Leben, Martin. Bisher hast du ausschließlich dein eigenes gelebt.«

»Du willst, daß ich eine Stellung annehme?«

»Ja, Vater hat dir angeboten –«

»Ich weiß das alles«, fiel er ihr ins Wort. »Aber was ich wissen will, ist, ob du den Glauben an mich verloren hast oder nicht?«

Sie drückte ihm schweigend die Hand, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»An dein Schreiben, Liebling«, gab sie fast flüsternd zu.

»Du hast eine Menge von dem, was ich geschrieben habe, gelesen«, fuhr er hart fort. »Wie findest du es? Ist es vollkommen aussichtslos? Wie ist es im Vergleich mit dem, was andere Männer geschaffen haben?«

»Aber die verkaufen ihre Arbeiten doch, und du ... nicht.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage. Glaubst du nicht, daß ich zum Schriftsteller berufen bin?«

»Also dann will ich dir antworten.« Sie nahm alle Kraft zusammen. »Ich glaube nicht, daß du schriftstellerische Begabung hast. Verzeih' mir, Liebling. Du zwingst mich, es zu sagen, und du weißt, daß ich von Literatur mehr kenne als du.«

»Ja, du hast dein Examen gemacht«, sagte er nachdenklich. »Da mußt du natürlich Bescheid wissen.«

»Aber das ist nicht alles«, fuhr er nach einer Pause, die peinlich für beide war, fort. »Ich weiß, was in mir steckt. Keiner weiß das so gut wie ich selber. Ich weiß, daß ich mich durchsetzen werde. Ich will mich nicht zu Boden drücken lassen. Es brennt ein Feuer in mir, das ich in Versen, Erzählungen und Essays ausdrücken muß. Aber daran zu glauben, bitte ich dich nicht. Ich bitte dich nur, mich zu lieben und an meine Liebe zu glauben.

»Vor einem Jahr bat ich dich um eine Frist von zwei Jahren. Und das zweite ist noch nicht abgelaufen. Ich glaube auf Ehre und bei meiner Seele, daß ich, ehe das Jahr um ist, erreicht haben werde, was ich erstrebe. Weißt du noch, wie du einmal vor langer Zeit sagtest: man müsse seine Lehrzeit machen, ehe man Schriftsteller werden könne? Nun, jetzt habe ich sie gemacht. Ich habe sie auf das kürzeste Maß gebracht, und weil du als mein Ziel vor mir standest, habe ich nie versucht, mich zu drücken. Weißt du, daß ich vergessen habe, was es heißt, ruhig zu schlafen? Vor einigen Millionen Jahren wußte ich, was es hieß, mir soviel Schlaf zu gönnen, wie ich brauchte, und nach einem wirklich guten Schlaf von selber aufzuwachen. Jetzt werde ich stets vom Wecker geweckt. Ich stelle die Uhr, je nachdem ich früh oder spät einschlafe, und das Auslöschen der Lampe ist meine letzte bewußte Handlung.

»Wenn ich anfange, schläfrig zu werden, vertausche ich das schwere Buch, in dem ich lese, mit einem leichteren. Und wenn ich darüber einschlafe, stoße ich mir den Kopf mit den Knöcheln, um den Schlaf zu vertreiben. Ich habe einmal eine Geschichte von einem Manne gelesen, der sich davor fürchtete, einzuschlafen – es war eine Erzählung von Kipling. Der Mann stellte einen Sporn so hin, daß er ihm jedesmal, wenn der Schlaf ihn zu überwältigen drohte, ins bloße Fleisch drang. Nun, ich habe dasselbe getan. Ich sehe auf die Uhr und bestimme, daß der Sporn nicht vor Mitternacht, vor eins, zwei oder drei Uhr entfernt werden darf. Und der Sporn hält mich wach bis zu der bestimmten Zeit. Der Sporn ist viele Monate lang mein Bettkamerad gewesen. Ich bin so weit gekommen, daß ich einen Schlaf von fünfeinhalb Stunden als unnötigen Luxus betrachte. Ich schlafe jetzt nur vier Stunden. Mich hungert nach Schlaf, und es gibt Zeiten, da ich aus Mangel an Schlaf ganz schwindlig werde, Zeiten, da der Tod mit seiner Ruhe und seinem Schlaf mir direkt verlockend erscheint.

»Natürlich ist das der reine Unsinn. Es kommt von Nervosität und Überanstrengung. Aber die Hauptsache ist: warum habe ich das getan? Für dich. Um meine Lehrzeit abzukürzen, um den Erfolg zu beschleunigen. Und jetzt ist meine Lehrzeit beendet. Ich kenne mein Handwerk. Ich schwöre dir, daß ich in einem Monat mehr gelernt habe als ein Student im Durchschnitt in einem Jahr. Das weiß ich, sage ich dir. Wenn ich aber nicht die verzweifelte Angst hätte, daß du mich nicht verständest, so würde ich es dir nicht sagen. Ich prahle nicht. Ich messe die Ergebnisse nach den Büchern. Heute sind deine Brüder unwissende Barbaren im Vergleich mit mir und den Kenntnissen, die ich in den Stunden, die sie schliefen, den Büchern entrissen habe. Vor langer Zeit wünschte ich einmal, berühmt zu werden. Jetzt mache ich mir sehr wenig aus Ruhm. Ich sehne mich nach dir, ich hungere nach dir – mehr als nach Essen, nach Kleidern oder Anerkennung. Ich träume davon, meinen Kopf an deine Brust zu legen und ein ganzes Menschenalter zu schlafen, und ehe ein Jahr vergangen ist, wird der Traum in Erfüllung gehen.«

Seine Kraft schlug ihr, Welle auf Welle, entgegen, und in diesem Augenblick, da sein Wille sich gegen den ihren wandte, fühlte sie sich am stärksten von ihm angezogen. Die Kraft, die ihr immer von ihm entgegengeströmt war, flammte in seiner leidenschaftlichen Stimme, in seinen leuchtenden Augen, und in der Flut von Leben und Verstand, die sich in ihm erhob. Und in diesem Augenblick – aber es war auch nur ein Augenblick – war sie sich bewußt, daß ihre Sicherheit einen Riß hatte – einen Riß, durch den sie den richtigen Martin, strahlend und unbezwinglich, sah, und, wie ein Tierbändiger hin und wieder Zweifel fühlen mag, so war es ihr in diesem Augenblick, als zweifelte sie an ihrer Fähigkeit, diesen wilden Menschengeist je zähmen zu können.

»Und noch etwas«, fuhr er fort. »Du liebst mich. Aber warum liebst du mich? Das in mir, was mich zum Schreiben zwingt, ist ja gerade das, weshalb du mich liebst. Du liebst mich, weil ich anders bin als die Männer, die du gekannt hast, und die du geliebt haben könntest. Ich bin nicht für das Kontor, für kleinlichen Geschäftsärger oder für Rechtsverdrehung geschaffen. Zwing mich dazu – mach' mich wie die andern Männer, laß mich dieselbe Arbeit wie sie tun, dieselbe Luft wie sie einatmen, und du hast den Unterschied verwischt, hast mich verdorben, hast das verdorben, was du liebst. Der Wunsch zu schreiben ist der innerste Nerv meines Wesens. Wäre ich nichts gewesen als ein Lehmklumpen, so würde ich nicht den Wunsch gehegt haben, zu schreiben, und du würdest nicht gewünscht haben, mich zum Manne zu bekommen.«

»Aber du vergißt eines,« unterbrach sie ihn, da eine Parallele in ihrem schnellarbeitenden Gehirn auftauchte, »es hat exzentrische Erfinder gegeben, die ihre Familie hungern ließen, während sie Schimären wie dem Perpetuum mobile nachliefen. Natürlich liebten ihre Frauen sie und litten mit ihnen und für sie, nicht wegen, sondern trotz ihrem Glauben an das Perpetuum mobile.«

»Das ist wahr«, lautete die Antwort. »Aber es hat auch Erfinder gegeben, die nicht so exzentrisch waren, und die hungerten, während sie praktische Dinge zu erfinden trachteten, und es gibt auch Beispiele, daß sie Erfolg hatten. Ich suche wahrhaftig nichts Unmögliches –«

»Du hast selbst gesagt, daß du das Unmögliche möglich machen wolltest«, unterbrach sie ihn.

»Ich sprach bildlich. Ich versuche nur zu tun, was andere Männer vor mir getan haben – zu schreiben und von meiner Schriftstellerei zu leben.«

Ihr Schweigen spornte ihn an, weiterzugehen.

»Dann ist mein Ziel also für dich eine ebensolche Schimäre wie das Perpetuum mobile?« fragte er.

Er las ihre Antwort in dem Druck ihrer Hand – dem mitleidigen Druck der Mutter für das leidende Kind. Und für sie war er in diesem Augenblick ein Kind, das litt, er, dieser Mann, der in seiner Verblendung versuchte, das Unmögliche möglich zu machen.

Am Ende ihrer Unterredung machte sie ihn wiederum darauf aufmerksam, daß ihre Eltern gegen die Verbindung waren.

»Aber du liebst mich doch?« fragte er.

»Ja! Ja!« rief sie.

»Und ich liebe dich, nicht sie, und sie können mir nichts nehmen.« Seine Stimme klang triumphierend. »Denn ich glaube an deine Liebe, und ich fürchte ihre Feindschaft nicht. Alles auf Erden kann fehlgehen, nur Liebe nicht. Liebe erreicht ihr Ziel, wenn sie nicht ein Schwächling ist, der auf dem Wege stolpert und stürzt.«

 

* * *


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