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Er schlief die ganze Nacht schwer und regte sich nicht, bis ihn der Briefträger auf seiner Morgenrunde weckte. Martin war müde und gleichgültig und sah die Post interesselos durch. Ein dünner Brief von einem Magazin enthielt einen Scheck auf zweiundzwanzig Dollar. Anderthalb Jahre lang hatte er den Betrag beständig angemahnt. Jetzt war es ihm gleichgültig. Die Freude, die ihn früher beim Anblick eines Schecks durchbebt hatte, war verschwunden. Dieser Scheck war nicht wie die früheren eine Verheißung der großen Zeiten, die kommen sollten. Für ihn waren es zweiundzwanzig Dollar – das war alles –, und er konnte sich dafür etwas zu essen kaufen. Mit derselben Post erhielt er noch einen Scheck, und zwar von einem New-Yorker Wochenblatt, als Honorar für einige humoristische Verse, die vor mehreren Monaten angenommen waren. Er lautete auf zehn Dollar. Er hatte plötzlich einen Einfall, den er ruhig erwog. Er wußte nicht, was er jetzt beginnen sollte, und er hatte keine Eile, etwas zu tun. Aber er mußte leben. Er hatte auch zahlreiche Schulden. War es nicht eine gute Kapitalsanlage, den großen Haufen Manuskripte mit Briefmarken zu versehen, und wieder auf die Reise zu schicken? Vielleicht wurden doch ein paar angenommen. Das würde ihm helfen, sich durchzuschlagen. Er entschloß sich dazu, und nachdem er die Schecks in der Bank in Oakland eingelöst hatte, kaufte er für zehn Dollar Briefmarken. Der Gedanke, heimzugehen und sich in dem kleinen stickigen Raum Frühstück zu machen, war ihm widerwärtig. Zum ersten Male schob er den Gedanken an seine Gläubiger von sich. Er wußte, daß er sich daheim in seinem Zimmer ein ordentliches Frühstück für fünfzehn bis zwanzig Cent bereiten konnte. Statt dessen ging er in das Forum-Café und bestellte sich ein Frühstück, das zwei Dollar kostete. Er gab dem Kellner fünfundzwanzig Cent Trinkgeld und kaufte sich für fünfzig Cent eine Schachtel ägyptischer Zigaretten. Es war das erstemal, daß er rauchte, seit Ruth ihn gebeten hatte, es nicht mehr zu tun. Aber jetzt sah er nicht ein, warum er es lassen sollte, und zudem hatte er das Bedürfnis, zu rauchen.

Und was bedeutete denn auch das Geld für ihn? Für fünf Cent hätte er sich ein Päckchen Durham und Papier kaufen und sich vierzig Zigaretten drehen können – aber was hatte er davon? Das Geld bedeutete für ihn jetzt nichts, als daß er sich Verschiedenes dafür kaufen konnte. Er war wie ein Schiff ohne Kompaß und Ruder und hatte keinen Hafen, in den er steuern konnte; sich treiben zu lassen, erforderte die geringste Lebensanspannung, und diese Anspannung war es, die so schmerzte.

Die Tage vergingen, und er schlief regelmäßig acht Stunden in der Nacht. Obwohl er in dieser Zeit, während er auf weitere Schecks wartete, in den japanischen Restaurants aß, wo man eine Mahlzeit für zehn Cent erhielt, begann sein ausgezehrter Körper doch zu Kräften zu kommen, und die Höhlen in seinen Wangen füllten sich. Er wütete nicht mehr gegen sich selbst mit dem zu kurzen Schlaf und der zu schweren Arbeit. Er schrieb nichts, und die Bücher blieben geschlossen. Er machte weite Ausflüge in die Berge und wanderte stundenlang durch die einsamsten Parks. Er hatte weder Freunde noch Bekannte und verschaffte sich auch keine. Er mochte nicht. Er wartete darauf, daß irgend etwas – er wußte selbst nicht, woher es kommen sollte – sein ins Stocken geratenes Dasein wieder in Gang brächte. Und in dieser ganzen Zeit war sein Leben planlos, leer und müßig.

Einmal fuhr er nach San Franzisko hinüber, um Kreis und seine Bande aufzusuchen. Aber im letzten Augenblick, als er schon den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte, kehrte er um und flüchtete durch das wimmelnde Ghetto. Der Gedanke, einen Disput über Philosophie anzuhören, verscheuchte ihn, und er floh eilig, aus Furcht, daß einer von ihnen zufällig vorbeikommen und ihn erkennen könnte.

Zuweilen warf er einen Blick in die Zeitschriften und Zeitungen, um zu sehen, wie »Eintagsfliege« mißhandelt wurde. Das Gedicht hatte Aufsehen erregt. Und wie! Alle Welt hatte es gelesen, und alle Welt stritt sich jetzt darüber, ob es wahre Poesie wäre. Die Zeitungen hatten die Frage aufgegriffen und brachten täglich Spalten gelehrter Kritik, scherzhafte redaktionelle Beiträge und feierliche Briefe von Abonnenten. Die nächste Nummer vom »Parthenon« zeigte, daß die Redaktion ungeheuer stolz darauf war, das Gedicht gebracht zu haben, und daß sie sich über Sir John Value lustig machte und Brissendens Tod mit unbarmherzigem Geschäftssinn ausnutzte. Martin freute sich oft, daß Brissenden tot war, denn er hatte den Pöbel gehaßt, und hier durfte nun der Pöbel hineinschwatzen in etwas, das ihm selbst am heiligsten gewesen war. Die Geistlichen begannen gegen »Eintagsfliege« zu predigen, und einer, der sich zu sehr für einen Teil des Inhalts einsetzte, wurde wegen ketzerischer Anschauung relegiert. Ja, selbst die humoristischen Blätter und die Karikaturenzeichner münzten die große Dichtung aus.

Martin lachte weder, noch knirschte er vor Wut mit den Zähnen. Das alles erregte nur eine unsagbare Traurigkeit in ihm. Jetzt, da seine ganze Welt in Trümmer gesunken und die Liebe von ihrem Piedestal gestürzt war, bedeutete es nur sehr wenig für ihn, daß er auch seinen Glauben an die Zeitschriften und das liebe Publikum in Trümmer sinken sah. Brissenden hatte vollkommen recht gehabt, und er, Martin, hatte aus all diesen schweren, nichtigen Jahren als einzigen Gewinn diese Erfahrung gezogen. Die Zeitschriften waren so schlimm, wie Brissenden gesagt hatte, und noch schlimmer. Nun, er war mit ihnen fertig, und das war sein Trost. Er hatte seinen Wagen an einen Stern gehängt und war in einem Pestsumpf geendet.

Die Träume von Tahiti – dem reinen und herrlichen Tahiti – tauchten immer häufiger in seinem Kopfe auf. Und da waren die niedrigen Paumotus-Inseln und die hohen Marquesas; er sah sich in der letzten Zeit oft an Bord von Handelsschonern oder Nußschalen von Kuttern, die bei Tagesgrauen über das Riff von Papeete schlüpften und die lange Fahrt zwischen den Perlenatollen nach Nuka-hiva und der Taiohae-Bucht antraten, wo Tamari, wie er wußte, zur Feier seiner Ankunft ein Schwein schlachten und wo Tamaris Töchter ihn an den Händen fassen und unter Singen und Lachen mit Blumen bekränzen würden. Die Südsee rief, und er wußte, daß er früher oder später ihrem Rufe folgen würde.

Und unterdessen trieb er sich herum, ruhte sich aus und kam nach seinem langen Zug durch das Reich der Kenntnisse wieder zu Kräften. Als der Scheck vom »Parthenon« kam, bezahlte er die dreihundertundfünfzig Dollar dem Rechtsanwalt, der die Interessen von Brissendens Familie wahrnahm. Er erhielt eine Quittung über den Betrag und gab dem Rechtsanwalt gleichzeitig einen Schuldschein über die hundert Dollar, die er von Brissenden erhalten hatte.

Es dauerte nicht lange, und Martin konnte aufhören, die japanischen Restaurants zu besuchen. In dem Augenblick, als er den Kampf aufgegeben, hatte sich das Glück gewendet. Aber es war zu spät. Ohne die geringste Erregung öffnete er einen dünnen Brief vom »Millennium«, ließ den Blick über den Scheck gleiten, der dreihundert Dollar darstellte, und notierte den Betrag als für »Abenteuer« bezahlt. Seine ganzen Schulden, mit Einschluß des Pfandleihers und seiner Wucherzinsen, beliefen sich auf kaum hundert Dollar, und wenn er alles bezahlt und Brissendens Rechtsanwalt die hundert Dollar gegeben hatte, hatte er noch hundert Dollar übrig. Er bestellte sich einen Anzug beim Schneider und nahm seine Mahlzeiten in den besten Lokalen der Stadt ein. Er schlief immer noch in seinem Stübchen bei Maria, aber beim Anblick seines neuen Anzugs hörten die Kinder auf, ihm über Planken und Schuppendächer hinweg »Bandit« und »Landstreicher« nachzurufen.

»Wiki-Wiki«, seine Kurzgeschichte von Hawai, wurde von »Warren's Monthly« für zweihundertfünfzig Dollar erworben. Die »Northern Review« nahm seine Abhandlung »Die Wiege der Schönheit« und »Mackintosh's Magazin« »Die Wahrsagerin« – das Gedicht, das er auf Marian gemacht hatte. Redakteure und Lektoren waren aus den Sommerferien zurückgekehrt, und jetzt fielen die Entscheidungen über Manuskripte Schlag auf Schlag. Was Martin aber nicht fassen konnte, war die seltsame Schicksalslaune, die sie plötzlich überall dieselben Dinge annehmen ließ, welche sie zwei Jahre lang andauernd zurückgeschickt hatten. Er hatte kein Buch herausgegeben. Er war außerhalb Oaklands unbekannt, und in Oakland selbst wurde er von den wenigen, die ihn kannten, als roter Sozialist betrachtet. Er fand keine Erklärung dafür, warum wohl seine Ware plötzlich so gangbar geworden war. Es war eine reine Taschenspielerei des Schicksals.

Nachdem er »Die Schande der Sonne« von einer Reihe von Zeitschriften zurückerhalten hatte, beschloß er, dem bisher unbeachteten Rat Brissendens zu folgen und das Manuskript an Buchverleger zu schicken. Nachdem ein paar das Manuskript zurückgeschickt hatten, wurde es von Singletree, Darnley & Co. angenommen, die versprachen, es ohne Kürzung herauszubringen. Als Martin um einen Vorschuß auf das Honorar bat, schrieben sie, daß das ihren Gepflogenheiten widerspräche, da Bücher dieser Art sich selten bezahlt machten, und daß man zweifelte, daß tausend Exemplare seines Buches verkauft würden. Martin berechnete, was es ihm hiernach einbringen würde. Wenn es im Buchhandel mit einem Dollar bezahlt würde und er selbst fünfzehn Prozent vom Ladenpreis erhielte, würde sein Verdienst hundertfünfzig Dollar betragen. Er beschloß, sich in Zukunft an leichtere Dinge zu halten, »Abenteuer«, das nur ein Viertel so lang war, hatte ihm beim »Millennium« doppelt so viel eingebracht. Die Zeitungsnotiz, die er seinerzeit gelesen, hatte also doch die Wahrheit gesprochen. Die erstklassigen Zeitschriften bezahlten bei Annahme, und sie bezahlten gut. Nicht zwei, sondern vier Cent das Wort hatte »Millennium« ihm bezahlt. Und dazu kauften sie gute Arbeit, denn kauften sie nicht seine? Dieser letzte Gedanke wurde von einem Lächeln begleitet.

Er schrieb an Singletree, Darnley & Co., daß er ihnen alle Rechte an »Die Schande der Sonne« für hundert Dollar überlassen wollte, aber sie wagten nicht, das Risiko einzugehen. Übrigens brauchte er gar kein Geld, denn er hatte mehrere seiner Kurzgeschichten angebracht und auch Bezahlung für sie erhalten. Er besaß jetzt ein Bankkonto von mehreren hundert Dollar und schuldete keinem Menschen einen Pfennig. »Überfällig« landete, nachdem es von einer ganzen Reihe von Zeitschriften zurückgesandt worden war, bei der Meredith-Lowell-Company. Martin erinnerte sich der fünf Dollar, die Gertrude ihm gegeben hatte, und seines Entschlusses, sie ihr hundertfach zurückzuzahlen, und daher schrieb er an den Verlag und bat um fünfhundert Dollar Vorschuß. Zu seiner Überraschung erhielt er umgehend einen Scheck über den Betrag sowie einen Vertrag. Er ließ sich den Scheck in lauter Fünf-Dollar-Goldstücken ausbezahlen und bat Gertrude telephonisch, ihn zu besuchen.

Sie kam stöhnend und atemlos, so hatte sie sich beeilt. Sie hatte gefürchtet, daß etwas passiert wäre, und hatte die wenigen Dollar, die sie besaß, in ihre Handtasche gestopft. Ja, so sicher war sie, daß dem Bruder jetzt etwas ganz Schlimmes zugestoßen sei, daß sie sich ihm schluchzend in die Arme warf und ihm gleichzeitig, ohne ein Wort zu sagen, die Tasche in die Hand steckte.

»Ich wäre selbst zu dir gekommen«, sagte er. »Aber ich wollte keinen Streit mit deinem Mann haben, und dazu wäre es natürlich gekommen.«

»Er wird sich schon noch einmal besänftigen lassen«, versicherte sie, während sie darüber nachdachte, was Martin nur zugestoßen sein könnte. »Aber es ist am besten, wenn du siehst, dir zunächst Arbeit zu verschaffen und ein wenig zur Ruhe zu kommen. Bernard will sehen, daß du dir dein Brot durch ehrliche Arbeit verdienst. Die Geschichte in der Zeitung hat ihn ganz wild gemacht. Ich hab' ihn noch nie so wütend gesehen.«

»Ich will mir keine Arbeit suchen«, lächelte Martin. »Das kannst du ihm von mir bestellen. Ich brauche mir keine Arbeit zu suchen, und hier hast du den Beweis.«

Er schüttete ihr die hundert Goldstücke als einen funkelnden, schimmernden Strom in den Schoß.

»Erinnerst du dich noch der fünf Dollar, die du mir einmal gabst, als ich kein Geld für die Straßenbahn hatte? Nun, hier hast du sie wieder mit neunundneunzig Brüdern verschiedenen Alters, aber alle von gleicher Größe.«

Hatte Gertrude sich schon vorher gefürchtet, so war sie jetzt vor Schrecken fast gelähmt. Ihre Angst war so groß, daß sie im selben Augenblick zur Gewißheit wurde. Hier war nicht die Rede von Verdacht. Sie war bereits fest überzeugt. Sie blickte Martin entsetzt an, und ihre schweren Glieder schauderten zurück vor dem goldenen Strom, als hätte sie sich daran verbrannt.

»Das ist dein«, lachte er.

Sie brach in Tränen aus und begann zu stöhnen: »Mein armer Junge! Mein armer Junge!«

Er stand einen Augenblick entgeistert da, dann erriet er den Grund ihrer Erregung und zeigte ihr den Brief des Verlegers, der den Scheck begleitet hatte. Sie buchstabierte sich hindurch, mußte aber hin und wieder einhalten, um sich die Augen zu trocknen, und als sie endlich fertig war, sagte sie:

»Und das heißt wirklich, daß du ehrlich zu dem Gelde gekommen bist.«

»Ehrlicher, als wenn ich es in der Lotterie gewonnen hätte. Ich habe es verdient.«

Sie ließ sich langsam überzeugen und las den Brief noch einmal sorgfältig durch. Es dauerte lange, ehe er ihr erklärt hatte, was für ein Geschäft das war, das ihm das Geld verschafft hatte. Und es dauerte noch länger, ehe er ihr begreiflich gemacht hatte, daß das Geld wirklich ihr gehörte, und daß er es nicht brauchte.

»Aber ich lege es nun doch in der Bank für dich an«, sagte sie schließlich.

»Nein, das wirst du nicht tun. Es ist dein Geld, mit dem du tun kannst, was du willst. Und wenn du es nicht willst, schenke ich es Maria. Sie wird schon wissen, was sie damit tun soll. Aber ich schlage dir vor, daß du ein Mädchen nimmst und dich einmal ordentlich ausruhst.«

»Ich erzähle alles Bernard«, meinte sie, als sie ging. Martin zuckte zusammen, dann aber lachte er.

»Ja, tue das«, sagte er. »Und dann wird er mich vielleicht wieder zum Essen einladen.«

»Ja, das wird er – das wird er sicher!« rief sie freudestrahlend, während sie ihn an sich zog, ihn umarmte und küßte.

 

* * *


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