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Maria Silva war arm, und sie wußte, was Armut bedeutete. Für Ruth war Armut nur ein Wort, das unangenehme Lebensbedingungen bezeichnete. Das war alles, was sie davon wußte. Sie wußte, daß Martin arm war, und verknüpfte das in Gedanken mit der Kindheit Abraham Lincolns, Charles Butlers und anderer Männer, die es zu etwas gebracht hatten. Und wenn sie einerseits auch die Vorstellung hatte, daß Armut alles andere eher als angenehm war, so hatte sie doch andererseits das sehr bequeme Gefühl, daß Armut gesund und ein scharfer Sporn war, der alle Menschen zum Siege trieb, wenn sie nicht elende Sklavenseelen waren. Und darum störte es sie auch nicht weiter, als sie erfuhr, daß Martin aus Armut Uhr und Mantel hatte versetzen müssen. Sie sah darin sogar eine gewisse Hoffnung, denn sie glaubte, es würde ihn früher oder später packen und zwingen, seine Schreiberei zu lassen.

Ruth las nie den Hunger in Martins Gesicht, das mager geworden war und die schwachen Höhlen in seinen Wangen schärfer als je hervortreten ließ. Tatsächlich war sie sehr zufrieden mit der Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Es war, als veredelte sie ihn, befreite ihn vom Schmutz des Fleisches und der rein tierischen Kraft, die sie angezogen und gleichzeitig abgestoßen hatte. Zuweilen bemerkte sie, wenn sie mit ihm zusammen war, daß seine Augen ungewöhnlich blank waren, und sie bewunderte das, denn er glich dadurch noch mehr dem Dichter und Stubengelehrten – dem, was er gern gewesen wäre, und als was auch sie ihn gern gesehen hätte. Maria Silva aber las etwas ganz anderes in den hohlen Wangen und brennenden Augen, sie bemerkte die Veränderungen, die von Tag zu Tag mit ihm vorgingen, und erkannte daraus, ob Ebbe oder Flut in seiner Kasse war. Sie sah ihn mit seinem Mantel ausgehen und ohne ihn zurückkommen, obwohl es ein rauher, kalter Tag war, und unmittelbar darauf sah sie, wie seine Wangen sich rundeten und seine Augen weniger glänzten. Ebenso hatte sie seine Uhr und sein Fahrrad verschwinden und danach seine Kräfte wieder aufflackern sehen.

Sie sah auch, wie er arbeitete, und wußte, daß er bis spät in der Nacht aufsaß. Arbeiten! Sie wußte, daß er weit schwerer arbeitete als sie, wenn ihre Arbeit auch anderer Art war, und sie wunderte sich darüber, daß er desto mehr arbeitete, je weniger er zu essen hatte. Zuweilen, wenn sie wußte, daß der Hunger am schlimmsten nagte, schickte sie ihm, als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, ein frischgebackenes Brot und machte einen verlegenen Versuch, ihren wahren Beweggrund durch die scherzhafte Bemerkung zu verdecken, daß er selbst nicht so gut backen könnte. Dann wieder schickte sie eines von ihren Kleinen mit einem Topf warmer Suppe zu ihm, während sie gleichzeitig mit sich kämpfte, ob es richtig sei, ihrem eigenen Fleisch und Blut etwas zu entziehen und ihm zu geben. Und Martin war keineswegs undankbar, denn er kannte das Leben der Armen und wußte, daß wahre Wohltätigkeit, wenn sie je existiert hatte, hier zu finden war.

Eines Tages, als Marias Nachkommenschaft alles gegessen hatte, was sich im Hause befand, ging sie fort und kaufte von ihren letzten fünfzehn Cent einen Liter billigen Wein. Martin, der in die Küche kam, um sich Wasser zu holen, wurde aufgefordert, sich zu setzen und mitzutrinken. Er trank ihr Wohl, und sie trank das seine. Dann trank sie darauf, daß er Glück mit seinen verschiedenen Unternehmungen haben möchte, und er, daß James Grant auftauchen und seine Wäscherechnung bezahlen möchte. James Grant war ein Zimmermannsgeselle, der nicht immer seine Rechnungen bezahlte und Maria drei Dollar schuldete. Sowohl Maria wie Martin tranken den jungen sauren Wein auf leeren Magen, und er stieg ihnen schnell zu Kopfe. So verschieden sie auch waren, saßen sie doch jetzt beide allein in ihrem Elend, und obwohl sie auf stillschweigende Übereinkunft nicht davon sprachen, war es doch das Band, das sie miteinander verknüpfte. Maria war sehr überrascht, als sie hörte, daß er auf den Azoren gewesen war, wo sie bis zu ihrem elften Jahre gelebt hatte. Noch mehr überraschte es sie, daß er auf Hawaii gewesen war, wohin sie von den Azoren mit ihrer Familie ausgewandert war. Aber ihr Erstaunen ging über alle Grenzen, als er ihr erzählte, daß er auf Maui gewesen war, der Insel, auf der sie gelebt hatte, bis sie ein heiratsfähiges junges Mädchen war. In Kahului, wo sie ihren Mann zum erstenmal getroffen hatte, war Martin zweimal gewesen! Ja, sie erinnerte sich gut der Zuckerdampfer und war sogar auf einem von ihnen gewesen – ja, ja, die Welt war wirklich klein. Und Wailuku! Dort auch! Ob er den Plantagenaufseher kannte? Jawohl, und er hatte mehrmals mit ihm getrunken.

Und so vertieften sie sich in Erinnerungen und ertränkten ihren Hunger in dem sauren Wein. Martin erschien die Zukunft nicht mehr so düster, denn der Sieg war nicht mehr fern, sondern so nahe, daß er nur die Hand nach ihm auszustrecken brauchte. Dann begann er das gefurchte Antlitz der abgearbeiteten Frau zu studieren, die da vor ihm saß, und bei der Erinnerung an ihre Suppe und das frischgebackene Brot stieg ein Gefühl wärmster Dankbarkeit und Nächstenliebe in ihm auf.

»Maria«, fragte er plötzlich. »Was wünschen Sie sich?«

Sie sah ihn verdutzt an.

»Was würden Sie sich jetzt wünschen, wenn Sie es bekommen könnten?«

»Schuhe für alle meine Kinder – sieben Paar Schuhe.«

»Die sollen Sie haben«, sagte er, und sie nickte ernst. »Aber ich meine einen größeren Wunsch, etwas Großes, das Sie sich so recht von Herzen wünschen.«

Ein froher, gutmütiger Ausdruck trat in Marias Augen. Er wollte wohl Spaß mit ihr treiben, und das taten jetzt so wenige.

»Denken Sie gut nach«, ermahnte er sie, als sie sich anschickte, etwas zu sagen.

»Ja, ja«, antwortete sie. »Ich nachdenken – gut nachdenken. Ich möchten Haus, dies Haus – daß es ganz mir gehört, keine Miete – sieben Dollar monatlich.«

»Das sollen Sie haben«, sagte er gutmütig. »Und es soll nicht lange dauern. Und nun sagen Sie den großen Wunsch. Bilden Sie sich ein, ich sei der liebe Gott und sagte: Alles, was du wünschest, sollst du haben. Dann wünschen Sie sich das Große, und ich höre zu.«

Maria dachte eine Weile ernsthaft nach.

»Sie haben keine Angst?« fragte sie vorsichtig.

»Nein, nein«, lachte er; »ich habe keine Angst. Nur heraus damit.«

»Na, also ...« Sie schöpfte tief Atem wie ein Kind und sprach den Wunsch aus, der für sie das Höchste im Leben bedeutete. »Ich möchten haben eine Meierei – gute Meierei. Viele Kühe, viel Boden, viel Gras. Ich möchten sie haben bei San-Le-an' – meine Schwester wohnt da. Ich verkaufen Milch in Oakland. Ich verdienen viel Geld. Joe und Nick hüten nicht Kühe. Sie gehen in Schule. Dann werden sie gute Ingenieure, arbeiten bei Eisenbahn. Ja, ich möchten haben die Meierei.«

Sie hielt inne und sah Martin mit funkelnden Augen fest an.

»Sie sollen sie haben«, antwortete er prompt.

Sie nickte, setzte höflich das Glas an den Mund und trank das Wohl des edlen Spenders – des Spenders der Gabe, die sie nie erhalten würde. Er hatte ein gutes Herz, und in ihrem eigenen Herzen schätzte sie seine Freundlichkeit so hoch, als hätte sie die Gabe wirklich erhalten.

»Nein, Maria«, fuhr er fort. »Joe und Nick sollen nichts mit der Milch zu schaffen haben, alle Kinder kommen in die Schule und tragen Schuhe, das ganze Jahr. Es soll eine erstklassige Meierei mit allen modernen Einrichtungen sein. Da gibt es ein Wohnhaus, einen Stall für die Pferde und selbstverständlich Scheuern mit Getreide. Und dazu Küken, Schweine, Gemüse, Obstbäume und alles mögliche, und Kühe genug, um einen oder zwei Mann anzustellen. Dann haben Sie nichts zu tun, als für die Kinder zu sorgen. Sie können sich auch ruhig verheiraten, wenn Sie einen guten Mann finden, und dann können Sie ruhig zusehen und ihn für den Betrieb sorgen lassen.«

So zog Martin Wechsel auf die Zukunft, versprach Gold und grüne Wälder und mußte im nächsten Augenblick zum Pfandleiher gehen und seinen einzigen guten Anzug versetzen. Seine Lage mußte sehr verzweifelt sein, daß er es so weit kommen ließ, denn es nahm ihm die Möglichkeit, Ruth zu treffen. Er hatte keinen »zweitbesten Anzug«, in dem er sich sehen lassen konnte, und wenn er auch einmal so zum Schlachter oder Bäcker oder auch zu seiner Schwester gehen konnte, war es doch ganz undenkbar, sich der Familie Morse in einer so skandalösen Kleidung zu zeigen.

Er arbeitete in einer Verzweiflung, die bald hoffnungslos zu werden drohte. Er begann zu erkennen, daß die zweite Schlacht verloren und er gezwungen war, irgendeine Arbeit anzunehmen. Dadurch konnte er alle befriedigen, den Schlachter, seine Schwester, den Bäcker, Ruth und selbst Maria, der er einen Monat Miete schuldete. Mit der Miete für die Schreibmaschine war er zwei Monate im Rückstand, und das Bureau, in dem er sie gemietet hatte, forderte energisch Bezahlung oder Rücklieferung der Maschine. In seiner Verzweiflung wollte er schon den Kampf aufgeben und mit dem Schicksal Waffenstillstand schließen, bis er wieder von vorn beginnen konnte, und in dieser Absicht meldete er sich zum Postbeamtenexamen. Zu seinem Erstaunen bestand er es mit Glanz. Jetzt war er sicher, eine Stellung zu erhalten, obwohl niemand wissen konnte, wann die Aufforderung kam, mit der Arbeit zu beginnen.

In dieser Zeit der tiefsten Ebbe zerbrach plötzlich die gleichmäßig laufende Redaktionsmaschine. Ein Rad mußte sich gelöst oder ein Kugellager trocken gelaufen haben, denn eines Morgens brachte der Briefträger ihm einen kleinen, dünnen Briefumschlag. Martin sah auf die obere Ecke und las »Transcontinental-Magazin« mit der Adresse des Blattes darunter. Sein Herz klopfte heftig, und er fühlte seine Knie zittern. Er wankte in die Stube zurück, setzte sich, den ungeöffneten Brief in der Hand, aufs Bett, und in diesem Augenblick verstand er, daß Leute plötzlich tot umfallen konnten, wenn sie eine besonders freudige Nachricht erhielten.

Es mußte ja eine freudige Nachricht sein. In dem dünnen Brief lag kein Manuskript, und das mußte bedeuten, daß eine seiner Geschichten angenommen war. Er wußte, was für eine Geschichte es war, die er dem Magazin geschickt hatte. Es war »Glockenläuten«, eine seiner unheimlichen Geschichten, und sie hatte einen Umfang von fünfhundert Zeilen. Und da erstklassige Zeitschriften stets bei Annahme bezahlten, mußte in dem Brief ein Scheck liegen. Zwanzig Cent die Zeile – zwanzig Dollar für hundert, also mußte der Scheck auf hundert Dollar lauten! Hundert Dollar! Als er den Brief aufriß, flogen ihm alle Beträge, die er schuldete, durch den Kopf – drei Dollar 85 Cent dem Krämer, dem Schlachter genau vier Dollar, dem Bäcker zwei, dem Obsthändler fünf, im ganzen also vierzehn Dollar und 85 Cent. Dazu kamen die Miete mit zwei Dollar 50 Cent, sowie Vorauszahlung für einen Monat, ebenfalls zwei Dollar 50 Cent; zwei Monate für die Schreibmaschine acht Dollar, einen Monat voraus vier Dollar. – Alles in allem 31 Dollar und 85 Cent, und zuletzt berechnete er, was er brauchte, um seine Sachen beim Pfandleiher einzulösen – die Uhr fünf Dollar, der Mantel fünf Dollar 50 Cent, das Rad sieben Dollar 75 Cent, der Anzug fünf Dollar 50 Cent (er mußte 60 Prozent Zinsen zahlen, aber was machte das?) – alles in allem 56 Dollar 10 Cent. Und wie mit Flammenschrift geschrieben sah er die ganze Summe vor sich in der Luft, die Zahl, die abzuziehen war, und das Fazit: 43 Dollar und 90 Cent. Wenn er jeden Groschen, den er schuldete, bezahlt und alle Pfänder eingelöst hatte, besaß er noch 43 Dollar und 90 Cent – ein fürstliches Vermögen, und dann hatte er noch einen ganzen Monat Miete und Schreibmaschine vorausbezahlt.

Während dieser Berechnungen aber hatte er den maschinengeschriebenen Brief herausgezogen und vor sich ausgebreitet. Es lag kein Scheck darin. Er guckte in den Umschlag und hielt ihn vors Licht, wollte seinen Augen nicht trauen und zerriß mit zitternden Händen den Umschlag. Nein, es lag kein Scheck darin. Er las hastig den Brief durch, ging schnell über die Lobrede des Redakteurs hinweg und kam schließlich zu der Stelle, wo er die Erklärung für das Fehlen eines Schecks zu finden erwartete. Aber es kam keine Erklärung, und was er las, ließ alles vor ihm sich im Kreise drehen. Der Brief entglitt seiner Hand. Seine Augen verloren ihren Glanz, er lehnte sich auf das Kissen zurück und zog die Decke bis zum Kinn hinauf.

Fünf Dollar für »Glockenläuten« – fünf Dollar für fünfhundert Zeilen. Statt zwanzig Cent die Zeile nur einen. Und dabei lobte der Redakteur die Geschichte! Und das Geld sollte er erst bekommen, wenn sie gedruckt war. Es war der reine Unsinn mit den zwanzig Cent die Zeile als Mindesthonorar, wenn ein Beitrag angenommen wurde. Es war eine Lüge, durch die er sich hatte verleiten lassen. Wenn er das gewußt hätte, würde er nie versucht haben, zu schreiben. Er würde gearbeitet – für Ruth gearbeitet haben. Seine Gedanken kehrten zu dem Tage zurück, als er es das erstemal mit dem Schreiben versucht hatte, und er entsetzte sich über den ungeheuren Zeitverlust – das alles für einen Cent die Zeile! Und alles, was er sonst über hohe Schriftstellerhonorare gelesen hatte, mußte also auch Lüge sein. Seine ganzen Ideen über die Verhältnisse eines Schriftstellers waren falsch – dafür hatte er hier den Beweis. Das »Transcontinental-Magazin« wurde für fünfundzwanzig Cent die Nummer verkauft, und sein künstlerischer Umschlag meldete, daß es eines der besten Magazine war. Es war eine große, angesehene Zeitschrift, sie erschien bereits, als er noch nicht geboren war. Ja, und jeden Monat stand auf dem Umschlag das Zitat eines großen Schriftstellers, dessen erste Arbeit das Tageslicht im »Transcontinental-Magazin« erblickt hatte, und der in hohen Tönen von der Mission des Blattes sprach. Und dieses vornehme »Transcontinental-Magazin« mit seiner erhabenen Mission bezahlte fünf Dollar für fünfhundert Zeilen! Der große Schriftsteller war kürzlich im Ausland gestorben – in kläglicher Armut, daran mußte Martin plötzlich denken, und darüber brauchte man sich auch nicht zu wundern, wenn man daran dachte, wie glänzend Schriftsteller bezahlt wurden.

Nun ja, er hatte also angebissen, er hatte an die Lügen geglaubt, die die Zeitungen erzählten, und hatte zwei Jahre damit vergeudet. Aber jetzt wollte er nicht mehr mitmachen! Nie mehr wollte er auch nur eine einzige Zeile schreiben. Er wollte tun, was Ruth von ihm wollte, was alle Menschen von ihm wollten, er wollte arbeiten. Bei diesem Gedanken fiel ihm jedoch plötzlich Joe ein. Joe, der zu Fuß das Land durchwanderte, wo es keine Arbeit gab. Und Martin seufzte neidisch. Die Reaktion, die die vielen neunzehnstündigen Arbeitstage hervorrufen mußten, machte ihren Einfluß geltend. Andrerseits war Joe nicht verliebt. Er kannte nicht die Verantwortung, die die Liebe einem Manne auferlegt, und er hatte das Recht, herumzulaufen und nichts zu tun. Martin dagegen hatte etwas, für das er arbeiten mußte, und er wollte schon Arbeit finden. Schon am nächsten Morgen wollte er auf die Arbeitssuche gehen. Und er wollte Ruth mitteilen, daß er sich bedacht habe und bereit sei, eine Stellung im Bureau ihres Vaters anzunehmen.

Fünf Dollar für fünfhundert Zeilen, eine Zeile für einen Cent. Das war also die Kunst unter Brüdern wert! Die Enttäuschung über die Lügen, die er geglaubt hatte, und das unglaublich Entwürdigende an der ganzen Geschichte kam ihm erst jetzt zum Bewußtsein, und hinter den geschlossenen Lidern sah er mit Flammenschrift die 3 Dollar 85 Cent, die er dem Krämer schuldete. Er bebte vor Kälte, und konnte spüren, wie seine Knochen schmerzten. Namentlich die Lenden schmerzten. Der Kopf schmerzte – der Scheitel schmerzte, der Nacken schmerzte, selbst das Gehirn schmerzte, und es war gleichsam, als schwölle es an, während der Schmerz über den Brauen fast unerträglich wurde. Und unter den Brauen, hinter den Lidern, standen die unbarmherzigen 3 Dollar 85 Cent. Er öffnete die Augen, um den Anblick loszuwerden, aber es war, als blendete das weiße Licht im Zimmer seine Pupillen und zwänge ihn, die Augen zu schließen, und im selben Augenblick waren die 3 Dollar 85 Cent wieder da.

Fünf Dollar für fünfhundert Zeilen, eine Zeile für einen Cent. Der Gedanke hängte sich in seinem Hirn fest. Er konnte ihn ebensowenig loswerden wie die 3 Dollar 85 Cent, die hinter seinen Lidern standen. Es war, als ob die Zahlen sich veränderten, er sah sie neugierig an, bis an ihrer Stelle zwei Dollar flammten. Aha, dachte er, das ist der Bäcker! Der nächste Betrag, der auftauchte, war 2 Dollar 50. Er dachte nach, als ob es das Leben gelte, um das Problem zu lösen. Irgend jemand schuldete er 2 Dollar 50, das war sicher, aber wem? Das herauszufinden, war die Aufgabe, die ein unerbittliches, boshaftes Universum ihm auferlegt hatte, und er durchwanderte die endlosen Gänge seines Hirns, öffnete Türen und Kammern und Räume, wo allerlei zufälliges Wissen und losgerissene Erinnerungen lagen, während er vergebens nach der Antwort suchte. Da, nach einer Ewigkeit, fiel ihm ohne die geringste Anstrengung ein, daß es Maria war. Er atmete erleichtert auf, denn jetzt hatte er das Problem gelöst und konnte Ruhe finden. Aber nein, die 2 Dollar 50 Cent verschwanden, und an ihrer Stelle flammten acht Dollar. Wer war das? Er mußte seine Gedanken wieder auf dieselbe traurige Reise senden und versuchen, es herauszufinden.

Wie lange diese Suche dauerte, wußte er selber nicht, aber nach einer Zeitspanne, die ihm ungeheuer vorkam, wurde er durch ein Klopfen an seiner Tür in die Wirklichkeit zurückgerufen, und Maria fragte, ob er krank sei. Er antwortete mit einer seltsam dumpfen Stimme, die er selbst nicht kannte, daß er sich nur ein bißchen ausruhte. Er war ganz überrascht, daß es dunkel im Zimmer war. Er hatte den Brief um zwei Uhr nachmittags erhalten, und es war also klar, daß er krank war.

Dann flammte die Summe »acht Dollar« wieder hinter seinen Lidern auf, und er zwang seine Gedanken von neuem unters Joch. Aber er war klug geworden. Er brauchte nicht mehr sein ganzes Bewußtsein zu durchwandern. Er war dumm gewesen. Er setzte einen Hebel an, und sein ganzes Bewußtsein drehte sich wie ein riesiges großes Rad, ein schwingender Kreis der Weisheit. Immer schneller drehte es sich, bis der Wirbel ihn einsog und er durch das dunkle Chaos dahinsauste.

Dann stand er, als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, an einer Rolle, in die er gestärkte Manschetten schieben sollte. Während er aber mit dieser Arbeit beschäftigt war, bemerkte er, daß die Manschetten mit Zahlen bedruckt waren. Das ist eine neue Art, die Wäsche zu zeichnen, dachte er, bis er näher hinsah und entdeckte, daß auf einer der Manschetten 3 Dollar 85 Cent stand. Da fiel ihm ein, daß es die Krämerrechnung war, und daß statt der Manschetten seine Rechnungen durch die Rolle flogen. Dann tauchte ein schlauer Gedanke in seinem Kopfe auf. Er wollte die Rechnungen auf den Boden werfen, dann brauchte er sie nicht mehr zu bezahlen. Sofort folgte dem Gedanken die Tat, er zerknüllte wütend die Manschetten und warf sie auf den ungewöhnlich schmutzigen Boden. Aber der Haufen wuchs immer mehr, und obwohl jede Rechnung sich tausendfach vermehrte, fand er nur eine, die auf 2 Dollar 50 Cent lautete – der Betrag, den er Maria schuldete. Das bedeutete, daß Maria ihn nicht mahnen wollte, und er beschloß freigebig, daß sie die einzige sein sollte, die er bezahlen wollte, und begann danach den beiseitegeworfenen Haufen zu durchsuchen, um ihre Rechnung herauszufinden. Er suchte eine lange Zeit, suchte verzweifelt und suchte immer noch, als der Hotelverwalter, der dicke Holländer, eintrat. Sein Gesicht war ganz rot vor Zorn, und er rief mit einer Stimme, die durchs Universum dröhnte: »Den Preis für die Manschetten ziehe ich von Ihrem Lohn ab.« Der Manschettenhaufen wuchs zu einem ganzen Berge, und Martin wußte, daß er dazu verdammt war, tausend Jahre dafür zu arbeiten, um sie zu bezahlen. Nun ja, so war nichts zu tun, als den Verwalter zu ermorden und die Wäscherei niederzubrennen. Aber der große Holländer wich ihm aus, packte ihn am Nacken und schwang ihn hin und her. Er schwang ihn über den Plättbrettern, über dem Ofen, über der Rolle, in den Waschraum hinaus und über Wring- und Waschmaschinen. Martin ward hin und her geschwungen, bis ihm die Zähne klapperten, der Kopf schmerzte und er sich wunderte, daß der Holländer so stark war.

Und dann stand er wieder an der Rolle, diesmal aber nahm er Manschetten entgegen, und ein Redakteur füllte von der andern Seite auf. Jede Manschette war ein Scheck, und Martin untersuchte sie eifrig in fieberhafter Erwartung. Aber keiner von ihnen war ausgefüllt. Schier eine Ewigkeit oder noch länger nahm er diese unausgefüllten Schecks entgegen und ließ keinen einzigen vorbeigehen, aus Furcht, daß er möglicherweise doch ausgefüllt wäre. Schließlich fand er denn auch einen ausgefüllten Scheck. Er hielt ihn mit zitternden Fingern gegen das Licht. Er lautete auf fünf Dollar. »Ha! ha!« lachte der Redakteur auf der andern Seite der Rolle. »Na ja, na ja, dann muß ich Sie totschlagen«, sagte Martin. Er ging in den Waschraum, um ein Beil zu holen, und dort fand er Joe damit beschäftigt, Manuskripte zu stärken. Joe versuchte, ihm sein Vorhaben auszureden, schwang dann aber selbst das Beil für ihn. Aber das Beil blieb aufrecht in der Luft stehen, denn jetzt befand Martin sich in der Plättstube, mitten in einem Schneesturm. Nein, es war kein Schnee, es waren Schecks auf große Summen – der kleinste war nicht geringer als tausend Dollar. Er begann sie aufzulesen und in Packen zu je hundert zu ordnen, und er band jeden Packen ordentlich mit Bindfaden zusammen.

Als er von seiner Arbeit aufsah, stand Joe mit Bügeleisen jonglierend vor ihm und stärkte Hemden und Manuskripte. Hin und wieder beugte er sich vor und legte einen Packen Schecks zu all dem Zeugs, das durch den Raum flog, sich durch das Dach in die Luft hob und in einem mächtigen Kreis verschwand. Joe streckte die Hand danach aus, ergriff aber das Beil und warf es dem fliehenden Kreise nach. Dann packte er Martin und warf ihn hinterher. Martin flog durchs Dach, klammerte sich an die Manuskripte, und als er wieder herunterkam, hatte er den ganzen Arm voll von ihnen. Aber kaum war er heruntergekommen, als er wieder hochgeworfen wurde und zweimal, dreimal, immer wieder im selben Kreise herumflog. In der Ferne konnte man eine hohe Kinderstimme singen hören: »Tanz mit mir, tanz mit mir, tanz, tanz, tanz mit mir.«

Dann fand er das Beil wieder mitten in einer wahren Milchstraße von Schecks, gestärkten Hemden und Manuskripten und beschloß, Joe, wenn er wieder herunterkam, totzuschlagen. Aber er kam nicht herunter, und um zwei Uhr nachts hörte Maria durch die dünne Wand sein Stöhnen, kam zu ihm herein und legte ihm warme Plätteisen auf den Leib und nasse Tücher auf die schmerzenden Augen.

 

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