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VII.
Anhang.

 

Periodische Anwandlungen von künstlerischem Schaffen bei einem kleinen Mädchen. Nach Ferrari, Archivio di Psichiatria ed Antropologia criminale, XIX, 1898.

Es ist mir möglich gewesen, periodische Anwandlungen von künstlerischem Schaffen bei einem kleinen Mädchen zu beobachten, und ich glaube, es ist gerechtfertigt, die Ergebnisse meiner Beobachtungen bekannt zu machen, sowohl da es zweckdienlich ist, manche geistigen Produkte im Augenblicke der Entstehung zu betrachten, da man sie nur dann in absolut objektiver Weise würdigen kann, und ferner auch deswegen, weil sie einen bemerkenswerten Beitrag zur Psychologie des Kindes enthalten.

Ich will deshalb zuerst ein allgemeines Bild von dem gewöhnlichen seelischen Zustande des Kindes entwerfen, den psychischen Boden beleuchten, dem die gedachten künstlerischen Regungen, die uns hier besonders interessieren, entstammen, außerdem will ich einige Daten über das psychische Verhalten des Kindes überhaupt hinzufügen.

Maria G., zur Zeit der Beobachtung elf und ein halb Jahre alt, war in psychologischer Beziehung hereditär günstig bedacht worden. Der Großvater väterlicherseits war zu seiner Zeit ein sehr berühmter Sänger, sehr heiteren Temperaments und im Privatleben ein Genußmensch im guten Sinne des Worts. Der Großvater mütterlicherseits war ein sehr geschätzter Advokat. Die Großmutter mütterlicherseits lebte noch und war eine hochgebildete Frau. Der Vater war Arzt und ein feiner psychologisch geschulter Beobachter, tief angelegt und vielseitig gebildet. Die Mutter war Schriftstellerin, sie hatte zwei oder drei Romane veröffentlicht, von denen sich der eine durch subtile und ungewöhnliche Gefühlsanalysen und durch anschauliche Naturschilderung auszeichnet. Hohe Intelligenz und Bildung befähigten sie zu jeder kritischen Stellungnahme.

Die Kleine war von normaler Körperbildung, groß für ihr Alter, brünett und hatte den sanften und ernsten Ausdruck gescheiter kleiner Mädchen in den Entwicklungsjahren. Sie ist zwar kein Wunderkind gewesen, war aber immer sehr geweckt. Mit neun Monaten hatte sie zu sprechen angefangen, schon vor dieser Zeit hatte sie nachgesprochen.

Sehr schüchtern gegen Ältere hat sie trotzdem stets eine gewisse Selbständigkeit in Urteil und Handlungsweise gezeigt und wußte die Gelegenheit wohl wahrzunehmen. Man konnte sie für eine geborene Vorgesetzte halten, wenn man sie inmitten der Spielgefährten sah. Sie beherrschte diese gewissermaßen durch ihre Größe und auch durch ihre Grazie und Freundlichkeit.

Glückliche Einbildungskraft stand ihr immer zu Gebote und sie entfaltete in ihren Äußerungen viel Beobachtungsschärfe; beim Spiel war sie immer ernst und aufmerksam. Wenn sie eine Magd, einen Arzt, eine Dame vorstellen sollte, so konnte man sicher sein, daß sie einige wesentliche Züge dieser Personen traf, oft in glücklicher Weise.

Seit ihrem sechsten Jahre konnte man bei ihr eine charakteristische Eigentümlichkeit bemerken, die ich sowohl rücksichtlich ihres Alters als Geschlechts als Ausnahme bezeichnen möchte, nämlich den Sinn für Humor. Wegen ihrer Schüchternheit erschien sie zwar in fremder Umgebung zerstreut oder nicht bei der Sache, verriet aber durch nachträgliche entsprechende Äußerungen, daß sie wohl beobachtet hatte.

Zu Hause konnte sie, wen sie wollte, das verwöhnte Kind spielen, aber es scheint, daß ihr das Bewußtsein genügte, es werden zu können.

Im übrigen war sie sehr gut erzogen und hatte, allerdings ohne großen Enthusiasmus, zuletzt die erste Gymnasialklasse besucht.

Eine Dame, die sie gut kannte, schilderte die folgendermaßen: »Sie ist ordentlich und sauber und besorgt mit Ernst die häuslichen Obliegenheiten, orientiert sich rasch überall, gibt unaufgefordert auf die fremden Kinder acht und ist sich immer selbst genug. Sie ist wunderlich aber gescheit, verständig aber offen, phantasievoll aber praktisch, spielt lieber, als daß sie arbeitet –«

Ibsens große Devise »Sei, der du bist« ist die Richtschnur in der seelischen Entwicklung unserer Kleinen gewesen. Im Alter von sechs oder sieben Jahren hatte sie bei einer daraufhin von ihrer Mutter angestellten psychologischen Prüfung folgende Antworten gegeben, die von Ernst und von einer gewissen Tiefe und Selbständigkeit im Denken zeugen:

Was ist das Nützlichste? – Die Güte.

Was ist das Unsicherste? – Die biblische Geschichte.

Was würdest du werden wollen? – Eine Sängerin.

Was ist das Häßlichste? – Die Lüge.

Was ist die größte Belohnung für den Menschen? – Das Geld.

Was würdest du sagen, wenn du einen Mann weinen sähst? – Männer müssen sich schämen zu weinen wie die Kinder oder wie die Frauen, die nervös werden.

Was glaubst du zu sein? – Ich glaube, ich bin hübsch genug.

Was ist die größte Erfindung? – Der Abtritt, denn in alten Zeiten, glaube ich, mußte es im Freien geschehen.

Was macht den Menschen schön? – Die Eleganz.

Was ist ein Priester? – Ein Mann, der wie eine Frau aussieht, denn er hat einen Rock, niedrige Schuhe und keinen Bart.

Was ist der größte Liebesbeweis? – Der Kuß.

Was würdest du von Gott erbitten? – Ein Kapital.

Was ist die schönste Eigenschaft des Weibes? – Die Liebe zu ihren Kindern.

Wenn du weder Vater noch Mutter hättest und allein auf der Straße ständest, was würdest du tun? – Ich würde zu einer Modistin gehen und sie bitten, mich im Geschäft anzustellen.

Was ist das Unangenehmste? – An seine Schulden zu denken.

Wer ist der glücklichste Mensch? – Der König.

Warum schläft man? – Weil man blaß wird, wenn man nicht schläft.

Auch später hatte sie wiederholt solche treffende Einfälle. Als sie einst ein blasses, im Wachstum sehr zurückgebliebenes, mageres Mädchen sah (die Tochter zweier älterer Leute), sagte sie: »Sie sieht aus, wie wenn sie aus Resten gemacht wäre.«

Sollte sie über eine Zigarette sprechen, so sagte sie etwa: »Eine Zigarette rauchen ist für die Männer ein Zeitvertreib, für die Frauen eine Koketterie« usw.

Als ihre Mutter einst einen Hut vor einem Spiegel aufprobierte, sagte sie: »Warum siehst du in den Spiegel? Du hast doch schon einen Mann.«

Maria hatte dreimal »künstlerische Anwandlungen«. Das erstemal verfaßte sie eine Serie Anekdoten, das zweitemal ein Lustspiel (im Dialekt) und zuletzt eine Anzahl Gedichte.

Ich muß vorausschicken, daß die Kleine keinem der drei Werke irgendeinen Wert beimaß, sie beschäftigte sich ab und zu damit, dachte aber dann nicht weiter daran. Der literarische Trieb war also bis dahin dreimal durchgebrochen, das erstemal mit sechs, das zweitemal mit acht, das drittemal mit elf Jahren.

An einem Winterabend begann man einst in zahlreicher Gesellschaft im Kreise der Verwandten Anekdoten zu erzählen. Vielleicht hatte nun der eine oder andere Teilnehmer, wie es oft der Fall war, seine Geschichten um eine ganz bestimmte Persönlichkeit gruppiert. Die Kleine, die selten fragte und sich immer mit dem begnügte, was sie selbst verstand, verhielt sich ruhig; oft erfaßte sie den Sinn der Erzählung wohl nicht, und sie glaubte, daß der jedesmalige Sprecher seine Geschichte erfände. Am Tage darauf sagte Maria, als das Gespräch auf die Unterhaltung zurückkam: »Anekdoten erzählen ist nicht schwer, das kann ich auch.« Aufgefordert zum Erzählen, begann die Kleine nun von einem Grafen Balogi, dessen Namen sie selbst ersonnen hatte, und gab eine Reihe Schnurren und sonderbare und teilweise auch absichtlich ungereimte Abenteuer von diesem Helden zum besten. Diese Erzählungen trugen nicht den Charakter des Kindlich-Faden, sie zeigten vielmehr eine Art naiven Witz, erinnerten allerdings hin und wieder an die Ausdrucksweise des Vaters, wie z. B. die Grabschrift: »Hier ruht der ehrenwerte Graf Balogi. Er lebte als Alkoholiker und Vagabund und war so zerstreut, daß seine Taten in einem Blaubuche zusammengestellt zu werden verdienten.«

Die Grabschrift zeigt auch die tieferliegende Tendenz der Kleinen, in dem Grafen einen Typ zu schaffen, also eine wirkliche Charakteristik zu geben. In allen Erzählungen gibt sie ihrem Helden das psychische Kolorit eines achtlosen und gedankenlosen Pflastertreters, dessen Persönlichkeit überall Anlaß zur Erheiterung ist und der vom Überlegenen ausgenützt wird.

Von diesem selbstgeschaffenen Anekdotenschatz aus, glaube ich, ist auch die Entstehung der Komödie zu erklären, die sie zwei Jahre später dichtete. Mit Hilfe der Figur des Conte Balogi war ihr vermutlich das Prinzip der psychologischen Einheitlichkeit auch im Dramatischen klar geworden.

Im Winter 1895 besuchte sie mehrere Abende die Vorstellungen einer Liebhabergesellschaft, die Dialektstücke aufführte. Eines der Stücke, ein munteres Lustspiel, interessierte das Kind sehr und weckte seine dichterische Gestaltungskraft wieder. Eines Abends erklärte es, einen Lustspieleinakter abfassen zu wollen, um ihn auf ihrem Puppentheater zur Aufführung zu bringen.

Als man sie zunächst nach dem Titel fragte, antwortete das Mädchen: »Das werden wir später sehen« und fing dann die Namen von vier Personen und das Szenische zu diktieren an: »Ein kleines einfaches Zimmer« usw. »B. (die Liebhaberin) kehrt gerade aus.« Die Beschreibung des Zimmers paßt auf eine Bauernstube, die sie einige Tage vorher zu sehen Gelegenheit hatte.

Das im Dialekt geschriebene Stück besitzt Frische und Natürlichkeit des Hergangs. – In den ersten drei Szenen lernen wir den Vater, einen Schweinehändler, die Mutter, die als sehr korpulente Persönlichkeit eingeführt wird, die Tochter (Liebhaberin) und den Zimmermann kennen, der sich immer hochitalienisch zu sprechen abmüht und die Tochter heiraten will trotz der abschreckenden Figur der Mutter, die »wie ein Pantoffel aussieht«. Die Liebhaberin wird in der vierten Szene von der Mutter herbeigerufen und steht verlegen beiseite.

Der Zimmermann: Was für schöne Augen sie hat, welches Profil, den ganzen Tag müßt ihr mich lieben.

Das Mädchen: Leider kann ich es nur des Sonntags.

Die Mutter: Das ist mehr wie genug. (Setzt eine Kiste beiseite.) Mein Sohn, der Lump, hat mir geschrieben, der in Afrika ist, glücklicherweise, denn hier hat er alles im Wirtshause vertrunken –

Der Zimmermann: Er ist also fortgegangen?

In diesem Augenblick wird die Mutter vom Vater in ein anderes Zimmer gerufen und es entspinnt sich folgendes Liebesduett:

»Mein Herz verzehrt sich nach Euch, und Euer Mund ist wie ein Magnet, der zum Küssen anzieht.«

»Ich wußte gar nicht, daß ich so schön bin. Wollen Sie einen Kuß?«

»Nein, ich habe nicht den Mut dazu.«

»Glühend liebe ich Sie!«

Rückkehr von Vater und Mutter, der Zimmermann hält um die Tochter an, und der Vater gibt sie ihm und droht ihr Schläge an, für den Fall, daß sie sich nicht gebührlich betrage.

Die Komödie geht so aus:

Der Zimmermann: Reichen wir uns also die Hände und lieben wir uns immer.

Die Mutter: So, meine Tochter ist untergebracht. (Beiseite) Das hätte ich nicht gedacht. (Der Vorhang fällt.)

Erst nach Vollendung des Stückes fand Maria den Titel: »Eine Heirat in der Geschwindigkeit.«

Auch in dem Theaterstück sind die Charaktere streng gewahrt: drei der Handelnden sind kalte Selbstsüchtlinge, welche die günstige Gelegenheit sofort wahrnehmen, als ob es sich von selbst verstehe, der vierte ist offenbar ein Verwandter des Grafen Balogi und ein Gegenstand der Belustigung für die scharfsinnige Dichterin, die sich indessen kein Wort des Spottes über dieses Opfer entgehen läßt, für welches sie vielleicht mehr Mitleid verspürt, als es den Anschein hat.

Auch an diese zweite Dichtung hat sie nicht mehr lange gedacht, vielleicht erinnerte sie sich noch daran, jedenfalls sprach sie nie mehr davon, und ob sie das Manuskript noch besaß, wußte sie nicht.

Mit den Gedichten hat es folgende Bewandtnis.

Eines Tages erhielt Maria ein kleines Schreibheft als Geschenk, dessen Format nur kurzzeilige Eintragungen gestattete, wie eben Gedichte.

Sogleich fing Maria an Verse zu schreiben, am Abend des Tages hatte sie 134 (elf Gedichte) vollendet, den folgenden Tag schrieb sie weitere 179 (dreizehn Gedichte). Dann hielt sie ein wegen Mangels an Papier. Die beiden letzten Seiten hatte sie am Abend des ersten Tages für eine Reihe »Anmerkungen« reserviert.

Während dieser zweitägigen künstlerischen Anwandlung war das Mädchen ausschließlich mit dem Niederschreiben der Gedichte beschäftigt, und wenn man es abrief, antwortete es in einer Weise, daß man entnehmen konnte, es stehe unter der Herrschaft eines gebieterischen Drucks.

Nachdem sie ihr Werk vollendet hatte, las sie die Gedichte (dagegen nicht die »Anmerkungen«) ihren Bekannten vor, wollte sie diesen aber nicht selbst zu lesen geben, da sie vielfach Fehler, namentlich orthographische, enthielten, was um so merkwürdiger war, als sie sonst ziemlich korrekt, wenn auch langsam arbeitete.

Ich bin natürlich nicht imstande, zu ermitteln, ob Marias Gedichte nicht in dieser oder jener Beziehung an die bekannten Dichter erinnern, es würde sich dann wohl um unbewußte Nachahmung handeln. Die Erfindung ist nicht besonders glänzend, die meisten der einfachen Stückchen behandeln einzelne Eindrücke oder Vorgänge (»Die Schwalbe«, »Der Hahn«, »Die Gärtnerin«, »Das Meer«, »Schulerinnerung«, »Der Schmetterling«, »Ein Regenguß« usw.), einzelne auch in einer gewissen schwermütigen Art Fragen allgemeinen Inhalts (»Die Welt«, »Warum wir geboren sind« u. a.). Es ist aber alles flott nacheinander niedergeschrieben und der große Schwung erhellt auch aus dem Mangel der großen Anfangsbuchstaben am Zeilenanfang und aus einer größeren Anzahl Schreibfehler (neben den orthographischen). Auch ist der Reim sehr wenig verwendet. Dabei belehrte mich ein Versuch, daß das Kind gute Reime ohne Schwierigkeiten zu finden wußte.

Nach vier oder fünf Tagen, von denen, wie gesagt, die beiden ersten ausschließlich dem Niederschreiben gewidmet waren, hat Maria nicht mehr gedichtet. Ich habe ihr seitdem verschiedene Male eine Anregung dazu geben wollen, aber ohne jeden Erfolg in bezug auf die Hervorrufung des merkwürdigen Zustandes.

Zweierlei möchte ich noch erwähnen, zunächst, daß in einzelnen der Gedichte sich bereits der schwärmerische Grundgedanke vorfindet, der den Ideenschatz des reifen jungen Weibes zu bestimmen pflegt, was für eine gewisse Gefühlsfrühreife des Mädchens sprechen würde, die mit seinem sonstigen Wesen und seiner gewöhnlichen Gedankenwelt nicht im Einklange zu stehen scheint, sofern es unter den psychisch-hygienisch und intellektuell günstigsten Bedingungen aufwuchs, und zweitens, daß in den »Anmerkungen« zu den Gedichten mehrfach etwas wie Größenideen zutage tritt, ein Zug, der dem schüchternen Kinde sonst gänzlich fremd war und der sich deshalb fast wie Ironie ausnimmt.

*

Soweit der Beobachter. Das hier beschriebene, periodisch anfallartige, auffallend frühzeitige Auftreten genieartiger Erscheinungen spricht für die Theorie des epileptoiden Ursprungs des Genies: sind doch die Periodizität und die Frühreife zwei ausgeprägte Kennzeichen der epileptischen Anlage.

 

Ende.

 


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