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VI.
Kritiken und Polemiken.

 

1. Nordau.

Wenn eine Idee kühn ist, so findet sie auch kühne Gegner, und diese stützen sie wieder durch ihre Gegnerschaft selbst. Ich will hier bei einem teuren Waffenbruder den Anfang machen, dem modernsten Denker unserer Zeit, bei Nordau.

In seinem ausgezeichneten Buche über die »Entartung« bekämpft er indirekt meine Anschauungsweise, denn ihm ist die Neurose oder Geistesstörung eines Autors Anlaß zu dem Wunsche, sein Werk müsse nunmehr vernichtet werden, also gerade das Gegenteil von dem, was ich versucht habe zu erweisen.

Nachdem er mit seiner feinen Analyse gezeigt hat, daß bei Wagner die philosophischen Ideen über das Leben widerspruchsvoll oder überwunden sind, wie z. B. die Idee des Kampfes zwischen Fleisch und Geist oder Seele und Leib, schließt er, Wagner sei irre gewesen und kein Genie. Aber solche Wunderlichkeiten oder wahnartigen Anschauungen, wie sie von Tolstoj, Wagner und Ibsen bekannt geworden sind, haben wahrscheinlich alle Genies besessen.

Die letzten Kapitel in Goethes Wilhelm Meister und ähnliches sind unbegreiflicher und merkwürdiger als alle Tolstojschen Ideen. Die wissenschaftlichen Ansichten Balzacs und seine unzähligen Fluida fänden ihresgleichen nur in der Literatur des Irrenhauses (Ferrero, Vita moderna, 1890).

Der Nachweis des Irrsinns beim Genie ist nicht schwer, denn das Genie ist, wie ich und andere vor mir gezeigt haben, eben eine Form der degenerativen Neurose: mattoide Degenerierte sind z. B. Poitevin und Mallarmé, als degeneriert und gestört sind auch Tolstoi, Wagner, Swinburne aufzufassen, aber diese haben über die abnorme Anlage und über die der gewöhnlichen Gestörten hinaus noch das Genie. Dies hat Max Nordau meiner Ansicht nach zu sehr unberücksichtigt gelassen. Das Genie verschmilzt hier mit der Störung.

Die Degeneration erleichtert für den, der meinen Theorien folgt, die Diagnose der Genialität, schließt sie aber durchaus nicht aus. Die Mittelmäßigen, die keine psychopathischen Anomalien besitzen, haben deswegen auch nicht das, was die Grundlage des Genies bildet, die fruchtbare Originalität.

Der geniale Mensch ist ein Mensch, der es besser und anders versteht als seine Zeitgenossen. Er ist deshalb ein abnormes Wesen, eine Ausnahme. Was folgt daraus? Daß der geniale Mensch von seiner Umgebung verschieden ist, viele physiologische und psychologische Lücken hat. Er leidet öfter an Verfolgungs-, Größen-, wahnhaften religiösen Ideen, noch häufiger an psychischer Epilepsie.

»Mit elf Jahren erfindet Pascal die Geometrie von neuem und revidiert die Physik.« Ist es nicht eine merkwürdige, fast unheimliche Abnormität, fragt Richet, daß ein Knabe im Alter, in dem gewöhnlich noch Ball gespielt wird, auf Gedanken kommt, die tiefer und großartiger sind als alle jene, die die Meister von zwanzig Jahrhunderten gehabt haben? Ist es da ein Wunder, daß er an halluzinatorischer Paranoia gelitten hat? Cardanus hatte mit fünfzehn Jahren mehr ersonnen und gefunden als hundert Durchschnittsmenschen in ihrem Leben. Was Wunder, daß er auch sonst von allen verschieden war und mit sechs Jahren bereits halluziniert hatte? Richet, Einleitung zum » Homme de Genie«, 2. Aufl. 1897.

»Um ein Pascal oder ein Cardanus zu sein, muß einer krank sein, krank in seinem wahren Sinne genommen, d. h. im Sinne ›abnorm‹, denn nicht nur ist die Neurose mit dem Genie verwandt, sondern es ist auch beobachtet worden, daß oft Neurose, Krankheit, Verletzungen zu Ausgangspunkten des Genies geworden sind.«

Ein Kranker Conollys erfuhr im Anfangsstadium der Lungenschwindsucht und der Gicht eine Erregung, die seiner Intelligenz zugute kam. Béclard wurde aus einem Theoretiker ein Praktiker, nachdem er einen epileptischen Anfall gehabt hatte. Richet, Revue scientifique, April 1888, und Vorrede zum » Homme de Genie«. Halle kannte Leute, deren Geistesgaben vorher mittelmäßig gewesen waren, die aber infolge von Rückenmarkskrankheiten einen Zuwachs daran erfuhren. In dieser Beziehung ist auch von Interesse, was Silvester vor einigen Jahren von sich selbst schrieb: »In einem akuten Anfalle von bronchitischem Fieber löste ich ein mathematisches Identifikationsproblem.«

Man kann also annehmen, daß die Genialen den anderen nicht gleichen, ähnlich wie die Irren krank sind und eine von den anderen verschiedene Intelligenz besitzen (Richet).

Noch mehr! Auch im Inhalt des genialen Werkes kann man Lücken und Irrtümer finden, wie man sie niemals in der Leistung eines ruhigen und sorgfältigen Durchschnittlers antreffen würde. Einige solche merkwürdige Vorkommnisse halte ich schon in meinem »Genialen Menschen« erwähnt, andere ersieht man aus Kapitel IV der vorliegenden Arbeit.

Die Beispiele hierzu ließen sich ins Ungemessene vermehren. Wenn Nordau in dieser Weise die Werke der großen Männer durchprüfen wollte, so würde er natürlich auch bei den anderen auf Wunderlichkeiten und lapidare Schrullen stoßen, und deswegen hat er auch so leichtes Spiel mit Wagner, Ibsen, Zola; denn auch bei diesen hat die Neurose die große Originalität geschaffen. Aber dieses im ganzen abnorme Verhalten ist eine Folge, eine Bestätigung, nicht eine Negation der Genialität.

Statt zu schließen, daß dies Genies waren, weil sie neuropathische Züge besaßen, schließt Nordan: Es waren Gestörte, folglich waren es keine Genies. So verliert man aber das Verständnis für die geniale Eigenart, man muß schließlich ganze Reihen von Genies streichen, wie Ibsen und andere, und sie unterhalb der normalen Durchschnittsmenschen einrangieren.

Ich weiß schon, daß Nordau und andere mir einwerfen, die Neurose könne sich auch bei mittlerer Intelligenz vorfinden und deswegen auch diese damit in Verbindung zu bringen sein. Ich antworte: Wenn die geistige Störung einen Menschen von mittlerer Intelligenz befällt, so kann sie sogar für einen Augenblick einen Genialen aus ihm machen, ich habe davon eine Reihe Beispiele gegeben. Uomo di Genio, 5. Aufl., S. 274-379, 666-670. Das Beste lieferte mir ein früher nur sehr mittelmäßig beanlagter verblödender Beamter, der ein großartiges Gedicht » A un uccello del cortile« verfaßte. Aber ein Durchschnittsmensch wird nie zum echten Genie werden, denn abgesehen von der mitveranlassenden Blutüberfüllung im Gehirn und der besonderen Umstimmung der Gehirnzellen bei Geisteskrankheit, Hysterie usw. bedarf es zum Zustandekommen des Genies auch einer besonderen organischen Einstellung der Überzahl der Nervenzellen, besonders der Vorderlappen, die von der Masse der äußeren Eindrücke getroffen werden. In dieser Art kann auch der Wein zur Ursache einer dichterischen Begeisterung bei einem Individuum mit einiger Anlage oder Geistesbildung werden, aber man kann ihn nicht als Ursache der Banalität eines Menschen hinstellen, der bereits im Mittelmaße geboren, etwa nichts anderes von seiner Wirksamkeit verspürt als große Schläfrigkeit, und den er im ganzen so läßt, wie er ist, oder den er herunterdrückt.

Die Tatsache, daß der Wahnsinn einen Durchschnittler für einen Moment genial machen kann, beweist seine große Bedeutung für das Genie und erhärtet den Satz, daß das Genie vom Wahnsinn in der Entstehung begünstigt werden kann. Oft ist Irrsinn einem genialen Werke voraufgegangen oder hat es begleitet (Cardanus, Rousseau, Comte, Tasso). Daß Gehirnerweichung auf übermäßige geistige Arbeit folgen kann, wie Morselli behauptet, so bei Guy de Maupassant, Baudelaire, Faccio, halte ich für möglich, wenngleich nur bei Prädisponierten, von der Epilepsie aber, die die ganz besondere Neurose des Genies darstellt, hat noch nie jemand behauptet, daß sie von der Erschöpfung des Nervensystems herrühre und von Überarbeitung, sondern diese ist seit jeher so bekannt, wie irgendeine andere Kinderkrankheit es ist.

Hält man mir entgegen, daß die besonderen Erscheinungen des epileptischen Anfalls, der plötzliche Ausbruch mit anschließender Erschöpfung und Benommenheit bei Archimedes, Kopernikus, Galilei, Newton, Darwin, Maxwell vermißt werden, so muß ich antworten, daß man von einigen dieser, wie Archimedes, Kopernikus, Maxwell, Volta, fast nichts weiß und deshalb nicht sagen kann, ob sie nicht daran gelitten haben. Wer hat vor dem Bekanntwerden des Briefwechsels etwas von der Epilepsie Flauberts, Helmholtz', Guerrazzis gewußt? Aber dort, wo wir etwas wissen, sind die abnormen Erscheinungen sehr gut bekannt geworden: Galileis Eifersucht z. B., die bis zur Schonungslosigkeit gegen seine Konkurrenten ging, seine Unfähigkeit, fremde Errungenschaften, die doch direkt aus seinen eignen sich ergaben, hinzunehmen. Man denke ferner an Darwins angeborene Kränklichkeit, seine Schwindelanfälle, Zustände, die oft epileptischer Herkunft sind, und an gewisse Versuche, die er selbst als Torheit bezeichnete, so als er einst vor seinen Blumenbeeten Musik machen ließ, um den Einfluß der Töne auf das Wachstum der Pflanzen zu studieren, an seine Unfähigkeit, länger als zwei Stunden zu arbeiten, an seinen Widerwillen gegen das Neue, der ihn veranlaßte, eine alte Wage zu gebrauchen, die ungenau war, und falsche Rechentabellen, an die er sich gewöhnt hatte.

Von Newton sind Halluzinationen bekannt geworden, Verfolgungsideen und Beschränktheiten, wie die Apokalypse. Wenn auch bei solchen Geistern nach der genialen Anwandlung keine Erschöpfung eintrat, so haben sie doch zuzeiten an einem Schwinden ihrer Geisteskräfte gelitten, wie Tasso, so daß sie oft nicht mehr wußten, was sie im Augenblicke vorher geschrieben hatten.

Ferner habe ich auf die Periodizität, das explosive unmittelbare Schaffen, die Verdoppelung der Persönlichkeit, die Anomalien des Gesichtsfeldes, die Sensibilitätsabstumpfung, die frühzeitige Reife, die Langlebigkeit, die Verwischung der Geschlechtscharaktere, die förmliche sexuelle Neutralität, die das Genie der psychischen Epilepsie verwandt machen, hingewiesen. Uomo di Genio, 6. Aufl., S. 14-60. Hat man genau bekannte Fälle vor sich, die keine epileptischen Merkmale aufweisen, so handelt es sich um solche, die ich »große Ingeniöse« genannt habe, Leute, welche die Welt als Genies und mehr als die Genies bewundert, die bis zur oberen Grenze der Bildung ihrer Zeit vorgedrungen sind, ohne sie zu überschreiten, die das Niveau der zeitgenössischen Gesellschaft repräsentieren, von dieser zuerst gern aufgenommen, später verhätschelt werden als solche, die ihre Gewohnheiten nicht stören, ihren Widerwillen oder ihre Abneigung nicht wecken, Geister, die auch niemals die dem Genie oft eigenen groben Verstöße begehen, da sie seinen Periodizitäten und Abnormitäten nicht unterworfen sind.

Zu diesen gehört zweifelsohne Verdi, an dem keine anderen degenerativen Merkmale aufzufinden sind als die Langlebigkeit, der aber weder den Größenwahn Wagners noch die Schrullen Rossinis besitzt, ein Mann, der sicher zu den gesündesten unserer Zeit zählt, der noch mit achtzig Jahren eine Romanze komponieren und eine Stunde darauf in aller Ruhe ein paar Ochsen verkaufen kann, was weder Wagner noch Rossini imstande gewesen wären. Aber wenn Verdi auch das Niveau seiner Zeit erreichte und bezeichnen half, so hat er es doch nicht überschritten, und wenn er sofort oder fast sofort Anklang fand, weil seine Schaffensart nicht so weitgreifend in der Neuerung war, wie die des echten Genies, so ging doch der Ruhm seiner Leistung dafür in wenigen Lustren herab, und Falstaffs Triumph hat bereits ebenso seinen Höhepunkt überschritten, wie dies mit der früher so berühmten Aida der Fall ist und auch mit dem noch etwas bekannter gebliebenen Troubadour. Der wunderliche, gestörte, vielleicht epileptische Wagner dagegen, der sich über alle unter Hohn hinwegsetzte und dessen Name zuerst ein Spott war, hat seinen Sieg erst ein Vierteljahrhundert später gewissermaßen über die Leiche seines einst so beliebten Rivalen hinweg feiern können, denn er eilte seinen Zeitgenossen um vieles voraus. Wagner ist ein Genie, Verdi ist ein durchaus normaler Mensch.

Gewiß sind auch die großen Geister oft abnorm, weil die Natur immer strebt, den Durchschnitt in der Menschheit aufrechtzuerhalten. Scheint die Anomalie beim Genie zu fehlen, so fehlen gewöhnlich auch nähere Daten über die Persönlichkeit, oder besser, sie fehlen gegenwärtig noch.

Ich kenne nur ein einziges Genie, über das sehr vieles bekannt ist, und von dem wir trotzdem keinen Beweis von Anomalien besitzen, abgesehen von dem schwachen Gefühlstonus und einer Halluzination: Goethe. Allerdings finde ich in der von Pisa übersetzten Monographie Lewes' über den Dichte, 1889, daß Goethe sich für seine Studienzwecke wertvolle Dinge ungebührlich zurückbehielt. Als ein Chemiker ihm einst für den Augenblick eine Platinbarre lieh, die ihm für weitere Studien vom Zaren übersandt worden war, wollte er sie nicht zurückgeben.

Nordaus neuer Weg, von dem etwas zu erwarten ist, besteht darin, die Störung der einzelnen großen Geister im Zusammenhang mit ihren Werken zu betrachten, um ihre Hauptoriginalitäten und -abnormitäten zu ermitteln.

Kennt man z. B. die psychopathische Sexualität Michelangelos, der gegen die Frauen gleichgültig war, so begreift man, warum er diese so selten zum Modell nahm, und namentlich auch, warum die Frauen auf seinen Bildern so muskulös und männlich aussehen.

Berlioz hatte Größenideen, deshalb genügten ihm für seine Symphonien Orchester von 360 Mann nicht, und deshalb machte er sich selbst die unmöglichsten Instrumente und Laute dienstbar, wie die Glocke und Kanonenschläge.

Dostojewskij war ein Epileptiker, aus diesem Grunde spielt in seinen Schriften auch die Epilepsie allenthalben eine Rolle, so daß wenige Psychiater eine so ausführliche Schilderung der psychischen Epilepsie gegeben haben, als er sie uns hinterlassen hat.

Größenwahn und Epilepsie im Bunde mit vollständigem ethischen Defekt erklären Napoleons Mißgriffe und seine Unersättlichkeit, in der ihm die Herrschaft über die Hälfte der damaligen Kulturwelt nicht genügen wollte. Aus kürzlich bekannt gewordenem Studienmaterial scheint auch hervorzugehen, daß der Zug nach Moskau auf eine wirkliche Geistesschwäche zurückzuführen ist, denn es waren keinerlei Vorsichtsmaßregeln selbst der einfachsten Art getroffen. Es mangelte an Pelzen und Dolmetschern, und während er sagte, »ich will Karl XII. nicht nachahmen«, ging die Armee an Hunger und Alkohol zugrunde (f. hierzu meinen Artikel Deutsche Revue, Jan. 1898, ferner Verastschin, Napoleon en Russie, 1893).

Wagner. Um mein Urteil besser zu begründen (wenn man einen so hervorragenden Mann wie Nordau angreifen will, so kann es gar nicht gründlich genug geschehen), möchte ich hier Nordaus Urteil über Wagner, den bekanntesten modernen Künstler, der vielleicht von ihm am meisten von allen bekämpft worden ist, näher betrachten.

Es ist ganz richtig, daß Wagner Größenideen hatte.

Aus einigen Privatbriefen, in denen er vom König von Bayern als »mehr als befreundet, mehr als ein Bruder, mehr als Gattin« spricht, und aus einigen merkwürdigen Gewohnheiten, so z. B. Frauenschlafröcke zu fabelhaften Preisen zu tragen, Zimmer wie die Boudoirs einzurichten, kann man mit gutem Grund entnehmen, daß er ein Sexualpsychopath gewesen sei.

Viele seiner Briefe enthalten, wie ich schon im » Uomo di Genio« gezeigt habe, Stellen, aus denen nicht nur ein Geistesgestörter, sondern sogar ein Schwachsinniger zu sprechen scheint.

Es ist auch richtig, daß er immer denselben, oft dunklen und widerspruchsvollen Gedanken wiederbringt, daß er sich in Wortspielen gefällt, daß er, wie die Mattoiden, die ihm am wichtigsten erscheinenden Stellen seiner Werke äußerlich kenntlich macht, daß er gegen die Juden eine Art krankhaften Vernichtungswahn fühlte, als er über das Judentum in der Musik schrieb. Gewiß sind Wagners Textbücher zu seinen Opern, die nur ein Fanatiker bewundern kann, zwar oft abgeschmackt, aber nicht beweisend, die Fabel ist in ihrer symbolistischen Verbrämung oft ohne Sinn. Das raubt aber dem Musiker nichts von seiner Bedeutung, auch die Handlung der Shakespearischen Dramen ist oft kindlich, aber der unermeßliche darin aufgehäufte psychologische Schatz verliert deshalb doch nicht das geringste an Wert (s. Ferrero, l. c.).

So liegt es auch bei Wagner. Was geht uns die Philosophie an, die er in Musik hat setzen wollen? Man muß sich eben vor Augen halten, daß Wagner ausschließlich und überhaupt ein großer Musiker und kein Dichter oder Philosoph ist. Seine Musik ist die große Schöpfung, und dies ist für uns genug.

Sie ist eine große Schöpfung nicht durch die Ideen, die sie darstellen will, sondern dadurch, daß sie mit außerordentlicher Kraft gewisse universelle Gefühle ausdrückt.

Der Mensch besitzt ein starkes Vermögen, in der Phantasie die verflossenen Zeiten mit all der Pracht auszuschmücken, die der eigenen abgebt. Aus der Entfernung übersieht er jene zahllosen Banalitäten, die auch beute noch unser Dasein verdrießlich machen, und er meint deshalb, früher seien die Leute glücklicher gewesen. In dieser Weise ist das Gerede vom goldenen Zeitalter entstanden. Wagner hat nun nichts anderes getan, als diese Illusion, die bei den meisten Menschen nur dunkel in der Vorstellung vorhanden ist, stark aufzufrischen, und deshalb hat er eine primitive und sagenhafte Welt nachgeschaffen, deren Widerschein die Menschen erfreut und mit Teilnahme erfüllt. Wagner ist der Musiker dieser allgemeinen Empfindung, die er in festen greifbaren Formen niederzulegen verstanden hat, wie die meisten Romantiker es getan haben. Diese phantastische Welt von Helden, Drachen, Rittern, diese vage Sehnsucht nach vergangenen Jahrhunderten, die wir mit so wenig Recht so gern in uns auftauchen lassen, hat in ihm einen begeisterten Schilderer gefunden (Ferrero, l. c.).

Was die Behauptung angeht, Wagners Melodie sei in der Hauptsache auf ein harmonisches Rezitativ zurückzuführen, woran das Orchester keinen Anteil habe, während hingegen dort im Gegenteil die Wagnersche Kunst ihren vorwiegenden Stützpunkt hat, und daß Wagner sich über die Harmonielehre hinweggesetzt habe, da er keiner ausdauernden Arbeit fähig gewesen sei, ferner daß er das Leitmotiv erfunden habe, da er die Personen seiner Opern nicht durch einen deutlichen musikalischen Charakter zu trennen imstande war, so fällt dies alles doch nur seiner Opernmusik zur Last.

Jachino Nordau, Entartung, 1896. sagt ganz richtig, Nordau erkläre die Zusammenwirkung der verschiedenen Kunstformen, wie die endlose Melodie und die natürliche Deklamation der Wagnerschen Personen, für atavistisch und deshalb für morbos.

Was den ersten Punkt anbetrifft, so kommt in Betracht, daß Wagner nicht die Einzelcharaktere der verschiedenen Künste und Kunstformen unterdrücken wollte, um sie in eine neue umzugießen, sondern daß er jede davon im Musikdrama mit dem ihr eigenen Ausdrucksmittel zur Geltung zu bringen suchte. Hieraus ergibt sich der Unterschied, der dieses Ideal das in seiner Einheit seine einzelnen Bestandteile wohl erkennen läßt, von dem verschwommenen Durcheinander trennt, auf das Nordau Wagners Melodrama zurückführen möchte.

Was die endlose Melodie anlangt, so folgt nicht daraus, daß der künstlerische Versuch, den Schauspieler so natürlich wie möglich und mit möglichst großer Anlehnung an den Text singen zu lassen, ein atavistischer Rückschritt ist, selbst wenn Spencers Hypothese zutreffen sollte, daß der primitive Gesang nur ein seelenvolleres und rhythmisierteres Sprechen ist, und zwar um so weniger, je mehr man den gleichzeitigen wundervollen Aufschwung des Wagnerschen Orchesters in Anschlag bringt. Wir können zugeben, daß die Wagnersche Deklamation, wie sie beschaffen ist, die primitive Vokalmusik wiedergibt. Das hat aber mit dem mühsamen künstlerischen Fortschritt, der notwendig war, um alle diese natürlichen Verhältnisse zu verstehen und künstlerischen Zwecken dienstbar zu machen, nichts zu tun. Ich erinnere hier z. B nur an den Zusammenhang zwischen Bejahung und absteigender Quinte, auf den Helmholtz aufmerksam gemacht hat, und zwischen Frage und aufsteigender Terz, weiter noch an die Beziehungen zwischen Gefühl und Harmonie, z. B. an die Art, wie die konsonierenden Akkorde für die einfachen und ruhigen Seelenzustände, die dissonierenden für die komplexen bewegten, unruhigen verwendet werden, schließlich an die ganz allgemeinen Berührungspunkte zwischen beiden Empfindungsgruppen, wobei ich bloß den von Wagner so oft benutzten Kunstgriff erwähnen möchte, während der deklamierte Gedanke auf dem Grundton schließt, mittels der musikalischen Fortführung und der weiter sich ergießenden Welle des Gefühls diesen Ruheeffekt zu zerstören, entweder durch eine unterbrochene Tonfolge, oder indem er über die betreffende Tonika den vollkommenen tiefen Terzdreiklang in dem ursprünglichen Dur oder Moll setzt.

Auch bezeichnet die Evolution nicht immer die Zerstörung der alten Formen und die Neuschöpfung solcher, sondern einfach Umformung dieser nach neuen Notwendigkeiten.

Fortschritt zeigt sich eben nur mit Hilfe der Eroberungen der Vergangenheit. Dies ist besonders auch bei der Musik der Fall.

Wer sich den hochkomplizierten Bau der modernen Oper vorstellt und ihn mit jenen wenigen musikalischen Resten vergleicht, die von der griechischen Kunst übriggeblieben sind, kann nicht in Abrede stellen, daß die Evolution hier eine mächtige Leistung vollbracht hat, selbst wenn sie noch einige Elemente der alten Formen mitverwendet. S. hierzu Rivista musicale, 2. Bd., 1894.

*

In seinem Buche » Psychophysiologie du Génie«, Paris 1897, bekämpft Nordau meine Theorie über die epileptische Anlage des Genies mit der Einwendung, daß oft Schwachsinnige oder Ekstatiker, die sich als Propheten oder Künstler bezeichnen und die Menge mit ihren Extravaganzen verblüffen, von dieser zu Genies gestempelt werden, während es doch nur Geisteskranke und Degenerierte sind, und daß die echten Genialen nie krank oder entartet seien. Ich halte aber fest an der Epilepsie und frage ihn: Ist Napoleon ein Genie oder nicht? Läßt sich die Epilepsie, nicht nur die psychische, sondern die konvulsive Julius Cäsars, Mohammeds, Peters des Großen und Dostojewskijs in Abrede stellen?

Nordau fügt freilich hinzu: »Das Genie ist evolutiv. Was soll wohl Evolution hier heißen? Doch wohl das erste Auftreten neuer Funktionen und somit neuer Gewebe bei einem Individuum mit der Bestimmung, typisch für eine ganze Spezies zu werden.« Nun haben wir aber gesehen, daß, wie hier Evolution aufzufassen ist, diese sich an einem Rückschritt knüpft, selbst wenn sie eine vollkommene ist (s. Kap. I) und um so mehr, wenn sie eine partielle ist, insofern Funktionsausfälle in anderer Richtung damit verbunden sind. Hierauf entgegnet Nordau, Krankheit und Atrophie sei nur der Schlußeffekt. So stürben viele Athleten an Herzhypertrophie, ohne daß man behaupten könnte, die Athletik sei ein Herzleiden. Darauf kann man sagen, wenn die Athleten vollkommen gesund wären, wenn ihr Herz mit dem Training immer stärker und größer würde im Verhältnis zur Muskulatur, so würden sie nicht herzleidend sein. Auch treten die morbosen Erscheinungen am Herzen der Athleten erst in später Zeit nach längerem übermäßigen Mißbrauch der Muskulatur, während die epileptoiden Erscheinungen am Genie den genialen nicht nachfolgen, sondern mit ihnen einhergehen, wenn sie dieselben nicht einleiten, wie bei Cardanus, Leopardi, Poe, Byron, Rousseau. Im übrigen gibt Nordau beim Kapitel von der genialen Frau zu, daß diese unter hundert Fällen achtzigmal eine kranke ist und sich von der gesunden wie Licht und Schatten unterscheidet, und daß in den zwanzig Fällen, wo nicht von eigentlicher Krankheit gesprochen werden kann, eine Art Geschlechtsumkehrung statthat, so daß mit einem weiblichen Körper männlicher Charakter und männliche Gedankenwelt vereinigt sind, woraus sich erklärt, daß die meisten Genies wie Hugo, Byron, Goethe sich sehr einfache Frauen gewählt haben und die genialen Frauen nur den Alltagsmännern gefallen, welche bei ihnen Ergänzung suchten.

Die organische Ursache des Genies leugnen zu wollen ist, wie de Roberto Un nemico dell' arte, Corriere della Sera, 1897. ganz richtig sagt, sogar absurd, wenn man m Betracht zieht, wie bei zwei unter gleiche äußere Bedingungen gesetzten Kindern, die in gleicher Weise erzogen worden sind und die gleiche Schule besuchen, Neigungen, Wünsche, Interessen von ganz verschiedener oder sogar entgegengesetzter Art zur Beobachtung kommen. Diese Tatsache können wir alle Tage mit eignen Augen beobachten und sie läßt sich nur mit der Annahme angeborener Anlagen vereinigen, von denen Nordau nichts wissen will. Der Drang zu einer bestimmten Tätigkeit ist nach Nordau meistens etwas ganz Negatives, mit anderen Worten, junge Leute widmen sich z. B. der Mathematik, nicht weil sie sich für diese Wissenschaft berufen fühlen, sondern weil sie nicht zum Künstler taugen. Diese Widerstände also, die der Ausgangspunkt der Talente wären, erklärt Nordau nun mit einem organischen Defekt oder einer Entwicklungshemmung. Um keine organischen Geeignetheiten annehmen zu dürfen, behauptet er also die Existenz organischer Ungeeignetheiten. Man darf wohl fragen, ob dies nicht eine nutzlose Komplikation der Sache und ob es nicht einfacher ist, den einzelnen Fähigkeiten anatomische Sitze einzuräumen.

Nordau stellt also die natürliche Beanlagung des Geistes in Abrede, erkennt sie aber beim Genie als bestehend an und meint, daß der geniale Mensch vom Durchschnittler durch die besondere Entwicklung zweier bestimmter Hirnzentren, desjenigen des Urteils und des Willens, unterschieden sei. Aber wo diese Zentren liegen, und wie sie beschaffen sind, sagt er nicht, und er kann es auch nicht sagen, denn kein Mensch hat sie gesehen.

»Wie diese Zentren aussehen,« lauten seine eigenen Worte, wissen wir noch nicht genau, aber mit der Zeit werden sie entdeckt werden.« Wir befinden uns also hier im Gebiete der reine Hypothese.

Wird man indes zugeben können, was Nordau nicht annehmen will, nämlich daß Genie und Talent wohI in der Qualität verschieden seien, nicht aber in der Quantität. Darum handelt es sich nicht eigentlich immer. Es ist möglich, daß zwischen der psychophysiologischen Anlage eines Durchschnittlers und eines Talentierten, z. B. eines beliebigen Soldaten und eines guten Kommandanten, kein Unterschied in Qualität oder Quantität sei, man kann allenfalls zugestehen, daß der Unterschied hier ausschließlich quantitativ ist. Aber, was zwischen einem guten Kommandanten und Napoleon liegt, ist unendlich viel mehr und so grundsätzlich etwas Andersartiges, daß der geniale Napoleon wirklich als ganz anderer Mensch daneben erscheint. S. vorhergehende Anmerkung.

Wie ist nun Nordau zu so merkwürdigen Schlußfolgerungen gekommen? Wer der Entwicklung seines Gedankens nachgegangen ist, bemerkt, daß dieser Philosoph mit Recht ein Feind der Kunst genannt worden ist. Seine ganze Hypothese von der besonderen Entwicklung der speziellen Nervenzentren will auf eine Rangordnung hinaus, durch welche Empfindung und Gefühl dem Intellekt und Willen untergeordnet würden. Die künstlerische Leistung entlockt ihm ein Lächeln, denn diese rührt nur von der Gefühls- und Empfindungssphäre im besonderen her, sie erweckt Gemütsbewegungen, nicht Gedanken. Gern würde er mit einem großen Mathematiker am Ende einer Symphonie ausrufen: » Qu' est-ce que cela prouve?« Nichts beweist sie eben. Die neunte Symphonie beweist nichts, und Newtons binomischer Satz beweist auch nur wenig; aber genügt das, die Musik und die Algebra beiseite zu setzen?

Nordau führt alles an, um die Kunst zu diskreditieren: ein Komponist, wie Liszt, ist für ihn ebenso genial wie ein perfekter Tänzer, bei beiden hänge die Begabung nur von der Entwicklung der Koordinationszentren der Bewegung ab. Der bloße Farbensinn bringe einen Makart hervor, nämlich jemanden, der gefällige Farben geschickt zusammenzustellen wisse, wie es die Chlamydoderen, die Ptylonorrhynchen und andere australische Vögel, die bunte Laubennester bauen, auch imstande sind. Von Beethoven und Raffael gibt er zu, daß sie sich von einem abgerichteten Hunde unterscheiden, aber soll man sie als wirkliche Genies betrachten? Nein. Wenn Genie Urteil und Wille in höchster außerordentlicher Vervollkommnung ist, wo sollen dann die Genies der Gefühlssphäre, die Dichter und Künstler hin? Habe ich dann noch ein Recht, die Dichter und Künstler Genies nennen zu können? Dieses Recht scheint dann doch wenigstens angreifbar zu sein. Die Genies erster Ordnung, die einzigen, die dieses Namens wirklich wert sind, sind die großen Oberhäupter, die großen Gesetzgeber, die großen Staatsmänner: mit der größten Geistesschärfe vereinigen sie einen so starken Willen, daß alle Menschen ihnen Gehorsam und Unterwürfigkeit schulden müssen. Dann kommen die großen Erfinder und Entdecker, in denen der Wille weniger genial ist, da er nicht gegen die starken Kräfte der Mitmenschen, sondern nur gegen den passiven Widerstand der Natur zu kämpfen hat. An dritter Stelle kommen die Genies des bloßen Intellekts ohne entsprechende Entwicklung der Willenssphäre, also die großen Denker und Philosophen. Schließlich macht Nordau in der vierten Kategorie eine wohlwollende Konzession, indem er in diese die Dichter und Künstler zusammenfaßt. Diese Rangordnung ist die einzig natürliche, denn sie »stützt sich auf eine organische Basis«, sie ist der Ausdruck der »Dignität der Gewebe und Organe«, mit anderen Worten, sie ist berechtigt, da Denk- und Willenssphäre, welche der Genialität der ersten drei Klassen zugrunde liegen, ausschließlich Attribute des Menschen sind, ohne entsprechende parallele Erscheinung in der Tierwelt, während die Genies vierter Klasse, die Dichter und Künstler, ihre Vorzüge der Gefühlssphäre entnehmen, welche uns Menschen nicht ausschließlich zukommt, sondern uns mit den Tieren gemeinsam ist.

Wie kann nun zu allererst ein Anhänger der Entwicklungslehre, wie Nordau es zu sein behauptet, annehmen, daß Intellekt und Wille ausschließlich dem Menschen angehören, daß sie bei ihm ganz plötzlich zum Vorschein gekommen sind, daß sie nicht auch in geringem Grade wenigstens in Andeutungen und Anlagen auch bei den Tieren vorhanden sind? Will er die ganze vergleichende Psychologie beiseite setzen? Gewiß ist der Unterschied zwischen den geistigen Fähigkeiten der Tiere und denen des Menschen gewaltig, aber auch der Unterschied zwischen der Gefühlstätigkeit und der Empfindungsfähigkeit von Tier und Mensch ist gewaltig. Noch niemand hat ein Tier lachen oder weinen sehen, und auch der Künstler löst diese Äußerungen nicht automatisch aus, wirkt ebenfalls durch Intellekt und Wille hindurch. Hat Nordau recht, wenn er sagt, das künstlerische Genie sei nur ein Leierkasten, der ein paar Musikstücke mechanisch wiederholen kann, während der wissenschaftliche Geist frei schafft? Ist er ernst zu nehmen, wenn er behauptet, daß das wissenschaftliche und politische Genie »losgelöst« ist von Gefühlsregungen und Empfindungen? Gibt es solche Grenzen zwischen den einzelnen Individuen? Ist ein Gedicht keine Schöpfung? Aber was ist dann eine solche überhaupt? Gibt es überhaupt Neues unter der Sonne?

Die Einteilung der Genies darf sich also nicht auf den »Rang« ihrer verschiedenen Leistungen, die alle gleichen Wert beanspruchen können, gründen, sie darf nur von dem Kriterium ihrer Brauchbarkeit überhaupt ausgehen. Ein Gesetzgeber kann mehr verehrt werden als ein Philosoph, denn sein Werk kommt einer größeren Anzahl Menschen zugute als das des letzteren, ein Gelehrter kann größeren Ruhm ernten als ein Künstler, denn seine Entdeckungen sind wichtiger für die Praxis. Aber der Künstler arbeitet doch auch noch in anderer Absicht als ausschließlich jener, uns ein Vergnügen zu verschaffen. Kann nicht auch er auf unsere Gedankenwelt wirken? Und angenommen, er wirke nur auf unser augenblickliches Gefühl, ist dies denn ganz nutzlos und ohne jede weitere Bedeutung? Hat die Poesie keine Stelle im Alltagsleben, ist sie nicht nach sehr verbreitetem menschlichen Ermessen das, was ihm Reiz und Würze gibt? Nordau sagt zwar: »Wenn in einem Indianerstamme ein Descartes oder Newton auftauchte, so würde er für das unnützeste Mitglied der Horde gelten, jeder tüchtige Bärenjäger, jeder Krieger, der einen Skalp erbeutet hat, würde ihm den Rang ablaufen.« Ganz gewiß, aber dieses Beispiel beweist doch das Gegenteil von dem, was Nordau sagen will. Unter Indianern kann es nur Krieger und Jäger geben: in einer Stadt, die nur von Blinden bewohnt wäre, würde der einzige Sehende vergebens nächtliche Straßenbeleuchtung beantragen. Die Straßenbeleuchtung existiert aber überall, da die Leute eben nicht blind sind. Wenn also die Künstler, die Nordau mit solcher Schonungslosigkeit behandelt, allenthalben hochgeschätzt und verehrt werden, so ist dies der Fall, weil die Menschen imstande sind, sie zu verstehen. Ein Künstler fällt nicht vom Mond, er entwickelt sich aus der Mitte unserer Gesellschaft selbst heraus, die keine Skalpe am Gürtel trägt, sondern höhere Bedürfnisse nährt, die dringende Befriedigung erheischen. Und wenn Nordau an anderer Stelle ausgesprochen hat, nur infolge der Nachwirkung roher barbarischer Epochen gelte der Soldat als der erste Gesellschaftstyp, wie kann er dann vertreten, daß Alexander, Cäsar und Napoleon höhere Genies, größere Menschheitserscheinungen verkörpern als Dante, Plato und Shakespeare? Kann man nicht eher das Gegenteil verteidigen?

Der Gedanke dieser Klassifikation der Genies nach ihren Werken ist nicht glücklich. Würde nachgewiesen, daß Washington mehr wert ist als Victor Hugo, so könnte dieser sehr in Mißkredit kommen, und man wäre vielleicht versucht, sein Denkmal einige Zentimeter tiefer zu setzen. Und wenn Nordau auch Recht behalten sollte, wenn er sagt, die Philosophen der Zukunft würden die Theorien Darwins nicht höher einschätzen als wir die Ansichten des Parmenides oder Aristoteles, so müssen wir entgegenhalten: wenn die Zeit Gesetze und Bilder, Denkmäler und Reiche, Theorien und Bauwerke vernichtet, wenn alle menschlichen Dinge gleich hinfällig sind, weshalb diese Unterscheidungen?

Ganz recht hat Graf, Graf, Su Leopardi, Foscolo e Manzoni, 1858. wenn er sagt, er weise eine Lehre zurück, die den Erfinder des Luftballons unter die Genies einreiht, aber Dante und Shakespeare ausschließen will, und ich weise eine Lehre zurück, die behauptet, daß die Gefühlstypen unter den Genies keinerlei Einfluß auf die Erscheinungswelt ausüben.

Haben die Lieder des Tyrtäos und die Marseillaise etwa keinen Wert für die Welt gehabt?

 

2. Mario Pilo.

Die Kritik Mario Pilos ist so bestechend und scharfsinnig, daß es sehr bedenklich ist, sie ohne Replik zu lassen. Sie ist geeignet, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, die darüber entscheidet, ob ein System durchdringt oder für immer abgelehnt wird.

Pilo Idea liberale, 1894. zieht eine scharfe Grenze zwischen Genie und Talent, eine Grenze, die nur durch die Originalität des Genies bestimmt wird. Ich möchte sagen, er vertritt den sogenannten gesunden Menschenverstand zu einseitig, während ich durch die Beobachtung zu entgegengesetzten Schlüssen gelangt bin. Diese hat mir gezeigt, daß beim Talent vielfach im kleinen dasselbe vor sich geht, was beim Genie im großen in Erscheinung tritt: Abstumpfung der Sinneswahrnehmung, Verzögerung der Reaktion, große Ablenkbarkeit, Herabsetzung der Gefühlsintensität usw.

Auch die Originalität, die er richtig als wesentliches Merkmal des Genies bezeichnet, mangelt dem echten Talente nicht, wenn sie auch dort nicht bedeutend zu sein pflegt, aber vom echten Talent zum mittleren Talente ist wieder ein großer Schritt. Außerdem gibt es in der Natur keine isolierten Erscheinungen, und jedes Phänomen zeigt hier Übergangsstufen, durch die es sich allmählich dem Durchschnitt wieder anschließt.

In einer Beziehung hat Pilo sehr recht, nämlich darin, daß er sagt, das Wort Entartung sei schlecht gewählt. Man muß es allerdings verstehen: Entartung heißt nicht immer soviel wie Inferiorität oder Zurückbleiben hinter dem Durchschnitt.

Die Naturwissenschaft nimmt an, daß die Fortentwicklung vielfach mit Entartungsvorgängen einhergeht. Wir Menschen haben den Schwanz und viele Wirbel und den ganzen Lobus limbicus, der im Tierreich die ungemein feine und reichhaltige Geruchsempfindung vermittelt, in der Entwicklung verloren, und dies alles, um ein paar hundert Gramm Gehirn mehr zu bekommen, wodurch uns zwar mancher Triumph, aber auch mancher Schmerz zuteil geworden ist.

Die Natur perhorresziert ebenso wie der Mensch selbst das Genie und vernichtet auch das Tier, welches sich anders verhalten will als seine Artgenossen.

 

3. G. Segrè.

Bei Gelegenheit einer Besprechung des Patrizischen Buches über Leopardi hat Segrè Fanfulla della Domenica, XVIII, 1896. Nr. 6 und 7. diese Darstellung als respektlos bezeichnet, sie schade dem Rufe des Dichters, vernichte unser ideales Empfinden usw.

Zuerst könnte man fragen, ob das Werk eines bedeutenden Mannes durch die Häßlichkeit oder Verdrießlichkeit des Autors verliert. Hätte Raffael geschielt oder wäre er verwachsen gewesen, wären seine Bilder darum weniger schön? Und wenn auch Dantes politische Tätigkeit, wie Bartoli behauptet, wirklich eine verfehlte war, würde das unsere Bewunderung für sein herrliches Gedicht verringern?

Unsere einseitig klassische Bildung in Italien bringt es mit sich, daß besonders die Philologen, denen die rechten naturwissenschaftlichen Begriffe abgehen, keinen Respekt vor dem Tatsächlichen haben. Eine Tatsache ist an sich immer wichtiger als der sonorste und schwungvollste Vers.

Segrè fragt in seiner Entgegnung weiter: Wozu müßt ihr alle Familienfehler und -schandflecken eines Genies wissen? Das geht doch die Verse des Dichters nichts an. – Gewiß nicht, antworte ich, soweit man diese als musikalische Harmonie auffaßt und nichts weiter, wohl aber, wenn man ihre Entstehungsweise betrachtet, besonders die Widersprüche erklären will, z. B. warum Leopardi mit seinem so erotischen Temperamente das Weib gleichzeitig haßt und anbetet, ein Schneidermädchen idealisiert und eine Fran von Verdienst und das Weib im allgemeinen mißachtet. Wenn man weiter verstehen will, warum ein solcher Menschenfreund so wenig patriotisch sein konnte und warum die Äußerung des Schmerzes bei ihm eine so übertriebene Form annimmt, so muß man anfangen, die Psychose zu studieren und ebenso die Heredität, die erklärt, wie der Dichter als Abkömmling eines seit langer Zeit und schwer entarteten Geschlechts Mystiker und Zyniker gleichzeitig sein konnte, wie er dürftiges Gefühlsleben besaß und sorgfältige Geistesbildung erhalten hatte, die sonst durchaus nicht Vorbedingung für geniale Leistungen zu sein braucht. Eine oberflächliche Betrachtung meint zwar, daß geistige Anstrengung und Erschöpfung den Anlaß zu den Abnormitäten des Genies abgibt, aber da zeigt eben wieder Patrizi, daß Leopardis Bruder ganz ähnliche abnorme Erscheinungen besessen hat und dichterisch ebenfalls begabt war, während seine angeborene große Trägheit ihn zu einer vollkommenen Untätigkeit verurteilte und gleichzeitig auf diese Weise jede Möglichkeit einer »Erschöpfung« ausgeschlossen war.

Mancher wundert sich, wenn man sich den Kreis ansieht, aus dem einer hervorgegangen ist, und seine körperlichen Erbschaften, um sein Werk zu verstehen, und doch hat Taine sich nicht begnügt, genealogische und biographische Studien anzustellen, um das Zustandekommen großer Schöpfungen zu erklären, er hat sogar die Wirkungsweise der Heimatseindrücke auf die großen Geister erforscht und z. B. in den sanftgeschwungenen Formen der Hügel Urbinos die Erklärung für die zierliche Linienführung bei Raffael gefunden.

Wer sieht nicht, daß die Physiopathologie Leopardis, der selbst gesagt hatte, daß ein völlig im seelischen Gleichgewichte befindlicher Kopf auch mit noch so großen Gaben nur wenig ausrichten könne, vieles an seinen Werken erklärt?

Und ist es nicht wahrscheinlich, daß uns vieles an Shakespeares Werken erklärlicher wäre, wenn wir sein Leben und seine Familienverhältnisse kännten?

Ohne Barines Untersuchungen über G. de Nervals Geistesstörung wüßten wir uns seine Werke nicht zu erklären, denn »auch dieser Autor verdankt, wie Poe, dem Irrsinn das Beste an seinem Genie, er war nur dann ein wirklicher Dichter, wenn er sich gerade in einer Störung befand: dann diktierte ihm sein mystischer Bruder«.

Segrè hält mir und Patrizi entgegen, daß die Verse des »Feiertagsabends« bei Leopardi

»– indes ich suche,
wie viel mir bleibt zu leben, und hin zur Erde
werf' ich mich und heule und schäume«

nicht allein als Beweis des reizbaren Temperaments Leopardis gelten können. Ganz gewiß nicht, wenn wir nichts als diese Verse kännten, wohl aber, wenn wir mit dieser lyrischen Entdeckung die Biographie und die Mitteilungen des Bruders Leopardis zusammenhalten, in welchen von heftigen Zornanfällen des Dichters, von »Gebrüll eines kleinen Löwen« die Rede ist, und ferner den Brief an Giordani vom 23. Mai 1820, der dies bestätigt.

 

4.Renier.

Renier, der eine in erschöpfendsten Besprechungen über das Patrizische Buch über Leopardi verfaßt hat, greift mich bei dieser Gelegenheit mit der Feindseligkeit des Literaturgelehrten gegen die neue naturwissenschaftliche Richtung heftig an Giornale storico letterario della letteratura italiana, Tulin. 1896, S. 443.: »Nichts ist so abgeschmackt als eine gewisse farbenblinde Wissenschaft, die nirgends etwas anderes sieht als Entartung, ähnlich wie vor einigen Jahren eine populäre geschichtlich-literarische Strömung immerfort alte Mythen entdeckte. Die ungeheuerlichen Schlüsse, mit denen hier dem Publikum aufgewartet wird, sind ungefähr folgende: Dante spricht in der ›Göttlichen Komödie‹ und an anderer Stelle von Visionen, Träumen, Ohnmachten, also litt er an psychischen Absenzen hysterischer oder epileptischer Art. Der große X. hatte eine Tante, die an einer Apoplexie starb, und eine Großmutter, die herzkrank war, war also ein Degeneré. Der große Y. konnte kein Geräusch vertragen und hatte als Kind Krämpfe, war also degeneriert. Solche Bruchstücke werden nun von geschäftigen Elementen, die oft gar nicht in der Lage sind, den Wert einer Quelle abzuschätzen, die vielleicht nicht einmal richtig zu zitieren imstande sind oder besser, die die Bedeutung eines richtigen Zitats nicht zu würdigen verstehen, wahllos zusammengetragen, sind aber in Wahrheit die größten Hindernisse für die Theorien, die manche Forscher beweisen zu wollen sich in den Kopf gesetzt haben – Bei solchen Nachforschungen bedarf man zunächst zweier scharfer Definitionen (sic!), ohne welche jede weitere Diskussion verlorene Mühe ist. Zuerst muß man den schwierigen Begriff des genialen Menschen definieren, und dann den noch schwierigeren, was unter dem geistig gesunden Menschen zu verstehen ist.«

Wer jemals auch nur flüchtig mit unseren Untersuchungen sich bekannt gemacht hat, wird wissen, daß Definitionen die freilich für die alte Scholastik gut genug waren, hier gar keinen Sinn haben, denn sie Passen nie ganz auf den Einzelfall und klären über kein »Woher und Weswegen« auf. Die Definition des Wechselfiebers nach der bloßen klinischen Erfahrung hätte nie zur Entdeckung seines Erregers geführt.

Was den Vorwurf angeht, wir schlössen von dem erstbesten Verse eines Dichters oder irgendeiner beliebigen Erkrankung eines Genialen auf Entartung, so beweist er wohl, daß die Unfähigkeit, richtig zu zitieren, nicht ausschließlich auf meiner Seite ist.

 

5. Tanzi.

Im Anschluß an eine Besprechung verschiedener Pathographien Rivista italiana di patologia generale, Bd. I, 6, 1896. fährt Tanzi folgendermaßen fort: »Solche Betrachtungen sind das beste Mittel, eine vielfach ventilierte und ventilierbare Frage zu lösen, obgleich sie meiner Ansicht nach eher geeignet sind, diese zu zersplittern oder umzuformulieren, als zu lösen, da es nicht möglich ist, die großen Intelligenzen anders zu betrachten als die gewöhnlichen, bloß weil sie eben große und eigenartige sind.

Weder Roncoronis Arbeit über Lasso noch Patrizis Buch über Leopardi haben es wesentlich weiter gebracht. Bei Tasso, dessen Irrsein schon vor Roncoroni bekannt war, konnte man am Genie zweifeln, am Wahnsinn nicht. Bei Leopardi werden die meisten wohl nicht geneigt sein – trotz Patrizi – seine Vorliebe für Süßigkeiten, für schwere Kleidung (sitzende Lebensweise in einem alten Palaste ohne Öfen!), oder seine vollkommene Junggesellenschaft für Zeichen geistiger Störung zu halten, denn was z. B. die letztere anlang, so hielten sein verwachsener Körper und seine anderen Gebrechen, seine beständige Geldnot und die Strenge seines Vaters ihn sowohl der Venus vulgivaga als der Ehe fern. Und deshalb beweist auch dies nicht viel.«

Ich führe diese Worte hier an, um zu zeigen auf welchem traurigen Standpunkte unsere italienische Kritik hinsichtlich unserer Frage angelangt ist, selbst die eines so ausgezeichneten Gelehrten wie Tanzi.

Wenn man solche Auslassungen liest, muß man unwillkürlich an die Geschichte von Vater, Sohn und Esel denken. Spricht man seine Gedanken zu dem Gegenstande in allgemeiner Form aus, so heißt es: gebt uns ein genaues, eingehendes Beispiel. Bringt man jetzt eine ausführliche Darlegung in einem speziellen Einzelfalle, so muß man hören: das hat keinen Wert, denn es zersplittert die Frage anstatt sie zu lösen. Was um Himmels willen soll man denn nun eigentlich tun?! Ich kann mir freilich denken, was verlangt wird! Man soll die Sache so darstellen, wie sie nicht ist, dann wäre es eine ausgezeichnete Arbeit und es gäbe gar keinen Anlaß zu irgendeiner Meinungsverschiedenheit. So hat kürzlich ein vorzüglicher Psychiater in einer sonst sehr schönen Monographie Byrons Epilepsie behandelt und dabei nicht erwähnt, daß ich zwischen Genie und Epilepsie Beziehungen aufgefunden habe. Dagegen hat er vom Alkoholismus Byrons des weiteren gesprochen, als wenn Byron in seinem ganzen Leben nichts geschrieben, sondern nur getrunken hätte!

Und in derselben Weise wirft jetzt Tanzi Patrizi vor, er hätte nur die Gourmandise Leopardis behandelt, und er vergißt dabei ganz, daß ausführlich die Rede war von der krankhaften Heredität, die über Jahrhunderte sich erstreckte, von der sexuellen und intellektuellen Frühreife, den Verfolgungsideen, Halluzinationen usw., kurz er vergißt den gesamten Schatz von Beobachtungen, den Patrizi gesammelt und so vortrefflich zusammengestellt hat.

1904 erledigt Tanzi die Angelegenheit in seinem » Trattato di Psichiatria« noch einfacher.

»Beim Genie«, so sagt er hier, »ist gar nicht die Rede von Ungeheurem, Krankhaften, oder Erstaunlichem, wenn man von der Verwunderung der einfältigen Menge absieht, die es mit ihrem Kultus umgibt. Die Genialen sind lediglich Intelligenzen (sic!), die sich in ihren Leistungen durch starke Konsequenz auszeichnen und das Glück haben, eine wohlwollende Nachwelt vorzufinden. Eine Frage nach einer Eigenart der Genies gibt es demnach nicht und deshalb auch keine Theorie über den genialen Menschen, und nimmermehr ist der katastrophale Begriff haltbar, der das Genie als epileptisch und die geniale Idee als eine krampfhafte Explosion hinstellt.«

Diese Lösung ist allerdings so einfach, daß man sie nicht zu widerlegen braucht. Mit demselben Rechte ließe sich behaupten, der Pauperismus sei ein Nonsens, dieweil es eigentlich keine ganz Armen gebe. Man kann Tanzi gratulieren zu dieser Art und Weise, die gewichtigsten Probleme kurzweg aus der Welt zu schaffen.

 

6. Mantegazza.

Mantegazza hat zu unserer Frage in der Nuova Antologia, 1896, S. 588, geäußert: »Wenn Leopardi ein Psychopath war, was liegt daran? Hat er uns vielleicht deshalb weniger erschüttert?«

Wer stellt denn das in Abrede? Würde sich jemand in seinem Urteil über die Schönheit einer Blume dadurch beeinflussen lassen, daß er erfährt, daß sie ein Gift enthält? Mantegazza fügt aber weiter hinzu, daß man ebenso, wie man »Genie und Epilepsie« in Verbindung bringe, mit demselben Rechte auch zusammenstellen könne »Genie und Asthma« oder »Genie und Gicht«.

Worin findet er nun den Zusammenhang zwischen der genialen Erregung, die aus der epileptischen Rindenerregung entspringen kann, und dem Hirnzustande eines Asthmatikers oder Gichtkranken? Er sagt zwar gleichzeitig, daß doch auch ein gewöhnlicher Mensch geisteskrank werden kann: das ist sehr wahr, nur sind nicht alle geistigen Erkrankungen mit einer Anwandlung von Genialität verbunden. Das Leiden muß auf ein Gehirn treffen, das reicher an Nervenzellen ist, um geniale, bedeutende Regungen auszulösen.

Der gewöhnliche irre Erregungszustand eines Erstbesten strömt in Geschrei und ungeordneten Gesten ab. Erfaßt aber ein solcher ein Gehirn, das reich an Nervenelementen ist und bereits viele wichtige Erkenntnisse beherbergt, so kann sich dieses dadurch zum Genie erheben. Mantigazza sagt, daß Leopardi, auch wenn er ganz gesund gewesen wäre, ein Genie geworden oder geblieben wäre, daß sein Genie nicht Folge eines pathologischen Zustandes war. Aber wie will er es beweisen? Und wenn es auch einen Beweis in diesem Falle gäbe, so sehen wir doch an so und so viel anderen Fällen, daß das Pathologische dem Genialen parallel geht, ihm sogar vorauseilen kann. Und wenn wir weiter finden, daß sogar die gewöhnlichen Irren durch ihr Leiden allein momentan Genies werden können, erscheint uns dann nicht die Mantegazzasche Behauptung aprioristisch und im Widerspruch mit den Tatsachen stehend? Und haben wir nicht noch neben Giacomo Leopardi seinen Bruder Carlo in den nämlichen erblichen und Existenzbedingungen und von ganz ähnlicher Anlage, welcher gesund war, aber nichts zustande zu bringen vermochte?

 

7. Toulouse.

Ich habe schon oben erwähnt, daß Toulouse in seinem Buche über Emile Zola meine Theorie über das Wesen des Genies nachdrücklich angegriffen hat, und ich hatte bereits Gelegenheit, diese beim Kapitel über Zola selbst zu verteidigen. Ich gehe an dieser Stelle nun nochmals auf das eigentlich Polemische näher ein.

Toulouse sagt, ich hätte manche Genies ohne jeden stichhaltigen Nachweis zu den Epileptikern gerechnet, darunter Molière, J. Cäsar, Flaubert, Petrarca, Peter den Großen, Mohammed, Schiller und Alfieri.

Es ist freilich wahr, daß mich das Zitieren um des Zitierens willen sehr wenig kümmert (zu Ehren der Akademiker sei es gesagt, und der gute Renier hat mich mit dem Vorwurfe meiner Unfähigkeit in dieser Beziehung förmlich ausgezeichnet). Aber merkwürdig ist es, daß Toulouse den Fehler, den er mir in die Schuhe schiebt, nun seinerseits selbst begeht; denn wenn ich auch in allen meinen ausländischen Ausgaben und besonders in der französischen allzuviel Ballast vermieden habe, der die Bände hätte sehr anschwellen lassen, ohne einen entsprechenden Gewinn für den Leser, so habe ich doch in meinen ursprünglichen Originalausgaben – und ein Kritiker wie Toulouse hätte an der Hauptquelle schöpfen müssen, um nicht in den Fehler zu verfallen, den er anderen vorwirft – so viele Belege angeführt, daß es genügt hätte, auch den fossilsten Akademiker zufriedenzustellen.

Übrigens ist es sehr eigentümlich, daß man erst beweisen muß, daß Mohammed und J. Cäsar Epileptiker waren, und wenigstens für Frankreich überflüssig, daß man es für Molière, Napoleon und Flaubert tut.

Wünscht Toulouse mehr historische Nachweise, so kann ich ihm auch hiermit dienen. Betreffs des Beleges für die Epilepsie Molières mag er bei Moreau nachsehen ( Psychologie morbide, S.555) und in der Lebensbeschreibung Molières von Grimarest. Hier wird er finden, daß solche Zustände bei dem Dichter besonders nach starkem Verdrusse auftraten. »Die geringste Zeitversäumnis, die kleinste Störung veranlaßten Krampfanfälle und hinderten ihn bis vierzehn Tage lang am Arbeiten.«

Bei Bayle ( Dictionnaire de l'histoire artistique) und Moreau (l. c. S. 573) ist die Epilepsie Mohammeds genügend dargetan und ebenso bei Gisbert Boetius, welcher schrieb: » Non video cur hoc negandum sit (epilepsia et maniacis deliriis aut enthusiasmis diabolicis Muhamedii adfluisse energema), si vitam et actiones eius intueamur.« ( Poeticae Disputationes, Bd. I, S. 1057.)

Peter der Große litt als Kind (nach den Memoiren der Baronin von Oberkirch) an nervösen Anfällen, die sich später in echte Epilepsie verwandelten. Er fiel einer merkwürdigen Angst zum Opfer, deren Einsetzen mit dem Ausbrechen kalten Schweißes und Zuckungen einherging, z. B. beim bloßen Überschreiten eines Baches.

Auch beim Tode seines Sohnes verfiel er in die Krämpfe, die er so häufig bekam. Die Offiziere sahen, wie sich sein Gesicht verzog, wie sein Hals starr wurde und er sich in schrecklicher Weise hin und her wand. Drei Tage und drei Nächte blieb er allein in ein Zimmer eingeschlossen auf der Erde ausgestreckt liegen.

Cäsar war nach Plutarch von schwacher Konstitution, blaß und welk, er litt an Kopfweh und Epilepsie (der erste Anfall fand in Cordova statt). Eines Tages kehrte er, nachdem er die Senatoren sitzend empfangen hatte, als ob es Privatleute gewesen wären, wie von einer plötzlichen Regung erfaßt, nach Hause zurück, entkleidete sich teilweise und schrie, seinen Hals entblößend, daß er bereit sei, sich von jedem Beliebigen töten zu lassen. Später entschuldigte er sich wegen seiner Rücksichtslosigkeit gegen den Senat mit seiner Krankheit, indem er sagte, daß, wenn dieses Übel sich zeige, man unfähig sei, stehend eine Rede zu halten, daß Zuckungen der Glieder und Schwindelanfälle eintreten und dem Betroffenen zuletzt völlig die Sinne schwänden.

Ich bin sogar sehr sparsam in meinen Zitationen gewesen, denn wenn man Nisbet Glauben schenken darf, J. W. Nisbet, The insanity of genius. London, 1890. so sind die epileptischen Genies noch viel häufiger. Sheridan soll nach diesem Autor an einem epileptischen (vielleicht alkohol-epileptischen) Anfalle zugrunde gegangen sein, sein Vater sei verblödet (Nisbet, S. 114). Dickens wurde eines Tages von Watson in einem Schwindelanfalle angetroffen, mit der Neigung, rückwärts zu gehen.

Die Mutter von Dumas' Vater unterlag gleichfalls epileptischen Anfällen, ebenso die Mozarts (Nisbet, S. 141).

Balzac hatte auf der Schule einen epileptischen Anfall (l. c. S. 136), den seine Schwester aus unbekannten Gründen auf eine »Ideeneinklemmung« zurückführte.

Bekanntlich hatte Flaubert mit 33 Jahren die ersten epileptischen Anfälle. Weniger bekannt ist, daß kurz vorher, ehe das Leiden ausbrach, sich seine Genialität gezeigt hatte (Maxime du Camp). Nisbet hat ganz recht, wenn er sagt, daß er ohne seine epileptische Neurose ein simpler Provinzadvokat geblieben wäre.

Byron hatte im Alter von 36 Jahren, als er in Griechenland war, in dreizehn Tagen fünf oder sechs epileptische Anfälle, während welcher er die ganze Nacht tobte. Diese gehörten eigentlich zu seinem Temperamente, und ein ebensolcher hatte ihn bereits befallen, als man ihm, als er noch halberwachsen war, einst Nachricht davon gab, daß seine frühere Liebe sich verlobt habe.

Nisbet geht so weit, zu behaupten, daß die großen Heerführer samt und sonders Epileptiker waren, so Napoleon, Clive, Wellington. Nach Greville (Memoiren) brachten die Anfälle dieses letzteren mehrere Male ganz England förmlich in Gefahr. Marlborough litt an Kopfweh und Schwindel und hatte mit 66 Jahren sehr heftige epileptische Anfälle, die ihn sehr mitnahmen (Coxe, Life of Marlborough). Auch Swedenborg war Epileptiker (Nisbet, S. 218). In der Familie Mendelssohn wechselten Epileptiker und Apoplektiker ab.

Wenn Toulouse nur dann von Epilepsie etwas hören will, wenn vollständige Konvulsionen vorgelegen haben, so zeigt er damit, daß er von den Entdeckungen der letzten fünfundzwanzig Jahre nichts wissen will.

Die » Dégénérescence supérieure «. – Toulouse hat nun einen merkwürdigen Ausweg gefunden, um Zola zu rubrizieren, er sagt von ihm, er sei ein » Dégénéré supérieur«.

Hiernach scheint es, als ob es zwei Sorten Entartung gäbe. Eigentlich sollte doch Entartung Entartung sein. Klinisch hat diese Spezifizierung jedenfalls nichts mehr auf sich, als wenn ein Naturforscher einen Ochsen einmal als Säugetier und dann als Wirbeltier klassifiziert.

Toulouse überlegt nicht, daß, wenn auch einer der hervorragendsten Irrenärzte die Unterscheidung zwischen höheren und niederen Degenerierten geschaffen hat (eine Einteilung, mit der man die Idioten und ähnliche ganz schwere Formen vielleicht noch etwas schärfer fassen kann), es doch nicht zugleich angängig ist, wie Magnan selbst es übrigens auch anzuschauen scheint, zu sagen, daß bei der einen Klasse die physischen Merkmale, die degenerativen Stigmen, bei der anderen die psychischen Anomalien vorherrschen, und daß es sich bei den einen, den höheren, etwa um eine Alteration der Stirnlappen des Großhirns, bei den anderen um eine solche der Mittel- und Hinterlappen handle. Magnan, Leçons cliniques sur les maladies mentales, 1896 S. 141. »Jedesmal, wenn eine Innervationswelle von der hinteren Partie des Hirns ausgeht ohne Kontrolle der höheren Zentren, so haben wir eine sensorisch-motorische Erscheinung, einen triebartigen Vorgang vor uns, wie ihn die Idioten meist zeigen. Wenn der Ausgangspunkt dagegen die vordere Hirnregion ist, so entsteht eine ideomotorische Bewegung, ein evolutiver Akt. Hier handelt es sich um › Dégénérés supérieurs‹« (Magnan, l. c. S. 274).

Zunächst zeigt doch nun die Anatomie, daß alle Neuronen untereinander in Verbindung stehen, ohne scharfe Trennung der einzelnen Nervenzentren. Auch sind die Vorderlappen nicht ausschließlich im Besitz der Direktion des gesamten Gehirns, und Luciani hat gezeigt, daß die Rindenzentren an ihren Grenzen allmählich ineinander übergehen und sich funktionell ersetzen können, und so erklärt sich auch, warum nach Entfernung oder Verletzung der motorischen oder sensorischen Zentren die betreffende nervöse Leistung nach einiger Zeit wiederhergestellt zu sein scheint.

Magnan selbst hat unmerkliche Übergänge zwischen den Idioten und den höheren intelligenten, aber gleichgewichtsgestörten Degenerierten angenommen.

Bei Zola finden wir nun eine Reihe Symptome, die auf eine Läsion der von Magnan als niedere bezeichneten Nervenzentren deuten, als da sind: Anomalien des Gesichtsfeldes, Zittern, Lähmung des rechten Augenlidhebers.

Noch verfehlter wäre die Bezeichnung, wenn der » Dégénéré supérieur«, wie Magnan es doch betont hat, nur wenige oder gar keine physischen Stigmen besäße und geringe krankhafte Heredität, denn bei Zola finden wir gerade das Gegenteil davon, wie oben erwiesen ist.

Besonders merkwürdig ist Toulouses Darstellung dort, wo er sich bemüht nachzuweisen, daß, gesetzt daß Zola geistig krank gewesen wäre, diese Krankheit nicht auf seine Dichtungen eingewirkt haben könne, als wenn eine so komplizierte Neurose für eine künstlerische Leistung völlig gleichgültig sein könnte, noch dazu bei einem Zola, der so schön gesagt hat, »ein jedes Kunstwerk sei ein Stück Welt, hindurchgesehen durch ein Temperament«, Was wir »Milieu« nennen, ist in der Kunst von äußerster Bedeutung, trotzdem wirkt es nur unmerklich durch das Physische und Psychische des Künstlers hindurch auf das Werk. S. Graf, Leopardi, S. 351. dessen Schriftmäler so charakteristisch sind, der eine eigentümliche Vorliebe für das Obszöne und Schmutzige hat, in Geruchsbildern schwelgt, bald erstaunlich genau, bald äußerst flüchtig auf die Welt der Dinge schaut, das Leblose durch die Gewalt seiner Persönlichkeit zu beseelen weiß! Bernard konnte eine eigene Arbeit über das »Geruchsleben« Zolas abfassen. L. Bernard, Les odeurs dans les romans de Zola, Montpellier, 1889.

Ich möchte außerdem noch auf Zolas merkwürdige Eitelkeit hinweisen, die ihn glauben ließ, alles beschäftige sich mit ihm: in seiner Vorrede zu Toulouses Buch ist er sehr zufrieden damit, daß seine Neurose festgestellt ist, denn nun werde man ihn nicht mehr ein »Arbeitspferd« nennen können (Journal, 24. November 1896). Er ist auch über Lombrosos und Nordaus Fiasko, das aus Toulouses Werk mit Sicherheit hervorgeht, sehr erfreut und liefert damit in aller Ahnungslosigkeit eine neue Probe seiner psychischen Anomalie. Ein höchst sonderbares Schauspiel hat er auch dadurch gegeben, daß er, ein Kämpe, der sich ein echtes Verdienst damit geschaffen hat, die klassische Form und das verwitterte Kunstidol der »Akademie« zu vernichten, hinterher sich vor dieser auf den Bauch wirft und danach lechzt, in diesen modernden Pfahlbau aufgenommen zu werden.

Wie ein Scholastiker hängt Toulouse an den Definitionen; für ihn ist die Epilepsie »charakterisiert durch kurze Krampfanfälle mit nachfolgender Erinnerungslosigkeit«, eine Begriffserklärung, die sehr zahm und nicht einmal richtig ist, denn die Anfälle brauchen nicht kurz zu sein (» Status epilepticus«), es brauchen auch nicht gerade Krampfanfälle zu sein, und es braucht auch keine Erinnerungslosigkeit auf ihre Äußerungen zu folgen. Dagegen bekämpft er wieder meine Auffassung der Sache, »daß es sich um eine Entladung aus einem Hirnrindengebiete handle auf Grund einer lokalen Reizung und degenerativen Anlage«, denn, sagt er, diese kann jede paroxysmatische Erkrankungsform begreifen, z. B. die Hysterie; er vergißt aber dabei, daß nicht alle Erkrankungsformen, die mit Anfällen einhergehen, gleich degenerativen Ursprungs sind. Und wenn er über meine lokale Reizungshypothese scherzt, so zeigt er damit, daß er die neuen Untersuchungen von Jackson und Rosenbach, Luciani und Tamburini, Tonnini und Charcot nicht kennt, die alle bewiesen haben, daß der epileptische Krampfanfall der Effekt einer Reizung der motorischen Rindenzone ist, ebenso wie die epileptische Halluzination das Resultat einer Reizung der sensoriellen Zentren und der epileptische motorische Drang ein solches der Reizung der höheren psychischen Zentren ist.

Toulouse richtet an mich die Frage, ob ich einen Kranken mit Asymmetrien, ethischem Defekt, sexueller Frühreife, mangelnder Schmerzempfindung, Spaltung der Persönlichkeit, Hemmungslosigkeit, für einen Epileptiker erklären würde. Ich antworte, wenn er nicht gleichzeitig an Bewußtseinsverlusten oder Schwindel oder Krämpfen litte, nein, aber ich würde ihn doch als epileptoid betrachten.

Toulouse hätte, ehe er meine Charakterisierung der Epilepsie bemängelte, an der er die Abstumpfung des Geruchsvermögens, die Einengung des Gesichtsfeldes, die Verlangsamung der psychischen Reaktion, den Mancinismus auch noch übersehen hat, daran denken sollen, daß ich zwanzig Jahre lang unausgesetzt Originaluntersuchungen über diese angestellt habe. Findet sich nun dieses Zustandsbild auch beim Genie vor, so ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit, daß dieses eine Varietät der psychischen Epilepsie darstellt.

Es mag richtig sein, wird man nun sagen, daß Rossini sehr rasch arbeitete, Schumann aus dem Bett aufstand, um zu komponieren, und dabei das Ankleiden vergaß, Shelley vor dem Niederschreiben seiner Gedanken erst mit Tüchern seine »Erscheinungen« verjagen mußte, daß Donizetti einmal während einer Mahlzeit einen ganzen Opernakt komponierte, Händel in wenigen Tagen den Messias schrieb, Mozart nachts um zwölf Uhr oder auf der Straße schuf, daß Montesquieu den Plan zu einem seiner Werke in einer Postkutsche verfaßte, aber was will alles das heißen? Soll damit gesagt sein, daß es bei der Genialität so stoß- und anfallartig zuzugehen pflegt wie bei der Epilepsie? Ganz im Gegenteil. Ebendeswegen, weil derselbe Kopf immerfort von demselben Gedankenzug hartnäckig berannt wird, weil dieser ihm keine Ruhe gönnt, ihn auch bei der Mahlzeit, beim Spaziergang, im Schlafe und überhaupt nirgends freiläßt, ebendeswegen, weil die geistige Anstrengung so furchtbar und anhaltend ist, deshalb nimmt der geniale Vorstellungsschwarm von seinem Träger so völlig Besitz, daß er, sobald seine Zeit gekommen ist, bei der ersten besten passenden oder unpassenden Gelegenheit ausbrechen kann. Aber auch bei der motorischen und mehr noch bei der psychischen Epilepsie ist der Anfall eigentlich ein Abschluß, die Reaktion auf einen Reizzustand in der Hirnrinde, der jahrelang andauern kann und von irgendeiner Intoxikation oder der Entartung herrührt. Und wenn auch für den Laien der Ausbruch des epileptischen Anfalls ein momentaner zu sein scheint, so ist er für den Kliniker, der die Veränderung der Gesichtszüge, der Sensibilität, der Rede, des Stoffwechsels zu bemerken Gelegenheit hat, eben nur das Finale einer seit langer Zeit in dem betreffenden Organismus sich abspielenden Episode.

Nicht durch diese Betrachtung über die Intermittenz und Automatie der Ekstasen allein wird dieser Zusammenhang nahegelegt. Zur Bestätigung hierfür dienen auch die Mitteilungen der Genialen selbst, die uns über die letzteren berichtet haben. De Roberti weist hier auf Sarpi und Giordano hin, die den genialen Zustand mit einer Gehirnentzündung verglichen haben, insofern sich in beiden Fällen die äußerste Empfindungsfähigkeit für die Objekte der Außen- und für die Vorstellungswelt vorfindet.

Von diesen meint Toulouse allerdings, man möge nicht allzuviel Wert auf Geschichten legen, die oft nur erzählt werden, weil sich der Betreffende gern ein Air geben möchte: so hat der eine Goncourt einmal bei einer solchen Gelegenheit gesagt, »ihn treibe eine unbekannte Gewalt«, und Busson hat die Antwort gegeben, »man bekomme einen kleinen elektrischen Schlag«.

Das wäre richtig und solche Selbstschilderungen könnten berechtigte Zweifel hinterlassen, wenn es sich hier nur um die Aussagen einzelner oder um einzelne Vorgänge ohne Beziehung zu anderen handelte. Aber wenn man von Vielen Erkundigungen über die Art ihres Schaffens einzieht, so kann man wohl auf solche Auskünfte etwas geben, wenn sie übereinstimmend ausfallen. Sogar bei Zola selbst ist davon die Rede, denn dieser weiß nichts von dem, was während seiner Arbeit sonst vorgegangen ist.

Man muß den Mut haben zu erklären, daß, wenn Toulouse die Schlußfolgerung, die sich hier geradezu aufdrängt, nicht zu Ende verfolgen will, dies seinem Chauvinismus zur Last zu legen ist; in allen romanischen Ländern, also auch in Frankreich, perhorresziert man jede neue wissenschaftliche Denkweise. Trotz dieses seines wissenschaftlichen Konservatismus hat das Land allerdings dann und wann starke Freigeister wie Renan, Taine, Voltaire, Richet hervorgebracht, aber das wissenschaftliche Gros war hier immer gegen tiefangelegte und durchgreifende Neuerungen, die sich nicht mit der akademischen Weisheit in Einklang bringen ließen, abgesehen von den rein praktischen Fragen, für welche Frankreich zweifellos immer das meiste Interesse von allen Ländern der Erde gehabt hat. Dies tritt besonders hervor, wenn die Forschung Glaubens- oder Autoritätsangelegenheiten berührt, und deshalb sind Taine und Renan wie zwei einsame Sterne vorübergezogen, verleugnet von der einen, bewundert von der anderen Seite, geschätzt von den wenigsten. Und das gleiche gilt in der Psychiatrie von Moreau, Morel und Charcot, der auf seinem Gebiete der bedeutendste Geist seiner Zeit war.

So haben denn die neuen Anschauungen über die degenerative Eigenart des Verbrechers und des Genies hier nicht Wurzel geschlagen, wiewohl sie auf die genannten großen Forscher Frankreichs selbst zurückgehen, gerade so wie Buddhismus und Christentum den Indern und Juden zwar entstammten, aber ihr Verbreitungsgebiet anderweitig, außerhalb ihrer Geburtsstätte, suchen mußten.

Noch schlimmer steht es, wenn man sich in Frankreich zur Rechtspflege ausspricht, zur Rechtspflege, die noch nirgends in Europa Gerechtigkeit und volle Sicherheit bezeichnet und dabei eine so undurchdringliche Aureole überallhin um sich verbreitet. » Le code! Le juge!« Gerade, als wenn es sich hier um Gott selbst handelte! Niemand darf sagen oder denken, psychiatrische Forschung könne die Orakelsprüche der Rechtsgelehrten in Zweifel ziehen, niemand darf dafürhalten, daß man umgekehrt, wie die Größen der Codices es fordern, nicht das Verbrechen, sondern den Verbrecher analysieren müsse! Das ist der Grund, warum ich trotz aller Bemühungen, meine Theorie in Frankreich durchzusetzen, nichts habe erreichen können. Mit meinem im Verhältnis zu dem der oben genannten großen Geister geringen Ansehen und als Ausländer – was in den Augen vieler eine ernstliche Schuld meinerseits bedeutet – und lediglich mit dem Bruchteile meiner Werke, die man in Frankreich kennen gelernt hat, dort durchzudringen, war ein müßiger Traum. Und so ist es auch bisher geblieben. Zwar sind die Tatsachen, die ich beständig anführe, wohl bemerkt worden, viele Franzosen haben sie sogar besser gesehen als ich selbst, und viele andere befassen sich zurzeit mit ihnen, und neue Bestätigungen werden vielfach beigebracht. Wenn es aber gilt, einen Schluß aus der Sache zu ziehen, so widersetzt sich alles einmütig oder man folgert gerade das Gegenteil von dem, was der Fall ist. Hierzu könnte ich sehr zahlreiche Beispiele anführen. Ich will mich beschränken, auf Laurent hinzuweisen (» Le monde des prisons«), der mit Argumenten, die fast ebenso beweiskräftig sind wie meine eigenen, den ethischen und psychischen Typus des geborenen Verbrechers Zug um Zug geschildert hat und dann zu dem Schlusse kommt, daß der geborene Verbrecher – nicht existiert. Weiter hat Lefort in einer großartigen Weise aufgezeigt, daß die großen Maler und Bildhauer die abnormen Ohren, Gesichtszüge, Haare, Kinnbacken, kurzum die Merkmale, die meine Schule für die geborenen Verbrecher als charakteristisch bezeichnet, gesehen und in ihren Schöpfungen bei der Darstellung der Mörder, der Henker und Folterknechte der Heiligen und der Figur des Judas in Anwendung gebracht haben, und trotz alledem schließt er, der physiognomische Typ des geborenen Verbrechers sei eine Utopie.

Maupaté, eine weitere sehr tüchtige, jüngere medizinische Kraft, ermittelte, daß die Quote der besonderen physiognomischen Merkmale bei den jugendlichen irren Verbrechern im Verhältnis zu jener der nicht kriminellen Irren das Dreifache beträgt, und kommt ebenfalls zu dem Schlusse, daß es keinen geborenen Verbrecher gibt. Hätte er sich nur seine prinzipielle Feindseligkeit gegen die Theorie eingestanden, von der er die herkömmlichen Grundbegriffe des Strafrechts zu Unrecht für bedroht hielt!

So spricht denn ein Teil der französischen Autoren wohl von Rousseaus Irrsinn, von Mussets merkwürdiger Neurose, von E. T. A. Hoffmanns, Napoleons, Quinceys, Comtes, de Nervals schweren Erkrankungen. Diese geben auch zu, daß sich hier Epilepsie, dort sensorischer Mancinismus oder Halluzinationen vorfinden, aber von einer epileptischen oder paranoischen Grundlage des Genies wollen sie nichts wissen. Und wenn sie sich dann mit den Tatsachen beschäftigen, so zerläuft ihnen alles unter den Händen und trotz ihrer angestrengten Arbeit haben sie deshalb nichts Rechtes geerntet, als es so weit war. Ich glaube, es ist gut, wenn ich diese meine Meinung meinen französischen Freunden gegenüber rückhaltlos ausdrücke, nicht als ob ich sie alle zu überzeugen hoffte, sondern nur um den wenigen, die selbständig denken wollen, eine Hilfe zu geben.

Man glaube nicht etwa, wie von gewisser Seite behauptet worden ist, ich sage dies aus der nationalen Antipathie heraus, die man zwischen Frankreich und Italien anfachen möchte. Derselbe Vorwurf, den ich so vielen Franzosen machen muß, gebührt in noch weit höherem Maße den Italienern, diesem unter liberaler Form so jämmerlich geknechteten Volke, das unter der erdrückenden Herrschaft des Klassizismus stehend die neuen Gedanken in jeder Form verwirft und sie mehr als alle anderen Nationen Europas verabscheut.

Hätte Toulouse sich von der erwähnten Neigung der Romanen freigehalten, hätte er sein Tatsachenmaterial gesammelt und dann geprüft, wie weit es trägt, so würde er ein für den Nachweis der Neurose des Genies vortrefflich geeignetes Werk geschaffen haben.

 

8. A. Morselli.

Morselli, den ich als einen der tiefsten Denker und erfahrensten Irrenärzte Europas hochschätze, hält mir entgegen Idea liberale, 1896., daß auch bei den Tieren »geniale« Intelligenz auftreten müsse, wenn meine Theorie richtig ist. Das habe ich auch nicht in Abrede gestellt. Vor einigen Jahren hat Garlton darauf aufmerksam gemacht ( Bibliothèque de Genève, 1897), daß auch bei den Ameisen dicke und schwerbewegliche Individuen neben »nervösen« und gewandten zu beobachten sind und daß manche sich aus Gefahren zu retten verstanden, denen andere unterlagen. Es ist wahrscheinlich, daß die merkwürdigen an menschliche Kultur erinnernden Einrichtungen mancher gesellig lebenden Tierarten solchen Individuen zuzuschreiben sind. Morselli fährt nun fort: in diesen Fällen haben wir nie eine Spur von Entartung vorgefunden! Das ist Täuschung. Die Ameisen, welche die intelligenteste Tierspezies, als Ganzes betrachtet, repräsentieren, werden vollkommen steril, und beim Jagdhunde haben wir besonders hohe Fähigkeiten zusammen mit Merkmalen motorischer und psychischer Epilepsie vorgefunden. Auch wird Morselli wissen, daß bei zahmen Hunden und Affen Hysterie vorkommt.

Gegen den Einwurf, den auch Nordau und Flechsig erheben, man könne nicht ohne weiteres einen Mathematiker neben einen Dichter oder Künstler stellen, antworte ich, daß die Zusammenfassung in ein Ganzes auf den ersten Blick verwirren mag und unzutreffend erscheinen kann, wie alles, was aus dem bloß Wahrscheinlichen erschlossen ist, wenn es auch noch so wahr ist. Es ist ja auch nicht das Wesen der einzelnen Begabung, sondern die Eigenart des Genies selbst, was wir untersuchen wollen. Was nun auch den Gegenstand darstellen mag, an dem es sich zeigt, die Ursache der kortikalen Erregung, die zugrunde liegt, muß immer die gleiche sein.

Diese Ansicht gewinnt man aus den Äußerungen des Dichters Foscolo, Napoleons (»ein Geistesblitz entscheidet den Sieg«), des Diplomaten Disraeli, und aus Einzelbeobachtungen an Mathematikern und sonstigen Geistesgelehrten usw.

Als Manzoni vorgeworfen wurde, er habe in seiner Hymne »Der fünfte Mai« ein weder in Prosa noch in Poesie sonst gebräuchliches Wort angewendet, schrieb er an Cantu, daß er nach dreitägigem »krampfhaften« Arbeiten so erschöpft war, daß er keinen anderen Wunsch hatte, als zu Ruhe zu kommen, und deshalb das Wort stehen ließ (Briefwechsel, Band I, Nr. 60).

Die Behauptung, es bestehe für jede Unterart des Genies eine eigene Physiologie, wäre ähnlich, als wenn man sagen wollte, das Kieselsäureanhydrid des Quarzes, Amethysts, Achats, Saphirs sei nicht dasselbe, oder als wenn man Kohle, Graphit und Diamanten für grundverschiedener Beschaffenheit erklären wollte, nur weil sie dem Auge und Tastsinne verschieden erscheinen.

Wenn man dagegen einen Spezialcharakter bei einer Genialitätsgruppe anträfe, der im Widerspruch stände mit sonstigen einschlägigen Beobachtungen, dann erst könnte man meinen, wir hätten mit unserer Ansicht danebengegriffen.

Beim epileptischen Anfalle, führen Morselli und Toulouse weiter gegen meine Theorie von der epileptischen Natur des Genies an, verdunkelt sich das Bewußtsein vollständig. Die angeblichen Fälle von epileptischem Schwindel und Krämpfen ohne Bewußtseinsverlust und Erinnerungslosigkeit sind bestimmt diagnostische Irrtümer.

Nun haben neuere Beobachtungen dennoch gezeigt, daß manchmal bei epileptischen Erscheinungen Besinnung und Bewußtsein erhalten bleibt, freilich ein rudimentäres Bewußtsein, wie es oft eben auch beim Genie im Moment des Schaffens besteht, so daß sogar im Traume selbst geniale Einfälle vorgekommen sind, wie bei Leverrier, Descartes, Condillac, Maignant, Krüger, welche Aufgaben und dergleichen im Schlafe lösten.

Dann heißt es weiter, daß die Merkmale, die für das Genie gelten sollen, sich nur bei einem Teile der fraglichen Individuen vorfinden sollen.

War Gibbon sehr häßlich, Leopardi verwachsen, andere geniale Männer mehr oder weniger unansehnlich, kränklich, mit Sprachfehlern behaftet, so waren wieder andere wie Raffael, Leonardo, Michelangelo, Byron von einnehmendem Exterieur. Wenn Hofmann und Praga in Trunksucht verfielen, wenn Rossini stets ausgesuchte Leckereien bei sich hatte, wenn Cesarotti, Eugen Sue, Dumas sehr stark aßen, so gab Buttener dagegen nur zwei Groschen für seine Mahlzeit aus und Redi war so alkoholabstinent, daß er nicht ein einziges Glas Wein vertrug. Wenn Musset an Schlaflosigkeit litt, so erfreuten sich dafür wieder Beethoven, Montaigne, Auerbach einer vortrefflichen Nachtruhe. Bellini konnte nicht vom Tode reden hören, Meyerbeer fürchtete sich im Dunklen, Chopin vor dem Bahrtuche, dagegen liebte Focolo wieder die ernste Zypresse.

Also: fehlen bei manchen Genialen gewisse Zeichen der Degeneration, so finden sich doch dafür andere vor, die nie vermißt werden, so die Abnormitäten der Gefühls- und Willenssphäre. Nie äußert sich die geniale Abartung so fest umschrieben und so einförmig wie etwa die des Kretins. Auch äußere Wohlgestalt schließt Entartungsbildungen nicht aus.

 

9. Flechsig.

Flechsig S. Flechsig, Die Grenzen geistiger Gesundheit und Krankheit (Leipzig, 1896). bekämpft die Theorie von den organischen Ursachen des Verbrechertums und des Genies und hält die charakteristischen Anomalien für Entwicklungsfehler und Abnormitäten der allgemeinen Sensibilität, die also gewissermaßen die charakteristischen Zentren darstellen würde. Unter der allgemeinen Sensibilität versteht er die sogenannte Körperfühlsphäre in bezug auf die Außenwelt. Alle Sinnesorgane vermitteln nun dieses Bewußtseinsgebiet. Die charakteristischen Zentren müssen also mit den sensoriellen zusammenfallen, d. h. mit einem großen Teil der Hirnrinde.

Flechsig sagt zwar, diese Zentren seien unabhängig von denen, welche die Tätigkeit des Intellekts vermitteln, aber wie kann es einen Intellekt geben ohne Sinnesempfindung? Diese angebliche Unabhängigkeit kann also nicht erklären, wie einer gleichzeitig gut begabt und ethisch defekt sein kann.

Flechsig stimmt mit der gewöhnlichen Meinung darin überein, daß das Genie, weit entfernt davon, eine Entartungsform zu sein, eine höhere Entwicklung der Spezies Mensch darstelle. Die anatomische Betrachtung der Gehirne mancher Genialer zeige, daß diese sich durch eine größere Kompliziertheit der mit den höheren seelischen Funktionen betrauten Hirnteile auszeichnen (Stirnlappen und Schläfen-Scheitellappen), daß beim wissenschaftlichen Genie auch eine andere Hirnstruktur besteht als beim Künstler.

Die Einzelheiten, die bisher über das Gehirn der Genies bekannt geworden sind, sprechen nun eher für eine Entwicklungshemmung als für eine Steigerung. Auch Genies mit Gehirngewichten, die unter der Norm liegen, fehlen nicht.

Auffallend kleine Köpfe hatten z. B. Rasori, Descartes, Foscolo, Reni, Schumann; Wasserköpfe besaßen Milton, Poe und Gibbon, eine Unterbrechung der Rolandoschen Spalte fand sich bei Fuchs. Liebig und Döllinger wiesen nach Rüdinger und Bischoff ein niedriger organisiertes Gehirn auf, als die Norm es besitzt.

Retzius sah nichts Außergewöhnliches bei Loven. Manouvrier fand am Gehirn E. Vérons eine Vertiefung der ersten äußeren Umschlagsfalte.

Vorläufig müssen die Befunde Flechsigs noch bestätigt werden; wenn seine Theorie zur Geltung kommen soll, so darf sie auch nicht so viele Ausnahmen aufweisen, daß die Regel selbst dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird.

Übrigens hat niemand je geleugnet, daß beim Genie höhere Entwicklungsstufen zur Beobachtung kommen. Wenn Flechsig dieses Verhalten auch in anatomischer Beziehung festgestellt hat, um so besser. Aber das wesentliche ist für uns, daß die gleichzeitige Existenz von Rückbildungsbefunden nicht in Abrede gestellt wird, die sich jedesmal zum Aufwärtsschreiten hinzugesellen.

Anderseits darf man auch die auf der Gehirnmorphologie aufgebauten Schlüsse nicht überschätzen. Ohne Zweifel wird diese uns zwar die Lösung noch vieler psychiatrischer und psychologischer Probleme vermitteln, wie die Betrachtung des Schädels und Skeletts die Anthropologie bereichert hat. Aber man darf von einer noch unvollkommenen Maschine nicht verlangen, was sie nicht leisten kann, ebenso wie ja auch die Schädelbetrachtung bis jetzt nur ganz grobe Schlüsse zu ziehen gestattet.

Um die Theorie des Genies und des Verbrechens auf sicheren Boden zu stellen, habe ich im Anschluß an die Vorarbeiten der großen Irrenärzte Morel, Nisbet, Winslow, Wilson und Moreau Tausende und aber Tausende von Fällen untersucht.

Meine Theorie kann wie jede andere menschliche Schöpfung fallen, aber um sie zu stürzen, muß man diesen meinen Untersuchungen ebenso genaue und ausführliche Nachprüfungen entgegensetzen.

 

10. Reforgiato.

Reforgiato gibt zu, Contraddizioni di Leopardi. daß das Genie stets von krankhaften oder degenerativen Merkmalen begleitet ist. Aber, setzt er hinzu, diese Zeichen finden sich auch bei Irren und Verbrechern und auch bei den Normalen. Die Behauptung Reforgiatos zeugt von einer großen Konfusion von Wahrem, Falschem und Ungenauem. Degenerative Merkmale, Zeichen von Neurosen usw. findet man wohl bei Irren, Kretins, Kriminellen, aber sie sind für jede Gruppe von besonderem Gepräge und treten in verschiedener Stärke auf, je schwerer die psychische Abnormität ist, und je nachdem, ob sie angeboren war oder durch äußere Anlässe sozusagen geschaffen wurde. Ganz falsch ist, daß sich solche Abnormitäten in demselben Prozentsatze bei der Masse der Durchschnittler vorfinden, die wir besonders in diesem Betracht untersucht haben.

So habe ich gefunden, daß z. B. das Ergrauen der Haare bei Handwerkern, Arbeitern, Kriminellen, Kretins desselben Alters (20-29) Jahre) wechselt: von 44% bei der ersten Gruppe sank die Quote auf 29% bei der zweiten, auf 9% bei der dritten, auf 0 bei der vierten. Ferner habe ich ermittelt, daß Kahlköpfigkeit unter 50 Jahren bei 19% der ersten Gruppe, bei 4% der Kriminellen, bei 13% der anderen bestand. Dies enthält einen Hinweis darauf, wie groß die Unterschiede auch zwischen Norm und Genie sein können.

Hinsichtlich des Zusammentreffens von Selbstmord und Irrsinn bei den Geistesgebildeten und anderen Berufsklassen seien hier noch die für Frankreich geltenden Ziffern angeführt:

Auf eine Million berechnet stellte sich hier die Selbstmordziffer Morselli, Il suicidio, Mailand, 1882.

für die Schriftsteller auf   619
für die Lehrer auf   355
für die Industriellen auf   80
für die Geistlichen auf   53
für die Dienstmänner auf   36

Ferner zählte man hier je einen Irren auf 104 Künstler, 119 Juristen, 280 Literaten, 3609 Eigentümer und 18 819 Landleute.

Ergrauen des Haupthaars, Kahlköpfigkeit, Selbstmord, Irrsinn kommen natürlich bei Durchschnittsmenschen wie bei Talentierten vor, aber in durchaus verschiedenen Verhältnissen, was wieder einen Schluß erlaubt auf die noch größeren Unterschiede, denen diese Erscheinungen in ihrem Auftreten beim Genie unterworfen sein werden.

 

11. Mingazzini.

Ein so scharfsinniger und ausgezeichneter Psychiater wie Mingazzini bekämpft meine Theorie vom Genie in der Annahme, daß sein Ursprung auf die höhere Entwicklung und die Vermehrung der Anzahl der Windungen des Gehirns zurückzuführen sei. Dabei trägt er der Tatsache nicht Rechnung, daß eine stärkere Furchung besonders der Stirn- und Scheitellappen auch den Delinquenten zukommt. Er kann auch keine echten Genies mit außergewöhnlichem Furchenreichtum anführen und bringt nur die Namen einiger bloßer Talente wie z. B. Lenz.

Nach seiner Theorie müßte beim Maler der Hinterlappen größer und stärker gefurcht sein, beim Musiker dagegen die Schläfengegend, was beides nicht der Fall ist. Statt dessen findet man eine auffallende Entwicklung des Gyrus supramarginalis bei dem Musiker Bach, bei dem Mathematiker Gyldén und dem ausgezeichneten Physiker Helmholtz.

Mingazzini erklärt die häufig beim Genie auftretende Hydrocephalie damit, daß die Wasseransammlung den Schädel erweitere, so daß nach ihrem Verschwinden das Gehirn sich besser entwickeln könne. Nun richtet sich doch der Schädel in seinem Wachstum nach dem Gehirn, nicht dieses nach jenem, es bedarf also gar keiner Hydrocephalie zur besseren Entwicklung. Auch läßt der Autor die starken Abnormitäten außer acht, die ich an Schädel und Gehirn gefunden habe, S. Nuovi studii sul Genio, Bd. II, Sull' origine e natura del Genio. Palermo, 1905. wie die Hypertrophie und das Freiliegen der Insel, Dinge, die so häufig beim Mikrocephalen zu sehen sind, ferner die mittlere Hinterhauptgrube und die Verdoppelung der Rolandoschen Spalte, und er vergißt, daß ich bei neunzehn Genies festgestellt habe, daß nur siebzehn Hundertstel der dort beobachteten einhundertsechs Abnormitäten an Hirn und Schädel »progressiver« Art waren. (l. c.)

Mingazzini behauptet weiter, daß Goethe keine Halluzination gehabt habe, als er sich einst auf der Reise selbst begegnete, vergißt aber, daß dieser auf dem Schlachtfelde von Jena einstmals auf eine imaginäre Schildwache schoß, ein Vorkommnis, das doch wieder sehr für eine Halluzination spricht. Die von mir bei Manzoni, Petrarca, Pascal und Cardanus nachgewiesenen psychischen Absonderlichkeiten wiederum lassen sich nicht einfach auf Erschöpfungszustände zurückführen, denn diese Erscheinungen beruhen hier auf hereditärem Ursprung, traten bereits in früher Jugend auf und hatten oft nichts mit körperlichen oder geistigen Arbeitsleistungen zu tun.


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