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IV.
Weitere Beiträge zur Frage der Abnormität des Genies.

Die erbliche Belastung. – Havelock Ellis ist der Ansicht ( Study of British Genius, 1904), daß von seiten der Mutter die Vererbung bei den englischen Genies selten ist, da das Genie beim Weibe weniger häufig auftritt. Bei fünf Prozent der englischen Genies war der Vater wunderlich, energielos, träge, Alkoholist oder brutal, wiewohl von einiger geistiger Regsamkeit. Das Einsetzen der Degeneration wird oft von dem Momente an beobachtet, an dem eine Familie plötzlich aus dem Alltagsdurchschnitt herauszutreten beginnt.

Die genialen Familien sind nach Ellis oft fruchtbarer als die Familie im allgemeinen (etwa im Verhältnis von 6:4).

Wo ein männliches Genie geboren ist, dort überwiegt das männliche Geschlecht überhaupt bei den talentierten Familienmitgliedern, dasselbe gilt für die Frauen. Genies finden sich besonders häufig unter den ältesten und jüngsten Kindern einer Ehe. Geniale Menschen haben selten jugendliche Väter, noch seltener junge Mütter. Im Durchschnitt ist der Vater bei der Geburt eines genialen Sprößlings 37,1, die Mutter 31 Jahre alt.

Die Genies zeigen in ihrer Kindheit gewöhnlich körperliche Schwächlichkeit und geistige Frühreife, unter 1030 waren 292 sehr frühreife, nur 44 entwickelten sich geistig nicht rascher als gewöhnlich.

Möbius hat in seiner Schrift über »Kunst und Künstler« (Leipzig, 1900) Verwandtschaftsgruppen zusammengestellt, innerhalb deren die geniale Erblichkeit besonders häufig zutage tritt: zumeist handelt es sich um Bruder und Bruder, dann um Vater und Sohn, dann um Onkel und Neffe, dann um Vater und Tochter, dann um Bruder und Schwester, während die Gruppe Mutter und Tochter und Mutter und Sohn nur ganz selten zur Beobachtung kommt, also vererbt sich das Genie fast immer vom Vater.

Treten Genies in einer Familie auf, so stirbt der betreffende Familienzweig sehr oft aus.

Cabanès hat auf die pathologische Vererbung bei vielen antiken Genies hingewiesen. Der Sohn Ciceros war Trinker, jener Scipios schwachsinnig, einen irren Sohn hatte auch Tacitus. Weitere abnorme oder geisteskranke Söhne hatten von großen Männern Victor Hugo, Böcklin, Burne, Goethe usw., die Mutter der G. Sand war künstlerisch beanlagt und verstand sich trefflich auf Versemachen, Musik, Stickereien, sie redete die Unwahrheit, ohne es gewahr zu werden, konnte die schwersten Anklagen erheben und sich hinterher entschuldigen, sie habe es geträumt, geriet mit allen in Streit, zeigte sich aber rasch versöhnlich, wenn der andere merken ließ, daß es ihm leid tat. Sie wechselte beständig ihre Kleidung und Hüte, ihre Dienstboten, ihre Wohnung usw. ( Revue des Revues, 1905).

Turgenjeffs Vettern väterlicherseits waren sehr geistesgebildet, dagegen ließ ein Cousin von der anderen Linie, der ein grausamer Mensch war, einst im Zorn einen Gutshof verwüsten und die Bauern durchprügeln. Seine Mutter war hartherzig und herrisch gegen ihn und seine Brüder (Haumont, Vie de Turgenjeff, 1906). Turgenjeff selbst litt an phantastischen Einbildungen, erzählte von seinen Schlössern, Pferden, Küchenpersonal, er reiste und wanderte ohne Ziel und Zweck nach Genf, Paris, Spanien, Rom. Als Kuriosum sei erwähnt, daß er auch angab, die Cholera riechen zu können (pathologischer Schwindel, s. oben).

Likimin, der als Feldherr unter dem Namen Tai Tsong Histoire genérale de la Chine de Tong Kin, übersetzt von Pater Mailla, 1758. bekannt war, gründete 1600 die Dynastie Tong, regierte zwanzig Jahre und war einer der weisesten Fürsten, die China gehabt hat. Dennoch waren zwei seiner Brüder Kriminelle und versuchten ihn zu ermorden. Von seiner Frau Tchang Jun Ki, die ebenfalls eine der geistig höchststehenden und tüchtigsten Fürstinnen Chinas war, hatte er zwei Söhne, von denen der eine, ein träger Schwelger, seinen Bruder zu töten und ihm die Herrschaft zu nehmen versuchte. Kaotsong, der zweite Sohn, litt an Schwindel und solchem Kopfweh, daß er die Regierung völlig seiner Frau überlassen mußte. Er starb nach einem Schwindelanfall, von seinen drei Söhnen wurde der eine, der wohlgeraten war, von der Mutter umgebracht, ein anderer verfiel frühzeitig in eine Geisteskrankheit und lief in Frauenkleidern durch die Straßen.

Statur. – Zu dem, was ich von den Besonderheiten des Körperwuchses an einzelnen gesagt habe, füge ich hier Ermittelungen, die an einem großen Material gewonnen sind. Havelock Ellis ( Nineteenth Century, 1897) fand bei der Vergleichung der mittleren normalen englischen Statur mit derjenigen von 341 Genialen bedeutende Unterschiede. Es befanden sich

unter den Normalen   unter den Genies
16 % kleine   31 % kleine
16 % große   47 % große
68 % von Mittelgröße   22 % von Mittelgröße.

Ich muß also meine Behauptung, daß bei den genialen Menschen die kleine Figur überwiegt, dahin einschränken, daß beide Wachstumsextreme häufiger vorkommen, während die Mittelgröße bei ihnen nur ? so stark vertreten ist als in der Norm. Auch bei den Epileptikern ist dieses Verhalten gewöhnlich, so daß auch in dieser Beziehung die degenerative Annäherung des Genies an die Epilepsie und seine Verwandtschaft mit dieser sich bestätigt.

Frühreife. – Viele neue Daten erhärten den atavistischen Zug der Frühreife beim Genialen, von dem ich in meinem Hauptwerke schon gesprochen habe. Nach Duché ( Précocité intellectuelle, 1901) konnte Gassendi mit 4 Jahren Poesie rezitieren, mit 7 Jahren konnte er Erklärungen aus der Astronomie geben. Haller erläuterte als Kind den Dienstboten schwierige Bibelstellen. Ampère rechnete, ehe er Ziffern und Alphabet kannte, mit Steinchen. Meyerbeer spielte schon mit 5 Jahren öffentlich.

Der Chemiker Berthelot erzählte, daß er mit 7 Jahren in Sprachen und Naturgeschichte der Beste seiner Klasse gewesen sei. Gaston Paris konnte mit 4 Jahren lesen und rezitierte mit 7 Jahren Athalia, mit 8 Jahren schrieb er eine Arbeit über die Fühler der Insekten.

Bourget las schon mit 5 Jahren leidenschaftlich gern Shakespeare und Walter Scott. St. Saens konnte mit 2½ Jahren Noten lesen, mit 5 Jahren komponierte er Walzer, in 30 Tagen hatte er die Carpentiersche Methode erlernt, mit 10 Jahren gab er ein Orchesterkonzert.

Dagegen zeigten Schiaparelli, Flammarion, Flaubert, M. Prévost späte Entwicklung.

Homosexualität. – Schon in der letzten Auflage meines »Genialen Menschen« (S. 706) hatte ich gesagt, daß beim Genie sexuelle Psychopathien nicht selten seien, und besonders bei den literarischen und künstlerischen Genies ist das Urningtum vielfach bekannt geworden, so bei Michelangelo, Cellini, Winkelmann, Baudelaire, Verlaine, Virgil (V. Valmaggi, La psicopatia sessuale di Virgilio, Rivista di Fisiologia, 1890, Heft 7 u. 9).

Aus dem zweiten Bande der Platenschen Tagebücher ersieht man nach De Lollis nicht nur, daß der Dichter ein Paranoiker war, so daß er der Zahl 11 einen merkwürdigen Einfluß auf die Ereignisse des täglichen Lebens einräumte und daß er zwei epileptische Anfälle hatte, die er selbst beschreibt, daß er affektlos war, dergestalt, daß er den Tod seines Vaters und seiner Hausgenossen als etwas Bedeutungsloses erwähnt, sondern auch, daß er zeitlebens homosexuell war und sich wie jeder beliebige Sodomit die Namen seiner bevorzugten Freunde auf den Arm tätowierte.

Das häufigere Vorkommen dieser Verirrung bei Künstlern ist von Havelock Ellis in einer eingehenden Studie ( Archivio di Psicopatie sessuali, 1896) behandelt worden. Nach einer Arbeit von Ziino über Shakespeare ist auf Grund einiger seiner Verse ebenfalls die Vermutung gerechtfertigt, daß auch dieser Dichter an Homosexualität gelitten hat ( Archivio di Psicopatie sessuali, 1897).

Sexuelle Neutralität des Genies. – Ziino erwähnte auch einen Zug des Genies, der das Auftreten dieser Erscheinung begünstigt, nämlich seine »sexuelle Neutralität«, eine Neutralität, die wir sonst beim Menschen nur in der Kindheit vorfinden, im Tierreich dagegen bei den Bienen und Ameisen, die sich von allen Spezies vielleicht am meisten durch Arbeitsamkeit auszeichnen.

Nun ist es bekannt, daß wenn eine Frau Genie hat, sie die Physiognomie, die Schrift und oft auch die Haltung eines Mannes zeigt, sowie größere Anlage zur Sexualität und erhöhten Mut. So führte die Dichterin Tersilla die Krieger an, und die Sand, die Sperani und die Elliot trugen Männernamen und -trachten. Die Sand hatte eine Männerstimme, die Elliot sogar Bartwuchs, und Goncourt hat gesagt: »Es gibt gar keine genialen Frauen, es sind alles Männer.« Analoges läßt sich auch von den genialen Männern sagen, an denen ich bereits Bartmangel, feinen Teint (» Pulchrum sublimium virorum florem«) und frauenhafte Grazie, wie bei Raffael, öfter vermerkt habe; viele sind sexuell unzugänglich oder bleiben ohne Nachkommenschaft, wie Swift, Pope, Drydens, Flaubert, der gesagt hat: »Ich kann die Muse nicht mit dem Weibe vereinigen, ich muß wählen.« Deshalb sind solche Genies auch häufig misogyn.

Witterungs- und Temperatureinflüsse auf die Arbeit des Genies. – Ich hatte schon in » Pensiero e Meteore« und dann wiederum im » Uomo di genio« auf den gewaltigen Einfluß hingewiesen, den die erste einsetzende Wärme und die Sommerhitze auf das Schaffen des Genies besitzt.

Meine Folgerungen sind nun durch neue Nachforschungen gestützt worden. Patrizi hat ermittelt, daß von 48 Werken Leopardis nur zwei in der kalten Jahreszeit geschrieben sind, besser ist dieses Gesetz noch bei Wagner ersichtlich.

Aus dem Briefwechsel des letzteren Perrod, La sensibilità meteorica in R. Wagner ( Rivista musicale italiana, Bd. III, Heft III, 1895). weist Perrod nach, wie bei ihm im Winter die Schaffenskraft sehr gering war, während sie sich im Sommer am höchsten, im Herbst niedrig hielt. Wagners Hauptwerke verteilen sich der Entstehung nach auf die Jahreszeiten wie folgt:

Sommer 18
Frühjahr 15
Herbst 8
Winter 4.

Es ist von Interesse zu sehen, wie Wagner dieses Abhängigkeitsverhältnis aufgefaßt hat.

1841 schreibt er, er habe sich im Frühjahre nach Meudon zurückgezogen, die neubelebende Wärme hätte ihn zu neuer Geistestätigkeit angeregt, er hätte bereits daran gezweifelt, noch etwas schaffen zu können, nun hätte er den Matrosenchor und das Spinnerinnenlied in ganz kurzer Zeit komponiert, in sieben Wochen sei die Oper fertig gewesen – »O, wenn es schon Frühling wäre, dann würde ich Musiker, Dichter, voll Leben sein!« – »Mit Beginn des Frühjahrs hoffe ich die Musik zu meinem Siegfried zu beginnen und dann andauernd meine Arbeit zu verfolgen,« er hätte die schlechte Winterstimmung erst vorüberlassen wollen. Dann sei die Jahreszeit nicht günstig gewesen, der erste schöne Tag zum Beginn des Siegfried, der schon im Kopfe vollendet gewesen sei, habe auf sich warten lassen, er glaube nun ihn im Juni senden zu können.

»Wie es mir geht? So, so. Der schöne Frühling macht mich wieder heiter nach dem ziemlich tristen Winter, und eben erst komme ich wieder zur Arbeit. Wenn ich in Neapel oder Andalusien oder auf den Antillen lebte, würde ich gute Verse und mehr Musik schaffen als bei unserem grauen, nebligen Himmel –«

Zu einer Umarbeitung zweier Szenen des Siegfried brauchte er die Zeit vom 9. November 1852 bis zum 11. Februar 1853, was sehr mit der großen Arbeitsgeschwindigkeit mehrere Monate vorher im Widerspruch steht.

»Mit der Arbeit geht es langsam, ich will meine schlechte Winterstimmung erst vorüber lassen« usw.

Aus der Abhandlung Antoninis über Alfieri ersieht man, daß die Entstehung der Werke dieses Dramatikers fiel

in den Juli und August   5 mal
in den März und Mai   4 mal
in den Juni   3 mal
in den April   2 mal
in den September und November   1 mal
in den Dezember   1 mal
in den Januar, Februar und Oktober   0 mal

Mißgriffe, Wunderlichkeiten und Gedächtnisschwäche beim Genie. – Annecchino Varietà, Neapel 1856. hat gezeigt, wie oft Aberglauben und Altweibervorurteile sich bei den großen Männern vorfinden. Gauthier wagte nicht den Namen Offenbachs zu schreiben, aus Angst vor dem bösen Blick, den er mehr fürchtete als die Gendarmen in seinen Komödien. Paul de St. Victor wollte nur mit seinem eignen Schreibzeuge arbeiten, da er glaubte, die Arbeit würde sonst nicht gelingen.

Nicht nur Napoleon I., sondern auch Watt lachte über Fultons Dampfschiffmodell, und Humphrey Davy hat die praktische Verwendung der Dampfkraft, Smeaton die Realisierbarkeit der Gasbeleuchtung für unmöglich erklärt, und letztere beide behandelten die betreffenden Erfinder sehr respektlos.

Ovid behauptet im zweiten Buche der Metamorphosen, die Götter kannten keinen Neid, und erzählt im sechsten, wie Pallas gegen Arachne von Mißgunst ergriffen wird.

Flaubert, der in seinem Roman » Buvard et Pecuchet« die Mißgriffe der Schriftsteller und Gelehrten durchhechelte, schreibt in derselben Dichtung: »Er bekam zum Geburtstage einen schönen bis zum Thorax blau bemalten phrenologischen Kopf,« und dabei besserte er Monate und Jahre an seinen Perioden herum.

Sarcey schrieb: » Dans la voix de Mlle Marguerite on retrouve la main de sa mère«, und eine Stelle in Molières » Misanthrope« lautet: » Pourvu que votre coeur veuille donner la main au dessein que j'ai fait«. Dampreville, Revue des Revues, 1897, S. 512.

Dante hatte im » Convito« gesagt, das Latein sei vornehmer als die Umgangssprache, und im » Volgare Eloquio« sagt er dann das Gegenteil. Giornale Dantesco, 1893.

Borgognoni wies in einem Aufsatze in der » Rassegna settimanale« nach (19. Dezember 1880), daß Ariost in einem einzigen Gesange des Roland (XL, 73) »fünf Personen handeln läßt, die er bereits anderweitig hat sterben lassen, alle ziemlich kurz nacheinander.« Morandi berichtet, daß dies auch Walter Scott passiert ist.

Das Mißverhältnis des einen Beins zum Körper des Moses von Michelangelo fällt auch dem nicht geschulten Beschauer auf.

Es ist weiter von Interesse zu sehen, daß die genialen Menschen oft trotz großer Irrtümer zu richtigen oder brauchbaren Endresultaten gelangten.

Aristoteles geht von dem falschen Gesichtspunkte aus, die wirbellosen Tiere hätten kein Blut, gibt aber trotzdem eine sehr zutreffende Einteilung.

Auch Linné hat trotz seines unrichtigen Einteilungsprinzips des Pflanzenreichs die Botanik wesentlich gefördert.

Kolumbus entdeckte Amerika auf Grund einer falschen Theorie und Newton die Gravitation, obgleich ihm die Rechnung unrecht gab.

Dies hängt oft damit zusammen, daß Genie und Sachurteil nicht immer gleich entwickelt zu sein brauchen. Beim Genie handelt es sich oft um unterbewußte Vorgänge, der Geniale verfährt bei seiner Intuition oft wie der Prophet, der auch nicht zu wissen braucht, wie er zu seinem Ausspruche gelangt ist. Mit dem bloßen Kalkül hätte vieles Geniale zuerst nicht glaublich gemacht werden können.

Epilepsie. – Die Häufigkeit der Epilepsie und des epileptischen Schwindels beim genialen Menschen ist durch die letzten Untersuchungen Nisbets bestätigt worden.

Dickens erzählt in einem Briefe: »Am Sonntag wurde ich von einem Schwindelanfalle und Gefühlsverlust an Händen und Armen erfaßt,« und Thomas Walson beobachtete an ihm, daß er in Augenblicken starker Reizbarkeit »von starkem Schwindel und Neigung rückwärts oder im Kreise herum zu laufen ergriffen wurde«.

Brachet ( Pathologie mentale des rois de France, 1903) weist nach, daß, als Ludwig XI. die Madonna bat, ihm das viertägige Wechselfieber zu schicken, um von einer alten Krankheit zu genesen, nur die Epilepsie damit gemeint gewesen sein kann, von der man früher glaubte, daß sie durch die » Quartana« vertrieben werde.

Auch Puccinotti scheint nach seinen von Checcucci veröffentlichten Briefen (Florenz, 1897) in der Jugend an Epilepsie gelitten zu haben.

Dem Tode Wagners gingen epileptische Anfälle voran, ebenso wie dem Sheridans, letztere waren aber wohl auf Alkoholismus zurückzuführen.

Auch Herschel litt viel an Schwindelanfällen.

Faraday laborierte an Schwindel und Gedächtnisschwäche m einem seiner Briefe steht: »Ich habe niemals auch nur einige Zeit mich guter Gesundheit erfreut.«

Marlborough litt an Kopfweh und Drehschwindel, mit 66 Jahren setzten bei ihm starke epileptische Anfälle ein, die ihn sehr angriffen (Coxe, Life of Marlborough).

Wellington starb in einem epileptischen Anfalle.

Die Ekstase des Genies. – Die Analogie der genialen Ekstase mit dem psychisch-epileptischen Anfalle wird immer deutlicher.

Sardou bereitet sich, Binet L'année psychologique, 1895, Bd. II, Paris, Alcan. von ihm erzählt, wenn er ein Lustspiel schreiben will, wochenlang auf die verschiedenen Szenen vor, aber ohne daß er die Einzelheiten vorher niederlegt.

»Nur eine Stunde habe ich,« sagt Sardou selbst, »in der die Arbeit reif wird, wehe, wenn ich diese nicht benutze.« Dann setzt er sich an den Schreibtisch, wirft alles schnell nieder und stößt dabei laute Rufe aus wie »der Lump«, »diese Schlange«, indem er an den Empfindungen der handelnden Personen mit Lachen und Weinen teilnimmt.

Andern Tags korrigiert er dann diese echten und rechten Improvisationen.

»Alexander Dumas hat beim Schreiben das Gefühl großen Wohlseins, ißt und trinkt stark, arbeitet monatelang seine Sujets aus, ehe er zu fixieren anfängt, hat aber bei der Ausführung Krisen, die sich 7-8 Tage hinziehen können. Manchmal korrigiert er im Traum und hat in diesem Zustande mitunter Vervollkommnungen gefunden, an die er im Wachen, wie er glaubt, nicht gedacht hätte.

Alphonse Daudet produziert, ebenfalls nach langer Vorbereitung, in wenigen Minuten, oft läßt er lange Zeit die Feder ruhen, dann plötzlich fängt er ohne ersichtliche Ursache an zu arbeiten, es ist als ob ein Strom das Gehirn überschwemmte und ihn zum Schreiben zwänge. Das Tintenfaß leert sich, die Feder ist abgebrochen, es wird dunkel, man bringt ihm eine Kerze, er vergißt Essen und Schlafen, schreibt bis zum Moment der Abreise auf dem Koffer. Als er jung war, konnte er achtzehn Stunden in einem Zuge schreiben.

Wie entstehen diese inspirativen Anfälle bei ihm? Am oftesten, meint er selbst, nach starker Gemütsbewegung, so als er einmal eine Lehrerin weinen sah, die ihr Kind verloren hatte.

In solchen Zuständen hatte er auch illusionsähnliche Anwandlungen. Wenn er auf das weiße Papier sah, bekam er Angstgefühle, in denen er die Tür im Zimmer nicht fand und fragte, wo er hinaus könne. Dies scheint mir aber eher ein Angstanfall von ›Klaustrophobie‹ oder eine Erinnerungsstörung zu sein.

Die De Goncourts animierten sich durch die Einsamkeit und künstlich hervorgerufene Schlaflosigkeit, da sie bemerkt hatten, daß letztere ihre Phantasietätigkeit begünstigte. Auch ihre Träume benutzten sie, einer der Brüder schrieb immer in einem wahren Fieberzustande unter Temperatur- und Pulssteigerung.« (Binet, l. c.)

Der Dramatiker De Carel berichtete Binet ebenfalls über Bewußtseinsstörungen und Spaltung der Persönlichkeit. »Anfänglich,« sagte er, »wenn das Drama erst im Entstehen und Fragment ist, hat es mit den einzelnen Rollen noch nichts zu tun und ist eine Sache für sich, in einem späteren Stadium verschmilzt es aber mit diesen völlig, dann fühlt sich der Dichter in seine Personen ein, teilt ihren Schmerz, hört, wenn er so angelegt ist, wohl auch ihre Stimmen. Wenn es ans Niederschreiben geht, scheint ihm die Feder mehr auf Diktat geführt als nach eignem Willen.

Diese Spaltung des Bewußtseins wird vom Dichter sozusagen kultiviert und als Arbeitsmethode benutzt.

Wenn ich morgens an die Arbeit gehe, habe ich das Gefühl, daß meine Personen in der Nacht vorwärts gekommen sind, ohne daß ich an sie gedacht habe (d. h. mir fehlt das Gefühl, daß ich an dem Stück inzwischen weitergearbeitet habe). Ich habe eine Art automatischen Gedächtnisses für meine Personen, so daß ich, der ich sonst nur ein sehr mittelmäßiges Erinnerungsvermögen besitze, mit ihrer gesamten ›Vergangenheit‹ vorzüglich vertraut bin.« (S. Binet, l. c.)

In einer autobiographischen Schrift des bedeutenden genialen, modernen Geschichtsforschers John Eddington Symonds ist eine Art epileptischen »Trances« beschrieben, der ihm etwa von seinem 28. Jahre ab mehrfach zustieß.

»Unversehens in der Kirche oder in Gesellschaft oder beim Lesen, wenn meine Muskeln in Ruhe sind, werde ich von diesem Anfall überrascht, der unwiderstehlich von meinem Bewußtsein Besitz nimmt, sich rasch verbreitet und zunächst eine Reihe Empfindungen erzeugt, die dem Erwachen aus einer Art Narkose gleichen. Eine der Ursachen, weshalb ich diese Art Trance fürchte, liegt darin, daß ich nicht imstande bin, mir selbst von dem Zustande Rechenschaft zu geben. Mancher Leser kennt ihn vielleicht aus eigner Erfahrung, es ist keine vollständige, wohl aber rasch vorübergehende Einbuße der Orts- und Zeit- und der allgemeinen Empfindung. Also wohl eine epileptoide Störung mit teilweise schwindendem Bewußtsein.

Je mehr diese Eigenschaften des gewöhnlichen Bewußtseins zurücktreten, desto stärker wird das Gefühl eines besonderen Bewußtseins, zuletzt bleibt nur ein reines, absolutes, abstraktes Ich übrig. Die Welt ist leer, formlos, das Leben scheint nicht mehr zu existieren, ich befürchte eine letzte Auflösung, bin der ängstlichen Überzeugung, daß dies ein Endbewußtseinszustand des Ich ist, ich habe das Gefühl, ganz nahe an einem Abgrunde zu wandeln, und verspüre eine Art Ewigkeitsempfindung.

Die Rückkehr zum gewöhnlichen Zustande beginnt mit dem Wiedererscheinen der Tastempfindung, dann stellt sich auch bald die normale Eindrucksfähigkeit wieder ein. Schließlich fühle ich mich wieder völlig als Mensch und bin dankbar für diese Wiederkehr aus einem schreckhaften Mysterium des Skeptizismus.« ( The Saturday Review, 29. Dez. 1895.)

Fast alle Autoren, die von ihren Ekstasen sprechen, drücken sich ähnlich aus.

Die Sand sagte zu Flaubert, daß, wenn sie schriebe, sie nicht mehr sie selbst wäre, sondern eine andere, eine Veränderung, durch die ihre Phantasie wie durch einen Sturm aufgepeitscht würde. Mario Pilo, Estetica. 1892.

Swift, Faraday, Darwin, Herschel, Marlborough hatten oft Schwindelgefühle, wenn sie arbeiteten, und Donizetti sagte aus, er hätte heftiges Kopfweh rechts oder links, je nachdem er ernste oder komische Musik konzipiere.

Nun sind Schwindel und Kopfweh oft Stellvertreter des epileptischen Anfalls.

Im » Ecce homo« sagt Nietzsche von der Ekstase, es sei kein Aberglaube anzunehmen, daß man in diesem Augenblicke nur Werkzeug sei, Mittel höherer Mächte, man fühle sich plötzlich von einer merkwürdigen Sicherheit und bis in die äußersten Spitzen seiner Persönlichkeit gesammelt. Der Gedanke tauche blitzartig ohne Schwanken in der Form und unter Gemütserschütterung auf, die sich oft in Tränen löse. Ein Wechsel des Innern vollziehe sich, Schauer durchriesele den Körper, alles dies geschehe unwillkürlich und von selbst, aber wie in einem Sturm von Freiheits- und Machtgefühlen. Das Wunderbarste sei das ungehemmte Zuströmen der Bilder und Vergleiche, und alles scheine förmlich ein Gleichnis werden zu wollen. Dazu käme dann die motorische Erregung. In solcher Verfassung sei die Muskelerregbarkeit auf ihrem Höhepunkt angelangt, er habe in solchen Zuständen sieben bis acht Stunden ohne Ermüdung in den Bergen umherwandern können, und oft habe man ihn dabei umherspringen sehen.

Rembrandt bekam bei der Konzeption eines Gemäldes leicht eine phantomartige Erscheinung, welche den Inhalt der beabsichtigten Komposition darstellte, und Schiller hörte, bevor er zu arbeiten begann, zuweilen harmonieartige Laute, hatte also eine Art Inspirationspräludium oder -aura.

Beethoven redete von einem Göttergespräch, wenn er die Tongebilde seiner Symphonien innerlich erklingen ließ. (S. Nisbet, l. c.)

Im Moment der Ekstase treten also, wie beim epileptischen Anfall, Schwindelgefühl, Bewußtseinsveränderung, Erregung, Sinnestäuschungen und sogar auraähnliche Erscheinungen auf.

Musikalisch-epileptisches Äquivalent. – Einen indirekten, sehr wichtigen Beweis der Äquivalenz der genialen Ekstase und des epileptischen Anfalls bieten drei Fälle von »musikalischen Erregungszuständen« mit epileptischen Anfällen, die De Sanctis und Cristiani beschrieben haben ( Rivista di Psicologia e Psichiatria, Rom 1897, IX).

Ein gewisser R. z. B., der epileptisch und ethisch defekt und Sohn eines ausgezeichneten Musiklehrers war, fing oft plötzlich die schönsten Lieder zu singen an, begleitete diese auch öfter mit Bewegungen, als wenn er ein Instrument dazu spielen wollte. Diesen Zufällen gingen teils echte epileptische Anfälle, teils Schwindelgefühle voraus, bald durch Pausen unterbrochen, bald statusähnlich zwei oder drei Tage lang nacheinander rasch wiederkehrend. Zusammen mit den Gesängen traten Temperaturerhöhungen ein, völlige Veränderung des Bewußtseins, Erinnerungsausfall, manchmal folgte ein epileptischer Krampfanfall einem solchen Gesange nach.

Emmerich Elbert. – Einen neuen vortrefflichen Beleg für die epileptische Grundlage des Genies hat mir Professor Laufenauer in Budapest vermittelt, welcher Gelegenheit hatte den Komponisten Emmerich Elbert zu beobachten, der mit achtzehn Jahren die günstig aufgenommene Oper »Tamorra« komponiert hatte und mit neunundzwanzig Jahren an Periencephalitis und Epilepsie in der Klinik starb. Sein Vater war Epileptiker gewesen, später genesen, zwei Schwestern waren eklamptisch geworden, die Mutter war gesund.

Seit sechzehn Jahren, also annähernd seitdem der Körper den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht hatte, hatten sich bei ihm epileptische Anfälle bemerkbar gemacht, die sich täglich bis fünf- und sechsmal wiederholten. Zuletzt war er im » Status epilepticus« bewußtlos, mit Pupillenstarre und allgemeinen Bewegungsstörungen in die Klinik gebracht worden.

Die Sektion ergab ein sehr großes Gehirn von 1480 Gramm Gewicht, Atrophie des Ammonshorns linkerseits (Schrumpfung um mehr als die Hälfte gegen die rechte Seite) und Periencephalitis, besonders links und in der Gegend der Schläfenlappen.

In diesem Falle hatten sich also Genie und Epilepsie auch für den unmittelbaren Augenschein vereinigt und fast das ganze Leben nebeneinander bestanden; die Schrumpfung des Ammonshorns ist übrigens bei Epilepsie recht häufig.

Kriminalität. – Nicht klein ist die Zahl der Genies, von denen die Geschichte weiß, daß sie kriminell geworden sind.

Ezzelino, der niedriggewachsen, blaß, mager war, hatte Freude an der Verstümmelung und Marter, die er andern auferlegte. Als er das Friaul einnahm, ließ er Augen ausstechen, Nasen und Gliedmaßen abhacken, ohne Unterschied des Alters und Geschlechts.

Ibrahim Ahmed, 873 Fürst von Sizilien und Afrika, ein großer Heerführer, vollführte mit besonderer Lust Schandtaten, er ließ einst 860 Jünglinge gruppenweise verbrennen oder im warmen Bade ersticken. Seine acht Brüder wurden vor seinen Augen getötet, sein Sohn Abud-Agab wurde auf sein Geheiß und in seiner Gegenwart enthauptet. Hinrichtung von Sekretären, Ministern, Kämmerern war etwas Gewöhnliches.

Seinen schrecklichsten Grimm ließ er an den Frauen aus. Es scheint, als ob ihn besonders die Fortpflanzung des Menschengeschlechts mit Zorn erfüllt habe. Seine Frauen und Kebsweiber ließ er erdrosseln, lebendig begraben, zersägen, wenn sie schwanger wurden. Töchter wurden getötet, sobald sie geboren waren, sechzehn Mädchen, die heimlich von der Mutter aufgezogen worden waren, ließ er ermorden, sobald er davon Kenntnis erhalten hatte.

Die arabischen Chronisten seiner Zeit, denen seine trauervolle Leidenschaft Anlaß zum Nachdenken gab, kamen zu dem Schlusse, daß er an einer seltsamen Form von Melancholie litte, die ihn zum Verbrechen triebe. Und dies tut der epileptische Sadismus auch wirklich. So hatte er auch den Trieb, in dem noch zuckenden Opfer herumzuwühlen. Fünfhundert Gefangenen spaltete er selbst mit einer Lanze das Herz und ließ dann die Herzen an Schnüre reihen und an der Tür seiner Kammer aufhängen. (Symonds, » Storia del rinascimento in Italia«, Turin, 1900.)

Napoleon (s. die Memoiren der Frau von Rémusat) war sogar eifersüchtig auf die großen Staatsmänner anderer Zeiten und verleumdete sie: Alexander wäre sehr kühn und berechnend, aber im Grunde nicht mehr als ein guter Soldat gewesen, Friedrich II. hätte sich nur auf die Artillerie verstanden, Heinrich IV. wäre ein alter Narr gewesen und der heilige Ludwig ein Schwachsinniger. Er war so eifersüchtig, daß er seinen Generälen keine glänzenden Einzüge gestatten wollte, Moreau schickte er nach Portugal, ohne ihn genügend für den Sieg auszurüsten.

Alexander hatte eine merkwürdige Gesichtsbildung: fliehende Stirn mit tiefer Furche, Schädelsteilheit, gewaltige Augenbrauenbögen und Kinnbacken, dichtes krauses Haar, wenig Bart (Uifalvy, Alexander, Paris, 1902).

Tassoni (Santi, » Rivista di Letteratura Italiana«, 1904) rüstete, nachdem er von den Verwandten um sein väterliches Erbteil gebracht worden war, förmliche Raubzüge aus, wobei Frauen vergewaltigt, Männer beraubt und mißhandelt wurden. Ein Richter wollte ihn zur Verantwortung ziehen, aber der Herzog Alfons ließ es nicht zu.

Ich habe mehrfach darauf hingewiesen, daß das Genie wegen des epileptoiden Grundzuges auch ethische Defekte besitzen könne. Patrizi hat dies in » Passione criminale ed estetica« (Rom, 1907) weiter ausgeführt, indem er eine ästhetische und wissenschaftliche Leidenschafts-Kriminalität der Genies angenommen hat. Hierher gehört es z. B., wenn der junge Boieldieu sich 24 Stunden zwischen den Bänken des Theaters versteckt hielt, um Konzert oder Oper noch einmal zu hören, wenn O. Wilde und Verlaine auf homosexuelle Akte als etwas ästhetisch Rühmliches hingedeutet haben.

»In den Fällen minder schwerer Kriminalität auf ästhetischer Grundlage«, fährt Patrizi fort, »handelt es sich um so hochgradige leidenschaftliche Erregung, daß gesundes Gefühl und Ethik ausgeschaltet werden können und der Wille seine hemmende Kraft momentan verliert. Hier ist lediglich die Gefühlstätigkeit krankhaft verändert: die Schuld wird als solche erkannt werden und es folgt ganz gewöhnlich das reuevolle Geständnis des Verbrechers aus Leidenschaft. Ein solches Reat bleibt also auf die eigentliche Ethik beschränkt und zieht das Ästhetische als solches nicht in Mitleidenschaft.

Zur schwereren Perversion dagegen, gleichzeitig ethisch und ästhetisch, wird diese Art Kriminalität, wenn das Delikt nicht mehr ausschließlich das Mittel darstellt, über welches hinweg unter größerem oder geringerem Widerwillen zum Genusse geschritten wird, sondern wenn es zum förmlichen Gegenstand einer mehr intellektuellen Befriedigung, bei gleichzeitig ästhetischer Erregung sich gestaltet, so z. B. wenn, wie manche namhafte Autoren verraten, ein Degenstich, der das Blut hoch aufspritzen läßt, eine Flammengarbe, die aus einem brennenden Hause hervorbricht, Gewalt, Schandtat, Orgie, Blutvergießen an sich ›schön‹ wird.

Weckt der fremde Schmerz nicht mehr das Mitgefühl zu Abwehr und gemeinsamem Schutze, sondern wird er an sich ›schön‹, ein lautes Signal destruktiver Tendenzen, so handelt es sich um eine Psychopathie der intellektuellen Sphäre, die man ästhetischen Sadismus nennen kann. Wer sich die Mühe nimmt, die Werke einiger berühmt gewordener Künstler daraufhin zu betrachten, wird überrascht sein von dem oft gleichzeitigen Auftreten des erotischen und des ästhetischen Sadismus bei solchen Naturen, für die die Liebe ohne den Stimulus des Schmerzes ohne Reize ist, und die die Schönheit langweilt, wenn sie nicht unter Jammergeschrei und unter Furcht und Schrecken in die Erscheinung tritt.« Man vergleiche hierzu die Werke Poes, Baudelaires, Verlaines.

Patrizi hat auch zwei historische Fälle mitgeteilt, in denen Erkenntnisdrang und Wissensdurst Anlaß zu Reaten gegeben haben soll. In dem einen handelte es sich um den berühmten Anatomen, Physiologen und Chirurgen des sechzehnten Jahrhunderts Andreas Vesalius, der einer Sterbenden die Brust geöffnet haben soll, um in das noch schlagende Herz einzuschneiden. Die Inquisition habe ihn verurteilt, doch sei der Urteilsspruch vom König von Spanien in eine Pilgerfahrt nach dem Heiligen Grabe umgewandelt worden. Ferner soll der berühmte G. Falloppio Versuche über die Wirkung pharmazeutischer Mittel an Lebenden angestellt haben. Später hat es geheißen, der Herzog hätte ihm das Experimentieren an Verurteilten gestattet, wenn diese damit einverstanden wären.

Ein epileptischer Krimineller mit Genie. – In meiner Klinik habe ich einen Fall gehabt, der mir den Beweis lieferte, daß sich Epilepsie, Kriminalität und Genialität bei demselben Individuum übereinandersetzen können.

G. hatte eine epileptische Tante. Mit zehn Jahren Überstand er Typhus. Schon als Kind bestahl er seine Schulfreunde, zu Hause stahl er Geld und allerlei Gegenstände, verjubelte dies mit seinen Bekannten. Dann beging er Uhrendiebstähle, stahl Wertsachen und dergleichen, so daß er schon vor dem zwanzigsten Jahre wegen Diebstahls ins Gefängnis kam. Hier zeigte er mit großer Genugtuung ein Zeitungsblatt herum, das von seiner letzten Straftat berichtete.

G. hatte dichtes schwarzes Haar, niedrige Stirn, stark entwickelte Augenbrauenbögen, Aderverkalkung an den Stirnarterien.

Die wahrscheinliche Kapazität seines Schädels war sehr groß (1594 Zentimeter), der Kopfindex war 79,6, der Tastsinn war ziemlich fein (der Unterschied der Zirkelspitzen bei der Prüfung wurde an der rechten Zeigefingerkuppe auf 2 Millimeter, ebendort links auf 2,3 Millimeter, an der Zungenspitze auf 1 Millimeter angegeben). Die allgemeine elektrische Sensibilität war weniger fein, besonders abgestumpft aber war die Schmerzempfindung, welche rechts fehlte und links fast fehlte (5 Millimeter Rollenabstand am Rhumkorffschen Schlitten, dieser Schmerzreiz ist für den Normalen nicht mehr auszuhalten). Die Patellarreflexe waren ziemlich lebhaft, ebenso Kremaster- und Bauchreflexe, die Intelligenz war sehr entwickelt.

Seine geistige Bildung war nicht gering. Er drückte sich gewandt aus und verfaßte lyrische Gedichte, in denen er den Jammer seines Geschicks beredt zu schildern wußte, aber dann renommierte er plötzlich wieder mit seinen Übeltaten und ersann fabelhafte Erlebnisse, um sich interessant zu machen.

[Fußnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re.]
Z. B. in folgendem Sonett:
Ανύγκη

Questa ehe mi ange il cor malinconia,
che mi fa tristo e che mi fa poeta,
non chiedetemi mai ehe cosa sia:
celar mi è caro ogni ragion segreta.

Non mi chiedete mai come per via
vi so affettar una sembianza lieta
perchè tra i frizzi innesto un'elegia
e ostento pace e ho l'alma irrequieta.

Voi ehe non minaccia l'uragano
del duolo e cui non preme il dubbio orrendo
che al sol subentri un nembo atro vicino,

Ah! non chiedete mai perchè ridendo
vi fo sentir come un singulto strano
io, la cinica larva del destino! –

Dieser moralisch Irre mit der genialen Anlage war Epileptiker. Schon als kleines Kind hatte er an Konvulsionen gelitten. Zur Zeit seines Aufenthaltes in der Klinik hatte er etwa zwei bis drei vollständige epileptische Anfälle im Jahre. Häufig wurde er von Schwindelanfällen und von verschiedenen anderen Formen des » Petit mal« befallen.

Schon bevor er Verbrechen verübt hatte, hatte er die Schwindelanfälle gehabt, in denen sich alles mit großer Schnelligkeit um ihn drehte; eines Tages fiel er beim Treppensteigen unter Schwinden des Bewußtseins herab und war 36 Stunden lang bewußtlos.

Zeitweise litt er dann wieder an Nystagmus, Albuminurie, automatischen Bewegungen (wohl zum » Petit mal« gehörig).

Nach seiner Aufnahme ins Irrenhaus besserte sich Haltung und Benehmen bei ihm außerordentlich, eines Tages aber vergiftete er sich, nachdem er vergebens versucht hatte, eine Anstellung in einer Zeitungsredaktion zu erhalten, aus Verzweiflung mit einer großen Menge Morphium, die er aus der Anstaltsapotheke entwendet hatte.

Seine dichterische Veranlagung war ganz fraglos.

Von Interesse war dieser Fall auch deswegen, weil bei der mikroskopischen Untersuchung der Vorderkappen des Großhirns die Gewebsanomalien, die zuerst Roncoroni am Epileptiker und Kriminellen aufgefunden bat, nämlich Atrophie des Stratum granulare, Vergrößerung der Pyramidenzellen und Auftreten von Nervenzellen in der weißen Substanz, auch bei ihm zur Beobachtung kamen.


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