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Drittes Stück

Bruckners Amtliches lag wie ein vielverzweigter Kraken auf dem Werk seiner Seele. Da war nun der Stoß seiner Zeugnisse gehäuft, und er mußte rechnen um Brot, um Zeit. Zwölf Stunden wöchentlich am Konservatorium, die brachten die Nagezähne der gröbsten Notdurft zur Ruhe. Die Hilfsdienste an der Orgel der Hofkapelle hatte er unentgeltlich zu leisten, die Erziehung der Hofsängerknaben zum Gesang, die Handreichungen als zweiter Archivar des Hoforchesters erbrachten eine weitere kleine Entschädigung. Ein wenig reichlicher kleckte die Hilfslehrerstelle für Klavierspiel am Lehrerinnenseminar zu St. Anna. Aber die wurde ihm vergällt, weil er eine Schuhmachertochter lustig »mein Schatz« genannt hatte, was eine notpeinliche Untersuchung heraufbeschwor. Er wollte lieber die 500 Gulden einbüßen, als törichter Annäherungen verdächtigt werden. Amt war Amt. Zum Glück wurde er in die Abteilung für junge Männer an derselben Anstalt übernommen: Harmonie- und Orgellehre – immer das nämliche. Nach dem Unterricht nahm er gern ein Auge voll Schlaf auf der Orgelbank. Ein kleines Stipendium vom Minister, wenig hilfreich, fiel zwischenein. Bald änderte sich der Lehrplan zu St. Anna, man brauchte keinen Aushelfer, Weinwurm erhielt das Musikfach. Bruckner schrieb: »Mußte schon im Sept. und später wieder Geld aufnehmen, wenn es mir nicht beliebte zu verhungern. Kein Mensch hilft mir.« Er fand ein paar Ausländer, die Lektionen bei ihm nahmen, die einheimischen Professoren schanzten ihm fast nichts zu. Des Musikhistorikers Hanslick Standesdünkel hielt ihn, den Nichtakademiker, von der Universität fern, bis dann doch wenigstens sein wissenschaftlicher Ehrgeiz gesättigt wurde: Ende 1874 wurde er als unbesoldeter Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt in der philosophischen Fakultät zugelassen, nach vier Gesuchen. Drei Jahre später wurde ihm auf seine Bitte eine Bezahlung zugebilligt, nach weiteren drei Jahren hatte er ein festes Einkommen von 800 Gulden für seine Tätigkeit an der Universität erklommen. Als er mit der Todeskrankheit kämpfen mußte, wurde es ihm ungekürzt sogar als Ehrengabe zuteil. Hanslick grollte um sich herum, in sich hinein. Seine Haupteinkunft freilich war kein Bargeld, es war die Aufrichtung, die er durch die Studenten, seine »Gaudeamus«, erfuhr. Sie verehrten in seiner Person die unbekannte Sendung, sie liebten die Wärme, den Witz, die überlegene Klugheit ihres Lehrers, sie setzten sich ein für ihn als Anhänger der neuen Richtung. Im akademischen Wagnerverein dienten sie seinen kleineren chorischen Werken. Im Hörsaale aber saßen sie zu siebzig, zu achtzig, zu hundert.

Nichts stillte die Klage in Bruckners Innerem: Gebt mir Zeit zum Schaffen! Nur eine Spitzenstellung konnte ihn aus der Kleinfron erlösen. Als der Kapellmeisterposten der Kirche »Am Hof« erledigt war, bewarb er sich, erfolglos wie schon so oft Fünf Monate nach seiner Bewerbung erhielt er den einen Satz zur Antwort: »Der inangesuchte Dienstposten wurde anderweitig verliehen.« 1878 machte ihn die Hofkapelle zum wirklichen Mitgliede mit 600 Gulden Lohn und mit langfristiger Aussicht auf mehr. Archivar und Singlehrer war er nun dort nicht weiter, aber viele freie Nachmittage und Ferientage mußte er opfern. Er konnte den Erlös aus Privatstunden noch immer nicht entbehren. Erst als sein Abend sank, nahm man ihm nach und nach seine Ketten ab.

Aus der Stille des Wartens werfen sich ab und zu jähe steile Gipfel des Virtuosen-Erfolges auf wie plötzlich aus dem Erdreich aufberstende Vulkane. Die meisten dieser Feuergipfel erhoben sich fern von Wien, als wollte das Schicksal eine fahle, leere Zone der Freudlosigkeit um den Meister ziehen. Die Vulkane erloschen so rasch, wie sie entstanden waren. Bruckner blieb geblendet im Dunkel, arbeitete und sehnte sich.

Zu Anfang der Jahrzehnte zu Wien wurde ihm in fremden Ländern zweimal der Ruhm als Organist bis zum Rausch. Nach Nancy eingeladen zur Orgelweihe in einer neuen Kirche, fand er die bedeutendsten Spieler aus der Stadt, aus Paris, Reims, Straßburg, Soissons, Luxemburg und woher noch immer versammelt, er obsiegte allen, kein Name wurde neben seinem genannt außer einem. Die Erbauer der Orgel, Merklin-Schütze, zogen ihn darauf nach Paris. Im Schiff der Notre Dame erwarteten ihn wohl alle lebenden französischen Komponisten von Ruf und Glanz, ferner Kenner aus Frankreich, Deutschland, Belgien. Was man hörte, hatte man noch nie gehört. Mit der Produktion Bruckners hatte die fünfmanualige Metropolenorgel von Notre Dame ihren größten Tag erlebt. Das scholl nicht nur aus dem Tagesruhm wider, noch nach seinem Tode pries man ihn als den Wundermann an der Orgel von Notre Dame.

Auf volkstümlicher Ebene wiederholte sich sein Triumph 1871 in London. Hier riß er über die Lauheit der Presse hinweg die Herzen der Zehntausende empor. Wieder saß er an einer Riesenorgel in der neuerbauten königlichen Alberthalle. Schon als er am Abend seiner Ankunft sie ausprobierte, heizte man die Dampfmaschine, die mit zwanzig Pferdekräften den Druck in das Werk preßte und deren Kessel am Verlöschen war, neu auf. Er spielte in einem wahren Reigen von Konzerten klassische Stücke und zu besonderem Jubel eigene aus dem Stegreif; fünfmal konzertierte er noch im Kristallpalast. Was über den Aufruhr der Wirkung verlautet, erinnert an das, was über die Orgelzauberei des Altmeisters Frescobaldi berichtet wird, den Pilgerscharen durch die Städte Italiens begleitet hatten. Auch Bruckner wurde angeboten, als Virtuos durch alle großen Städte Englands zu ziehen. Ihm lag nichts daran, er mußte ja auch flehmütig um Verlängerung des Urlaubs bitten, er kehrte heim.

Nicht als Virtuosenmeteor wollte er über Europa herfallen, wie er schon im Begriffe war. In Wien blieben ihm die Gehäuse der großen Orgeln geschlossen, er entwich in die geistlichen Stifte außerhalb, um hinter Mauern zu spielen.

Der Massenwirkung gegenüber mußte er sich zu Hause lange bei der zwingenden Wirkung auf einzelne bescheiden. Sein Entführer Herbeck rang sich durch ein dumpfes Labyrinth ins helle Wissen, daß Bruckners fMesse neben Beethovens Missa solemnis stände. Eine ungläubige Dame fühlte sich durch das gleiche Werk übernatürlich gerettet. Die Menge jedoch nahm ihre Begeisterung darüber zehn Jahre später in »einer Art musikalischen Bürgerkriegs« zurück. Ebenso seicht muß wohl der grenzenlose Beifall bei der Aufführung der zweiten Symphonie gewesen sein, denn ihm folgte bei der Uraufführung schon der dritten der grenzenlose Abfall. Nur Männer wie Speidel schrieben, kein gewöhnlicher Sterblicher habe das musiziert, und die Gegner seien unwürdig, ihm die Schuhriemen zu lösen.

Als sich die Werkerfolge dichter einstellten, wichen auch sie in großem Bogen vor ihm zurück. Er mußte ihnen meist nachreisen. Vor der entscheidenden Aufführung in Wien starb der Dirigent Herbeck (Oktober 1877). Dem Quintett wurde bei der zweiten Vorführung das Finale abgehackt. Josef Schalk und Ferdinand Löwe, seine Schüler, führten einige seiner Symphonien auf zwei Klavieren im Bösendorfersaal vor. Die erste Wiedergabe des Tedeums unter Bruckner wurde ebenfalls von zwei Klavieren begleitet. Die Funken guten Willens konnten die Demütigung des einundsechzigjährigen Mannes nicht erleuchten.

Der draußen wachsende Ruhm war nicht zu verpflanzen. Nach der Leipziger Uraufführung der Siebenten unter Nikisch 1884 konnte Bruckners Name nicht mehr untergehen, aber er selbst konnte es. München folgte bald, und Bruckner wurde dort buchstäblich auf Händen getragen, es folgte Köln, Hamburg, Graz, Chikago, Neuyork, Amsterdam, Berlin, Budapest, Dresden, London – ja, und Wien war auch unter den Städten. Die Dritte war nach Dresden, Frankfurt, den Haag, Neuyork gegangen – und Wien war schmähend auch unter den Städten gewesen.

Trotz der Kinderfreude, die jegliche gute Nachricht in Bruckner weckte, scheint ihn die Grundstimmung eingesponnen zu haben, die er einmal in die Worte faßte: »Mir ist auf dieser Welt schon alles recht, und ich werde ganz gleichgültig der edlen Menschheit gegenüber.«

Reichere Ehrungen wurden erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt über ihn ausgeschüttet. Sie kamen zu spät, um ihn noch einzuholen. Das will zunächst bitter besagen: sie befreiten ihn nicht von seinen ungebührlichen Opfern an Schöpferstunden. Denn die Befreiung brachte das infolge der Überarbeitung verfrühte Greisenalter und im letzten Jahrfünft die katarrhalische Erkrankung des Rachens und Kehlkopfs, Magen- und Leberleiden, Venenerweiterung an den Füßen, die fortschreitende Erkrankung der Nerven und des Herzens. Die eingeborene stete Bereitschaft zur Freude war auch eine ermüdende Anstrengung. Die Erfolgsdaten waren sein flammender Kalender, und auf manche hohe Feste darin fiel eine Sonnen- oder Mondfinsternis. Die Ärzte, als wären sie seine Astrologen, wiegten besorgt die Köpfe, als er die Uraufführung seiner Achten (Ende 1892) ausstehen sollte. Daß sie ein großer Sieg für ihn wurde, änderte nichts daran, daß auch das Glück für ihn zu lastbar geworden war. Von der Uraufführung der Fünften in Graz (1894) unter seinem Schüler Franz Schalk war er durch sein Leiden ausgeschlossen, so daß er sie niemals gehört hat. In den Erprobungen der Werke lief sein Lebensinterpunktionssystem, das System der Zeichensetzung durch bestandene Prüfungen, weiter.

Die anderen Ehren nehmen in seinen Kalendern, die ihm als Merk- und Tagebücher dienten, keinen größeren Platz ein als etwa die sorgfältige Einzeichnung der jungen Damen, die er auf Bällen kennengelernt und mit denen er sich unterhalten und getanzt hatte, zum Fasching beim Juristenball, bei der »Concordia« der Schriftsteller, bei den Industriellen, auf »Künstlerabenden«. Es heißt über die Verleihung des Franz-Josefs-Ordens 1886: »Am 9. Juli von Sr. Durchlaucht Fürst Hohenlohe Franz Josef Orden überreicht circa 1 Uhr.« Über seinen Dankbesuch notierte er: »23. September um ¼ über 11 Audienz bei Sr. Majestät, dem Kaiser.« Das letzte, ihm erfreulichste Examen brachte er ohne sein Zutun im November 1891 hinter sich: es war die Ernennung zum Ehrendoktor der Wiener Universität. Der Kalender vermerkt darüber auf einem Blatte, das außer einer Geldausgabe an seine Wirtschafterin die Wohnung einer Valerie Pistor einträgt, das folgende: »7. Nov. Promotion als Ehrendoktor der Philosophie an der Wiener Universität. 22. 11. beim Minister. 26. 11. beim Kaiser (äußerst huldvoll).« Namen aus dem Alltag beschließen die Seite.

In die höfische Rangordnung des Kaiserreichs eingereiht zu werden, erregte ihn nicht übermäßig, so vorbehaltlos er jedem an seinem Orte die ihm gebührende Devotion spendete, so selbstverständlich ihm die Krone des Kaisers von Liebe getragen werden mußte, damit sie den Monarchen nicht drücke. Wie im kirchlichen Staate schimmerten im weltlichen durch die Personen die Ämter. Da sein Teilnehmen an den kollektiven Einrichtungen außerhalb der Frage nach ihrer Würdigkeit erfolgte, hatte er nicht nötig, sich zu unterwerfen. Bückte er sich, so nicht kriecherisch, sondern enthusiastisch, seine Hände drückten dabei sein Herz, seine Arme breiteten sich dabei von selbst weit aus. Aber Ehrendoktor zu werden, das war, als hätte die profunde Wissenschaft selbst ihn in ihren Thronsaal gewiesen. Verstand es nicht auch der Universitätsrektor Hofrat Exner so, als er beim Festkommers des akademischen Gesangvereins vor dreitausend Geladenen denkwürdige Worte sprach? »Wo die Wissenschaft haltmacht«, sagte er, »wo ihr unübersteigliche Schranken gesetzt sind, da beginnt das Reich der Kunst, welche das auszudrücken vermag, was allem Wissen verschlossen bleibt. Ich beuge mich vor dem ehemaligen Unterlehrer von Windhaag.« Der Geistliche Dr. Kluger von Stift Klosterneuburg brachte ihn im Wagen heim, in dem ein riesiger Kranz die Fahrtgenossen beiseitedrängte, und Bruckner seufzte den Dank in sich hinein: »Zu viel, zu viel.« Bei der eigentlichen Promotionsfeier hatte er sich eine Orgel gewünscht, um zu danken. So versetzte er den Geist in das Instrument, das noch beredter in Zungen sprach als die Orgel: in das Orchester. Er übereignete der Universität seine erste Symphonie.

Er konnte auf die Stufen hinabsehen, die zu seinem Throne hinanführten. Sängervereinigungen der Heimat hatten ihn zum Ehrenmitgliede erwählt, das Salzburger Mozarteum, die Amsterdamer Maatschappij tor Bevordering der Tonkunst, der akademische Gesangverein. Oberösterreich hatte jüngst einen Ehrensold, die Stadt Linz die Ehrenbürgerschaft bewilligt. Er hatte in Prag die neue Orgel des Rudolfinums weihen helfen, die alte im Dome dort beim Hochamte gespielt.

Wird der Lohn auch sonst gemeinhin nach der Arbeit ausgehändigt, so fördert er meist doch das weitere Vollbringen. Bei Bruckner entwich der Lohn allzuglatt in die Gestalt von Anerkennungen. Der Ruhm hatte in einem Leben des Robotts etwas Posthumes, so, als stände ein Begrabener von den Toten auf und dürfte sich mit tränenverschleierten Augen hienieden umsehen, wo er sich einst auf seine Kosten ein Orchester mieten oder durch einen Gönner mieten lassen mußte, wo er zweimal freundschaftlich in der Fremde gesammelte tausend Gulden zum Druck eines Werks entgegengenommen hatte, wo es an Geld für Abschriften fehlte.

Martern haben sich ihre kühle Klamm durch den Humus seiner zweiten Wirklichkeit gegraben. Darin wandelte er gegen das verborgen brausende Meer hinab. Wie eine Münchener Beobachterin spürte, »lag trotz seiner guten Laune ein Hauch Trauer über all dem, was er sagte«. Die Feinde fraßen an ihm wie ein »langsames, aber desto sichereres Krebsleiden«. Die Philharmoniker lachten ihn in den Proben laut an, erfanden Spitznamen für seine Musiken. Er vergaß wohl einmal, das Zeichen zum Anfang zu geben, nahm den Taktstock verkehrt in die Hand, warf ihn bei anderer Gelegenheit fort, um seinen Freund Moritz von Mayfeld zu umarmen. Dergleichen wurde aufgebauscht und umzischelt. Bei der Uraufführung der Dritten flohen alle bis auf zehn oder zwanzig, die Musiker zuerst. Bei der Vorprobe der nächsten Symphonie verwarfen die Philharmoniker das meiste als verrückt. »Alles ist zu spät. Fleißig Schulden machen, und am Ende im Schuldenarreste die Früchte meines Fleißes genießen und die Torheit meines Übersiedelns nach Wien ebendort besingen, kann mein endliches Los werden.«

Die drückendsten Demütigungen erfuhr er am Konservatorium. Lehrbuben und Diener entsetzten sich. Allen vorauf wetteiferte der Generalsekretär Zellner, ihn zu verbittern. Das Licht wurde ihm ausgedreht, Zellner stellte während Bruckners Harmonielehre im Zimmer nebenan Sirenen an, er riet ihm, seine Symphonien auf den Mist zu werfen und sich gescheiter mit Klavierauszügen etwas zu verdienen. Zellner sprach ihm sogar die Befähigung zum Organistentum ab. Daß Bruckner ungeschliffen und lächerlich wirkte, haßte man, weil man nicht glauben konnte, einer, der Großes in sich hatte, könne so geduckt worden sein. Sein Dämonion forderte von ihm, daß er als Zerstörer in seine Schöpfungen selbst eingriff. Er erlaubte sinnstörende Kürzungen, bat, flehte wiederholentlich darum. Die vollständige Fassung sei für spätere Zeiten und für Kenner. Seine besten Jünger rieben ihm falsche Farben, die den klaren Glanz seiner Gebilde trübten und dem Teufel der Mode dienten. Die veränderten Gebilde reizten und reizten auf, doch waren sie den einzelnen Wissern, die vielleicht schon heranwuchsen, nun nicht ganz kenntlich: sie schienen nun nicht so unabhängig, wie sie waren; durch die Stärkung waren sie geschwächt. Da wurde er auch mürbe genug, um mit der Verteilung einer Symphonie auf zwei Abende einverstanden zu sein.

Die Geschichte hat vor einen der Eingänge zu Bruckners Leben eine Reihe von Galgen aufgerichtet. Daran hat sie etliche Kritiker gehängt, Männer, die im übrigen nicht ohne Verdienst sind. Vornean erkennen wir Eduard Hanslick, Max Kalbeck, Gustav Dömpke.

Sie und andere hörten Bruckners Musik trotz ihres »Prälatenstils« als eine lemurische Spukhölle. So muß es gewesen sein, sonst hätte ihr Hohn nicht bisweilen in infernalischen Urhaß umschlagen können. Es bleibt ihnen ein Rätsel, »wie dieser sanfteste und friedfertigste aller Menschen im Moment des Komponierens zum Anarchisten wird«. Er komponiere »Hochverrat, Empörung und Tyrannenmord«. »Wie eine unförmliche, glühende Rauchsäule steigt seine Musik auf, bald diese, bald jene Gestalt annehmend.« Er sei unnatürlich, aufgeblasen, krankhaft und verderblich Halb Genie, halb Trottel, biete er antimusikalischen Blödsinn. Man glaube an seine Stegreifkomödien so wenig wie an den Sieg des Chaos über den Kosmos. Er taumle in haltlos zerfallenden, musivischen Formen. Das Credo seiner fMesse sei eine christliche Wolfsschlucht. Er komme aus den Nibelungen und gehe zum Teufel. Sein bengalisches Feuer hinterlasse keinen sonderlich feinen Geruch. Er komponiere wie ein Betrunkener. Der Modergeruch eines verwesungssüchtigen Kontrapunktes steige in die Nasen. Es dufte bei ihm nach himmlischen Rosen und stinke nach höllischem Schwefel. Man wendet sich von dem »häßlichen Gemisch von Roheit und Überfeinerung«, vom »nackten Unsinn«. Man erliegt dem »verwirrenden Dunkel, der müden Abspannung, der fieberhaften Überreizung« im »traumverwirrten Katzenjammerstil hinauf- und hinablamentierender Schusterflecken«. Man schmeckt aus den Tönen des anderthalbmal Närrischen Geselchtes mit Knödeln und Kraut. Noch dem Todkranken wirft man »mit fixen Ideen abwechselnde Gedankenflucht« vor, die »ewigen Verlegenheitstremolos, Rettungstonleitern, Angstpausen, Notsequenzen, Verzweiflungsfanfaren, das große Tschingdarassasa, Schnedderengteng und Bumbum«. Und wieder sehen dem »Eindruck der Trostlosigkeit« die Werke aus »wie Musikdämpfe«. In schmutzigen, faulen Ohren gespensterte ein travestierter Bruckner, den es nie gegeben hat und nie geben konnte: er wäre ein Widerspruch in sich selbst. Der Gegengeist, und sei er noch so spitzig, dringt nicht in den Geist.

Bruckner wußte sich nur selten und nur schwach zu wehren. »Ich bin kein Orgelpunkt-Puffer und gebe gar nichts drum. Contrap. ist nicht Genialität, sondern nur Mittel zum Zweck ... Geißle den traurigen Mann ... Bitte übrigens ja nicht Hanslick meinetwegen zu tadeln, denn sein Zorn ist schrecklich; er ist imstande, einen zu vernichten. Mit ihm ist nicht zu kämpfen. Nur bittend kann man an ihn herantreten. Ich selbst auch so nicht, da er sich stets verleugnen läßt.« Er hätte zudem seine zwei Adjunkten, die auf Kommando schreiben müßten.

So brachte er bei der letzten Audienz die Kinderbitte vor seinen Kaiser, er möge doch den Professor Hanslick zur Mäßigung bewegen. Franz Josef schätzte Bruckner mehr als die Menge der Fachleute, sein Orgelspiel war ihm in Ischl sogleich aufgefallen, er machte ihm Zuwendungen, bezahlte den Druck zweier Symphonien und war bereit, die Kosten von Kunstreisen zu übernehmen, »und sollten es Tausende sein«, aber den mephitischen Geschmack konnte er nicht von dem Gaumen nehmen, das unvorhandene Gerümpel schöner Torsen konnte er nicht abschleppen lassen, das Denken konnte er nicht ändern, sondern die Hälfte des Publikums stand, ohne die Hanslicke zu kennen, ein halb Jahrhundert auf ihrer Seite.

Bruckner wehrte sich manchmal auch falsch: durften Praktiker seine Orchesterpalette verschmieren, forderte er selbst zu Weglassungen für den Augenblick auf, und verbot er dafür grimmig Änderungen in den Stimmen oder im Ganzen, so beleidigte er hilfsbereite Freunde, wenn sie beim Kopieren seiner Handschriften nur ein einziges überflüssiges Versetzungszeichen fortgelassen hatten.

 

Alle Figuren der Wiener Jahrzehnte schrumpften angesichts der Mittengestalt Richard Wagners ein. Wiederum, wie früher Aßmayr, Dürrnberger, Zenetti, Sechter, hatte der Mann des Bekenntnisses seinen Wohnsitz nicht ein paar Gassen weiter, diesmal lebte er sogar in einem anderen Lande. Wie die anderen erwandert und erpilgert worden waren, mußte er erreist werden. Doch der Abwesende ist so erdrückend gegenwärtig, daß er natürliche Kameradschaften zerreißt.

Bruckner geriet zwischen die Fronten. In dem einen Heerlager frohlockte die Mannschaft der Studenten, führte etwa Hugo Wolf, Herbeck, Weinwurm, in dem andern heulten musikalische Klippschüler, Kritiker, Schulmeister, lange die Philharmoniker, führten Hanslick und Brahms. Weil die Gegner, bevor sie aufeinandertrafen, auf Bruckner trafen, durchstachen sie ihn mit ihrem Hasse.

Er wollte nichts als seine Symphonie – das war ein Kampf nach innen. Darum glich die äußerliche Befehdung so sehr einer körperlichen Mißhandlung. Er, der Hilfloseste, hatte nicht nur das zu leiden, was ihm als originalem Machthaber auf keinen Fall erspart geblieben wäre, sondern er wurde geschunden für hundert, gewiß aber für zwei, für Wagner und Bruckner.

Für die Treue zu Richard Wagner hatte er sich nie zu entscheiden brauchen, ihn band Verehrung tiefer als Treue. Verehrung ist Schicksal, das, selbst wenn es fragt, nicht zweifelt. War nun der Bayreuther Meister ihm in der Wesensanschauung entgegengesetzt, – es gab keinen lebenden Künstler auf Erden, zu dem er eher hätte sagen mögen: gleich zu gleich!

Von Wagner nicht zurückgestoßen zu sein, bedeutete ihm mehr, als von anderen mit Lob gehudelt zu werden. Wagner, der Eroberer, würde vielleicht auch seiner Arbeit das Leben auf Erden erobern. Es ging um das Leben des Werks, nicht um seinen Ruhm. Darum nannte er nach Wagners Tode die Orchesterleiter, die sich seiner annahmen, die ihm von dem Meister hinterlassenen Vormünder. Er hatte ihn, ehe er ihn selbst kennenlernte, von einem Stabe mutiger und mächtiger Männer umgeben gesehen. Begeistert führten sie aus, was er ihnen befahl. Es lag bei ihm, ihnen auch zu Bruckners Gunsten zu befehlen.

Bruckner hatte in der Ahnung den vollständigen Klangkomplex Wagner wie eine Astralbildung vor sich aufglimmen sehen, ehe er in den Kern zu der lebendigen Person des Lichtspenders vordrang. Er war 1865 zu einem Sängerbundesfest in München und erlebte dort dann die Uraufführung von »Tristan und Isolde«. In den zwischen diesen Feiern liegenden Wochen war er bei Wagner zu Gaste und hatte die fertigen Teile seiner Erstlingssymphonie mitgebracht, welche er indessen nur Hans von Bülow lesen ließ zu dessen Staunen und Erschrecken. Sie dem zu zeigen, den er meinte, überwand er sich nicht, wie er sich in seiner Gegenwart nicht einmal setzte. Trotzdem war Wagner ihm gewonnen: drei Jahre später durfte er die in Korrekturbogen gern überlassene Szene Hans Sachsens auf der Festwiese der Meistersinger von seinem Linzer Chor sämtlichen Aufführungen des Dramas voraussingen lassen.

Wieder fünf Jahre später brach er von einer Marienbader Kur entschlossen nach Bayreuth auf. um die Annahme der Widmung seiner Symphonien Nr. 2 oder Nr. 3 zu erbitten.

Das Wagnis und das Glück, mit dem es ausging, drehte sein Gemüt in Wirbeln. Diesmal unterdrückte er nicht, was er sich vorgenommen hatte. Wagner war durch den Bau des Festspielhauses überlastet und hatte seine »Nibelungen« beiseite legen müssen: Bruckner blieb bei seinem inständigen Verlangen, die Symphonien müßten angesehen, die Annahme der Zueignung erwogen werden. Ein flüchtiger Einblick werde genug kundtun. Wagner nahm die Partituren, die Zweite fesselte ihn sofort, doch schien sie ihm, nach einem Berichte Bruckners, zu zahm zu sein. Die Dritte ließ ihn nicht los; er erbat sie zu genauerer Durchsicht bis auf den Nachmittag. Es trieb Bruckner erwartungsbang durch die Stadt, Schauer der Überlegung, daß hier eine Idee Wagners Körper werde, hielten ihn dann beim Neubau des Theaters fest, obendrein beschmutzte er sich unter den Maurern, und zuletzt mußte er sich sputen, um rechtzeitig in Wahnfried zu erscheinen. Wagners Auge habe geleuchtet, anfangs habe er gar nichts gesagt, nur um den Hals sei er ihm gefallen und habe ihn ein übers andere Mal abgeküßt. Er habe natürlich gleich weinen müssen, und das sei auch nicht besser geworden, als Wagner endlich seine ungemein große Freude und die Annahme der Widmung erklärte. Zweieinhalb Stunden sei er zurückbehalten worden, habe den Garten und die Grabstätte Wagners gesehen. Wagner aber machte die Feierlichkeit fröhlich durch ein Fäßchen Weihenstephanbier. Bruckner jammerte, er komme doch eben aus Marienbad, aber er glaubte der Versicherung des Gastgebers, daß dieser Trunk gesund mache, und unterwarf sich seiner Autorität, bis er nächsten Morgens nicht mehr auseinanderhielt, welche Symphonie Wagner gewählt hatte. Der Zettel, auf dem er danach fragte und auf dem die Antwort zurückkam, ist oft faksimiliert worden. Er lautet: »Symphonie in dmoll, wo die Trompete das Thema beginnt. A. Bruckner – Ja! Ja! Herzlichen Gruß! Richard Wagner.« Das Wort »die Trompete« gebrauchte dann Wagner oft wie einen Rufnamen Bruckners. Bei einem Besuche in Wien ging er am Bahnhof schnell auf ihn zu und stellte ihn den anderen Wartenden als seinen Mann vor. In den Parsifaltagen kam Bruckner an vielen Morgen in das Haus Wahnfried, und im Freundeskreise äußerte Wagner, er kenne nur einen, der an Beethoven heranreiche – Bruckner.

Über den Abschied für immer schrieb Bruckner an Hans von Wolzogen: »Anno 1882 sagte mir der damals schon leidende Meister, indem er mich bei der Hand hielt: Verlassen Sie sich, ich selbst werde die Symphonie und alle Ihre Werke aufführen. Ich sagte: Oh, Meister.« Darauf überwältigte es ihn so haltlos, daß Wagner ihn besänftigen mußte und sein letztes Wort an ihn sprach: »Nur ruhig – Bruckner – Gute Nacht!«

Vor fast einem Vierteljahrhundert hatte er den Meister bei der Generalprobe eines Konzertes mit einem Klaviervirtuosen zum ersten Male von ferne gesehen, jetzt blieb ihm übrig, ebenso stumm bei Wallfahrten an sein Grab zu ihm hinüberzusehen.

Möglich, daß seine Hoffnung auf Wagner zuweilen einer Fata Morgana nachgeeilt war. So viel bleibt bestehen, daß kein anderer Zeitgenosse den Wuchs Bruckners so anstrengungslos riesenhaft sah wie Wagner, kannte er auch nur zwei Symphonien.

Die Verehrung des »Hehren, Unsterblichen, Unerreichbaren« war in Bruckner prädestiniert, und so warf sich beispielsweise das Gralsmotiv als unbewußte Huldigung nicht erst im Christus factus est von 1884 und im Virga Jesse von 1885, sondern schon im Tantum ergo in Asdur von 1846 aus. So mußte er den Abgott noch im freundschaftlichen Gespräch durch Handkuß und Sinken in die Knie aus der alltäglichen Nähe entfernen, was natürlich abgewehrt wurde. Er hat Wagners Musik nie anders als aus seiner eigenen Wesensmitte gehört. Darum können wir nicht ermessen, was er dabei empfand, als nach einer Aufführung seiner Siebenten (1886) Wagners Büste im Festsaal aufgestellt und als ihr sein Lorbeerkranz um den Hals gelegt wurde. Wir können nicht ermessen, welche Kommunion in ihm gefeiert wurde, während im Münchener Hoftheater, als das Publikum sich entfernt hatte und Dunkelheit eingetreten war, dreimal der Abgesang aus dem Adagio dieser Symphonie mit seinen trauernden Hörnern und Tuben gespielt wurde.

Daß Wagners tönende Gedanken an dramatische Personen gebunden waren, störte Bruckner nicht, weil sein Inneres, in dem er diese Gedanken versammelte, von Theaterpersonen nicht bevölkert war. Die schillernden Tonströme ergossen sich durch seinen Raum wie eine absolute Musik. Ihm war das Drama verborgen, in dem es hieß: »Verging wie Hauch der Götter Geschlecht, laß ohne Walter die Welt ich zurück: meines heiligsten Wissens Hort weis ich der Welt nun zu.« Der Hort war Seligkeit durch irdische Liebe. Dieses Drama breitete sich in ihm aus als Schöpfungsmythe mit vulkanischen Blitzen, neptunischen Katastrophen. Die Götter vergingen ihm nicht wie Hauch, die Welt blieb ihm keinen Augenblick ohne Walter, die Liebe verließ ihre schöne Schwüle und wurde Sehnsucht des Eros. Der Weltbrand Muspilli wurde ein christlich glorioser Weltbrand. Bedenkt man die gelegentliche Frage Bruckners, warum Brünnhilde verbrannt würde, so setzt ihn die Annahme nicht herab, er habe sich bei Wagners Texten mit einem Wundergepränge von Rittern und Reisigen, von Helden und Kämpfern, silberner Rüstung, Sagenschwan und Taube des Heiligen Geistes begnügt. Er war wohl vom Vorspiel an in einem nur musikalischen Venusberg und Monsalvatsch. Das Land, unnahbar unsern Schritten, bereiste man nicht mit Ochsenkarren und nicht mit Ikarusflügeln.

Er nahm, und auch das war bei ihm Ehrfurcht, Wagner das Denken in einer Welt des Willens und der Vorstellung weg. Die Partitur des »Tristan« war ihm ein Buch der Heiligen Schrift, die Tristandichtung hätte ihm das Buch vielleicht säkularisiert – er sah sie nicht.

Die musikalische Arbeit empfing von den Vorgängen auf der Bühne her schärfere Einkerbungen, als sie in der älteren symphonischen Gliederung durch Kadenzen abgeschnitten wurden. Bruckner vertiefte die Einschnitte noch. So wirkte er geheimnisvoll auf Wagner ein, wie dieser geheimnisvoll auf ihn eingewirkt hatte.

Unter den mit ihm tätigen Musikern Wiens stand er Herbeck am nächsten. Er nannte ihn, der mit gleichmäßigem Nachdruck für ihn sorgte, seinen zweiten Vater, obgleich Herbeck sieben Jahre später als er geboren war. Der Sohn eines Schneiders brachte es als Hofkapellmeister zum Ritter Johann von Herbeck. In Wien geboren, bei den Zisterziensern in Neukreuz erzogen, im Gymnasium zu Wien und gleichzeitig auf der Universität autodidaktischer Musikliebhaber, 1848 Legionär und Rechtsstudent, wurde er als Einundzwanzigjähriger Chorregent an der Piaristenkirche, als Fünfundzwanzigjähriger Chormeister des Wiener Männergesangvereins und bald darauf Dirigent der Gesellschaftskonzerte des von ihm gegründeten Singvereins, als Siebenundzwanzigjähriger Konservatoriumsprofessor, als Fünfunddreißigjähriger erster Hofkapellmeister, dann Direktor der Hofoper und starb, nachdem er sich aus der Intrigenluft des Theaters wieder zur Gesellschaft der Musikfreunde zurückgezogen hatte, mit sechsundvierzig Jahren an einer Lungenentzündung.

Dieses Presto seines Lebenslaufs wurde durch seine Begeisterungsfähigkeit für das neuartig Gediegene ausgewogen. Er war der eigentliche Entdecker des Schuberts der großen Formen für Wien, wie er dessen Unvollendete Symphonie und den »Gesang der Geister über den Wassern« überhaupt wieder aufgefunden hat. Dazu war er der Entdecker der Verwandtschaft Bruckners mit Schubert. Sie ist innerlich weit mächtiger als die zu Wagner. Überzeugend beschreibt Robert Haas die gemeinsamen Merkmale: »Die Sonatenform wird in Gruppen geschichtet, wobei die Gliederung in Klangflächen stark hervortritt, die Exposition verfügt über drei einander gegenübergestellte große Komplexe, ein ›Dreitonartensystem‹, die Tonart des Seitensatzes wird (wie schon bei Beethoven) von der klassischen Norm befreit, die Gliedertrennung geschieht gelegentlich durch völligen Stillstand, einen Halteton oder eine Generalpause (hSymphonie), die Durchführung wird neu gewertet und in Exposition sowie Reprise eingebaut, die Themengestaltung vollzieht sich aus dem Klang heraus und ist durch das instrumentale Kolorit gestützt, in der terrassenförmigen Harmonik und Motivik atmet eine veränderte Formgesinnung, ... die innere Geschlossenheit ergibt sich durch die einheitliche gedankliche Durchdringung aller Gruppen, insbesondere auch durch die Einbeziehung der langsamen Einleitung vor dem ersten Allegro.«

Als Herbeck, vom Intendanten Fürsten Constantin Hohenlohe-Schillingsfürst an den ersten Platz des österreichischen Musiklebens gestellt, nach Schuberts CdurMesse, einer eigenen, einer von Beethoven und Cherubini Bruckners dmollMesse ansetzte, bekannte Bruckner, er »fürchte sich so«. Aber er hatte sich dem zweiten Vater schon längst ergeben müssen. In Nürnberg beim Sängerfest war Herbeck dem Linzer Sängerdirigenten Bruckner um den Hals gefallen. Der Sohn freilich durfte nicht eine ähnliche, allzu kindliche Liebesbezeigung wagen: als er in Wien auf offener Straße nach Herbecks Hand haschte, um sie zu küssen, wurde es streng abgelehnt. Ein wenig Bangen sorgte immer dafür, daß die Verehrung nicht zu weich wurde. Sollte Herbeck wieder einmal Kürzungen und Veränderungen fordern, wie so oft? Dann galt es aufzupassen und zäh zu fechten.

Sicher war ja, daß Herbeck es gut meinte, woran immer er seinen energischen Kopf setzte. Mochte er ihn nur auslachen, wenn er sich abgrämte, daß ein Witzblatt ihn gepritscht hatte. Er war doch der gute Unhold gewesen, der ihn aus Linz, von wo aus er schließlich nicht in die ewige Seligkeit eingehen wollte, erlöst hatte. Und er hatte ihn dabei behandelt, wie es ihm am liebsten war: er hatte ihn nach St. Florian mitgenommen und sich dort vorspielen lassen, er hatte ihn auch vor seiner Berufung dem Fürsten Hohenlohe allein vorspielen lassen: in der Tastensprache konnte man ihm am besten seine Kenntnisse abhorchen. Herbeck bohrte ihm die Mauern an, die ihn nicht durchlassen wollten, er schützte ihn in der elenden Mädchenverschwörung von St. Anna. Er war hochherzig und glühend und kargte nicht mit seinem Lobe. In den Proben der zweiten Symphonie behauptete er, der Saal würde vor Applaus demoliert werden, wenn Brahms das geschrieben hätte. Und: Bruckner führe eine verschwenderische Küche, mancher musikalische Lazarus könne sich da sattessen. Seine höchste Anerkennung war: das könnte Schubert geschrieben haben. Darum schwor ihm Bruckner zu, er stände unter seiner Fahne voran, und verteidigte ihn, ungeschickt genug, vor dem wortüberlegenen Richard Wagner.

Aber das Feste blieb fest: auf die zuredende Frage Herbecks, ob er sich mit seiner fMesse nicht geirrt haben könne wie Wagner mit dem »Tristan«, antwortete er: Nein. Später wurde er von dem Zweifler wie in Nürnberg umhalst. Das Feste blieb fest: beim Aveläuten wurde dreimal der Hut gelüftet, wenn man auch vor dem Großstädter verlegen wurde und ihm, um die Sicht auf die Zukunft offen zu halten, bei den Verhandlungen auf der Veranda des »Krebses« in Linz gesagt hatte, es sei in der Herbsteskälte so warm.

Herbecks Tod zerbrach ihn. Er mußte die von dem Helfer eben einstudierte Symphonie selbst dirigieren, die ungeheure Niederlage wurde in ihm durch nichts mehr ausgewetzt.

Herbecks Nachfolger, Josef Hellmesberger, bis dahin artistischer Direktor der Gesellschaft der Musikfreunde und damit des Konservatoriums, war bald günstig und bald hochfahrend. Bruckner hatte nun keinen Halt mehr an überlegenen Menschen. Am Konservatorium hatte er anfangs einen nahen Kollegen, den Klavierprofessor Schenner, der mit ihm zur Mahlzeit ging, alle seine Arbeiten ansah und sein Duzbruder wurde. Aus Schenners Klasse kam vielleicht Hugo Wolf für ein kurzes in seinen Unterricht. Es ist genugtuend, daß wenigstens dieser ebenbürtig strebende Jüngling (geb. 1860), der an den Schubert der Lieder anschloß wie Bruckner an den Schubert der Symphonien, nicht abseits blieb. Zwar hatte sich ihm das Feuer der Wahrheit wie das der Ehrgier vom Rauche zu reinigen, so daß er einige Male nicht verstand, wo andere vorgaben zu verstehen, und einige Zeit eifersüchtig war, wo andere geiferten. Nun, was das Verständnis anbetraf, so hatte Bruckner selbst von einem seiner Sätze geschrieben, ihn beim ersten Male aufzunehmen sei eine Unmöglichkeit, und was die Eifersucht anging, so meinte er just über Hugo Wolf, der komponiere den ganzen Tag, während er sich mit Stundengeben plagen müsse. Aber das dritte Feuer, das der hymnischen Leidenschaft, brannte in Wolf ohne Qualm. Wie das Weinen von vielen Unsterblichen, nicht nur von Herder, Jean Paul und Bruckner selbst, geübt wurde, fiel er dem Meister nach der dmollSymphonie heftig weinend um den Hals. Nach dem Adagio der Achten sprang er begeistert auf und rief, erst in tausend Jahren werde man diese Herrlichkeit verstehen. Er erließ inmitten der Feindschaft ringsum einen Aufruf, der dringend für Bruckner warb. Er besuchte ihn als Zwanziger häufig, legte ihm seine Schöpfungen vor, und sie freuten sich miteinander. Er stellte ihn hoch über alles, was in Wien Noten schrieb.

Brahms? – »Mein Herz ist kummervoll!!!«, heißt es in einem Briefe Bruckners über ihn. Es scheint, als habe Brahms gegen seinen großen Rivalen unvornehm gewühlt. Er hoffte, der »Schwindel« dieser »symphonischen Riesenschlangen« werde in einigen Jahren vergessen sein. Als zeitweiliger Präsident der Gesellschaft der Musikfreunde ließ er sich von seinem Konservatoriumsuntergebenen begrüßen: »Ergebenster Diener, Herr Präsident!« Des verhaltenen Hohnes aber war auch der Unterdrückte mächtig: die Sachen von Brahms seien zur Beruhigung gut, zum Aufrütteln andere. Auf das Geplänkel Brahms', er könne sich nicht in die Richtung der Brucknerschen Kompositionen finden, erwiderte der Angegriffene zuvorkommend, aber das mache doch gar nichts, ihm ginge es mit den Arbeiten von Brahms ebenso. Einmal wurde von Anhängern der beiden versucht, sie im Wirtshaus miteinander auszusöhnen. Die beiden Hofstaaten setzten sich an verschiedene Tische und verkapselten sich gesprächsweise, bis man wenigstens die Übereinstimmung des Geschmacks an der gleichen Speise feststellte. Brahms fand, die jungen Leute im Konservatorium würden von Bruckner gründlich und unheilbar ruiniert, aber vor Kampfesbeginn war er ihm der größte lebende Symphoniker gewesen, und als für beide die ewige Urfehde eintreten sollte, bereute er. Ähnlich verhielt sich der Brahmsprophet Hans von Bülow. Solange er leben werde, werde er für seinen Ruin arbeiten, schrieb Bruckner Anno 1887.

Als der Abend eindunkelte, da entsannen sie sich seiner, Brahms und Bülow, und empfahlen ihn. Und Liszt, der nicht böse, aber flüchtig, bei rascher Abreise die ihm zugeeignete zweite Symphonie im Hotel vergessen hatte, wofür ihm die Widmung entzogen wurde, wollte dicht vor seinem Tode bei der Tonkünstlerversammlung in Sondershausen mit seinem »Christus« zugunsten Bruckners zurücktreten, er wollte den Kameraden im Vordergrund des Festes wissen.

Hinter den hier Genannten fing die Einsamkeit an zwischen »falschen, schwachen Freunden« und die Wüste mit Schakalen und Sandvipern.

In den Ferien überhüllte Bruckner alljährlich die grüne Einsamkeit in Steyr, St. Florian oder Vöcklabruck, wohin seine Schwester Sali an den einstigen Kameraden Hueber verheiratet war. In Vöcklabruck verbrachte er auch seinen aller Welt unbekannten sechzigsten Geburtstag, hochgelobt von der dortigen Bürgerkapelle, begrüßt von einer einstigen Schülerin aus Windhaag. Und die Einsamkeit der Orgeln im Schatten schlug über ihm zusammen.

Die Wüste leckte bis in seine Wohnung hinein. Sie lag in der Heßgasse. Nach Aufenthalten in der Währinger Straße, dann am Opernring hatte sie ihm die Güte eines Gönners, des Ritters von Oelzelt, gegen einen winzigen Zins 1877 zur Verfügung gestellt. Im Vorraum hingen zahlreiche Kranzleichen, stand die Badewanne. Im blauen Zimmer verdeckte eine Sintflut von Notenblättern die dürftigen Möbel; die Hauptstücke waren ein Harmonium, der klapprig mit zitternden Händen gespielte Flügel, der mit Kreidestrichen und Tintenflecken verunzierte Unterrichts- und Arbeitstisch. Einem Schüler erschien der Raum beim wehenden Lichte zweier Kerzen wie die »Stätte eines Femgerichts«. Das Schlafzimmer enthielt Bilder seiner musikalischen Abgötter und Heiligen, ein Abguß seiner eigenen Büste von Tilgner stand am Boden, eine von seinen Studenten geschenkte messingne Bettstelle war das Prunkstück. Durch diese Räume huschte er in schlappenden Gewändern, nur wenn Besuch kam, vertauschte er sie mit noch immer ausgebuchteten und legte Wert darauf, durch Anbieten von Zigarren und Prisen den aufmerksamen Wirt zu machen. Zeitig am Morgen kam seit dem frühen, Bruckner sehr schmerzenden Tode seiner Schwester Nani (1870) die Arbeiterfrau Katharina Kachelmayr und stellte ihm den reichlichen, dünnen Kaffee warm. Nach dem Aufräumen und Flicken ging sie. Sie versorgte ihn länger als ein Vierteljahrhundert, bis er nicht mehr auf der Welt war, und starb Jahrzehnte später im Irrenhause. Oft erzählten die beiden sich züchtig und behaglich etwas Heimeliges, oft fuhren sie sich gereizt an, so daß Kathi davonlief, nicht wiederkam und von Bruckner geholt werden mußte. In der bescheidenen Oase der Wüste wuchs neben der lauen Zisterne stachliges Gras.

Bruckner hatte seine wirkliche Wohnung im Tonhimmel, auf Erden nur ein Gehäuse für seinen Leib, ein Lager für sein Haupt. Die Schüler mußten auf die Minute pünktlich erscheinen, denn der Unterricht war erzwungene Abschweifung, und er selbst schweifte manchmal ins Gebet, wenn die Kirchtürme läuteten, oder schlüpfte am Klavier, an einem Notizblatt in sein wahres Eigentum. Sie liebten und achteten ihn so, wie er war.

Die Glut, die er komponierend morgens entfachte, auch nachts beim Erwachen, mußte abends gedämpft werden. Der Tag streute viel Müll in das Brennen, aber das gefährliche Lodern konnte noch immer den Schürer verzehren. Wie die vielfachen Stundenplanaufzeichnungen kundtun, war der schlaflose Lebensteil Bruckners in Fetzen zerrissen, wie andere Aufzeichnungen beweisen, waren die Fetzen von Nadelstichen und Dolchstößen nochmals durchlöchert. Er nähte die Flicken wie ein armer Ausgedinger zusammen und heilte die Wunden mit der Kunst eines hinterweltlichen Dorfbaders. So muten uns seine geselligen Stunden in den Wirtshäusern an. Nicht, als ob er den meisten seiner Lehrlinge und Gesellen nicht von Herzen zugetan gewesen wäre, unter ihnen befanden sich Felix Mottl, Franz und Josef Schalk, Ferdinand Löwe, Friedrich Klose, Max von Oberleithner, Ernst Decsey, August Stradal, sein autorisierter Biograph August Göllerich und viele andere Träger bekannter Namen. Seine ziemlich zahlreichen Duzfreundschaften waren echt, aber sie zeichneten auch naturwarme Männer außerhalb seines täglichen Kreises aus, wie den Dirigenten der Liedertafel in Vöcklabruck oder den großen volkstümlichen Komponisten Johann Strauß, der Bruckner für seine Kunst gedankt hatte.

In der Kneipe aber wollte er weder sich noch die anderen als Künstler antreffen. Dort wurde die Erregung mit großen Stücken Fleisch und vielem Getränk beschwert. Dieser Ballast zog ihn aus den Hohen in die Bürgerlichkeit oder noch lieber in das irgendwie Abenteuerliche. In den achtziger Jahren zechte er zeitweilig mit dem ihm aus Steyr bekannten Großkaufmann Karl Almroth – gottlob besaß er eine Equipage! – und dessen Freunden, Herzog Max Emanuel von Bayern, einem Bruder der Kaiserin Elisabeth, und mit einem Fürsten Fürstenberg.

Seit Anfang der achtziger Jahre nahm er langhin auch an einem Ärztestammtisch teil. Durch den Anatomen Dr. Karl Rabl, den er in Wels kennengelernt und um dessen Schwester er, wie stets aussichtslos, geworben hatte, zugebracht, saß er als gerngesehener Gast bei Riedhof in der Josefsstadt in einer Runde von medizinischen Universitätsdozenten und sonstigen in- und ausländischen Kapazitäten der Heilkunde. Von Musik war nicht viel die Rede, um so mehr vom Fach. Bruckner beteiligte sich mit lebhafter Wißbegier, die das Ergründbare wirklich erfahren wollte. Es war ihm ein Abenteuer, den Körper von innen sehen zu lernen in seinen organischen Funktionen und Störungen. Er wurde nicht müde, nach dem Verlauf der besprochenen Krankheitsfälle zu fragen, und waren sie übel ausgegangen, dann trauerte er so tief mit den Trauernden, daß man, um ihn zu schonen, abließ, ihn zu unterrichten. Wußte jemand etwas aus anderen Lehrgebieten, etwa aus der Elektrotechnik, so suchte er auch darin bis ans Ende vorzustoßen. Saß doch für sein Empfinden die Autorität der Wissenschaft ihm gegenüber und neben ihm: davor wurde er andächtig und schüchtern. Das hinderte ihn nicht, spornte ihn möglicherweise gar, zuweilen zehn und dreizehn Seidel Pilsner Bier, auch Wein, zu sich zu nehmen, obgleich er erst gegen zehn Uhr abends sich einzufinden pflegte. Bei der Abrechnung erschrak er klagend über die »helle Schande«, aber als ein um seine Gesundheit Besorgter in der Runde sich hinter den Arzt seines Vertrauens gesteckt und dieser vor Überschreitung des zehnten Seidels gewarnt hatte, jammerte er ebenfalls. Der Herzschaden wartete – für jetzt war dringend, daß er sich in einen diesseitigen Mann umzauberte, der den jenseitigen stundenweise ablöste.

Gab er sich bei Riedhof demütig, so warf er sich unter seinen Scholaren bei Gause (manchmal im »Roten Igel« und anderen Wirtschaften) zum Tyrannen auf. Sie hatten den Feierabend im Dienste zu verbringen, sie hatten zu reden, was dem Zunftherrn Vergnügen machte. Unpünktlichkeit wurde getadelt, zu früher Aufbruch verübelt. Der Wunsch, die Oper, ein Konzert, ein Theater zu besuchen, entschuldigte nicht. In der Wärme schwitzend, mit dem bunten Tuch Kühle wedelnd, zuweilen hemdärmelig und aufgestützt, saß der meist urfreundliche Moloch im Dunste und befahl Zufuhr von allem und jedem. Damit das Pilsener frisch und schaumig vor ihn käme, war eine Kette rufender und laufender Bediensteter in Bewegung, zumal wenn die Jünger es ebenso geschenkt verlangten wie der Meister. Klose behauptet, daß zuweilen das Fleisch, oberflächlich mit Messer und Gabel bearbeitet, in die Finger genommen worden sei, bevor es in den Mund gelangte. Vor den fettbetunkten Händen seien in dem breiten, schwatzhaften, humorigen Behagen sogar die Kleider der Nachbarn nicht sicher gewesen. Gesprächsgegenstände, die Bruckner nicht fesselten, waren abgelehnt; Freunde und Neulinge nach mißfälligem oder mißverstandenem Betragen desgleichen. Trotz der Furcht vor Verstimmungen und Ausbrüchen harrten alle, fasziniert durch den Grundzug gütereinen Hochsinns, aus, wofern sie nicht wegen der Umständlichkeit des Sechterianers aus der Lehre entwichen waren. Ein einziger Schüler hat den Unterricht bei Bruckner bis zu Ende genossen.

Durch das Medium der Musik gesehen, wirken die Trinksitzungen wie Flucht aus Steinschlag und Lawinensturz.

Bruckner war gleich in eine Unterwelt geflohen. Da fand sich sogar eine Art Mephistopheles ein. War schon der Umgang mit einem Spediteur und seinem Anhang beschämend für ihn, weil der Millionenreichtum des Mannes seine Bewunderung angeködert hatte, so lieferte er sich mit seinem Anfall an den »Engländer« einem baren Gauner und Schwindler aus. Woher der »heiser krähende« Glatzkopf mit den Wollhaarresten stammte, war ungewiß, jedenfalls nicht aus England, aber er präsentierte dem arglosen Bruckner, der auf die Finte hereinfiel, von fern den Ehrendoktor von Cambridge. Der süße Jubel brach in dem ergrauenden Kinde schon los, wenn er das Wort Ehrendoktor nur hörte. Er gab dem Engländer also sein gedrucktes und ungedrucktes Gesamtwerk zur »Prüfung« in Cambridge und natürlich den Vorschuß für Gebühren und Versicherungen. Nach einer Weile bedeutete der mephistophelische Freund den ihm mit seiner Hoffnung Verfallenen, die Eingaben hätten leider keinen Erfolg gehabt, die – nicht abgegangenen – Notenpakete seien zurückgekommen, und es kostete den Schröpfkopf keine Mühe, zu einem neuen, weit kostspieligeren Versuch in Amerika zu reizen. Auch aus »Amerika« in Wien kam zum Glück das gefährdete Gesamtwerk zurück. Nun gelang es den Schülern, die vorher schroff abgeschüttelt worden waren, ihm den »Engländer« zu verleiden. Der Doktorand hatte aus seinen Vorräten und mit neuen Bemühungen bei den heimischen Behörden ein dickes Bündel Akten zu Ausweis und Empfehlung zusammengebracht. –

Ach, die Gasthäuser lagen weit vor den Toren des Innenreichs. In dieses Reich drang kein Schall von daher.

 

Wir hören seine irdische Stimme nicht mehr und müßten es doch, wenn wir in den zahllosen anekdotischen Worten, die ihm nachgesprochen werden, unterscheiden wollten, was darin zugefügt und was hinweggetan wurde. Auf die pralle, saftige Persönlichkeit bezogen, welche Bruckners äußeres Schicksal erlebt, nur freilich seine Musiken nicht geschrieben hat, passen sie fast alle. In ihnen steckt für den Hörer und Nacherzähler die Lockung, an einer Volksbuchfigur weiterzudichten. Was dichtet daran? Freude, schmunzelnde Nachsicht, vergnügliche Teilnahme, auch der verhohlene und zugleich zudringliche Stolz, leiblich oder doch wenigstens durch einen Mittelsmann dabeigewesen zu sein, lassen ihren Atem nicht ausgehen, erhalten sie frisch und fruchtbar.

Und es ist natürlich nicht wenig, daß jenen Volksbuchgestalten, die ihre Beliebtheit ihrer urwüchsigen oder schlagfertigen Redeweise verdanken, in Bruckner eine weitere gesellt wurde. Zumeist verbergen sich hinter den Helden der Anekdote, den Mundgerechten, geschichtliche Erscheinungen, die nach ihrer Wirklichkeit über dem oberflächlichen Gehaben zu schwierig waren, um allgemein erfaßt zu werden. So darf man sagen: die Natur hat bei Bruckner die rustikale Wärme, die dörferische Geradheit der oberösterreichischen Mundart vor seine mundartlose Sprache gestellt, vor die Musik. Bewegte er sich aber, so wie er war, durch sein Reich, so regierte er es nie durch sein Wort, und es hörte darin nichts auf sein Wort. Er hätte das nie wollen können, denn das Reich gehorchte vor dem Wort. Es verstand den Gedanken, den Blick hinter geschlossenem Augenlid.

Erkennt man deutlich, was in seinem Wort verstummt, so fühlt man es da, wo es gesichert authentisch ist. durch seine Unbehilflichkeit eine ergreifende Bedeutung gewinnen. Es steht nicht für sich selbst ein, sondern ist abkürzendes Zeichen für eine umgebende des Ausdrucks nicht mächtige Wallung des Gefühls. Wem die Silben seines Namens zum Namenszeichen seiner Musik geworden sind, dem beleben sich Bruckners Briefe in ihrem Unbeholfenen, Formelhaften, Überschüttenden in Dank und Herzenserhebung. Beim Lesen wirken die Briefe, ausgenommen die wenigen Stellen einfacher Mitteilung und anschaulich gewordener Klage, unergiebig, sie schreiben nur andeutende Randglossen an den wechselnden Daseinskalender. Im Nachhall erst beginnen sie sich mit Wesen zu umkleiden, zu rufen, an ferne Türen zu pochen, zu jubeln, zu wimmern, sich zu verzücken. Sie verschließen sich eilig vor Geheimnissen der Trauer und noch öfter des Glücks, die doch nicht zu verraten wären. Sie sind hinter nüchternen Erkundigungen voll verzweiflungsnaher Lebensangst. Die Schrift der Briefe hat meist einen hurtig ziehenden, wiegenden Schwung, der manchmal gehemmt scheint, sich schief aufrichtet und zur Rückläufigkeit neigt. Nichts ist daran Lüge. Die ungelüfteten, töricht steifen Floskeln der Bewunderung und Ehrerbietung bestehen jenseits der Buchstabenbilder zu Recht. Oder sie bestanden einmal zu Recht. Immer nämlich ist Bruckner auf dem Sprunge, zu seinem Eigentlichen wegzueilen. Er wirft sich seinen Wohledlen, Hochwohlgeborenen, Hochehrwürdigen weder zu Füßen noch an den Hals. In den schönsten Augenblicken seiner Beziehung zu ihnen waren sie ihm tatsächlich so groß, wie er sie anredet. Die höchsten Punkte des Gefühls sind die währenden Ziele seiner Leidenschaft zu leben, in der Musik wie außerhalb ihrer. Wenn er so oft um Huld und Gnade fleht, überleuchtet seine Seele tatsächlich ein Sonnenglühen, ohne daß er sich unterwürfe und seinen Wert auslöschte. Die Bereitschaft zu huldigen ist edler als der Empfang einer Huld, und sie kann, als geschehene, selbsterfüllte Regung, nicht nachträglich enttäuscht werden. Wenn er schriftlich Handküsse austeilt, so jauchzt er im Gemüt wie ein liebe- und tanztrunkener junger Bauer, und handelt es sich dabei um seine Schöpfung, wie ein dionysisch berauschter Riese, wie ein Sagengott, dessen Geschöpfe lange blind waren und denen nun die Schuppen von den Augen gefallen sind. So etwa ist zu lesen, und nicht als Prahlerei, was er nach seinem Orgelspiel in London August 1871 berichtet: »10 mal konzertiert; 6 mal in Alberthall, 4 mal im Krystallpalast. Riesigen Applaus, immer ohne Ende. Wiederholungen verlangt. Viele Complimente, Gratulationen, Einladungen. – – Deutschland, Berlin behalte ich für später, so auch Holland und Schweiz.« Dieses Selbstbewußtsein ruht auf anderem Grunde als das eines schalen Fingerfexes. In der Nachschrift des Briefes heißt es dann noch: »Gestern spielte ich vor 70 000 Menschen, u. mußte wiederholen, da das Comite mich bat; denn ich wollte nicht, ungeachtet allergrößten Applauses.« Ihn blenden nicht die Wörter für feiste Ziffern, indessen vertreten sie ihm Hyperbeln der Sehnsucht und der schon erreichten Seligkeit.

Seine schwärmerischen Worte waren wie seine schwärmerischen Handlungen. Er gab seiner Beglückung ja auch manchmal einen handgreiflicheren Ausdruck. Er schenkte einem Pauker, der eine von ihm nicht vermerkte, aber den Klang vorteilhaft ergänzende zusätzliche Pauke im Tedeum schlug, für einen unvergeßlichen Wirbel zwanzig Mark. Oder seine Freude über eine Gönnerschaft dauerte so lange und unverstellt an, daß sie sich ihm in das Gefühl einer materiellen Verpflichtung gegen den Gönner verwandelte: so schickte er einst dem Kritiker Theodor Helm eine Sendung seines Lieblingsweins Klosterneuburger Convent. Dem Dirigenten Hans Richter überreichte er einen Theresientaler mit der Bitte, er möge ein Krügel auf sein Wohl trinken. Es wurde für Richter ein Tag, an dem er geweint habe. Es war eine väterliche, ja patriarchalische Selbstverständlichkeit Bruckners, er merkte nicht, daß man dergleichen nicht tat. Und die Beschenkten hatten alle den Takt, die ungeschickten Gaben des Armen, des Überreichen nicht abzulehnen. Der sparsame Bruckner verlieh solchermaßen seine königlichen Orden, und er war wahrhaft verschwenderisch, weil er es bis zum nächsten Male vergessen hatte und nicht lernte, daß seinen plötzlichen Gunstbezeigungen aus dem Säckel wohl etwas Komisches anhaftete.

So sind seine pomphaften Briefanreden und Schlußbeteuerungen gleichfalls Verleihung von Auszeichnungen und Ehrenzeichen. Er greift hinein in seinen Reichtum und streut ihn hin. Er fühlte sich durch Förderung und geistige Wohltat von anderen nicht nur nicht erniedrigt, sondern beschenkte sich durch enthusiastische Anerkennung nochmals. Keine Erbitterung darüber, daß er Gönnertum nötig hatte, lauerte im Hintergrund, keine Verkniffenheit maskierte sich. Vielmehr: wenn er andere im Rang erhöhte, stellte er sich mit ihnen wie gleich und gleich. Allerdings, wäre seine Wortmünze ihm wörtlich heimgezahlt worden – er hätte seine Worte, aus fremdem Munde an ihn gerichtet, nicht verstanden. Sachlich jedoch nimmt er es an, gefürstet, zu seiner wirklichen Höhe erhöht zu werden. Arthur Nikisch darf ihm bei seiner Einstudierung der siebenten Symphonie von seinem herrlichen Meisterwerk schreiben, von der »in so unendlich reichem Maße verdienten öffentlichen Anerkennung «, von dem »gigantischen Werk« und der Gewißheit eines »grandiosen Erfolges«. Bruckner nimmt's an und erwidert später brüderlich: »Du warst mein erster Apostel, der in Deutschland in hochgenialer Kunst mit vollster Kraft und Würde mein bisher ungehörtes Werk verkündete. In Ewigkeit wird es Dir zum Ruhme gereichen, daß Du Dein großes, hohes Genie für mich Verkannten und Verlassenen leuchten ließest!« Als Verlassener und Verkannter geht er großherzig danken, aber nicht betteln. Noch manche außer Nikisch haben für ihn Botschaften ihrer Ehrfurcht: er scheut und verwirft sie nicht. Seine Anreden und Gegenanreden an Verstehende und Mitkämpfer sind ihm wie ein gebührendes Zeremoniell. Auf die Fassung kommt es nicht an, lediglich auf den Sinn. Blieb die Gesinnung der Hingabe einseitig – um so schlimmer für die Welt, nicht für ihn. Er hat die Menschen größer gesehen, als sie sind, so war sein sonnenhaftes Auge, niemals kleiner. Sie wurden an seiner Güte größer, als sie waren. Beethoven fuhr schon einen Kopisten auf dessen Selbstverteidigung hin wütend an, beschimpfte ihn als einen »dummen Kerl«, als »Lumpenkerl, der einem das Geld abstiehlt«, als »Schreibsudler«, den »man bei seinen eselhaften Ohren zieht« und der ihn belehre, »als wenn die Sau die Minerva belehren wollte«. Zu solchen Püffen ballte sich Bruckners Faust nicht. Sein Zorn war höchstens drollig aufgeregt und kam wieder, aber der Dampf verzog sich durchs nächste Fenster. Er schrie einmal seine Wirtschafterin an: Ich bin der Bruckner!, und diese erwiderte: Und ich bin die Kathi! Das war nur eine erhitzte Kameradschaftlichkeit. Aber die Gegner seines Geistes erniedrigte er nicht zu dem Geschmeiß, zu dem sie sich manchmal selbst erniedrigt hatten.

Für sein schwärmerischstes Glück jedoch und den äußersten Grad seiner Verehrung wurden seine Ausdrücke am leersten. Sie fassen nichts mehr, doch wollen sie sich nicht schämen und verwirren, stoßen etwas erregt Artikuliertes hervor, während sie sich bereits entschlossen umgekehrt haben, davongelaufen sind und untertauchen. Hoch! hoch! ruft Bruckner dann, als wäre er von Einstimmenden dicht umringt, und doch zuckt seine grüßende Hand völlig einsam empor. Wer wollte ihm das Unrecht tun, ein Ungefähr in sein Hoch! hineinzuhören! Sängerbünden und Liedertafeln bewahrt er das Andenken an ernste Bemühung. Feiern sie ihn, so sieht er sie bei seinen Dankzeilen gegenwärtig. Er wird hingerissen wie in eine wirkliche Gegenwart, etwa wie er damals hingerissen wurde, als er mit Betty von Mayfeld, der Frau des Linzer Kreiskommissars, seines Gönners, am Flügel vierhändig aus seinen Partituren gespielt hatte. Diese beste Dilettantin nach Klara Schumanns Urteil hatte ihn durch die Wiedergabe des Andantes der zweiten Symphonie so entzückt, daß er niederkniete, die Arme hob und ausrief: »Gnädige Frau, Sie sind eine Göttin!« Aus solchem Aufschwung seiner Seele strömen die Hochs seiner Briefe. Überall durchbrechen sie den Text und möchten in Wortzusammensetzungen wie Hochselber und Hochwürdigster die Wörter aufschmücken. Die Anrede Unvergleichlicher ist nicht selten; der superlativische Stil vernichtet beinahe den Zweck der Mitteilung. Sogar jüngeren Freunden, wie dem Linzer Kapellmeister Otto Kitzler, erspart er noch als Greis im letzten Lebensjahre die feierlichste Anrede nicht. Kitzler war ja sein Lehrer gewesen, das ist nie in den Hintergrund des Gedächtnisses zu schieben. Geistliche Freunde sind zuerst Priester und dann erst Vertraute Daß alles, was sich auf Gott bezieht, mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben wird, ist selbstverständlich. Wo er sein ganzes Herz ausschütten müßte und wo der Mund übergehen sollte, verschweigt er alles und schreibt sein groteskes: »etc. etc.« So schickt er aus seiner Trauer an Cosima Wagner die unmündigen Zeilen: »Tiefstens ergriffen bitte ich die Gnäd. mir gestatten zu wollen, Hochderselben u. der ganzen hochverehrten Familie mein tiefstes Beileid zu dem unaussprechlichen Verluste des phänomenalen Künstlers etc. etc. aussprechen zu dürfen! Er ruhe sanft!«

Die übertreibende sowohl wie die formelhafte Ausdrucksweise legt Abstände zwischen ihn und die Personen und Dinge seiner Verehrung. Was dem Herzen nahe ist. bleibt den Lippen eigentlich unerreichbar. Da seine Seele weiträumig war, hat sie von Bruder zu Bruder größere Distanzen zu ermessen als engere Seelen. Sein Unmittelbares ist die mittellose Äußerung. In diesem Verstände ist sein Alltag, wo er das Nichtalltägliche einbezieht, auch von der unio mystica erfüllt. Mit Witz und Schlagfertigkeit traf er das witzig Erreichbare, das Nächste. Auch die Klage um Jammer und Kummer des persönlichen Daseins bleibt unmittelbar vernehmlich, sie hatte im Werk keinen Raum. Alles übrige wurde an den Ort geleitet, wo es von Klang empfangen und in Klang verwandelt wurde.

Wo er sich Gebilden aus Sprache näherte, die andere geschaffen hatten, wurde schon immer gesungen und musiziert. Es war der Andachtsschatz der Kirche. Die Bekenntnisse und Bitten hallten in der fremden lateinischen Sprache, und was sie hallten, kam nicht aus dieser gegenwärtigen Welt her, sondern es wiederholte mit zeremoniellen Lautzeichen Mysterien. Nicht nur der Hauch lebender Lippen schwebte in sie ein, sondern auch der Atem aller Toten war darin aufgehoben. Pange lingua und requiem aeternam hatten die Heere der Entschwundenen schon gesungen. Die Mysterien waren keine Vorgänge in der Erinnerung, sondern ihre Zukunft war wie ihre Vergangenheit nie auszuschöpfen. Das Wort Wahrheit wäre für ihre Wortsymbole zu gering, weil es die Möglichkeit einer Prüfung oder das Verlangen danach enthielte. Erlaubt ist nur, sie zu wiederholen, und der Tiefsinn findet dabei nicht weiter als die Einfalt.

Bei Bruckner waren Tiefsinn und Einfalt nicht voneinander gespalten. Darum hörte sein Ohr in der beharrenden Dogmenverkündigung das Unanfechtbare, sie behielt ihm von der Jugend bis ins Alter die gleichen Dimensionen, nur die ihr dienende Kunst wuchs. Was dem dogmatischen Satze gegenüber Ergebung war, war Ergebung auch im musikalischen Satze, nämlich Auslieferung des Letzten, dort an die Glaubenssatzung, hier an das Kunstgesetz. In beiden nahm er die Überlieferung an, um weiter zu überliefern. Sie war nicht abschließbar, aber das Wort erfüllte schon den ganzen vorstellbaren Kreis des Heils, die Musik noch nicht. Darum schritt Bruckner in ihr nach beiden Richtungen aus, in das Gewesene, in das Kommende. Er gab die Messe der Kirche wieder und führte sie zugleich aus ihr hinaus. Ihre historischen Stadien wiederholten ihr Charakteristisches in ihm, doch schoben sie sich wie in geistiger Kontrapunktik zuweilen übereinander. Es war genau wie in den Symphonien. Gregorianischer Gesang, graue Kirchentonarten, romantische Melodie und Harmonik, klassische Gliederung und modern flutende Symphonik verschmolzen zu neuartigen Einheiten. So sind die Hauptmessen in manchem Betracht archaischer als die Haydns, Mozarts und gar Schuberts und Beethovens, sie neigen sich zu Jacobus Gallus, Lotti, Palestrina hinüber und sind doch jünger als die jüngsten an eben aufgehendem, farbenerweckendem Licht.

Die fmollMesse treibt über das Verstummen des gesprochenen Wortes in das verstummend geglaubte kirchliche Wort hin und über dieses hinaus, gegen das symphonische Wort zu. Die Idee der musikalischen Form brandet an gegen die Messe-Idee, doch nicht feindselig, sondern huldigend. Und eigentlich verstummt das Messe-Wort doppelt: einmal in den Glauben hinein als in eine unaussprechliche Tatsache, zweitens in die Vorstellungen des Glaubens hinein: Schöpfer, Himmel, Erde und die kosmisch mythischen Verbindungen zwischen ihnen. Das Kyrie ist wie immer dreigeteilt in Kyrie eleison, Christe eleison und nochmals Kyrie eleison; zudem erheben sich in jedem Teile drei Steigerungen. Das sind rein klangliche Gliederungen, von jeder Dialektik gereinigt. Der dritten riesigsten Steigerung folgt die versunkenste Klangstille. Das hellste und düsterste Motiv dieser Steigerung und diese Stille fügt Bruckner künftigen Symphonien ein, woraus nochmals hervorgeht, daß sie über die in der Wandlung vorgeschriebene Bitte um Erbarmen hinausgedacht sind.

Der Gloriateil lebt in Instrumenten und Stimmen von dem Gegensatze: Ehre in der Höhe und: Friede auf Erden – für großartige und tiefsinnige Vereinungen und Metamorphosen der Musik ein fast undurchschreitbarer Spielraum. Die Schlußfuge des Gloria, in deren polyphonen Bau hohe Meerwellen der Symphonie hereinbrechen wie auch das »Amen« verschlungen mit dem » in Gloria dei patris« fortbraust, zählt als »eine der allergrößten, an kontrapunktischer Kunst wohl die reichste von Bruckners Fugen« (Kurth). Musik, nur Musik, nicht Wort.

Das Credo ohnegleichen sodann sprengt die Gewölbe jedes Heiligtums. Der einige und allmächtige Gott war schon vorher in seiner Einheit und Macht dynamisch, tonartlich und vor allem motivisch im Klange gewesen, so daß ein Bekenntnis, das ihn ermessen wollte, mit der Stimme der Elemente in die Musik eingehen mußte. Die beiden Schlußteile nehmen das Erlebnis nach innen. Es bleibt übrig, mit den Engeln Sanktus zu singen, in verzauberter Sehnsucht mit dem Wunder-Benedictus zum Hosanna aufzuschweben und im Agnus den Kyriechor des Anfangs verklingen zu lassen: dona nobis pacem.

In der Partitur, die so viele Instrumente vorschreibt, fehlt die Orgel. Bruckner wünschte sie zwar und hat hie und da die Registrierung angegeben. Verzichtete er, wie vermutet wurde, auf die Orgel, um die Verbreitung der Messe zu fördern, so geht doch daraus hervor, daß er selbst sie in einem Dome ohne Kirchenluft hörte. Für ihn, den treuen Bewahrer seiner Konfession, war Gotteswort nicht Menschenwort.

Uns aber sollte das Beispiel der letzten unter den drei großen Messen daran erinnern, wie Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte, Hörner, Trompeten, Posaunen, Pauken, Violinen, Bratschen. Violoncelli, Kontrabässe ihn betörten, die lateinische Sprache zu vergessen und die ihre zu sprechen.

Das protestantische Wort ist Dichtung, es läßt die subjektive Beteiligung und Fortspinnung zu, das katholische Wort ist Glaube. Das erste läßt Arien einzelner Stimmen zu und sehnt sich danach, daß die Ritornellform den Andächtigen umrunde. Das zweite sammelt gern die Gesamtheit in Vokalfugen, verschlingt die Vielheit in unisonen Zügen, umfaßt allmählich das Ganze mit dem in der zyklischen Form der absoluten Instrumentalmusik waltenden Willen. Bach schöpfte den Glauben aus, die Wiener Großen freuten sich in ihm, Beethoven maß sich an ihm, und alle bestanden ihn nach ihrem Reichtum. Bruckner nahm ihr Dynamisches aus dem Glauben heraus und konzentrierte es in dem instrumentalen und vokalen Orchester, das ihn nun wie ein einziger vernunft- und leidenschaftsbegabter Körper äußerte. Dieser Körper, der sich aus dem Besitz der Jahrhunderte in weitem Umkreise nährte, besaß einen Geist, worin sich das Übersinnliche, aus seiner Höhe zu farbigem Abglanz gebrochen, spiegelte. Damit das geschehe, hatte der Komponist über der Komposition zu wachen und in ihre Strebungen hineinzulauschen: dann lauschte die Komposition in die Gottheit hinein. Die scheinbare Weltlichkeit brachte in Bruckners reife Kirchenmusik etwas Beängstigendes für ihre ersten Hörer. Der Bischof Rudigier war von der dmollMesse so ergriffen, daß er nicht beten konnte. Bei der Aufführung der fmollMesse durch die Wiener Hofkapelle warfen die Gendarmen beim Schall des Blechs prüfende Blicke auf die Strebepfeiler der Kirche; die grundsätzlichen Gegner flohen.

Gott sollte ihn nicht einst am Schopfe nehmen und sagen: »Lump, warum hast du dein Pfund nicht ausgenützt, das ich dir gab?« Barst Bruckners geistliche Musik von Seele, so war das Geborstene immer wieder Form, neue Form und neue Seele gebärend. Die letzte Vokalsymphonie, das Tedeum, sollte auf Anregung des Anregers der Komposition, Hellmesberger, dem Kaiser gewidmet werden; Bruckner jedoch tat den Musikantenausspruch, die Widmung sei nicht mehr frei, das Werk gehöre Gott für die in Wien ausgestandenen Leiden. Unter seiner Kunst war die Erde davongeschwebt. Die Unendlichkeit wogte: Oktave, Quint, Grundton, immer wieder in gleichmäßiger Achtelfigur, am Anfang, in der Mitte, am Ende. Auch die kanonisch und ohne Baß solistisch geführten Menschenstimmen hingen ungestützt von Erdenfreundlichkeit im Unermeßlichen des Lobgesangs. Denn die Erde ist anders beschäftigt: te aeternum patrem omnis terra veneratur. Wohin aber ist die Erde aufgeschwebt? Tibi omnes angeli, tibi coeli universae potestates: tibi Cherubim et Seraphim, incessabile voce proclamant: Sanctus, sanctus, sanctus Dominus Deus Sabbaoth. Die Himmel sind so voll vom Schall, daß er von anderem Schall nicht zu übertönen wäre. Voll: das heißt, die apostolische Majestät und das apostolische Dogma sind wie Atome im lobsingenden Schall, sie verrichten nichts als an ihrer Stelle den Mitgesang. Voll: das heißt, ich werde in Ewigkeit nicht vernichtet werden, ich entsprang über Eh und Einst aus der Zeit. Wo keine Zeit ist, ist keine Sprache. – Die Zeit der Sprache ist auch im (Juni 1892) nachgeborenen Zwillingswerk, dem 150. Psalm, vorüber: Posaunen, Psalter, Harfen, Pauken, Reigen, Saiten, Pfeifen, Zimbeln –, alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Unisono ins Freie, fugiert ins Gebundene hinein strömt dieses »Alles, was Odem hat«: Odem, nicht Wort.

 

Je größer eine Musik ist, um so deutlicher wird an ihr, daß es im Reiche der Töne das Böse nicht gibt. Andere Künste kennen es im Abbild, diese hat keine Mittel, es abzubilden. Sie kann allenfalls seine Gebärden und Gesten nachahmen, aber auch dann muß sie schon hart an die Grenze ihres Bereiches gerückt sein, sich in das Visuelle hinüberneigen, dort beobachten und sich für die Dauer des Beobachtens vergessen. Aber nachgebildete Gesten und Gebärden sind auch schon abgezogen von den Verknüpfungen, die ihnen in der moralischen oder amoralischen Welt zugrunde lagen.

Ein Leichtfertiger, Lügner, Unterdrücker braucht eine Umwelt, welche die Erscheinung seiner Mängel erst ermöglicht. Ein Leichtfertiger braucht eine Umgebung, die seinen Leichtsinn duldet oder sich an ihm erfreut, ein Lügner eine Welt, die sich belügen läßt und darum selbst lügt, ein Unterdrücker eine Gesellschaft, auf die er pressen kann. Sie alle ließen sich in absoluter Musik nicht musizieren – in untermalender, begleitender vielleicht ein wenig, aber parodiert sie dann das Musikalische nicht beinahe ins Gute?

Indessen, gedenken wir an den Schrei »Barrabam!« in Bachs Passion: ist dieser Schrei um Freigebung des Mörders nicht schon der fanatisch vollzogene Mord an Jesus? – Er ist eine dynamisch und rhythmisch fanatisierte Dissonanz. Das schwere Verbrecherische kann nicht einmal parodiert werden. Es fehlt ihm das Klima, in dem Barock- oder Rokokomelodien gedeihen mit ihrer Gleichnisfreude. Sogar das Musikdrama erreicht das Böse nicht; malen seine Töne Katastrophen, so nehmen auch sie nur Abdrücke der Gesten und Gebärden. Ihre Entladungen in Andrang, Hast, Gelärm, Kakophonie, Abbruch und allem rhythmischen und agogischen Zubehör haben mit dem kausalen Zusammenhange auf der Bühne keine Verbindung, auch nicht den einer gleichgerichtet logischen Parallele. Die polaren Gegensätzlichkeiten der Musik sind mit Begriffen der urteilenden Sprache nicht präzis zu bestimmen, doch liegen sie alle außerhalb der Domäne des Bösen: Trauer und Glück, Regung und Ruhe, Wachheit und Traum, Weiche und Härte, Hitze und Kühle, Feuer und Asche, Andacht und Weltwirbel – ihre genaue Beschaffenheit weiß allein die Musik zu sagen, von ihrer Herkunft jedoch weiß sie nicht das geringste. Sie muß sich von der Welt abziehen, um sie zu besitzen.

In Bruckners Musik zeigt sich das Gute noch auf eine besondere Weise. Wir nennen das Nichtböse bei ihm einfach das Gute, weil es das Tätige und Schaffende ist, das sein Vertrauen und seine Sehnsucht, seine Leiden, Kühnheiten und Vernichtungen aus sich selber nimmt. Es kennt den Feind nicht.

Wer denn könnte dieser sein? Etwas von dem, was drunten in der Stadt wimmelt? Einer aus dem früheren Leben? Ein Schultyrann wie der Lehrer Fuchs in Windhaag? Ein Konservatoriumspedell? Ein Fachkritiker? Sie alle würden in seiner Musik ja stimmlos. Sie wären in dieses Reich auch nicht mit Gewalt zu jagen. Ihr Gegreine, ihren Hohn, ihren Schlendrian und Eiferergang nachzuahmen, das wäre freilich das Böse. Es wäre der Mißbrauch dessen, was Bruckner empfangen hatte, zu widrigem Zweck, eine Vergeudung jedes Lufthauches in einer Oboe oder einem Fagott, Verspottung des Tierhaares am Violinbogen. Und gesetzt, die Nachahmung sei gelungen, was sollten die chimärischen Erscheinungen in der flutenden Natur der Symphonien wohl beginnen? Weil Natur enthüllt, entlarvt sie nicht. Wären die kläglichen Figuren hineingeworfen, so stünden sie gleichsam mit leeren Händen vor den kosmischen Dünungen, so dürften sie auf die Geburt einer Lichtwelt und ihre Zerschmetterung gaffen, wie sie nach Kurths Auslegung im ersten Satze der vierten Symphonie vor sich geht. Aber mehr: nicht sie begingen ja das Böse, wofern Bruckner bei der Komposition ihrer gedacht hätte, wofern ihm der Gedanke an sie gelänge, Gestalt annähme und wandelte. Dann würden die Kleingeister und Wichte tatsächlich den Weltbrand auslöschen vor der Entfachung. Das Kosmische hat keinen Raum neben dem Moralischen, gleichviel, ob dieses wertvoll oder verwerflich sei. Soll es schon als die Sphäre des Menschen begriffen werden, so läßt sie nur den Menschen zu, der noch kein Kainszeichen trägt. Der einzige, der an ihrem Werden mitwerden darf, ist Bruckner selbst, gelöst von seinen Eigenschaften, die ihn in Gasse und Haus kennzeichnen, hier innen aber nicht mehr.

Wenn nicht einen Widersacher, welchen Widergeist dann könnte diese kampfreiche Musik wohl befehden? Den Geist des Urbösen? An den Teufel hat Bruckner nie gedacht, nicht einmal an seine Spiegelungen in den Sündern. Das Kranke und Verderbte, wie es zum Beispiel bei Bach die schmerzlichen Intervalle und Melodien oft bestimmt, verweilt nicht in seinem Klange. Die Gewißheit der Erlösung strahlt es an und nimmt ihm die Kümmernis. Seiner Grablegung folgt nicht die Verwesung in ihrer Häßlichkeit, sondern die baldige Auferstehung. Und die Auferstehung sprengt bei ihm nicht die Felsplatten der Gruft und reißt die Augen des zuschauenden Volkes in freudigem Schrecken auf, sondern die Glorie des Credo, Sanctus und Benedictus wogt über sie her wie auch über das Geheimnis der Inkarnation. Von hier aus erscheint auch der Schimmer seiner instrumentalen Farben als das den Feind vergessende, das Gute. Darum tun seine heftigsten Dissonanzen wohl. Arglos türmt er Terzen übereinander, bis sie die Undezime, die Tredezime und nach Erfüllung der zweiten Oktave die Quindezime erreichen, und der Zuzug der neuen Töne in gleichen Abständen voneinander ist so gelassen trotz der bis zum Bersten wachsenden Spannung, daß im Rausch der Dissonanz diese selbst untergeht, wie auch das Unisone des untersten und obersten Tones. Sie brüllt nicht auf, sondern triumphiert der sicheren Befreiung entgegen. Sie ist seelisch schon gelöst im Vorauswissen der Lösung, und darum packt sie, sich hinauszögernd, solche Lasten auf, die alle mit einem Schlage entlastet sein werden. So wären im Agnus der emollMesse einmal alle sieben Töne der Leiter gleichzeitig zu vernehmen, wenn sie durch den Willen der fortstrebenden Stimmen für unser Gehör nicht getrennt würden.

Diese Gewalten sind nicht hoffärtig und drohend. Sie sind nicht hämisch und spotten nicht, sie verfluchen keinen Goldhort und keinen Kerker. Sie sind nicht götzenhaft und bucklig.

Auch der Tod erscheint nicht als der bittere Feind dieser Welt. Mit der Geburt geboren, begrenzt er in Eintracht mit ihr das Dasein wie Scheitel und Sohle den Körper. Der Tod ist im bleibenden Bunde mit allen Wesen, die Treue ist gut, das Böse aber ist das Vorübergehende, das Untreue. In den Vorhöfen des Todes wohnt die Melancholie. Ihr Leid ist ebenfalls der Welt nicht feindlich: es lockt sie in ihre tiefsten Verzückungen und innigsten Strahlungen.

Während des Zuwartens werden reinliche Freuden und einfacher Friede eintreten. Wie der Lehrer Bruckner zeitlebens gern tanzt, wird der Meister neue Ländler erfinden, manchmal nicht nur für ein behaglich-träumerisches Trio, sondern sogar für Finalesätze, wo das Hauptgeschäft, wie Goethe die Arbeit am zweiten Faust nannte, eigentlich keinen Aufschub duldet. Aber der heimatselige Tanz ist ja kein Aufschub. Und wie sollte ein Musikant, der vom Dorfe kommt, sich nicht zuweilen am Spiele schöner Signale erfreuen! Bach tat es in der Postillonsfuge zu Ehren des scheidenden Bruders, im Trompetengeschmetter und Hornklang durch weihnachtliche Chöre und Arien, in Siegfanfaren für seinen himmlischen König, wahren Feuersignalen, wenn das göttliche Sonnenfeuer brennt. Mozart öffnete so Sarastros Hallen, Beethoven legte ein Signalmaestoso in die Mitte der dritten Leonorenouvertüre. Das weihende Ohr des Dichters in Tönen scheidet in dergleichen das Oberflächliche und Triviale des täglichen Gebrauchs aus und erschließt den Zauber. Bruckner bekam einmal, wie Max Auer erzählt, in St. Florian die angeblich von Michael Haydn stammende »Retraite« des österreichischen Militärs als Aufgabe für eine Phantasie auf der großen Orgel. Ein hoher Militär weilte im Stifte zu Besuch, Bruckner fragte, was er spielen solle, und ein junger Kleriker pfiff ihm das Thema vor. Auer entdeckt Anklänge an diesen feierlichen Abendgruß in der Coda des Maestososatzes der sechsten Symphonie wieder. »Das Trompetensignal erklingt immer wieder in anderer Tonart, wie es Bruckner von seiner Wohnung in Linz abends von verschieden gestimmten Trompeten mehrerer Kasernen täglich gehört hat.« Die Soldaten haben keine Waffe mehr in der Hand, und jeder, der in seinem Tagewerk ein Krieger war, ergibt sich in Stille den Rufen des Friedens aus dämmernden Fernen und Nähen, Höhen und Tiefen. Es ist ein Gleichnis: die Wirklichkeit der Töne ist wahr, aber nicht biographisch verlarvt. So ist Gleichnis die Jagd im vierten Scherzo. Die Hornsignale nähern, greifen, entfernen sich labyrinthisch, sie rufen den romantischen Ruf, erkunden den romantischen Raum. Dazwischen rieseln und wehen seine immerwährenden Melodien. Beide sind sie in keinem sichtbar zu machenden Walde, sie sind, erlaubt man ein Stammeln, die musikalische Waldheit. Fernab liegt den Motiven die Realität, in welcher Tiere gehetzt und getötet werden. Ähnlich erlaubt das sechste Scherzo den Gedanken an ein elfisches und gnomisches Seelenklima, ähnlich durfte Schwebsch das neunte folgendermaßen auslegen: »Ein Schauerwindchen fächelt's an, schattenhaft schwebt es vorbei, in ein Geisterreich zwischen Tag und Tod, zwischen altem und neuem Leben. Ein leises Klirren, wehes Irren, ein polterndes Klopfen, ein zierliches Wiegen in kühlem Sternenlicht, ein Haschen, Drängen und Wirbeln, rufende Stimmen, und dann wieder eine unendlich wehe Süße in dem flimmernden Trio.« Es bieten sich gleiche Ausdrücke der Bewegung in den verschiedenen Sphären der Scherzi an. Jedoch keinem wird der Hexenspuk der Walpurgisnächte einfallen und keinem der Höhlenfleiß tückischer Zwerge. Damit soll nicht nach dem Wert, sondern nur nach der Art getastet sein.

In Bruckners Kunst ertönt die reine, sündelose Natur. Nicht, als ob die Sünde davon abgezogen würde, sondern sie ist in ihr nicht vorhanden. Diese starke Verfassung versetzt die Natur in keinen Stand des Eigentums für irgendwen. Sie ist nicht natürlich mit dem Beigeschmack des Gewohnten und Sentimentalen. Sie belehrt nicht über ihren Inhalt, aber sie erzieht, indem sie erweckt. Sie ist nicht erbaulich für den Frommen, wiewohl ein Erfrommen ihre Wirkung sein kann. Sie beleidigt und schändet kein Wachstum. Sie nimmt niemandem etwas weg, was ihm gehört, weil es ihm durch sie gehört: den Bäumen nicht ihre Knorren und nicht ihre Blätter, nicht einmal ihr Rauschen, den Vögeln nicht ihren Gesang, den Menschen nicht ihr Schweigen, den Blitzen nicht ihren Lauf.

Alles wird, was es wird, in einem System von freihangenden Beziehungen. Kein Sinn ist darin im voraus befestigt; das Genie enträtselt die Bedeutung der Beziehungen und prägt sie ihnen ein. Die Symphonik Bruckners zeigt durchaus andere Perspektiven als die programmusikalische und musikdramatische Charakterisierungskunst. Während im Drama Motivik, Tektonik, Koloristik, Dynamik die Vorstellung und den Ton zusammenzwingen, Menschen- und Götterschicksal im Ton steigern, selbst philosophisch Vorgedachtem die Stimme lösen, charakterisiert diese Symphonik ausschließlich sich selbst und kennt kein sonstiges Schicksal als ihren musikalischen Weg. Sie macht eine problemlose Musik in jedem anderen Verstande als im rein musikalischen.

In diesem einzigen Verstande nahm Bruckner die Probleme seiner bedeutenden Zeitgenossen gierig auf. Er hat Berlioz gehört und ihn gesehen, als er seine »Verdammung Fausts« in Wien dirigierte. Zu Beethovens neunter Symphonie allerdings war er bereit, zwei Reisen zu machen. Die sentimentalen Romantiker übersah er; ihre Neigung zum Kleinen und Einzelnen legte Sperren in das große Gefälle. Ihre Zärtlichkeit war gefährlich: an den Gebilden konnte auf der einen Seite das nur Formalistische, auf der anderen das nur Sinnige durchbrechen. Das Gute war dort schon ein Eigentum. Bruckners Gefühl war universal und schloß daher aus, was nicht universal sein kann. Zuweilen verzichtete er auf das Anhören fremder Musik, damit es ihn nicht aus »dem Scharnier« brächte. So geschah es schon in Linz, wenn die Mayfelds ihm Beethovens Symphonien vierhändig auf dem Klaviere spielten, während ihm die ersten Quartette Beethovens nicht großartig genug waren.

Die tiefsten Brunnen seines Ethos rinnen in den letzten Adagios. Davor mögen wir von keinem Formalen mehr reden, und wir scheuen uns, noch eigene Worte zu gebrauchen. »Es sind böse Brunnen, in die man Wasser tragen muß.« Bruckners Musik ist hier völlig »unbegehrlich«. Beethoven liebte noch sein Leid, er hielt sich darin auf, sog es bis zur Beseligung ein, und diese ließ ihn dann die Tochter aus Elysium überm Sternenzelt grüßen. In Bruckners Adagio ist die Versenkung so tief, daß jede Ablenkung ausgelöscht ist. Wir rufen die höchsten Lehrer des Mittelalters heran, damit sie mit ihrem Munde sagen, was sie uns als Zeitgenossen des Brucknerschen Geistes deuten. Ruysbroeck heißt uns das Leben auf einen grundlosen Abgrund gründen: »Dann können wir ewiglich in Minne sinken und uns selbst entsinken in die grundlose Tiefe, und mit derselben Minne sollen wir aufsteigen und uns selbst entsteigen in die unbegreifliche Höhe ... Die Begegnung mit Gott in Einheit und Ruhe muß in wesentlichen Begriffen geschehen, tief verborgen unserem Verstande, es sei denn in einem wirklichen Verstehen nach Art der Einheitlichkeit – hier ist nichts als Gott und der mit Gott unmittelbar vereinte Geist.« Meister Eckhart lehrt: »Der Geist muß übertreten Ding und Dinglichkeit, Form und Förmlichkeit, Wesen und Wesentlichkeit, dann wird in ihm geoffenbart das Werk der Seligkeit.« Suso weiß das Unmittelbare der Musik Bruckners: »Seine Gesellen nahmen Wunder ob der geschwinden Änderung, die ihm geschehen wäre, und sprach einer dies, der andere das; aber wie es war, das rührte noch traf niemand, denn es war ein verborgener lichtreicher Zug von Gott, und der wirkte geschwindiglich den Abkehr.« Suso wäre beglückt gewesen, wenn er das Innigste seines Rufes sursum corda! durch Bruckner verwirklicht wahrgenommen hätte: »Ich nahm vor meinen inneren Augen mich selber nach allem, das ich bin, mit Leib, Seele und allen meinen Kräften, und stellte um mich alle Kreatur, die Gott je schuf im Himmelreich, im Erdreich und in allen Elementen, ein jegliches sonderlich mit Namen, es wären Vögel der Luft, Tiere des Waldes, Fische des Wassers, Laub und Gras des Erdreichs und das unzählige Grieß in dem Meer, und dazu all das kleine Gestäube, das in der Sonne Glanz scheinet, und all die Wassertröpflein, die von Tau, von Schnee oder Regen je fielen oder immer fallen, und wünschte, daß deren jegliches hätte ein süßaufdringendes Saitenspiel, wohlbereitet aus meines Herzens innerstem Safte, und also aufklingend ein neues hochgemutes Lob brächte dem geminnten zarten Gott von Anfang zu Ende.« Uns ist, als ob in solchen Andeutungen der Bruckner des achten und neunten Symphonie-Adagios prophezeit worden wäre, und was sich in einem dunklen Spiegel, den Wohllaut der Gedanken und Lippen lockend, fern gerührt hätte, sei nun kein irisierendes Wetterleuchten mehr, sondern es sei der Donner der Stille und des durchgottet schlagenden Menschenherzens darin. Die Minne darin kannte keine Zwittergefühle von Greisenklugheit und Knabengier, wie sie in den Ecksätzen und Scherzi auch nur die Sehnsucht Platons, die tellurische Fröhlichkeit und die Schelmerei des Unergründlichen gekannt hatte.

Unter den ganz großen Künstlern zählen wir nur ganz wenige, die ein reines Künstlerdasein geführt hätten. Nicht, weil die meisten mit einem quälenden und hemmenden Brotberuf gerungen hätten. Im Gegenteil ist gemeint, daß sie freundlich zu allerlei bequemen Gewohnheiten und zutraulich zu den kleinen Dingen des Alltags waren. Den einen freute es, Gottfried-Kellerisch beim Wein zu schweigen und den Schummer der Nachdenksamkeit zu genießen, den anderen, Freunde um sich zu versammeln und zu bewirten zu seiner Lust, als genösse er mit ihren Gaumen, Kehlen und Nasen selber vielfach. Goethe, der so früh zu entsagen anfing, entsagte doch in viele bedeutende und auch gefälligere Tätigkeiten hinein, die anderen verwehrt waren, er entsagte in mancherlei stille Sammlungen von Plastiken, Münzen, Büchern, Stichen, Pflanzen, Mineralien hinüber. Andere bezeugen ihre Lust am Animalischen in Kauzigkeiten, und der Sonderling kehrt sich ja nur von Menschen ab, nicht von seinen Papageien, seiner Rohkost oder Hypochondrie. Der Asket wird den Nässefleck an seiner kahlen Zellenwand schwer entbehren können, und so umgarnt jeden, ohne daß er es weiß und wahrhat, die Liebe des vielen Kleinen, welche die Liebe zum Großen täglich entspannt und entgiftet.

Bei Bruckner war dergleichen auffälliger als bei anderen, und daher verfiel er der Karikatur und Scheelheit. Und er legte auch damit einen Gürtel der Vereinsamung um sich, ohne es zu beabsichtigen. Schlichtes, warmes Volk machte sich aus Eigentümlichkeiten nichts, aber die Persönlichkeiten, die Einzelnen merkten sie.

Wo es um eine Erschwerung des Leidens geht, ist nichts gleichgültig. Daß Bruckner sich mit einem gewissen Liebhabertrotz merkwürdig oder auffällig kleidete, ist nie übersehen worden. Auf die Gewandung kam nicht viel an, gleichwohl ist sie von der Überlieferung sorgfältig aufbewahrt worden. In Windhaag hatte er einmal in rotjuchtenen Schuhen die Altarkerzen angezündet, der Priester hatte es ihm als Respektwidrigkeit verwiesen: man weiß es noch heute. Der Edle von Zenetti soll in der Kleidung zu ihm gepaßt haben: man verglich die beiden. Zum Anhören des Linzer Probespiels war er von Florian mit einem Oberrocke, an dem ein Knopf fehlte, mit einem Schal um den Hals und Überschuhen in der Kirche erschienen – der Tadelbrief ist aufgehoben geblieben. Die Überlieferung hatte weiterhin ein gutes Gedächtnis für die ungeschickten, faltenreichen schwarzen Anzüge, den überweiten Hemdkragen, das riesige blaue Schnupftuch, die in seiner Organistenzeit zu ihm gehörten. Man weiß, daß Mayfeld ihn damals fragte, ob er seine Kleidung selbst mache oder durch einen Tischler anfertigen lasse. Als er in Wien abmagerte, wurden seine Hüllen von selbst noch unförmiger. Der Klatsch beschäftigte sich mit seinen viel zu breiten, dafür wegen des Pedalspiels viel zu kurzen Hosen, mit seinen gebirgigen Anzügen, die nie nach Maß, sondern nach einem alten Modell gefertigt wurden, seinen fast viereckigen, seehundsledernen Schuhen mit Röhren, um die er wie ein Grandseigneur den Schuster geschunden hätte.

Das alles schuf ihm einen Teil der Berühmtheit, die mit seinem Geiste nichts zu tun hatte. Die Gutmütigen und Böswilligen widmeten dem tuchenen und ledernen Doppelgänger ihre Aufmerksamkeit und ließen den Geist im Abraum hinter den Hüllen gewähren.

Es erstaunt uns nicht mehr, zu hören, Bruckner habe eigentlich niemals etwas gelesen. Die Kompendien seines Studiums waren in Wirklichkeit Gehäuse mit Hörsälen gewesen, Magazine mit Gerätschaften für den praktischen Gebrauch. Im Auswendigwissen verloren sie die Notform des Buches. Wäre er Protestant gewesen, so hätte er wahrscheinlich die Bibel durchforscht und Gesangbücher auf dem Borde gehabt, dem Katholiken nahmen die eigens dafür Eingesetzten die Lesemühe ab. Eine Bibel hat er nachgelassen, und er soll sie durchaus gekannt haben, doch seine Musik enthält keine intimeren Verweisungen wie etwa bei Bach. Die unerheblichen lyrischen Texte seiner Komposition wurden von Musik durchbrochen, bevor sie als Gebilde einer anderen Kunst existent wurden. An einem Opernlibretto nahm er nur auf, was zur Verwandlung in Musik taugte. Gedichtete Dramen und Romane waren vollends für ihn überflüssig, wenn er auch einmal spanische geistliche Komödien lesen wollte: er hätte damit Zeit verdorben, sonst nichts. Von unangenehmen persönlichen Erlebnissen in Linz sagte er zwar einmal, man sollte einen Roman darüber schreiben, doch geht daraus nicht hervor, daß ihm ein Roman das Unwahrscheinliche, Unglaubwürdige schlichtweg war? Sein Schüler Friedrich Klose erzählt, er habe während der dreieinhalb Jahre seiner Lehrzeit nur drei Bücher und eine Broschüre bei Bruckner gesehen, nämlich ein Werk über den mexikanischen Krieg, eine Schilderung der Nordpolexpedition auf dem Schiffe Tegetthoff, eine illustrierte kurze Zusammenstellung der Biographien Haydns, Mozarts und Beethovens, einen Traktat über die wundertätige Maria von Lourdes. Klose fügt hinzu, diese Bücher habe Bruckner allerdings wiederholentlich gelesen. Darin bezeugt sich wiederum das Bedürfnis, vom Druck fortzukommen und auswendig zu lernen – nicht die Fassung, sondern das Vorbild und das Schicksal. Was ist meinen vorangegangenen Meistern widerfahren? Was hat die Heilige vollführt? Was stieß Maximilian, dem Kaiser, in der Ferne zu? Was ereignete sich an der Welt Enden?

Er hatte in seiner Musik immer die Empfindung des unermeßlich hingedehnten Kosmos und hielt sich nun auch im wißbegierigen Alltag gern in den Grenzbezirken auf. Daß es ein erregendes Spiel zum Ausruhen und Wiederaufbruch war, wurde ihm schwerlich bewußt. Ähnlich andächtig hatte er gespielt, als er den Kindern in Windhaag von den Flügen der Himmelsgloben erzählte, ähnlich spielte er noch, wenn er ins Museum ging, um die Versteinerungen aus Urzeiten zu betrachten. Sein Lesen war ein Lernen, ein Hinüberraffen der Gegenstände in die Kraftfelder der Phantasie.

Daß er Zeitungskritiken nicht ganz überging, hatte den Sinn, neue Güte aus dem Leiden für seine einsame Schöpfung zu keltern, denn nach ihrer ethischen Ordnung war sie ja Güte. Und auch der Jubel über die spärlichere Anerkennung wirkte in diesem ethischen Systeme mit, damit der Prunk des Heldischen darin nie maulfrech und erbärmlich wurde. Es war ihm überdies aufgetragen, für den Bestand seines Werks zu sorgen. Darum war der Schreiber »hochgenial«, der ihn lobte, öfter aber las er die Kritik »mit Schaudern« – und »mir ward beinahe übel«.

1887 sagte er der Tagespresse unwirsch ab: er werde jetzt gar keine Zeitung abonnieren und es nie tun aus Gründen, die für jedermann maßgebend sein würden. »Bitte mich für alle Zukunft mit Zuschriften verschonen zu wollen, da ich nie antworten könnte.«

Seine Musik ist voll Landschaft, darum durfte er der ihn umgebenden realen Landschaft nicht sich versäumend gewahr werden, sich ihrer nicht schwelgend freuen. Er besaß sie vorgebildet schon ganz in sich. Das Nachbilden wäre kein Hinschreiten zum Urbilde gewesen. Wenn dieses Urbild nicht ein Weltbild auch in landschaftlicher Beziehung gäbe, würden wir nichts Spezifisches darin abheben. Wir finden es und meinen es manchmal mit den Sinnen erwandern zu können. Zuweilen scheint das süddeutsche Land aus den Tönen hervorzuwachsen, und wenn wir von Ober- und Niederösterreich noch nichts wußten, so wissen wir nun darum. Einmal begleitete er seine Scholaren im Wagen zum Tanzvergnügen und fuhr dann allein nach Hause, »und nun«, erzählt einer, »ertönten, was mir zeitlebens unvergeßlich sein wird, aus der davonrollenden fürnehmen Equipage laute, nach und nach in der Ferne verhallende, echt oberösterreichische Juchzer«. Der Weg lief, der Wagen fuhr, der Jauchzer klang weiter, bis sie im Binnenraume der Musik angelangt und verwandelt waren.

Bei einem anderen Ausflug war Bruckner nach dem eben angeführten Gewährsmann von einer Stelle mit besonders merkwürdigem Echo nicht wegzubringen. Er verweilte bis zur Nacht. Noch lange habe man »in der Tiefe den Säumigen Intervalle singen hören, die im Zusammenklang Nebenseptimenakkorde oder deren Umkehrungen ergaben«. Das bietet die Landschaft schon zur Hälfte umgezaubert. Das Poetische und Gelehrte begegnen sich, als träte eine Dryade einem Menschen entgegen, und sie lösten sich in ihre Zwiesprache hinein auf. So klopfte Bruckner in einer Gasse nahe seiner Wohnung Fässer ab, was sie für einen Hall gäben. Auch da noch ist ein Stück Landschaft unterwegs ins Unsichtbare. Sie wird das Einzelne, Lokale verlieren und vielleicht einmal als leisester, einsamster Paukenpuls in den tonleeren Abgrund hineinfragen.

Dämmerlichter, Zwielichtfarben wechseln genug durch den Kreis der Symphonien. Sie hatten einst ihr Wo und Wann, nun jedoch graut nicht die Dämmerfrühe eines einzelnen Tages, sondern die Urfrühe vor allen Tagen. Man spürt das daran, daß ihre musikalische Gestaltung zurückgehalten wird, daß sie mit ihrer Landschaft mitgeschaffen wird. Die Luft muß sie mit ihrer eigenen Erwärmung erst erwärmen.

Ein keinem Mit- und Nachlebenden zugänglicher Bezirk seiner Einsamkeit ist sein privater katholischer Glaube. Darüber findet man in keiner Symphonie eine Auskunft, in keiner Messe, nirgends. Daß der Dreiklang die Trinität ausströmen ließ, daß Dezimensprünge die Unermeßlichkeit verkörperten, ist Gabe an die Gottheit der Kunst. Daß er beim Gesange eines frommen Chorritornells die Stimmen immer leiser und leiser wünschte und, als der Chor schwieg, glücklich weiterdirigierte, bis das Gelächter der Sänger ihn weckte, auch dies ist noch Dienst an der Kunst: was er bei seinem verklärten Lächeln in sich sah, wird niemand ergründen.

Seinen Katholizismus sehen wir wie eine auf Goldgrund gemalte Legende an, und ihn selbst sehen wir in der Schilderei als eine Figur der Legende. Sein Glaube führte ihn weit aus unserer Zeit, und uns führt der Glaube an seinen Glauben hinaus.

Die Legende erzählt, wie er als fünfjähriges Kind zu dem sterbenden siebenundsiebzigjährigen Geistlichen seines Dorfes gerufen und von ihm gesegnet wurde. Sie erzählt, wie er damals Altäre und heilige Gräber gebaut habe.

Während der heiligen Wandlung lag er auf den Knien und sah mit verzückten Zügen in den Himmel. In den Pausen seines Orgelspiels hob er ein inbrünstiges Beten an. Das Bild der Mutter verewigte er, indem er es nach ihrem Tode in den Linzer und Wiener Wohnungen am Weihwasserkessel anbrachte, hinter einem grünen Vorhang, damit er von dem Anblick nicht zu sehr angegriffen würde. Dem heiligen Schutzengel widmete er einen Hymnus, wie er als der wandernde Lehrer täglich für sich und die Kinder gesprochen hatte: »Heiliger Schutzgeist, deinem Schutz bin ich von Gottes Güte übergeben. Erleuchte, schütze, führe mich durch dieses vielbedrohte Leben.«

Gespräche mit geistlichen Herren waren seine liebste Unterhaltung, wenn jener dunkle Goldgrund um ihn zu leuchten begann. Urlaubstage in Pfarrhäusern waren ihm tief erholsam. Die Mahlzeiten an ihren Tischen erquickten ihn anders als die Mahle um Nahrung. Als Fritz von Uhde seinen Kopf auf einem Abendmahlsbild festhalten wollte, scheute er zurück wie vor einem Unrecht. Nachdem er aber dann doch nach dem Gedächtnis als Apostel in das Abendmahl Jesu aufgenommen war, verweilte er lange und versonnen vor dem Bilde.

In Wien die Gesellschaft des Domdechanten Schiedermayr vermissen zu müssen, beunruhigte ihn bei seiner schlechten Nervenverfassung. Den Schmerz über den Tod seiner Schwester Nani, die ihm die Wirtschaft geführt hatte, meldete er Schiedermayr mit der Bitte: »In Euer Gnaden so tief fühlendes Herz lege ich meine schmerzlichen Gefühle ganz offen darnieder und bitte, Euer Gnaden wollen selbe einmal beim Heiligsten Meßopfer dem Herrn der Welt zu Füßen legen.« Nach einer Wohltat schrieb er ihm: »Dank, ewiger Dank dem Herrn der Welt! In dem verlassensten Zustande sandte er mir Hilfe, würdig der eines Engels! Das habe nur ich damals empfunden! – und jetzt staune ich, sehe ich es ein und begreife es! Halleluja!!!« Dem Wohltäter selbst wünschte er zum Namenstage, Gott möge seine hohen Verdienste um Kirche und Staat zum Teil schon hier auf Erden krönen. »Um die jenseitige Belohnung wollen wir beten!« Seine festlichste Gabe für Vertraute wie seinen Linzer Nachfolger Karl Waldeck war die Hoffnung auf ein Leben zur Verherrlichung Gottes. Bischof Rudigier war nach seinem Tode Bruckners Fürbitter. Er half ihm aus dem Himmel geschwind in Krankheit und Nöten, und als Rudigier seliggesprochen werden sollte, wurde Bruckner über die Art der jenseitigen Hilfe befragt.

Die Absicht der Verherrlichung der göttlichen Majestät lag im Grundplan seiner Arbeit, verschlossen für die Welt. Selten holte er die Urkunde aus dem Fundamente herauf, so einmal im Kreise von Chorherren: wenn Gott ihn einmal rufe und Rechenschaft von ihm fordere, so halte er ihm die Rolle seines Tedeums hin, und er werde sein gnädiger Richter sein.

Mit den steigenden Jahren schien er den Schritt ins Jenseits schon getan zu haben. Er drängte seine Inbrunst niemand auf, aber sie wurde so sehr das Wache im Traumzustand des Alltags, daß er seine Umgebung vergaß. Er soll, selbst schon ziemlich schlecht hörend, so laut gebetet haben, daß es den Messepriester störte. Ermahnt, seine Stimme zu mäßigen, geriet er in zornige Verwirrung, fühlte sich gekränkt und beleidigt. Nach dem Flehen um Gesundheit für die neunte Symphonie rief er dreimal Amen und schlug sich beim dritten Male mit beiden Händen auf die Schenkel.

Ungeheure Gebetshekatomben waren dem vorausgegangen. Zu Allerseelen lag er am Grabe seiner Schwester auf Knien, auch bei Beethoven und Schubert. An Jean Pauls, an Wagners Grabe in Bayreuth wurde er ganz sich entsunken gesehen und achtete nicht der Verwunderung um ihn her. In Kalendern zeichnete er Tag um Tag und Jahr um Jahr auf, wie viele Vaterunser, Mariengrüße, Rosenkränze sein Gewissen ihm aufgab, und er war dennoch ein ganz freier Mann vor sich.

Die Fasten nicht zu halten, wäre ihm so unnatürlich gewesen wie auf die Nahrung zu verzichten. Als Körperschwäche ihn zwang, beim Fürst-Erzbischof um Dispens zu bitten, zweimal, schrieb er es sich zu seiner Beruhigung überdeutlich auf. »Also bei jeder Mahlzeit und wiederholt bei jeder Mahlzeit mehrere Fleischspeisen kann ich genießen an allen Feiertagen und gebothenen Fasttagen des ganzen Jahres, auch in der H. Fastenzeit u. dergl. z. B. H. Adventzeit, ist mir wie sonst auch Abends u. überhaupt bei jeder Mahlzeit mehrmals H. Adventzeit (D. h. bei jeder Mahlzeit mehrere Fleischspeisen) Fleisch zu geniesen gestattet.« Alles ist darüber vergessen, die Zucht der Zunge, die Grammatik. Dieses Werkeltägliche wuchert unverstanden, verachtet, irgendwo draußen.

Doch ist uns Sterblichen der Aufenthalt im stummen Jenseits auf die Dauer verboten, aus seinen einsamen Abgründen wuchert der religiöse Wahn heran. In einer Karwoche mußte seine Haushälterin Kathi mit ihm sieben Stunden nacheinander in der Michaeler Kirche ausharren. In der letzten Krankheit zündete er nachts zu stundenlangem Gebet die Kerzen am Hausaltar an, einmal lief er im Hemd in den Garten (Göllerich-Auer, Bd. 8).

Doch diese Gefährdung hat mit religiöser Vertiefung nichts mehr zu tun, sie mündet in einen Unterweltsstrom, der sich seit Jahrzehnten durch Bruckners Leben gezogen hatte.

Seit Jahrzehnten hängte eine fremde Riesenhand seine Welt drohend in den finsteren Abgrund eines alles aufsaugenden Chaos. Schon in Linz hatten sich in ihr Risse und Schluchten aufgetan. Als er damals täglich sieben Stunden für Sechter arbeitete, hatte ihn eine Krise befallen. »Es war gänzliche Verkommenheit und Verlassenheit, gänzliche Entnervung und Überreiztheit. Dr. Fadinger kündigte mir den Irrsinn als mögliche Folge schon an.« »Schreckliches Kopfweh« nahm ihm für halbe Wochen die Arbeitskraft. Er kam für drei Monate (und später vielleicht nochmals) zur Kur nach der unweit gelegenen Kaltwasserheilanstalt Kreuzen, um sich von der Wut zu befreien, alles zählen zu müssen: die Blätter an den Bäumen, die Steine auf der Straße, den Perlenbesatz an einem Frauenkleid, die Fenster an den Häusern. Der Zwang, die Fenster an großen Gebäuden zählen zu müssen und damit nicht zu Ende zu kommen, wiederholte sich im Alter öfter. Vor dem ihn aufreizenden Spiele böhmischer Musikanten stürzte er in die Wolfsschlucht davon, aus der er mit Leitern und Seilen herausgezogen wurde.

Krankhaft wirkt auch sein Wunsch von 1868, »um jeden Preis gern« die Leiche Maximilians von Mexiko zu sehen. Weinwurm sollte beim Oberhofmeisteramte anfragen, »ob der Leichnam Maximilians zu sehen sein wird, also offen im Sarge oder durch Glas, oder ob nur der geschlossene Sarg zu sehen sein wird. Laß es mir dann gütigst telegraphisch anzeigen, damit ich nicht zu spät komme. Ich bitte dringendst um das.«

Es riß ihn auch sonst wahnhaft zum Weltend. Grundsteine und Turmspitzen bannten ihn an die Grenzen, wo die Vernunft aufhört. Er wollte genau wissen, wie ein Turmhelm endige, ob der Knauf, ob eine Wetterfahne oder ein Blitzableiter über oder unter dem Kreuz sitze. Im Festspielhause in Bayreuth drängte er sich nach einer Parsifal-Aufführung hastig auf die Bühne, verschwand über eine kleine Holztreppe im Dunkel der Versenkung und wurde von seinem Begleiter Göllerich gefunden, wie er in der Erde wühlte. Er füllte ihm und sich selbst die Taschen mit Steinen, als gälte es, den Grundstein der Kunst selbst aufzudecken, nicht bloß den eines Theaters. Bei einem neuen Besuch in Bayreuth wurde er von Stradal leichtsinnig gefragt, wie es mit dem Funde dieses Grundsteins stände. Sofort prasselte die Wahnvorstellung neuerlich in ihm auf.

Unheimliche Krallen streckten sich nach ihm auch aus, als 1881 im Wiener Ringtheater die Feuersbrunst entstand. Er war doppelt gefährdet gewesen, leiblich, wenn er, wie er vorhatte, in die Vorstellung gegangen wäre, geistig, wenn seine Noten verbrannt wären, denn er wohnte vom Brandherd nur durch eine Gasse getrennt. Die Simse seiner Fenster waren beschädigt, er hatte seine Habe zusammengepackt. »Der namenlose Schrecken und das unaussprechliche Elend so vieler geht bis ins innerste Mark.« Als er die Weihnacht in St. Florian verbrachte, fürchtete er sich, in seine Behausung zurückzukehren, da er nachts an den Fenstern die Geister der Verbrannten als kleine Lichter hatte hüpfen sehen. Dem Verscheuchten, der so gern an der Welt Anteil gehabt hätte, war das Unheimliche immer nahe.

Wie ein Nekromant fühlte er sich von Zeichen und Reliquien des Todes angezogen. Nicht allein, daß er den Schädel seines Hörschinger Lehrers Baptist Weiß an sich zu bringen begehrte, worein die Behörde nicht willigte, er nahm auch an der Ausgrabung Schuberts teil und hielt seinen Schädel in Händen. Ebenso ruhte er nicht, als Beethovens Überreste vom Währinger Friedhof auf den Zentralfriedhof überführt wurden, bis er seine Finger an die Stirn des Meisters gelegt hatte, vor dem er sich wie ein ganz kleines Hündchen fühlte. Er hatte sich mit Freunden lange vor der Zeit eingestellt und drang gegen das Verbot der Ärztekommission in die Totenkammer vor. Er soll beide Hände an das Haupt Beethovens gelegt und im Selbstgespräche gesagt haben: »Nicht wahr, lieber Beethoven, wenn du noch lebtest, würdest du mir erlauben, dich anzugreifen, und die fremden Herren wollen es mir verbieten.«

Es war eine zärtliche Begegnung fern der Erde. Begegnungen gleichsam im Fegefeuer lockten ihn ebenso. Er wohnte Schwurgerichtsverhandlungen gegen Mörder bei und suchte sich Einlaß zur Hinrichtung zu verschaffen. Es wird erzählt, einmal hätte Bruckner die ganze Nacht gewacht und für den Mörder gebetet. Beim Aufenthalt im ganz Extremen wich seine Melancholie.

Vor Ablauf seiner Zeit kaufte er mehrere winzige Damentaschenuhren, darunter eine schwarze, den kleinen dickschädligen Mohren, vor dem Ziel seiner Wege viele Schuhe. Im Nachlaß wurden an die dreißig Paar gefunden.

Unter dem allen war der vielberufene Cäsarenkopf des Meisters verschwunden. Eigentlich ist er auf allen Lichtbildern der Wiener Zeit nicht zu finden. Die Augen wollen es nicht. Sie trauern mehr und mehr in ihrem Fragen und Staunen. Sie und der Mund, von dessen Oberlippe nun die Behaarung weicht, scheinen näher aneinanderzurücken, die Nase scheint sich zu vergrößern. Der Rundschädel scheint zwar auch mächtiger zu werden, aber er wird auch mehr Schädel, der unmerklich das ganze Haupt über dem abmagernden Halse und dem einfallenden Munde vornüberneigt. Noch trauert die Rose im Knopfloch, der Orden am Galarock und die Handschuhe in den verlegen an den Fingerspitzen gefalteten Händen mit, dann bliebe nur ein Greislein übrig, hinderten nicht immer wieder die urwissenden, fernwehguten Augen den Eindruck.

Den Cäsar hatte man wohl nur an der Orgel gesehen. In ihrem Bereich schoß der Herrschertrotz in die demütige Gestalt, in ihrem Bereiche tat Bruckner die stolzen und selbstbewußten Aussprüche. In London wollte ihn eine Lady nach seinem Konzertieren heiraten, er wies sie ab. Eine andere wollte sich mit ihm aussprechen, aber er konnte nicht englisch und dekretierte, wer sich mit ihm zu unterhalten Lust habe, der solle Deutsch lernen! In St. Florian begehrte einmal ein Graf sein Spiel; er antwortete, für einen Grafen spiele er nicht, aber wenn es der Prälat anordne, spiele er sofort. Ein andermal lehnte er die Bewunderer seines Orgelspiels so ab: Was meine Finger spielen, vergeht, was sie aber schreiben, wird bestehen. Seine Geschicklichkeit war unbegrenzt. Er mußte den Schülern zeigen, wie er seine Ungetüme von Pedaltrillern bändigte. Eines Tages blieb ihm eine Taste stecken: er erfand ein Nachspiel zu dem falsch fortschrillenden Tone, das zu gelöstem Wohlklang führte. Er hatte auch seine Eigenheiten, so das unorgelmäßige Vibrato der linken Hand.

Zuletzt verließ ihn aber die Sicherheit an der Orgel. Seine angeschwollenen Füße traten fehl auf den Pedaltasten, und sein abwesendes Ohr bemerkte beim allerletzten Spiele nicht, daß er mit einer grausamen Disharmonie aufgehört hatte. Es war beim Hochamte in Klosterneuburg gewesen.

Letzte Freuden erhoben ihn aus der Masse. Seinen Franz-Josefs-Orden hegte er so zärtlich, weil er den Namenszug seines Kaisers trug. Die damit verbundenen dreihundert Gulden Personalzulage halfen drei von den vier faustischen Grauen Weibern verscheuchen, den Mangel, die Sorge, die Not. Göllerich vertrieb sie noch weiter, als sich auf seinen Aufruf 1889 Wohlhabende zu einer jährlichen Ehrengabe an Bruckner zusammenschlossen. Die Privatstunden fielen. Jahrs darauf bildeten sich gleich drei Konsortien zu seiner Unterstützung. Am 15. Januar 1891 durfte er, nachdem er sich ein Jahr lang ohne Entschädigung hatte beurlauben lassen, mit 440 Gulden Pension in den Ruhestand treten und bald nach der Erlangung des Ehrendoktortitels die fünf letzten Jahre seine Würden geruhig untereinandermalen. Sogar zwei Reisen zu Aufführungen in Berlin konnte er noch machen, 1891 und 1894, und außer dem Huldigungsgepränge wäre ihm dort beinahe die Betreuerin seines Alters geworden: das Zimmermädchen Ida Buhz im Hotel Kaiserhof hing ihm in aufrichtiger Liebe an, sie wäre ihm als Frau gefolgt, hätte er nicht den Übertritt des Mädchens zum Katholizismus gefordert.

Die weiteren Lebenserleichterungen trafen schon einen todkranken Menschen. 1894 kamen ehrenhalber 150 Gulden, 1895 kamen 600 Gulden, und im gleichen Jahre ließ ihm der Kaiser Räume im Schlosse Belvedere anweisen. Von einem Nebenbau, dem Kustodenstöckl, hatte der Leidende einen ebenerdigen Ausgang in den Park. Vor dem Umzug verbrannte er viele Arbeiten, die er nicht mehr billigte. Das sonstige Testament war schon geraume Zeit vorher gemacht, mit einigen Legaten an die Pflegerin, an Verwandte und Überweisungen der unvergänglichen Handschriften, die gebunden wurden, an die Hofbibliothek. An die Stelle der Not war die Gestalt getreten, die auf das harte Reimwort hört.

Vor dem Tode empfand er kein Grauen, aber viel bittersüße Wehmut. Das Sterben dauerte Jahre. Zu den alten Leiden stellte sich die Wassersucht ein. Sie brachte Atemnot und Bettlägrigkeit. Das Wasser mußte abgezapft werden. Danach ging es besser, so daß er versuchen konnte, seine liebste Beschäftigung, die Universitätsvorlesungen, aufzunehmen. Er scherzte den Gaudeamus zu: besser Wasser im Bauch als im Kopf!, wie er schon früher gescherzt hatte: » post molestam senectutem etc.« Er mußte die Vorträge bald abbrechen. Um seinen siebzigsten Geburtstag erkrankte er an einer Rippenfellentzündung. Er lag einsam in Steyr. Die Welt wurde wieder einmal ohne ihn fertig. Auch in Wien schon hatten die Freunde ihn nicht besucht. »Mein Wasser ist von der Brust abgegangen; die Füße schwellen noch an! Niemand will kommen, oder doch höchst selten.« Göllerich, der diese Klage in Nürnberg empfangen hatte, eilte daraufhin nach Wien und ging mit seiner Braut zu Bruckner. »Beim Abschied ließ er sich's nicht nehmen, uns die hohen fünf Stockwerke des Hauses hinabzubegleiten, obwohl er sich nur mehr schwer bewegte. Am ersten machte er traurig halt, winkte lange mit der müden Rechten und rief uns immer wieder nach: Adje! Adje!« 1895 schrieb er nach Steyr: »Bin seit 11. Nov. v. J. bis Pfingstsonntag nicht aus der Wohnung gekommen.« Das Abschiedsweh befiel ihn heftig, als der neue Leiter der Gesellschaftskonzerte, Richard von Perger, ihn, von Brahms aus bösem Gewissen gedrängt, aufsuchte. Bei der Eröffnung von Pergers, er werde eine der Messen im nächsten Jahre singen lassen, klagte er, da lebe er ja nimmermehr; das Herz und die scharfen Zeitungen täten ihm weh. Seine greisen Augen wurden naß. Ehrfurcht hatte den Gast schon vorher in ihren Bann gezogen, aber nun »tat es einen Fall in meinem Innern, und im stillen bereute ich tief jedes voreilige und abfällige Wort, das ich wohl zu früheren Zeiten über seine Werke geäußert haben mochte«.

Eine weiche Herzenshöflichkeit blieb bei dem Kranken. Mochte sein Harmonium, das er dem behandelnden Arzte zugedacht hatte und das dieser aus Scheu und im Gefühle, der Auszeichnung unwert zu sein, ausgeschlagen hatte, von dessen Vorgesetztem hingenommen werden. Brieflich dankte er gern für »alles und alles«. Als sein jüngerer Freund Kitzler ihn wenige Monate vor seinem Tode besuchte, duldete es ihn nicht im Bette. Den Lehrer empfing man stehend. Die Fieber einer Lungenentzündung schüttelten ihn, er wurde aufgegeben und erholte sich nochmals ein wenig. Händezitternd spielte er dem Arzte Tänze. Hugo Wolf sah ihn in klingende Sphären entrückt. Allerdings, Verhandlungen über einen Opernplan waren aufgegeben. Aber das Finale der Neunten spielte ihn aus der Welt. Ihm wandelte er in den leidlich erträglichen August-, September- und Oktobertagen 1896 durch die Gänge des Belvedereparks nach. Ihm betete er immer wirrer und krauser eine Bahn. Weil ihm schon im Juli ein Kirchenbesuch verweigert worden war, hatte er den Arzt gezwungen, ihm einen Revers zu schreiben, er solle nicht eingesperrt werden, sondern seine Freiheit und sein Leben »voll und voll genießen«. An seinem letzten Tage, dem 11. Oktober, saß er wieder über dem Finale am Klavier. Es war ein Sonntag. Um die dritte Stunde wurde ihm kalt. Er verlangte Tee, trank, ließ sich im Bette auf die Herzseite wenden, atmete tief ein und atmete aus für immer.

Drei Tage danach, wieder um die dritte Stunde, fand die Leichenfeier der Stadt Wien statt. Vor der Karlskirche, wohin der Sarg nach der Einsegnung gebracht war, staute sich das Volk, und auch Johannes Brahms war nun Volk. Aber vor Erschütterung trat er nicht durch das Portal. Ihm waren nicht mehr sieben Monate des Überlebens beschieden. Hugo Wolf wurde nicht eingelassen; er durfte Schuberts »Litanei« und das Adagio der siebenten Symphonie Bruckners in der Kirche nicht hören, denn er war nicht Mitglied des Singvereins.

In der Krankheitszeit war Bruckner zuweilen von seinem Bruder Ignaz gepflegt worden.

An ihn nach St. Florian hatte Bruckner seinen letzten Brief gerichtet. Bruder Ignaz könnte man, nach seiner Gemütslage zwischen Schwermut, Aufbrausen, Schelmerei und sanfter Güte, ein rührendes Gespenst Bruckners nennen. Er trug die von Anton kommenden weiten Kleider und hatte mit ihm die große Familienähnlichkeit, nur war ihm in der Kindheit bei einem Unfall das Nasenbein verletzt worden, und ein Augenleiden quälte ihn. Er hatte dem großen Bruder von Zeit zu Zeit Selchfleisch geliefert und von diesem kleine Draufgaben auf den Preis und auch sonst Unterstützungen erhalten. Ursprünglich Gärtnergehilfe, konnte er nur in klösterlicher Hut leben und wurde Diener und Balgentreter in St. Florian. Glücklich in seinem Kämmerchen, froh in der frommen Gemeinschaft, machte er Ersparnisse, die er dazu benützte, die Schwester Anna nach der Einziehung des Währinger Friedhofs überführen zu lassen, eine Stiftung für das Grabgitter der Mutter zu errichten und der Marienkapelle in St. Florian eine kleine Orgel zu schenken. Er hatte mit Anton gescherzt, er sei doch mehr als der berühmte Organist, denn wenn er die Bälge nicht mit Luft versehe, könne Anton gar nichts, wogegen die Sängerknaben witzelten, sein Nasenschaden rühre daher, daß ihn Anton beim Spiel mit entfesselten Registern hoch in die Luft geprellt habe. Mit heiterer Eulenspiegelei sonnte er sich im Ruhme des anderen, wenn er sich auch gesträubt hatte, eine seiner Symphonien anzuhören, weil er nichts davon verstünde. Aber der Abschiedsbrief an ihn, der nur ein dreimaliges Lebewohl mit taumelnden Buchstaben und taumelnden Silben enthält, ist der ergreifendste Brief, den Bruckner geschrieben hat. Die Fluten der Vergängnis und das Wissen um ihren Einbruch haben ihn überspült.

Zu Bruder Ignaz kehrte Anton Bruckner nach dem Tode aus der kalten Hauptstadt ein. Ursprünglich hatte er sich die letzte Ruhstatt in Steyr ersehnt, dann aber im letzten Willen verfügt: »Ich wünsche, daß meine irdischen Überreste in einem Metallsarge beigesetzt werden, welcher in der Gruft unter der Kirche des regulierten lateranischen Chorherrenstiftes St. Florian, und zwar unter der großen Orgel frei hineingestellt werden soll, ohne versenkt zu werden, und habe ich mir hierzu die Zustimmung schon bei Lebzeiten seitens des hochwürdigsten Prälaten genannten Stiftes eingeholt. Mein Leichnam ist daher zu injizieren, zu welchem Liebesdienste Herr Professor Paltauf sich bereit erklärt hat.«

So geschah es.

 


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