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Erstes Stück

Über einen Bach bei der niederösterreichischen Schloßherrschaft Wallsee südlich der Donau führte seit Urgedenken eine Brücke. Nach ihr hieß der älteste geradenwegs auf Anton Bruckner führende Ahn im Mannesstamm Jörg Prukner »an der Prugh auf seiner hueb« (Hufe). Jörg war um 1400 geboren. Vielleicht sind die Brückenbauern aus Franken eingewandert. Sie saßen dann die Jahrhunderte hindurch um die Kirchen von Sindelburg und Strengberg auf dem Pruckenhofe, dem Pyragute, in dem Markte Oed bei Amstetten, als Bauern ursprünglich, später als Gastwirte, Böttchermeister, Steinbrecher und andere Gewerbetreibende, auch als Ratsherren, manche von ihnen geadelt. Und erst Bruckners Vater Josef wurde in Oberösterreich geboren. Sie überdauerten in der Heimat viel kriegerische Not, Aufstände des Landvolkes, Türkeneinfälle, Pest und Pocken. Wir mögen Getöse, Gestöhn, Geschrei und Gelächter aus ihrer Zeitentiefe heraufhallen hören, aber wir vernehmen keinen einzigen Ton einer Musik zu Trost oder Trotz, die einer von ihnen erfunden hätte.

Der Aufbruch in die Nähe der zu Klang verklärten Schöpfung geschah durch Bruckners Großvater, – freilich nur in die Nähe. Er hatte zwar das Böttcherhandwerk erlernt, doch gehorsam dem Drange zum Lehrberufe und damit zur Armut, ging er, ein sechzehnjähriger Jüngling, zur Vorbereitung nach Linz und wurde nach langer Helfertätigkeit in dem zwei reichliche Stunden von Linz entfernten Dorfe Ansfelden als Schulmeister ansässig. Sein Sohn Anton, der Ältere, folgte ihm im Dienste und heiratete 1823 Theresia Helm, die Tochter eines Amtsverwalters, ein aus Kreisen wohlhabender Geschäftsleute in der Gegend von Steyr stammendes Mädchen. Theresia gebar am 4. September 1824 ihren Sohn Anton, unseren Meister, als erstes von elf Kindern. Und auch dieser tat Schulmeisterarbeit beinahe bis an seinen Tod, wenn man das zwölfjährige Organistentum um die Lebensmitte abrechnet. Dabei bleibe unvergessen, daß es der alternde und krankende Musikprofessor in der Hauptstadt seines Landes bitterer hatte als der jugendliche Anfänger in weltverlorenen und weltbehüteten Dörfern. Zuerst die Trockenheit im Kinderschulbetrieb, nachher die Nüchternheit in der theoretischen Lehre und immer die Sorge und immer der Mangel trachteten seine menschliche Fülle von der Grenze des Klangreiches zu verbannen, in dem sein Geist doch mitteninne wohnte und mächtig war. Wie sein früher Ahn Jörg hauste auch er nach dem Namen, den er vom Schicksal empfangen hatte, gleichsam an einer Brücke, aber das andere Ufer war so fern, daß die Füße nicht hinführten und daß wohl das Jenseits in das wesensgleiche Diesseits herüberkommen oder das Diesseits sich ganz in das ihm wesensgleiche Jenseits verwandeln mußte. Der Rhythmus, der sich durch die sämtliche gültige Musik Bruckners zieht und der zwei Viertel mit einer Triole von derselben Dauer bindet, mutet wie ein Sinnbild dessen an. Manchmal steht die Zweiheit am Anfang des rhythmischen Gebildes, manchmal die Dreiheit. Die Zweiheit schreitet auf festem Grunde, die Dreiheit – so ist es bemerkt worden – schwebt und löst sich ab, und doch haben sie nur verbunden diese Wirkung. Bis zur wesensaufschließenden unwillkürlichen Formel und gar zu den riesigen durch zwei und drei teilbaren Satzfügungen der Symphonien war es ein langer Weg. Gehn altbayrische Volkstänze, die »Zwiefachen«, und manche Weisen der »Meistersinger« Wagners im »Brucknerrhythmus«, so ist der Rhythmus hier dennoch nicht von Bruckners Puls getrieben.

Bruckners Vater und Großvater und ihre Amtsbrüder wollten gewiß überhaupt keine frei geäußerte Musik treiben, als sie von Katheder und Kirchenchor Musik machen mußten. Trauungen und Begräbnisse befahlen ihnen, nicht Genien und Dämonen. Sie ließen sich ergeben einspannen, wie man Ackergäule vor den Wagen spannt. Zogen sie freudig an, so bewies sich die bewegungsfrohe Art aller Kreatur, wiewohl die Art der Kunst davon nicht unterschieden ist, wenn sie zur Herrlichkeit gelangt. Der Linzer Domkapellmeister Franz Xaver Glöggl und sein Sohn schrieben in den zwanziger Jahren, daß der musikalische Gottesdienst vor allem den kirchlichen Erlassen zu folgen habe. Er solle »gleichförmig, anständig und nach Vorschrift der Kirche und des Staates gehalten werden« (Robert Haas). Gefordert wurde Kenntnis der zerstreuten Verordnungen neben Kenntnissen in der lateinischen Sprache und Unterscheidungskraft bei der Auswahl angemessener Stücke: beigegeben wurden dem Handbuche ein Kalender wie die ausführlichen heiligen Texte Roms, insgleichen aufreihende Erklärungen der kompositorischen Gattungen. Empfohlen wurden sonderlich geeignete Tonarten für Andacht, Glaube, Buße, Bitte. Viel war den Wächtern über den Vollzug der Feiern und Weihen schon gewonnen, wenn die Festmusiker sich einem sauberen Schema einpaßten. Das strenge »Du sollst nicht!« und das zuredende »Du sollst!« waren damals offenbar nötig, denn nach ernstem Zeugnis war der Landschulmeister oft träg und anmaßend, und mehr als einem gefiel es, Possengassenhauer selbst in die Musik der Messen zu mischen.

Der kleine Anton Bruckner wird von einer verborgen spürbaren Lenkung zur Gotteszucht bald berührt worden sein. Pfiff er auch immer etwas, »was man nicht gekannt hat«, und fuhr er in seiner Sehnsucht, Gutsbesitzer zu werden, auf einem bockbespannten Wäglein Heu zu Stalle, ritt er das Steckenpferd und machte den Soldaten, so predigte er daneben gern vom Kasten herab und war ein barscher Vertreter seines Vaters im Unterricht der Kleinsten.

Zur Zucht gehörte ihm offenbar von Anbeginn die Pracht: beide gaben einander wechselseitig den Sinn. Es freute ihn, das Spinett des Vaters »furchtbar« zu spielen und im Kirchenchor mitzusingen, zumal wenn die Musik durch Trompeter und Pauker von außerhalb Zuzug erhielt. Zweifellos empfand er keine Lockung des Unerlaubten, bloß weil ihn kein Muckertum lockte. So liefen, als er elfjährig bei seinem damals zweiundzwanzig Jahre alten Vetter Johann Baptist Weiß in Hörsching den Anfangsunterricht im Orgelspiel und in der Harmonielehre erhielt, hier und da stolze Ungewöhnlichkeiten des Klanges unter, als er seine ersten eigenen Orgelpräludien aufschrieb. Erklärt man das Auffallende als Ungeschick, so wählt doch das Ungeschick das eine Mal täppisch, das andere Mal glückhaft und neugierig.

Hier griff die Neugier für einen Augenblick in die Reifezeit Bruckners voraus und tauchte dann sehr lange nicht mehr auf. Der Knabe sättigte sich an der Musik der österreichischen Schule, lernte Stücke von Haydn und Mozart kennen und ahmte den Stil des in der Umgebung von Hörsching so berühmten Vetters und Firmpaten nach. In Weiß muß er zum erstenmal in seinem Dasein die Macht der Persönlichkeit gespürt haben, der es verliehen ist, über das Bekannte und Gegebene in die eigene Sphäre hinaufzureißen. Besaß er nicht selbst schon Macht, wenn er so jung dermaßen gefördert war, daß er selbständig und gut zum Gemeindegesang spielte? Würde die Macht nicht wachsen, wenn er den Generalbaß anging, wahrscheinlich mit einem Treuversprechen bis ans Grab, während Altersgenossen noch Bubenspiele trieben? Der Geist des Baptist Weiß begleitete Bruckner fort und fort, als er längst sein Haus verlassen hatte. Weiß endete sein Leben durch Selbstmord, Bruckner bewahrte Notenhandschriften des Toten als Reliquien und bemühte sich, seinen Schädel dazuzufügen.

Der Aufenthalt in Hörsching war die magische Erweckung einer Wesensschicht. Schnell folgte die vulkanische Erschütterung einer anderen, tieferen.

Herbst 1836 mußte das Kind Anton Bruckner nach Ansfelden zurück, um die Ämter seines unheilbar schwindsüchtigen Vaters zu betreuen, Sommer 1837 starb der Vater. Mit dem Priester hatte der Sohn die letzte Ölung verrichtet, und der Schmerz hatte ihn dabei ohnmächtig hinsinken lassen. Oder war es die Größe des Abschiedswunders, das ernste Gesicht des Erdgeistes, der plötzlich erschien und etwas raunte, was spät den ersten Satz der achten Symphonie beschloß und was Bruckner, von der eigenen Klangvision erschüttert, in die Worte faßte: »Das ist die Totenuhr. Die schlägt unerbittlich, bis alles aus ist.« Nichts sonst aus dem Leben Bruckners ist bezeugt, was ihn so bis zum Verlöschen der Sinne ergriffen hätte wie das Sterben des Vaters. Selbst die Kunde vom Tode Wagners, den er ehrte wie keinen Sterblichen, traf ihn milder. Er hatte sich da schon zu dem »non confundar in aeternum« – ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden – durchgerungen. Dieser Trost stand, vorher für die Kirche gesungen, nun von Anbeginn im Adagio der siebenten Symphonie, und als in den Abgesang des Satzes die Trauerbotschaft brach, lösten sich aus Bruckners Augen befreiend die Tränen: Wie hab' ich da geweint, ach, wie hab' ich geweint!

Der Abschied des Vaters aber von der Erde zeigte ihm zum ersten Male das Unbegreifliche einer unentrinnbaren Ordnung. Der Riß nach drüben zeigte wohl noch in grausige Leere. Hatte er auf seinen Versehgängen schon Sterbende gesehen: hier sah er die noch fremde Nacht der Welt. Zudem zertrümmerte ihm dieser Tod die Gnade des Elternhauses – denn sie ist nicht zu verpflanzen – und den Rest der Kindheit. Das Schicksal sprach zu ihm: Nun siehe du zu! Es riß ihn zunächst in Extreme, in eins der Herrlichkeit und eins der Dürftigkeit, die beide märchenhaft anmuten, wenn man sie sich recht zu vergegenwärtigen sucht.

Die Mutter zog mit ihren kleinen Kindern nach Ebelsberg, für ihren Anton aber wandte sie sich an den eigentlichen Fürsten über die Heimat, den Prälaten in St. Florian, Propst Arneth. Dieser nahm Bruckner als Sängerknaben in das Chorherrenstift der Augustiner auf. Durch 800 Jahre war die Abtei an Glanz und Macht gewachsen, im vierten Jahrhundert wurde der Grundstein der Krypta gelegt. Und ein Dreizehnjähriger war nun wie am Schopfe der kahlen Enge und Armut entrückt, um an seinem Teile im prunkvollen Kirchenregiment mitzuwirken. »Denn die Sängerknaben«, so unterrichtet uns Orel, »zählten zu den nächsten Angehörigen des Stiftes nach den geistlichen Herren, sie waren gleichsam die Kinder einer großen Familie, an deren Spitze Seine Gnaden, der mächtige Prälat, als Vater stand. – Wer nicht Gelegenheit hatte, eines der reichen Stifte Österreichs zu besuchen, kann sich schwer eine Vorstellung machen von der Breite, dem feudalen Glanze, der machtgegründeten Ruhe und Sicherheit, die äußerlich und innerlich das Leben an diesen Stätten durchströmen.« – Vor dem Krummstab als dem Symbol der höchsten Macht habe sich Bruckner hier zuerst und dann zeitlebens gebeugt, und sogar den Kaiser, als er diesen kennengelernt hätte, habe er davor geneigt gesehen. »Auch die Wiener Hofkapelle ließ immer noch den Bischofsstab vor dem Zepter den Vorrang behaupten.« Ein ungeheures Schloßmassiv, in sechzig Jahren erbaut, unter dem der für das Christentum gefallene römische Oberst Florianus den langen Schlaf schlief, war in St. Florian der Sitz dieser Macht. Ihr Herz jedoch pulste für Bruckner in der von Franz Xaver Krismann erbauten Orgel. Sie zählte »59 Registerzüge, von denen aber mehrere mit zwei bis drei Pfeifenregistern besetzt« waren, ungerechnet die drei- bis zwölffachen Mixturen, wodurch wenigstens 74 »vollständige, klangbare Register« entstanden. Im Hauptmanual waren »2200 Pfeifen, im mittleren 1592, im oberen Manual 758, im Pedal 680«. Die größten zweiunddreißigfüßigen Zinnpfeifen wogen an die 500 Pfund. Die Orgel war ein taugliches Organ für den gesamten von innen erklingenden Kosmos, geräumig genug für alle Mysterien, gelassen genug auch für die überkreatürlichen Leidenschaften, gerüstet für den Empfang des brausenden Heiligen Geistes, eine Berge allen Lichtes und allen Dunkels. Ohne von sich zu wissen, ruhten Urbilder der Symphonien Bruckners in ihr. Doch als der Meister sie erkannt und befreit hatte, war es eine Befreiung über das vorstellbare Maß geworden. Sie hatten nicht mehr die Seele der Orgel, sie genossen die Freiheit eines Raumes, wo ein Träumen und ein Schluchzen gleicher Art und gleichen Ranges waren wie Nebelzug und Wolkenflor. Kirchlich und weltlich waren darin verschollene Rufe. Die Tongestalten erinnerten an ihre Florianischen Vorgestalten nur noch durch die Würde und Souveränität ihrer Haltung, durch die Neigung zu jäher Stille wie zu jäh gesteigerten Gluten und unbändigen Umbrüchen, sowie durch die flözweise Lagerung der Klangmassen. Zu ihrem Ursprung ist Bruckner nie zurückgekehrt, nur zur Stätte ihres Ursprungs.

Im Blick auf den vollendeten Weg zum Gipfel gleitet das Auge behutsamer über hinterlassene Spuren einzelner Schritte, als es den Stapfen auf geraderer und bekannterer Straße folgen würde. Es ist, als sollten die Spuren zu leuchten beginnen. In den ersten Jahren zu St. Florian leuchten sie nicht. Bei dem Schulleiter Michael Bogner empfing Bruckner Wohnung und Volksschulunterricht. An Klavier und Orgel wurde er von dem tüchtigen Stiftsorganisten Anton Kattinger weitergebildet, Gesang und Violinspiel lernte er zuerst bei einem gewissen Raab, dann bei dem Geiger Franz Gruber, der bei Schuppanzigh, dem Violinlehrer Beethovens und führenden Spieler der Beethovenschen Quartette, ausgebildet worden war.

Das alles war Nebenwerk und allenfalls notwendiges Hilfsmittel bei dem Trachten Bruckners, ein Schulmeister zu werden wie der Vater. Für die Vorstufe dazu, die Präparandie, bereitete ihn der Schulgehilfe Steinmayr vor. Der war also einstweilen sein wichtigster Hauptlehrer. Und selbstverständlich durfte er nicht etwa an der großen Krismannschen Orgel üben: an der Seitenorgel tat er es um so eifriger und bis zum Ärger seines Violinlehrers.

Am 1. Oktober 1840 war er in Linz zum Antritt des Präparandenkurses und wurde mit lauter »sehr gut« und »gut« im Zeugnis vom 16. August 1841 Kandidat des Gehilfentums für Trivialschulen. Abgesehen von der musiktheoretischen Förderung durch August Dürrnberger, den Verfasser eines von Bruckner stets hochgeschätzten Generalbaß-Lehrbuches, abgesehen von dem Gewinn, Webers Euryanthe-Ouvertüre und Beethovens vierte Symphonie gehört zu haben, trug er ein dürres Bündelchen Wissen aus Linz.

War denn das Überwältigende an St. Florian nur eine feierliche Phantasmagorie gewesen, und die Papst-, Prinzen- und Kaiserzimmer mit ihren farbigen Seidentapeten, Gemälden, Gobelins, die hunderttausendbändige Bibliothek, die weißen weiten Stiegengänge mit ihren Prunkstukkaturen wichen zurück vor einem zu Knechtsmühen bestimmten einsamen Schelm? Wir glauben in der Tat, die Berührung jener Dinge hatte etwas Halbwirkliches, kühl Demütigendes, und erst allmählich erstarkte das Phantom zur Wirklichkeit. Für das Glück, außer in der Sehnsucht, war es zu früh, für die schwere Zubereitung in der Verbannung war es Zeit.

Ihre erste Station hieß Windhaag. Das Dorf lag an der Maltsch gegen die böhmische Grenze. Ein Großfeuer hatte es kürzlich verwüstet. Seine zweihundert Bewohner hausten abgeschnitten von jedem Verkehr. Das Lehrerhaus drohte einzustürzen und wurde geschlossen. Die Schule wurde verlegt, das neue Haus war noch nicht zu Ende gebaut, als der Gehilfe Bruckner dort den Dienst antrat. Er erhielt monatlich einen Gulden »Münz«. Das geizige Essen mußte er morgens und mittags gemeinsam mit einer Dienstmagd, die ihm zuwider war, verzehren. Sein Vorgesetzter, der Lehrer Fuchs, durfte mit ihm tun, was ihn gut dünkte. Früh um vier Uhr mußte er den Tag anläuten und mähen, dann den Pfarrer ankleiden, Orgel schlagen, Wein holen, den Geistlichen begleiten, den Kleinen etwas beibringen, für Fuchs viele Noten schreiben, nach der Schule Heu wenden, dreschen, ackern, Kartoffeln graben, Mist laden, abends zum Gebet und Hausschluß läuten.

Der Pfarrer forderte, empfing und bescheinigte Unterwürfigkeit, obgleich er kein Tyrann war. Damit möglichst viele an der Erniedrigung des Gehilfen mitwirkten, war es so eingerichtet, daß er bei Festen, bei denen er als Gast ausgeschlossen war, zum Tanze fiedeln mußte. Nicht genug damit; er hatte die Brautpaare auch fiedelnd von der Kirche nach Hause zu begleiten.

Bruckner tat es bestimmt ungern, weil dieses lakaienhafte »Herumdudeln« ihn von der Musik abhielt. Ein Dorfbewohner, der sein Leben ansah, war der Meinung: lieber ein Schuster als ein Schullehrer. Bauern sind immer Könige und der milchbärtige Driller des Nachwuchses ein hereingeschneiter Hans Naseweis.

Musik nach Herzenslust betrieb der Fremdling freilich auch, aber die mochte Fuchs an Bruckner nicht leiden, weil Bruckner mehr wollte und gewältigte als er. Dicht unter der Demut lauerte die musikantische Unmäßigkeit. Fuchs hatte um sein Spinett Angst, er jammerte, Bruckner werde ihm die Orgel zusammenschlagen. Er schrieb ihm auch nachher nichts über sein Spiel ins Zeugnis. Wenn er ihn nicht in seine Unterrichtsstunden sperrte, wo er für die Kinder Kielfedern schnitt, lief Bruckner querfeldein und spann harmoniesüchtige Hirngespinste. So sahen ihn die Landleute und nannten ihn bald den halbverrückten Gehilfen. Er brachte die Kirchengemeinde durch seine sonderbare Liedbegleitung in Verlegenheit. Als alte Windhaager später nach ihm ausgefragt wurden, gaben sie widersprechende Auskunft über seine Leistungen. Kaum die zweite Geige und das Einfachste auf der Orgel habe er ordentlich spielen können, hieß es einmal, und das andere Mal, er sei ein ungewöhnlicher Musikus gewesen. Wie dem sei, an unermüdlichem Auftrieb kann es ihm nicht gefehlt haben. Auch nicht an unermüdlicher Lust: Alle Abende geigte er mit dem Webersohne Franz Sücka; dieser spielte die erste, Bruckner die zweite Violine. Zur Faschingszeit gesellte sich ihnen der Vater Sücka mit seiner Trompete. Dann wurde reihum durch die Spinnstuben gezogen und die ganze Nacht hindurch gegen kleines Entgelt zum Tanze aufgespielt. Auch eine Klarinette war im Dorf, und der Arzt blies Flöte. Das außeramtliche Musizieren erlöste Bruckner in abgesparten Dunkelstunden aus den Fesseln. Und er ging auch in den aufgegebenen Verrichtungen über das Amt hinaus. Den Kindern erzählte er von dem Lauf der Himmelskörper. Franz Sücka bereitete er vor Tagesanbruch, daß es keiner merke, zum Präparandenkurse mit vortrefflichem Erfolge vor.

Wir müssen aus alledem seine Subordination zu begreifen suchen. Er hatte, wie jeder in seinem Alter, eine Fülle niederer und höherer Dinge kennengelernt. Wie nicht jeder, besaß er die Gabe der Unterscheidung. Das Größte unter dem, was er bisher gesehen hatte – sinnlich, geistig war noch einerlei –, war die Kirche. Für andere war sie eine Anstalt in den Dörfern und Städten, für ihn die Pfalz eines Reiches, das alle Reiche einschloß. Manche sahen auf die Kirche von einem Bauernhofe, aus einer Weberstube, er sah aus der Kirche auf Höfe, Felder, Gemächer, und sie waren alle in ihr. Sein Zutrauen zu den weltlichen Dingen brauchte deshalb nicht karger zu sein als das der anderen, es konnte sogar wärmer, unbefangener sein, da sie in einer einheitlichen Regierungsplanung geborgen waren. War seinem Anblick das Ganze zuteil geworden, so brauchten Wunsch und Arbeit nicht den Teil zu erstreben, der ihm nicht von dem Ganzen zugebilligt war. In dem Ganzen war seine Sehnsucht bereits am Ziel, außerhalb des Ganzen mühte sie sich in Last und Hitze. Darum stand ihm, was zur Kirche gehörte, unter dem höchsten Recht. Die Priester wurden ihm zu Symbolgestalten. Er grüßte in ihnen über Schwäche und Fehlbarkeit hinweg das unbefleckbare Amt, und davor erlischt der Eigenwille. Vor dem Sinnbild verliert der Wille die Macht; Wille kann es nicht einmal annehmen, geschweige denn es zerstören: er würde nur sich zerstören.

Nun wurde Bruckner aber von einem Willen umgetrieben, der so stark war wie sein Glaube. Der Glaube war das Statische, der Wille das Motorische seines Wesens. Und auch das Motorische zielte auf die hohen Dinge. Doch mußten diese, wollten sie für die Erfassung durch den in Arbeit, Fleiß, Sehnsucht, Traum umgesetzten Willen geschickt bleiben, selbst arbeitshaltig, fleißhaltig, sehnsuchtshaltig, traumhaltig sein. Sonst war die Vereinigung, die Identifizierung nicht zu erreichen. Den gewordenen Symbolen der Kirche setzten sich eigene werdende entgegen, den überkommenen ankommende, den innerlich und äußerlich sichtbaren innerlich und sinnlich hörbare. Sie waren erst dunkle Visionen des Geistes, sie duldeten kein Säumen und Nachlassen. Darum bückte man sich wunderlich freundlich vor den Hindernissen, um von ihnen nicht gebeugt zu werden. Es war, als bäte der plumpe und auch der jähe Eifer alle Mißgünstigen, die Bahn freizugeben – sie war ja die Bahn des Lebens. Das konnten die Mißgünstigen nicht wissen, und so braute sich bisweilen bei Spott und Fron eine böse Witterung für eine empfindliche Seele zusammen.

Bruckner verlor nach eineinvierteljähriger Tätigkeit in Windhaag die Geduld und verweigerte eine ihm aufgetragene Landarbeit. Propst Arneth von St. Florian, der ihn vielleicht dafür strafen sollte, erbarmte sich seiner. Er kannte ihn und wußte, daß seine Klagen frommer waren als die Anklage. Er mochte seine Liebe zur Tonkunst nicht weiter kümmern lassen und bewirkte Bruckners Versetzung nach Kronstorf, einem Dörfchen zwischen Steyr und Enns. In beiden Städten blühte eine ernsthafte Musikpflege, beide konnten leicht erwandert werden.

Bruckner fühlte sich »in den Himmel« gehoben. Die Mitte des Himmels war das »Speckkammerl«, worin er wohnte, ein enger Verschlag im Schulzimmer. Da zog er Ende Januar 1843 ein. Johann Sebastian Bach zog mit ihm ein: in die Schulstube kam ein altes Klavier, das er bei einem Bauern lieh. Darauf spielte er früh vor dem Dienst und spät bis in den Morgen. Der kränkliche Lehrer Lehofer duldete es gern, und seine Frau, die nach Mitternacht manchmal aufstand, um ihn ins Bett zu schicken, versorgte ihn wie ihr Kind.

In den Städten standen gute Orgeln, in Steyr eine von Krismann, dem Meister des Florianer Werkes. Dort fanden sich alsbald auch Freunde, wie er sie bisher noch nicht gehabt hatte. Plötzlich war unter den Besten sein menschlicher Wert anerkannt.

Der Pfarrhof in Steyr wurde auf Lebenszeit sein Zufluchtsort, wenn er müde und krank war, und er saß im Hause von Karoline Eberstaller über Liedern Schuberts mit einer Frau vor den Tasten, die einst mit Schubert selbst hier am Klaviere gesessen hatte. Nachklänge von daher gingen bald in seine Erfindungen ein.

Bereicherte er in Steyr sein Wissen nach der Seite der Ruhe und Schönheit, so vertiefte er es in Enns nach der Richtung des Ernstes und der Gründlichkeit. Der Organist an der Ennser Stadtkirche, Leopold Edler von Zenetti, unterwies ihn zum erstenmal umfassend in den musiktheoretischen Wissenschaften, wie auch die praktische Hinleitung zu Bachs Choralkunst und zum »Wohltemperierten Klavier« bestätigt. Das Bildnis Zenettis zeigt einen klugen Kopf mit sinnend verkleinerten Augen hoch über dem kräftigen Munde. Er hielt sich an das altertümlich solide Lehrbuch von Daniel Gottlob Türk. Bruckner klärte sich den Wissensstoff in einem Schriftheft, dessen Inhalt Selbständigkeit nachgerühmt wird. Dreimal wöchentlich holte Bruckner neue Aufgaben von Zenetti und brachte die Lösungen manchmal noch am Abend des Empfangstages nach Enns zurück.

Hunderte von Meilen hat er während der zweieinhalb Kronstorfer Jahre für die Mehrung seiner Kenntnis zu Fuß zurückgelegt. Es gemahnt an die Wanderungen des jungen Bach. Dann bestand er mit Auszeichnung die Konkursprüfung für »sistemisierte« Schulen und wurde am 25. September 1845 in St. Florian als Lehrer angestellt.

Wir haben Bruckner nun schon durch eine Anzahl von Dörfern und Städten begleitet und haben ihn immer in deren Kirchen, Pfarreien, Schulen, Wirtshäusern, Rockenstuben und Kammerverschlägen gefunden, niemals recht im Freien. Oder hätte er die Landschaft genossen, wenn er auf den Rainen Notenpapier aus dem Hute zog und die Liniensysteme mit grauen Saaten bestellte? Wenn einer zum Tanz fiedeln mußte wie er an den Sonntagabenden, so reichte das Freie vom Geigenleibe bis an das Ende des Tanzbodens. Wenn einer Dung laden mußte wie er, so reichte es von der Forke bis auf den Wagen hinauf. Wenn einer zu arm ist, um zu fahren, und mehrere Stunden traben muß, nur damit er seine Übungshefte kurz dem Theorielehrer vorzeigen und neue Aufgaben zusammenraffen kann, so hantieren unterwegs seine Gedanken nach gewichtigen Regeln mit Notenköpfen und ruhen kaum neben der Straße in der Sonne, ängsten sich kaum in den Nachtschauern.

Er war damals der Landschaft, die ihn doch besaß und ihm einflüsterte, nicht zugekehrt, nicht abgekehrt, nur den Menschen und ihren Geschäften. Aber alle seine Arbeiten unter Menschen, mit Menschen und für Menschen wirkten an der andern Arbeit, die das Geschick mit ihm vorhatte: ihn den Menschen verlorengehen zu lassen. Er mußte so nahe, derb und handfest bei ihnen sein bis in seine letzten Zeiten, um nicht in raunenden, brausenden, donnernden Klanggewalten ohne Gestalt zerschliffen, zermahlen, zerschmettert zu werden.

 

Bei der Betrachtung des zweiten Aufenthalts in der Chorherrensiedlung behalten wir vor Augen, wie er ausging: in Friedlosigkeit des Herzens, Schwermut, Flackern des Triebhaften. Sein Leichtes, Freudiges, Lustiges, Tapferes stieg ans Licht, und zugleich senkte und setzte sich das Schwierige und Schwere. Wir haben den Eindruck, das Genie, das vorher schon keimen wollte, habe sich in den Jahren zwischen zweiundzwanzig und zweiunddreißig zusammengezogen und geschwiegen, indessen das Talent sich ausbreitete. Der Fleiß zwar blieb ehrwürdig emsig, die Zahl und der Umfang der Werke schwollen an, Eile, Geduld, Meisterung und Gelegenheit arbeiteten Hand in Hand, das technische Üben und Können erreichte die Kraft hoher Vorbilder, aber wäre Bruckner so jung wie Schubert und noch wie Mozart gestorben, wir Laien wüßten heute nicht viel von ihm. In seiner Spätzeit wollte er das meiste von diesen Kompositionen vernichtet wissen.

Trotzdem sind das Requiem in dmoll, das Libera in fmoll und die Missa solemnis in bmoll darunter. Er lehnt sich manchmal wohl notengetreu an Mozart an, doch auch an Beethovens von ihm damals noch nicht gekannte neunte Symphonie und an Wagners damals noch nicht vorhandenes »Rheingold« haben hineinhorchende Nachfahren gedacht. In seinen Abschriften ging er bis auf Caldara und Händel zurück. Studien zur Religion und in der lateinischen Sprache bei dem Chorherrn Paulitsch zogen den Bildungskreis ins Weite. Vorspiel und Fuge in cmoll für Orgel gemahnt an die großen Beherrscher des Orgelstils. Werden wir nur nachträglich seiner so froh?

Es fällt auf, daß in dem Jahrzehnt vor der wohl schönsten Orgel des ganzen Landes ganz wenige reine Orgelstücke entstanden, wahrscheinlich drei. Die Orgel begleitete Gesänge und Chöre, so das für eine Singstimme geschriebene Lied »O du mein liebes Jesukind«, die gemischten Chöre der sechs » Tantum ergo« und des »Herz-Jesu-Liedes«, ebensooft fand sich ein Orchester hinzu mit einer Vorliebe für mehrere Trompeten und drei Posaunen, in anderen Fällen blieb die Orgel fort, und in wieder anderen auch das Orchester. Die Orgel sättigte in der Produktion die Klangfarben, nichts weiter.

Als selbständigem Instrumente schien, was sie herzugeben geruhte, ihr eingebaut, wie sie selbst eingebaut war. Sie diente beim Nachspielen fremder Meisterwerke und war dem Improvisieren und Phantasieren eines schlagfertig kombinierenden Geistes aufbehalten. Imitationen durch Stimmen und Register laufen und Figuren quirlen lassen, Akkordgedröhn gegen Grund und Gewölbe schleudern, das mußte man immer können, es verachtete die langsame Schreibfeder: diese Kunst munter bis zum Schweißtriefen fortsetzen, hieß schon sie aufbewahren, sie wartete tagtäglich auf ihren Zauberer, es war eine parate und mündliche Kunst, ihr Medium war die triumphale Gegenwart. Das bedeutet: Das Weltkind erwachte auf der Kirchenempore zu seiner Art Andacht.

Drunten tummelte es sich schon ohnehin beim wendigen Schwimmen und Tauchen, es sang den ersten Baß im Männerquartett der Freunde und drehte sich zur Faschingszeit im Tanze. Gern getanzt hat Bruckner, der von Frauen Ungeliebte, zeitlebens, wie er, der vom Gelde Gemiedene, gern im Wagen fuhr. Seine Besoldung stieg jetzt allerdings und verfünffachte sich schließlich ungefähr zu kläglicher Höhe. Aber die Weltlust gedieh. Wenn er und ein Lehrerkollege und der Regenschori und sein späterer Schwager Hueber in den Pausen zwischen den Tänzen anstimmten, mag es etwas aus dem Gebiet seiner bürgerlichen Männerchöre gewesen sein, worin ein »Ständchen« gebracht wird, der »Lehrerstand«, die »Sternschnuppen« und das »edle Herz« ihn bewegt, aber auch ein »Lied an das Vaterland« dargebracht wird.

Denn die politische Märzluft drang bis in die Entlegenheit der Klöster. In Wien hatte der Volksaufstand am 13. März 1848 begonnen. Metternich wurde entlassen, die Einwohnerschaft bewaffnete, die Presse befreite sich. Aus der Gesamtmonarchie wurden Abgeordnete zur Beratung der Verfassung berufen. Wie rasch die Revolution das Land aufrüttelte, geht daraus hervor, daß die Linzer, also Bruckners nächste Landsleute, schon am 19. eine schwelgerische Dankadresse an die Bürger der k. k. Haupt- und Residenzstadt Wien richteten. Sie beginnt: »Muth und Entschlossenheit der edlen Bürger Wiens und seiner Hochschule haben Österreichs Macht neu begründet, uns das erhabenste Geschenk für freie Völker, die Zusicherung einer Constitution, erworben. Das konstitutionelle Kaiserreich Österreich wird Segen bringen dem Kaiser, dem Volke. Kostbar wird die Frucht der Erfüllung sein, sie fordert uns Alle auf, sie treu zu bewachen. Ferdinands Worte sind Wahrheit, unbegränzte Liebe ist die Erwiderung.« Sie schließt: »Hoch lebe die edle tapfere Bürgerschaft unserer Hauptstadt Wien!«

Der selige Schwung erfaßte auch Bruckner, er schloß sich (nach Schwanzaras Forschungen) der Nationalgarde an und übte militärisch. Da die an Erbe und Eigentum der Grundherren haftende Gerichtsbarkeit, die patrimoniale Rechtspflege, aufgehoben wurde, benutzten auch Männer wie der Stiftsorganist Kattinger die Gelegenheit, aus der geistlichen Bannmeile zu entfliehen. Allerdings durchschauten die Weisen, wie der Rausch endet. Stifter warnte damals: »Jeder Mißstand, jedes Übel (von jeder Seite) wird nur durch das gesänftigte, edle, ruhige, aber allseitig beleuchtete Wort gut – durch dieses wird es aber ganz gewiß gut –, und das Wort, diesen ›sanften Ölzweig‹, so heiß ersehnt, endlich errungen, gebrauchen wir jetzt so selten recht, oft wird es eine Zündfackel, oft wird es kurz beiseite geschoben und die Gewalt gebraucht, die nur noch mehr verwirrt, die Gemüter von jeder Seite mißtrauischer macht, Verzagtheit, Ohnmacht, Zügellosigkeit, Despotie und Reaktion hervorruft und in vielen Fällen nicht einmal die gewünschte Frucht, sondern oft die Mißfrucht erzeugt. Ich bin ein Mann des Maßes und der Freiheit – beides ist jetzt leider gefährdet, und viele meinen, die Freiheit erst recht zu gründen, wenn sie nur sehr weit von dem früheren Systeme abgehen, aber da kommen sie an das andere Ende der Freiheit.« Weiter fand Stifter, mancher Ehrenmann sei jetzt plötzlich von bösen Leidenschaften und gierigen Gelüsten beherrscht – »er war nämlich nie ein Ehrenmann, sondern seine Triebe waren bloß gehemmt, jetzt fühlt er den Damm weg, und sie strömen aus. Wer ein echter, innerer Ehrenmann war, ist es auch jetzt noch, ja, sein Gold hat Gelegenheit, noch mehr zu leuchten als früher. Er gab sich auch im alten System seine Gesetze selber, und diese bestehen noch. Darum ist die Freiheit allein der Probestein der Charaktere, und sie macht auch allein die großen Menschen möglich.«

Wir denken bei Stifters Überlegungen an Bruckner wie an seinen künftigen Oberhirten Bischof Rudigier, der von seinem sakralen Standort aus dachte wie Stifter.

Bruckner waren die eigenen Gesetze vorausgereicht aus der unpolitischen Revolution seines Innern, die noch kommen sollte. Zu ihnen hin handelte er, grub, um sie zu ergraben, in die Tiefe, harnischte sich in Härte, wie sie noch unentwirrbar forderten, begab sich bei bescheidener Lustbarkeit nicht aus ihrer Hörweite.

Er lehrte nun, wo er Schüler gewesen war. Gute Kinderbehandlung hatte sein mitgebrachtes Zeugnis hervorgehoben, dabei blieb es. Kindlich-väterlich gab er sich auch in den Familien, in denen er verkehrte. Er wohnte wie dereinst im Hause des Lehrers Bogner. Dort blühten junge Töchter auf. Die eine schaukelte er auf den Knien, sang ihr Liedchen vor, spielte lächelnd etwas volkstümlich Albernes auf dem Klaviere ihres Vaters. Das Kind verwechselte sich als Greisin mit ihrer Schwester Luise, die von dem Hausgenossen ein in Liebe gewidmetes Lied erhalten hatte. Die sechzehnjährige Luise aber ließ Bruckners Liebe nicht ins Herz, wie bald darauf auch die Tochter Antonie des Steuereinnehmers Werner nicht. Bruckner flammte bis ins hohe Alter noch oft und oft auf, wurde nie erhört oder gekränkt und enttäuscht. Für den Jungmädchenzirkel von St. Florian entstanden zwei Tänze für Klavier zu zwei Händen.

Erhalten haben sich noch vier Klavierstücke zu vier Händen. Auch sie sind Hausmusik. Bruckner besaß als Erbstück von dem 1848 verstorbenen Stiftsbeamten Sailer einen neuen Bösendorferflügel, welcher bis zu seinem Tode in seinem Besitz blieb und auf dem er nach der Sage täglich zehn Stunden geübt habe neben täglich dreistündigen Orgelübungen. Die Leute hörten unter den Fenstern gern zu. Die Übermachung des Flügels deutet auf Achtung und Freundschaft. Bruckner erwiderte mit der Gedenkmusik des Requiems. Die Zueignungen lassen überhaupt erkennen, wie seine kleinen und großen Anhänglichkeiten verteilt waren. An Kinder wendeten sich liebe kurze Klaviersachen, an Fräulein Quadrillen und »Steiermärker«, der Freund Seiberl empfing zwei Totenlieder und einen Chor »Die Geburt«, dem Prälaten Arneth weihte den Namenstag eine Kantate, die Bestattung 1854 das Libera in fmoll. Seinem Nachfolger Mayr, ebenfalls einem Freunde Bruckners, wurde als dem »Hochwürdigsten Herrn Prälaten Friederich I.« zur Infulierung die erste lange Messe zugeschrieben.

Es ist einleuchtend, daß Bruckner sich in St. Florian am meisten beheimatet fühlen mußte. In drei Daseinsformen hatte er es in sich aufgenommen, als Schüler, als Lehrer, als Gast aus Kronstorf. Nach Länge und Vielfalt häuften die Aufenthalte im Stift die Erfüllung der ersten Lebenshälfte. Sie erhoben sich aus den Gegensätzen kleiner Verhältnisse. Und die erste Lebenshälfte ist, weil sie mit beiden Händen zubringt und mit einer wegnimmt, mindestens doppelt so lang wie die zweite, wo zwei Hände nehmen, was eine schenkte. Darum blieb für Bruckner die Sehnsucht hierher immer heil.

Die Gegenwart aber war schlimmer. Prometheische Anstrengungen brachen sich immer an den geistlichen Wällen, und es freute nicht immer, von den Spielen außerhalb der Umwallung zur unsichtbaren Burg zurückzukehren.

St. Florian hatte sich spukhaft verändert. Es war zum zweiten Verbannungsort geworden, ängstigender als der erste. Die Einsamkeit unter Mitgefangenen begann Bruckner zu drücken, und je mehr Sträflingswärter um ihn waren – man wurde als Dreißiger geduzt! –, um so beklemmender zog sich das Verlorensein in ihm zusammen. In dreitausend Tagen hatte er es nicht gelernt und wehrte sich mit dem Gefühlswiderstand, der ihm seine Lage überhaupt erst deutlich machte. Ihm war es verwehrt, auf die Hochschule zu gehen, wie es sein Freund Josef Seiberl hatte tun dürfen. So sandte er ihm wenigstens schriftlich seine traurigen Gedanken nach. Ein als guter Tenorist ihnen willkommener Kollege sei versetzt worden, sein Nachfolger hätte zur Pflege des kränklichen Vaters heim müssen, und der Regenschori sei am Nervenfieber gestorben. »Siehst Du, welch schauerliche Veränderungen! Ich sitze immer arm und verlassen ganz melancholisch in meinem Kämmerlein.« Wo könnte er einen Helfer finden? Er besann sich; dem Hofkapellmeister Aßmayr war er vorspielen gereist, und dieser hatte ihn »gewandt und gründlich« befunden. Würde der sein Glück begründen können? Noch immer sprach er vom Glück. In späteren Gesuchen an einflußreiche Männer flehte er um Rettung, und er übertrieb nicht. Er begründete die Übersendung seines vielleicht noch schwachen und schonungsbedürftigen 114. Psalms an Aßmayr so: »Ich habe hier gar keinen Menschen, dem ich mein Herz öffnen dürfte, werde auch in mancher Beziehung verkannt, was mir oft heimlich sehr schwerfällt. Unser Stift behandelt Musik und folglich auch Musiker ganz gleichgültig – oh, könnte ich recht bald wieder mündlich mit Ihnen sprechen! Ich kenne Ihr vortreffliches Herz welch ein Trost! Ich kann hier nie heiter sein und darf von Plänen nichts merken lassen.«

Als er die vielentscheidende Reise zum Herrn Hofkapellmeister Aßmayr nach Wien machte, ließ er ein Lichtbild von sich herstellen. Es hat das Verschollene und das Saubere der alten Daguerreotypien. Bruckner steht auf einem mit diagonal angeordneten Quadraten gemusterten Teppich gegen eine leere Wand. Er hat dem Photographen offenbar mitgeteilt, wer er sei, und sich danach gestellt. Der rechte Arm möchte lässiges Selbstbewußtsein zeigen, die Hand hat die Jacke zurückgeschlagen und steckt mit herausgespreiztem Daumen in der Hosentasche, neben der Uhrkette. Die Linke hält eine weiße Rolle schräg über die Beine und fesselt ihren herabhängenden Arm lose an den Körper. Die Gestalt ist schlank und hält sich trotz der niederziehenden Falten im Beinkleid mit bescheidner Straffung aufrecht. Nur der Kopf neigt sich eine Winzigkeit nach links. Ein kräftiger Bart unter kräftiger Nase nimmt den Mund weg. Die dichten, dunklen, kurzen Haare fassen die hart gewölbte Stirn in zwei rechten Winkeln ein. Das ganze Antlitz wäre verschlossen, richteten sich nicht ernste, fast bekümmerte Augen auf etwas Entlegeneres, als es diese Stunde des Einheimsens von Anerkennung für jugendliches Streben ist. Ein Hauch bitterlicher Luft um das Haupt (oder ist es nur die Abwesenheit jeder Lüge?) wich nicht, während die Figur den klösterlichen Kavalier stellte und eine große schwarze Halsschleife den Ruhm von morgen anheftete.

Ein Jahr später war ihm die Gefängnisluft schon so unerträglich geworden, daß er auszubrechen versuchte. Schlüssig, von sich zu werfen, was er bisher erarbeitet und geplant hatte, wollte er Kanzleischreiber werden und wandte sich an die Landesbehörde mit einem wahrhaft phantastischen Schreiben. In abenteuerlich erzwungener Vorstellung sah er den Büroschemel als den Thron, für den er von je sich berufen gefühlt, auf den er sich gesehnt habe. Das löbliche k. k. Bezirksgericht St. Florian bezeuge, daß er diesem vor ein paar Jahren ganz unentgeltlich, fleißig und hingebungsvoll seine Dienste gewidmet habe. Er legte der Bewerbung alle Atteste, über die er bis dahin verfügte, als Anlagen a, b, c, d, e, f, g bei und wurde dann doch mit langen Aktenzeichen kurz abgewiesen, eiskalt, nämlich nach länger als einem Jahr.

Die innere Unruhe wühlte in ihm weiter. Möglicherweise nagte ein Unbehagen darüber an ihm, daß seinen Kompositionen, nun schon einem halben Hundert an der Zahl, noch der Freispruch durch einen Geist fehle, der in keinem Menschen hauste und vor den er nicht als Prüfling treten konnte. Kirchlich waren sie wissend, technisch waren sie eingeweiht, gleichwohl wandelten sie vor ihm wie Unerweckte, von ihm nicht erweckbar. Die Hand jenes Geistes hatte zuweilen schon die seine geführt, doch er erkannte nicht, was sie schrieb. Im Orchestereingang zum Resurrexit der bmollMesse steigt der Streicherchor, vom Pianissimo her aufwehend, über leise schüttelndem Dominantorgelpunkt chromatisch im Tremolo empor – das war er selbst, und er erkannte sich nicht. Dem Kyriechor quillt in der Tat beim versunkenen Aufbangen zur Terz und Zurückneigen zum Grundton aus der Kehle ein Hauch der acht Hörner, die misterioso die neunte Symphonie öffnen – er erkannte es nicht. Altäre waren um ihn, er war in ihrem Heiligtum, noch nicht im Segen ohne Altäre.

Darum hatte er in ein langes Jahrzehnt unablässig die Energien gepreßt, die ihn in ein seinem Werte und seiner Zuversicht entsprechendes Amt tragen konnten. Sein Ehrgeiz durfte sich gekränkt fühlen, wenn er als supplierender Stiftsorganist von 1845 bis 1849 dienen mußte, dann nach Kattingers Übertritt zur Steuer als provisorischer bis 1855 (er vermerkte das provisorisch auch auf dem Titelblatt der Missa solemnis in b von 1854), und erst von da ab, als es seelisch für ihn zu spät war, als ordentlicher. Man hat seine Verbissenheit, sich sein Können immer wieder bestätigen und bescheinigen zu lassen, eine Sucht genannt, aber er brauchte vorläufig die Scheine alle. Als Lehrer wie als Musiker kam er aus unterster Tiefe. Um nicht ein Handlanger in Trivialschulen zu bleiben, mußte er nochmals nach Linz zu dem zweijährigen neugeschaffenen Kurse, und dann nochmals zu dem ebenfalls zweijährigen Unterrichte für Unterrealschulen, immer von St. Florian aus, schließlich zur Lehramtsprüfung für Hauptschulen. Die letzte hatte er ohnehin drei Jahre über die Fälligkeit hinaus bis 1855 verschoben.

Währenddessen wollte er vor sich wissen, ob er auch in der musikalischen Ausbildung gleichsam als Angeklagter vor Schwurgerichten bestand. Daher hatte er sich Kattinger offiziell gestellt und dessen Kollegen im Stifte Seitenstetten, und sie sollten nicht wohlmeinen, sondern ihr Urteil dokumentarisch vertreten. Daher hatte er Ignaz Aßmayr vorgespielt und Simon Sechter und Gottfried Preyer und Robert Führer, lauter Männern von Ruf, die ihm einen obersten Gerichtshof in Dingen der Musik bildeten.

Wie hart gebettet aber er sich in dem Florianer Kloster glaubte, geht daraus hervor, daß er, der Mensch ohne Hinterhalt, sich heimlich um die in Olmütz ausgeschriebene Domorganistenstelle bewarb, zum Zorne seines Prälaten und Freundes.

Das war im Sommer 1855. Er blieb.

Darauf befiel ihn eine Art Gleichgültigkeit und Saumseligkeit: Im Herbst starb der Dom- und Stadtpfarrorganist Wenzel Pranghofer in Linz; Bruckner hätte sich zum Probewettspiel für die Neubesetzung des Postens melden können, er ging aber nur als Zuschauer und Zuhörer hin. Sein ehemaliger Theorieprofessor Dürrnberger nahm die Prüfung ab und war mit den Stegreiffugisten unzufrieden. Da holte er den widerstrebenden Bruckner auf die Orgelbank, und unter seinen Händen und Füßen erschloß sich aus dem von den anderen verdorbenen Thema eine hinreißende Fuge. Als nach zwei Monaten das entscheidende Wettspiel stattfinden sollte, zauderte Bruckner wiederum unbegreiflich, als läge ihm nichts daran, sein unpäßliches Dasein zu verbessern. Mehrere unwirsche Ermahnungsschreiben aus Linz holten ihn endlich heran. Namhafte Organisten stritten mit ihm im Dome, »der ersten und obersten Kirche in der ganzen Diözese«, zwei aus der Stadt, der dritte und bedeutendste war der Komponist Ludwig Paupie aus Wels. Bruckner triumphierte im »Organistenkrieg«, wie, darüber gibt das in der Sakristei aufgenommene Protokoll gravitätisch Bescheid. Bis zu Bruckners Auftritt referiert es verhalten schadenfroh. Der erste Bewerber, Privatmusiklehrer in seinem Wochentag, versuchte und versagte. »Derselbe hat sich daraufhin unbemerkt freywillig entfernt und der weiteren Prüfung über Choralbegleitung gar nicht unterzogen.« Der zweite, Paupie, gestand ein, das ihm aufgegebene Thema in cminor sei ihm zu schwer und die von ihm verlangte Choralbegleitung sei ihm ganz fremd. Er griff das Thema an, phantasierte sich jedoch pfiffig aus ihm heraus. Bruckner als letzter errichtete über ihm dann eine strenge Fuge, wie er denn »auch die ihm aufgelegte schwierige Choralbegleitung mit so hervorragender Gewandtheit und Vollendung zum herrlichsten Genusse verarbeitet und ausgeführt hat, daß dessen ohnedies in der praktischen Behandlung der Orgel wie nicht minder in seinen bekannten, sehr gediegenen Kirchenkompositionen bewährte Meisterschaft sich neuerdings mit aller Auszeichnung fest erprobte«. Die Stelle wurde ihm zugesprochen, damit er in seinem Beruf ein Vorbild, »Muster wahrer erhabener kirchlicher Kunstübung für alle Organisten der Diözese« werde.

Im Linzer Jahrzwölft traten vier Gestalten vor die anderen in den Vordergrund.

Ein Fürst: Bischof Rudigier. – Linz scheint damals eine Bürgerstadt von etwas klebriger Liberalität gewesen zu sein. Massenhafte Unterschriften unter eine Revolutionsadresse sind gerade aus solch einem Zustande heraus leicht geleistet. Die Stadt hatte bei ungefähr zwanzigtausend Einwohnern neun Kirchen, ihre Donauschiffahrt und die Pferdeeisenbahn nach Budweis. Im Jahre 1859 wurde ein Aufsatz über den Baustil von Linzer Häusern geschrieben, der die »Kisten« und ihre »weißliche, gelbliche, grauliche, grünliche, nichtssagende und kunstlose Tünche, mit der man so oft Gebäude und ganze Gassen überzogen hat«, unförmig, völlig gedankenleer und kunsttrostlos schilt. Der Verfasser war ein Dichter, doch er meinte, als Seifensieder würde er seinen Mitbürgern weit willkommener gewesen sein. Es war Adalbert Stifter, der größte Poet seiner Zeit in Österreich, und nicht nur dort.

Er war um die vorige Jahrhundertmitte einer der drei Geistesfürsten, die gleichzeitig in den Mauern des kleinen Linz lebten: Stifter, Bischof Rudigier, Anton Bruckner. Ob Stifter je den beiden anderen begegnet ist? Er sandte zwar den Lehramtskandidaten Hager zu dem zweiten, dem Domorganisten, der den musikalischen jungen Mann auf den Kirchenchor zog und sich von ihm häufig an der Orgel vertreten ließ, aber ob Bruckner mit Stifter jemals ein mündliches Wort gewechselt hat, ist unbezeugt. Als Stifter sich mit einem Rasiermesser die Kehle durchschnitt, erfuhr Bruckner es nicht; als ein paar Monate später die Donaubrücke von eisernen Schleppern eingerissen wurde, wobei Menschen ins Wasser fielen, geriet die Stadt in Aufregung.

Doch Bischof Franz Josef Rudigier und Bruckner standen im Bunde der Verehrung dessen, was sie waren.

Rudigier, ein Bauernsohn aus Vorarlberg, gebildet in den theologischen Fakultäten zu Innsbruck, Wien, Brixen, dann junger Professor des kanonischen Rechts und der Kirchengeschichte in Brixen, Professor der Moraltheologie in Wien, seiner hohen Gaben wegen schon seit 1852 Bischof im neuen Bistum Linz, war ein »eiserner Charakter«, ein wilder mittelalterlicher Herzog seines ewigen Herrn, dessen feuerflüssige Bilderschrift über die ganze Welt hin in den Sternbildern zu lesen stand. Zur Domäne des Ewigen gehörten Rudigier selbstverständlich Schule und Ehe, die Jugend, die da wuchs, die Jugend, die da wachsen würde. Alle Knaben und Mädchen reiften vom Puppenstand durch die Totenhülle Gott zu. Daher lag es seiner irdischen Vertretung ob, die Schule zu behüten und den Ehestreit zu schlichten und zu richten. Die nachmärzlichen Sturmfluten wollten die überkommenen apostolischen Rechte als Strandgut in die Hände der schwatzenden Spießer am ungefährlichen Ufer spülen. Sie umgarnten das lebendige Recht mit den Netzen ihrer Gesetze. Empfand Bischof Rudigier in der klerikalen Ordnung die Botschaft von oben, so verstand er sich ebensogut auf die Redensarten der Paragraphenmacher. Bei seinem Parlamentieren stoben die Fetzen. Ungehorsam gegen die Gesetze der Unbefugten war schließlich die Forderung seines Hirtenbriefs; der Hirtenstab schlug und stach wie eine Hellebarde.

Ein in Linz residierender Erzherzog wollte ihn zu einer Haustaufe bestellen; er weigerte sich, es sei üblich, daß der Täufling in der Kirche erscheine. Davon war auch ein erzherzoglicher Täufling nicht ausgenommen. Dem Kaiser Franz Joseph sagte er in Ischl ins Gesicht, daß er sich wegen der Unterzeichnung der freisinnigen Schulgesetze vor dem göttlichen Richter werde verantworten müssen. Er spürte das Unreife, Unernste, Großmannssüchtige in den Verordnungen. Er hatte sich oft genug mit dem Linzer liberalen Doktorenregiment herumgeschlagen. Er sah, um an den Weisen zu denken, gegen das Ideal der Sittlichkeit »das Ideal der höchsten Stärke aufkommen, das Maximum der Barbaren, das in Zeiten verwildernder Kultur gerade unter den Schwächlingen sehr viel Anhänger finde«. Rudigier wurde für die rauhe Folgerung aus seiner Einsicht verhaftet. Der gebürtige Linzer Hermann Bahr erinnerte sich aus seinem siebenten Jahre, wie die unerträgliche Doktorenherrschaft »sich erkühnt hatte, dem hochwürdigsten Herrn Bischof Franz Josef Rudigier in seinem eigenen Hause vom Bürgermeister der Stadt Viktor Drouot durch den Gemeindesekretär, den sonst so gefälligen, so gemütlichen, schnaufenden Herrn Eduard Thum, ... Gewalt anzutun und ihn, wie einen gemeinen Verbrecher, just an eben dem Tage, da er vor sechzehn Jahren zum Bischof geweiht worden war, mit der Polizei zum Landesgericht einliefern zu lassen«. Rudigier nahm weltliches Gericht nicht an, wurde trotzdem zu Kerker verurteilt, aber nächsten Tages vom Kaiser begnadigt. Bahr nennt ihn einen im Absoluten ruhenden Geist in der Fehde mit allen Relativitäten des irdischen Lebens.

Der gleiche Gewährsmann berichtet auch, wie der von ihm verehrte Bruckner vor den Linzer Pfahlbürgern und -bürgerinnen erschien: er kam eine Zeit ins Haus »als Klavierlehrer eines losen Tantchens, dem er, verliebt, unablässig die kleinen ungeschickten Händchen abzuküssen nicht müde ward ... Bruckner war mit seinen Kratzfüßen, vor Verlegenheit schwitzend, in seinen ungelenken Huldigungen ein bäurischer Tolpatsch von solcher Possenkomik, daß meine Mutter vor Lachen nicht dazu kam, sich ihn einmal näher anzusehen.«

Der Bischof sah ihn durchdringend an und erkannte sein Maß, schweigend, handelnd. Er ahnte vielleicht, wie der Klavierlehrer sich wegen abschätziger Behandlung heimlich ausweinte, er hätte verstanden, daß er vor Übermüdung in den Lektionen einschlief und, wenn sie ihm einmal zu hoffnungslos schienen, auf dem Klaviere selber vortrug. Als erster in Bruckners Leben gab der Bischof durch die Art seines Schweigens und Handelns die einsame Größe des Meisters zu. Er soll ihn auf der Straße mit ausladender Geste wie einen König gegrüßt haben. Daß der Bann, den Bruckner ausübte, ihm in dem Kerne, in dem die triebhafte Persönlichkeit sitzt, unverständlich bleiben mußte – dieser einfältige Famulusdrang, sich im grauesten Mottenbrüten zu vergraben, diese zyklopische Ausbündigkeit des Phantasierens auf der Orgel, dann wieder das harmlose Mundartgesprudel des Unbedarften! –, das webte das Vertrauen nur dichter. Er ängstigte sich nicht vor dem Zyklopen, und er spottete nicht über den schüchternen Muttersohn eines liebevoll besuchten Dorfweibleins im nahen Ebelsberg. Er erfuhr am Spiele seines Organisten das Dämonische im Frommen und das Fromme im Dämonischen und bekannte ihm, es erginge ihm wie weiland Saul beim Harfenschlag Davids. Andere, beispielsweise die breite Zuhörerschaft Bruckners beim Wettspiel im Salzburger Dom mit dem Virtuosen und Komponisten Führer, den er nach dem Urteil der Eingeweihten tief niedergerungen hatte, erklärten ihn für einen Narren. Rudigier kannte ihn lange: er hatte ihn oft aus St. Florian geholt, wenn der Saulswahn ihn überkam und Heilung verlangte. Er hatte ihn jetzt auch im Dienst kennengelernt, wo Bruckner sich mit den rein praktischen Erfordernissen zu beschäftigen hatte. Aus seiner ersten Linzer Zeit lagen zwei Eingaben an das bischöfliche Ordinariat vor, von denen die eine sich auf Restaurierung und Ausbau der Domorgel bezieht, die andere um Verteilung des Doppelamts an den Orgeln der Stadtpfarrkirche und des Doms auf zwei Personen bittet; Bruckner nämlich hatte den Dienst an beiden zu versehen und mußte sich von einem ehemaligen Kürschner helfen lassen, aber »bei dessen schon sehr hohem Alter werde auch sein Spiel schon sehr mangelhaft, und es kamen diesfalls wiederholt Beschwerden an den Gefertigten, dessen diesfällige Verantwortlichkeit ihm wohl sehr schwer fällt«.

Der Bischof jedoch wandte lieber seine Sorge dem Künstler über dem Amte zu. Er saß wie früher als einziger Hörer in der Kirche, wenn Bruckner für sich übte und spielte. Nun war der andere der Priester und er der Andächtige ohne Weihen. Er förderte Bruckner zunächst, indem er ihm reichlichen Urlaub für seine Studien-, später für seine Kunstreisen verschaffte. Simon Sechter, der für Bruckner der Magus der Theorie war und ihre letzten Geheimnisse besaß, wohnte in Wien. Es war beschwerlich, brieflich den Unterrichtsdialog zu führen. So durfte denn Bruckner jahrelang außer für die sechs Ferienwochen sommers, in Zeiten der Orgelstille, noch drei Wochen im Advent und drei in den Fasten zu Sechter fahren. Vielleicht begriff der Bischof die Lebensnotwendigkeit dieser Lehre für Bruckner. Sie war eine Entsprechung des Katholizismus, ihr Dogma duldete keine Abweichung. Sie hatte auch geschlossenes Eigenleben, weil sie nur sich selbst wollte. Auch sie war Einkehr in den Urgrund.

Nicht minder verstand der Bischof die Dringlichkeit, daß Bruckner seine kirchliche und weltliche Kunst außerhalb der Stadtmauern befruchte. Bruckner würde am besten entscheiden, wohin er fahren, wen er suchen müsse.

Bischof Rudigier ließ es aber auch an Aufträgen nicht fehlen. Zur Grundsteinlegung des neuen Mariä-Empfängnis-Domes schrieb Bruckner auf seine Bitte die Festkantate. Da sie auf dem Bauplatz aufgeführt wurde, wirkte Militärmusik mit. Als die Votivkapelle des neuen Domes fertig wurde und eingeweiht werden sollte, lud der Bischof den schon in Wien tätigen Meister ein, wieder die Festmusik zu übernehmen; Bruckner widmete ihm darauf die bereits drei Jahre früher, 1866, geschriebene emollMesse »für Doppelchor und Harmoniebegleitung« und führte sie nach achtundzwanzig Proben auf. Er verwandte ausschließlich Bläser, darunter vier Hörner und drei Posaunen, weil er an die Aufführung im Freien gedacht hatte. Solange Bruckner ihm in seinem Sprengel unterstand, mochte es dem Bischof vornehmer scheinen, Bruckner anders zu helfen als durch Geld. Am Ende hat er es doch nicht abschätzen können, wie aufreibend der große reisende Schüler als Privatstundenlehrer sich hatte schinden müssen, um seinen Aufwand unterwegs einigermaßen zu decken. Aber als Bruckner so schwer an den Nerven erkrankte, daß er nicht allein gelassen werden konnte, gab Bischof Rudigier ihm einen Priester in das Heilbad mit. Und als Bruckner beim Scheiden aus Linz um die Festigkeit seiner neuen Stellung fürchtete, ließ er ihm den Linzer Organistenposten jahrelang aufheben, bis Bruckner selbst auf die weitere Freihaltung verzichtete. Nun aber, zur Aufführung der Messe, kam er als auswärtiger freier Künstler, und er wurde als solcher, ungeachtet, daß sein Werk liturgisch weitabgewandt, in den acappellaStil Palestrinas versunken war, gefeiert und hoch ausgezeichnet und erhielt nach einigen Wochen ein Honorar von zweihundert Gulden. Noch sechzehn Jahre später schrieb er im Gedenken an den öffentlichen Geburtstag der Messe: »1869 von mir einstudiert und dirigiert an dem herrlichsten meiner Lebenstage bei der Einweihung der Votivkapelle. Bischof und Statthalter toastierten auf mich bei der bischöflichen Tafel.«

Der Dankbrief Bruckners an den Bischof aber läßt uns erschrecken. Wir werden inne, daß der Musiker mit Rudigier die lange Frist über nicht wie mit einer Person, sondern wie mit einer Macht verkehrt hatte. Der Bischof mußte, um über die Unterwürfigkeiten seines Schützlings nicht zu erröten, versuchen zu erblinden und zu ertauben. Bruckner sieht in dem Briefe als Kühnheit an, daß er es wage, an die bischöflichen Gnaden, an den hochgeborenen Oberhirten zu schreiben; doch die Schranken des Anstandes würden durch seine Gefühle heftigst durchbrochen. »Wohl schon seit 1855 ward durch die bischöfliche Gnade mit Auszeichnungen und Wohltaten jeder Art ich Unwürdiger hochbeglückt.« Mit Rührung nehme er das große Geschenk an, küsse dem Geber ehrfurchtsvoll die Hände, »bittend, mir nie Hochdero Gnade entziehen zu wollen«. Dann bittet er Gott um Lohn und Segen für den Bischof und um Kraft und Ausdauer in schweren Kämpfen.

Wer hier noch das Gesprochene nach dem Alltagsgebrauch abwöge, begriffe nicht, daß Bruckner in Gewölben der inneren Natur angekommen war, wo alles anders scholl und wog als gemeinhin. Er hatte gelernt, sich mit dem Munde der Instrumente vollkommen auszudrücken, und verlernt, es mit anderem Munde zulänglich zu tun. Er gebrauchte Phrasen ohne Würde, wenn seine Sätze selige Flügel hätten gewinnen mögen.

 

Der Magus: Simon Sechter. – Den Gang zu den Müttern möchten wir das nennen, was bei Bruckner in seinen Bemühungen um das Letzte und Äußerste der Theorie über die Theorie hinausführt ins Geheimnis. Sein Studium der abstrakten Grundsätze der musikalischen Komposition bis zu dem Endzeugnisse Sechters dauerte von Hörsching an ein gutes Vierteljahrhundert. In dieser Spanne hatte er fast jeden Tag und viele Nächte dafür genützt. Die Kreise waren gewachsen, der weiteste von ihnen fiel mit dem absehbaren Horizonte zusammen. Und es ist keine Lüge, zu sagen, er habe die Akkorde und alle Lebensregung in ihnen mit den Füßen erwandert, Schritt für Schritt. Die Kammern, in denen er gewohnt hatte, waren ihre Geburtsstuben, die Felder um Hörsching, Florian, Windhaag, Kronstorf, Steyr, Enns, Linz, waren ihre Saatfelder, die Lehrbücher waren ihre unsichtbaren Burgen. Bruckner wählte die schwierigsten Wege, auf denen die meiste Vorsicht und Beharrlichkeit vonnöten war. Bei dem überwachten, halsstarrigen, halluzinierenden Verweilen wurden die Beziehungen der Töne durchleuchtend und ließen anschauen, was sich in ihnen verkappte. Wenn von ihren Höhlen jedes andere abgeschlossen blieb, war der Aufenthalt in ihnen eben der einzige Aufenthalt, und die Bedingungen, von denen er abhing, spiegelten die allgemeinen Bedingungen. Sie hatten ihren Werdedrang, ihr Alter, wurden befolgt oder verletzt. Sie wurden von geistiger Meteorologie erhellt und getrübt, trugen ihre Beschwerden und fanden ihren Humor. Hirn und Blut ihres Pflegers nahte ihnen so dicht, daß sie sich, wie selber mit Blut und Hirn begabt, eigenkräftig zu bewegen begannen.

Deshalb erkannten sie kein Geflunker der Vielgereisten und Gewitzigten an, in deren Augen ihre Sitten als altvaterisch erschienen wären. In dem alten d'Alembert, der da gelehrt hatte, der Grundbaß sei der wahre Wegweiser des Ohrs und die wahrhafte Quelle des diatonischen Gesangs, waren sie jung und jünger als in irgendeinem Pedanten von heute. Seinem Professor Dürrnberger in der Präparandenzeit schrieb Bruckner noch aus seiner eigenen Wiener Professur, wie er sich freute, einem Kurse Dürrnbergers treffliches Lehrbuch zugrunde zu legen. Ebensowenig war ihm der würdige Daniel Gottlob Türk großväterlich erschienen, als er ihn durch den Mund des Edlen von Zenetti mahnte, die Vorbereitung der Dissonanzen nicht zu versäumen, »damit das Gefühl bey dem freyen Eintritte derselben nicht so heftig angegriffen werde«.

Das zuletzt in dem Hoforganisten und Konservatoriumslehrer Simon Sechter aufgesuchte Orakel vollends berief sich auf die genialen Entdeckungen Rameaus und spann sie nach der Kritik der Gelehrten in den drei Bänden seines Hauptwerkes bis zu irrigen Konsequenzen aus. Sechter, in der theoretischen Literatur seiner Vorläufer rundum belesen, wurde gar nicht gewahr, wo der Stamm der vielen Äste wurzelte. Sollte er Rameau noch einmal erfunden haben, so wäre das für diesen wie für Sechter ehrenvoll. Der wohl beste Kenner der Theoriegeschichte, Riemann, bezeichnet Rameau als den Stammherrn der eigentlichen Harmonielehre und begründet das am kürzesten so: »Der geniale Grundgedanke von Rameaus theoretischem System ist die Zurückführung aller möglichen Akkorde auf eine beschränkte Zahl von Grundformen ( accords fondamenteaux) zunächst in der Gestalt der Lehre von der Umkehrung der Akkorde. Daß egc harmonisch dasselbe ist wie ceg, sprach Rameau zuerst aus. Seine Basse fondamentale (Grundbaß) ist eine fingierte (nicht klingende) Stimme, die Reihenfolge der Grundtöne der Stammakkorde, von denen der Satz beliebige Umkehrungen bringt; sein Zweck war, einfache Grundformen für die Logik der Harmoniefolgen kenntlich zu machen.« Ein Schüler Bruckners sagte über den nach Rameau komplizierten Sechterismus, in der Lehre, die über den mächtigen Urschritten des Quintfallens und Quartsteigens durch alle sieben Stufen ihre Akkordketten wie Girlanden hinzöge, stecke so viel Gesundes, Lebenskräftiges, ja Verführerisches, daß man unter viel Gerumpel überall das Elementare gefunden habe. Dem Terzfallen entsprach ein Zwischenfundament.

Bruckner drängte es nach den archaischen Fundamenten. »Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; von ihnen sprechen ist Verlegenheit.« Aber er stieg wie ein Doktor Faust wieder hinauf in das jenseitige Licht seiner Musik, und nun ist der majestätisch ruhige Bau noch im tobenden Gedränge schon als graphische Figur in den Partituren abzulesen. Und alle seine Schichten sind aus Gesang erbaut.

Bruckner berief sich oft mit Stolz darauf, daß die Lehrzeit bei Sechter sieben Jahre gedauert hatte. Schwer war es schon, bei ihm angenommen zu werden. Immerhin, von Florian nach Wien zu reisen und die Missa solemnis vorzulegen, hatte genügt. Dann, als die Hindernisse der Übersiedlung nach Linz und die des Einlebens überwunden waren, begann die Askese: es war Sechters Schülern verboten, neben der Lehre zu komponieren, und Bruckner besuchte während der Unterrichts jähre auch die Oper nicht. Angesichts versuchter Satzfreiheiten würde der Alte, wie Bruckner erzählte, »furchtbar«. 1855 tauchte er unter und verwendete, wie er in einem späten Promemoria betont, »all sein Ersparnis und alle seine Zeit, ja die Nächte für seine Ausbildung«. 1861 tauchte er auf, da freilich wie »ein Kettenhund, der sich von seiner Kette losgerissen hat«. Unterweilen trug er sein Haupt aufrecht und rettete sich nur durch vieles Phantasieren auf der Orgel vor Trockenheit. »Freien Compositionen gönnt« er »nicht die erforderliche Zeit, nur einige Lieder und Chöre für die Liedertafel schrieb er, die, namentlich das (siebenstimmige) Ave Maria, sowohl in Salzburg als in Linz ausnehmend gut aufgenommen wurden.« Als eine Linzer Zeitungsbesprechung über: »Der Rose Pilgerfahrt« von Schumann mit deutlichem Fingerzeig auf ihn bemerkte, Schumann sei keine von den traurigen Gestalten, die noch jetzt mit gesenktem Haupte herumschlichen und glaubten, der Kunst Genüge getan zu haben, wenn sie den Kontrapunkt in trostloser Abstraktion recht tüchtig handhabten und in scholastischer Dürre herumirrten, wehrte er sich: »In Linz bin ich der Einzige, der den Contrap. studiert, aber ich senke weder mein Haupt, noch schleiche ich herum.« Der Rezensent solle ja nicht voraussetzen, daß er nach Vollendung seiner Studien glauben werde, der Kunst Genüge geleistet zu haben. Wer sollte ahnen, was es bedeutete, wenn er Sechters Buch mit Randbemerkungen füllte, wobei sein Meister sogar mithalf, bis der Band nicht mehr zusammenhielt? Wer sollte begreifen, daß die handgeschriebenen Folianten mit Übungen und wiederum Bemerkungen rund um die Notensysteme herum vom Fußboden seiner Wohnung herauf bis an den Flügelboden anwuchsen? Ihn selbst beruhigte es, daß Sechter seiner Gewohnheit gemäß alljährlich Zeugnisse erteilte, zuerst über Harmonielehre und Fundamentalbaß, dann über den einfachen Kontrapunkt, zwischenein wieder einmal über Orgelspiel, dann über den doppelten, den dreifachen und vierfachen Kontrapunkt. Mag der einfache Kontrapunkt, also die Erfindung einer selbständigen und harmonisch richtigen Gegenstimme zu einem Cantus firmus, leicht sein, so beginnen beim doppelten, also bei der Vertauschung der oberen und unteren Stimme, Verwicklungen, weil parallel gehende Quarten, die in der Umkehrung ja zu den verbotenen Quintenparallelen werden, ausscheiden sollen. Da handelt es sich trotz der lediglich formalen Absicht bereits darum, eine scheinbar ungefesselte, schöne Gegenstimme zu erfinden. Bruckner besaß Sinn für die vertrackte Mathematik dabei, und als er Schüler hatte, die es gut machten, freute es ihn, selbst noch trefflichere Lösungen im Hinterhalte zu wissen. Vor Sechter aber bezweifelte er noch im besten Gelingen gelegentlich seine durchgehenden Auflösungen, so daß der gefürchtete, längst freundschaftlich aufmerksame Theoriemeister ihn just am Tage seines vollendeten sechsunddreißigsten Hoforganistenjahres tröstete: »Übrigens macht es gerade nichts, in diesen Beispielen die Durchgänge als unwesentlich zu betrachten, ich ziehe es aber vor, die Rechtmäßigkeit derselben durch neue Fundamente darzutun, dann ist es für jeden Fall gerechtfertigt.« Bruckner blieb auch in der Folge mit sich nicht zufrieden, als gingen Konvulsionen eines Erdbebens durch das feste Tongebäude, und er müsse es unzerreißbar in sich fügen. Er schickte Sechter neue Berge von Studien. Da gebot der zweiundsiebenzigjährige Greis dem Jüngeren Einhalt. »Ihre siebzehn Hefte über den doppelten Kontrapunkt habe ich durchgesehen und mich mit Recht über Ihren Heiß gewundert, sowie über die Fortschritte, die Sie darin gemacht haben ... Damit Sie aber in Gesundheit nach Wien kommen können, ersuche ich Sie, sich mehr zu schonen und sich die nötige Ruhe zu gönnen. Ich bin ja ohnehin von Ihrem Fleiß und Ihrem Eifer überzeugt und möchte daher nicht haben, daß Ihre Gesundheit durch zu große geistige Anstrengung zu leiden hätte. Ich fühle mich gedrungen Ihnen zu sagen, daß ich noch gar keinen fleißigeren Schüler hatte als Sie.« Wenig später hielt Bruckner das letzte Zeugnis Sechters über Kanon und Fuge in Händen sowie ein musikalisches Abschiedsgeschenk seines Lehrmeisters, die Fuge »An Gottes Segen ist alles gelegen«. Sechter besuchte ihn dann bald darauf auf vier Tage in Linz.

Ohne eine amtliche Bestätigung war der Studienabschluß für Bruckner kein Abschluß. Wo war eine ihm überlegene Instanz aufzutreiben? Die Führer der hauptstädtischen Musikkörperschaften mußten zusammentreten. Zum imaginären Konservatoriumsprofessor sollten sie ihn machen. Es waren fünf, unter ihnen außer Sechter der artistische Direktor der Gesellschaft der Musikfreunde Johann Herbeck, forthin bis an seinen Tod der Betreuer Bruckners. Vor einer mündlichen Befragung scheute man sich und begab sich auf die freigestellte Bitte Bruckners vor die Orgel der Piaristenkirche. Es ist oft erzählt worden, wie dort durch Verlängerung des aufgegebenen Themas dem Prüfling eine Falle gestellt wurde, wie dieser durch sein Überlegen vor dem Spielbeginn eine heitere Spannung erzeugte, wie er dann glänzte und Herbeck zu dem Wort hinriß, das heute jedem in Bruckners Leben Eintretenden wie eine Krone gezeigt wird: »Er hätte uns prüfen sollen! Wenn ich den zehnten Teil von dem wüßte, was der weiß, wäre ich glücklich!«

Nun war der Aufruhr der Begierde, alles wissen zu wollen und begründen zu können, für ein kurzes beruhigt. Es verbarg sich darin mehr, als eine Unterweisung stillen konnte. Der unsichtbare Stern der Schöpfung wollte licht werden, und daher mußte mit seinem Zustand als Lichtaura aufgeräumt werden. Die Korona war von gleicher Substanz wie der Kern. War sie in ihrer Trächtigkeit durchschaut, so wurde sie aus ihrer liederlichen Herrlichkeit und prahlenden Willkür verjagt. Sie wurde ernst und mütterlich, um den Spruch zu neuer geordneter Regung aus dem Anfang zu erwarten.

Das All des musikalisch Formalen war entwickelt, bewohnt und benutzt gewesen, bevor der Neugeborene das Ohr geöffnet hatte. Nun entstieg es gleichsam wieder dem Nichts. Gleichsam, denn das Nichts ist nicht vorstellbar und denkbar. Es ist nicht wahr, daß nur das geringste der musikalischen Form im Uralter von der Natur gestiftet worden sei. Es gibt in ihr keinen Ton, der den Willen in sich trüge, einmal zur Tonika zu werden, keine Tondreiheit, die sich aus dem Zufall zum Dreiklang beriefe, kein Miteinander von Tönen, das sich übel befände und nach Wohlbefinden drängte, keine Konsonanz in nachbarlicher oder verschmitzter oder geharnischter Auseinandersetzung mit einer Dissonanz, keine Tonfolge, die sich anderswohin versetzen oder kanonisch nachahmen wollte, es gibt keine Tonleiter, die doch einmal, wie beispielsweise bei Bach, die Entfernung vom Zenit bis zum Nadir ausdrücken wird. Alles ist menschliche Übereinkunft, alles mußte erfunden werden. Die griechischen Tetrachorde mußten in der Meditation entdeckt und gepaart untereinandergesetzt werden, damit sie ihren Ausgangspunkt anderswo, wir nennen es in der Oktave, wieder entdeckten. Die verschiedene Lagerung der Ausgangsstufen aber ließ die gleichlangen Wanderungen durchaus verschieden erscheinen: Sie führten jeweils durch ganz andere Sitten und Gewohnheiten, durch Provinzen mit eigentümlicher Blutmischung und eigentümlichem Klima, so daß sie mit Ländernamen wie ionisch, dorisch, phrygisch, lydisch, äolisch ausgestattet werden konnten. Die Tonvölker aber sehen eines langen Tages ein, daß sie ein Volk sind und daß dieses sich aus zwei Geschlechtern fortzeugt. Die Geschlechter Dur und Moll vervielfältigen und verfeinern ihren Umgang, die Persönlichkeiten in ihnen lernen über sich, ihre Eltern, Verwandten, Freunde, Feinde, Götter nachdenken, und allgemach besteht ihr Wesen nicht mehr in mathematisch ausdrückbaren Beziehungen, sondern sie haben die natürliche Wirklichkeit inne. Die so weit ausgedehnten Bezüge gründen aber immerdar auf Prinzipien der ordnenden menschlichen Vernunft und auf Konventionen der auf diese besondere Weise Vernünftigen und Willigen. Daß die Dissonanz, die keineswegs gattungsmäßig, sondern allein durch ein etwas komplizierteres physikalisches Zahlenverhältnis von der Konsonanz unterschieden ist, dieser entgegengesetzt wurde, ist sowohl ein dialektisches Vergnügen wie eine Not, eine Erziehung des Gefühls wie seine Auslieferung an den Verstand. Der Sinn des Intervalls ist nichts Gegebenes, die Klausel der Kadenz ist nichts Geschenktes, wie denn auch sonst ein Ja und Amen zwar den Beschluß macht, aber nicht der Beschluß ist.

Nichts Festes oben und unten, nichts inmitten und zu Seiten. In mancherlei Idiomen und Grammatiken ist die Musik des Erdkreises zur Gegenwart herangewandelt. Sie wurden immer nur in ihrem Heimatbereich, der oft genug hinter der Größe des europäischen Kontinents zurückblieb, verstanden, und ganz nur von den Zeitgenossen. Die Verständigung war ausgeschlossen, wenn die Entwicklungsstadien der Ausdrucksmittel nur so weit voneinander ab lagen wie die Sprachstufen des Gotischen und Mittelhochdeutschen.

Alle ursprünglichen Musikschöpfer stehen unter dem Zwange, sich den überlieferten Hauptgesetzen ihrer Kunst zu vertrauen, bis alsdann das Vertrauen der Gesetze sie zu Gesetzgebern freit. Manche absolvieren die Gesetzeskunde, manche rechnen und spielen, manche wissen, ohne zu lernen. Wir stellen die grundsätzliche Frage aber gerade vor Bruckner, weil er zuerst glaubte und dann erkannte, und weil sein Glaube zu Geboten und Verboten sprach: Weil du bist, so sei! Darum liefen die Tag- und Nachtwachen seines Lehrlingtums so ungeheuerlich auf, darum hatte er so lange Fundamente in den grundlosen Grund zu rammen. Endlich war das Wissen so stark wie das Glauben, und beides war im Können vereinigt.

Hier steht es uns an, vorzugreifen und einige Abschnitte aus Bruckners Antrittsvorlesung an der Wiener Universität anzufügen.

»Wie Sie selbst aus verschiedenen Quellen wissen werden, hat die Musik innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahrhunderten so kolossale Fortschritte gemacht, sich in ihrem inneren Organismus so erweitert und vervollständigt, daß wir heute – werfen wir einen Blick auf dieses reiche Material – vor einem bereits vollendeten Kunstbau stehen, an welchem wir eine gewisse Gesetzmäßigkeit in den Gliederungen desselben sowie eine gleiche von diesen Gliedern dem ganzen Kunstbau gegenüber erkennen werden. Wir sehen, wie das eine aus dem anderen hervorwächst; eins ohne das andere nicht bestehen kann und doch jedes für sich wieder ein Ganzes bildet.

So wie jeder wissenschaftliche Zweig sich zur Aufgabe macht, sein Material durch das Aufstellen von Gesetzen und Regeln zu ordnen und zu sichten, so hat ebenfalls auch die musikalische Wissenschaft – ich erlaube mir, ihr dieses Attribut beizulegen – ihren ganzen Kunstbau bis in die Atome seziert, die Elemente nach gewissen Gesetzen zusammengruppiert und somit eine Lehre geschaffen, welche auch mit anderen Worten die musikalische Architektur genannt werden kann.

In dieser Lehre bilden wieder die vornehmen Kapitel der Harmonielehre und des Kontrapunktes die Fundamente derselben.

Nach dem Vorausgelassenen werden Sie, meine Herren, mir zugeben müssen, daß zur richtigen Würdigung und genauen Beurteilung eines Tonwerkes, wobei zuerst erforscht werden muß, wie und inwieweit diesen oben erwähnten Gesetzen in demselben entsprochen wurde, sowie zum eigenen Schaffen – nämlich eigene Gedanken musikalisch korrekt verwirklichen, sie belebend machen – vor allem die volle Kenntnis von der erwähnten Musikarchitektur beziehungsweise von den Fundamenten dieser Lehre notwendig ist.

Aus dem Entwickelten mögen Sie nun selbst entnehmen, daß die Gegenstände ›Harmonielehre‹ und ›Kontrapunkt‹ bei dem im übrigen so weit entwickelten geistigen Leben ebenfalls einen notwendigen Platz finden müssen, wo selbe gepflegt, wo selbe, auch ohne den Endzweck, ausschließlich Künstler heranzubilden, gelehrt werden können; denn sie gehören – und das mit Recht zu den Trägern unserer geistigen Bildung; da wir durch sie in die Lage kommen, unseren Gedanken und Gefühlen nach musikalischer Richtung hin in ästhetischer Weise gerechten Ausdruck zu verleihen.«

Weiter verspricht er seinen Hörern, ihnen manche Härten durch praktische Übungen zu vermindern und sie »mit sicheren Schritten durch dieses Reich des Wissens von einer Grenze zu der anderen zu bringen«.

Von einer Grenze bis zur anderen: das war immer die hochherzige Meinung seiner Gedanken.

 

Der Mann der weiten Welt: Otto Kitzler. – Wenn Bruckner den Domkapellmeister Zappe, seinen Hausgenossen, die Kirchenmusik dirigieren sah, dann mußte ihm im Orchester ein ausgezeichneter Cellist auffallen. Es war ein junger Mann um die Mitte der Zwanzig, der da freiwillig mitspielte. Seinem Berufe nach war er Theaterkapellmeister. Er hatte schon eine lange Kometenbahn durch den Musikhimmel gezogen, verweilte auch in Linz nicht lange, verschwand nach Königsberg, kehrte jedoch auf drei Jahre wieder, um darauf nach Temesvar, Hermannstadt und Brunn weiterzuwandern. Er hieß Otto Kitzler und war nach vielseitiger Ausbildung in Dresden, Brüssel, Prag nach Straßburg, Troyes, Lyon, Paris und – Eutin gelangt. Als Studierender, Mitglied von Opernorchestern, Solorepetitor, Musikdirektor, Theaterdirigent war er mit vielen Männern des Fortschritts in Fühlung gekommen, hatte in Beethovens neunter Symphonie unter Wagner gesungen und beherrschte sein Handwerk, ohne im Betriebe zu verstauben. Er brachte den Atem der freien Welt mit. Um seine schmächtige Gestalt, auf seinem Antlitz, in seiner Stimme soll etwas Heiteres gewesen sein.

Er spürte, daß er Bruckner aus der kontrapunktlichen Grotte zur Aussicht auf dem Berggipfel leiten konnte, und Bruckner, daß er ihm dazu die Hand bieten mußte. Kaum war das Spinnen mit Sechter vorbei, ein Spinnen in einer Welt ohne Kunst, so erfolgte mit einem Ruck die Besinnung in umgekehrter Richtung. Beethovens Klaviersonaten offenbarten, wie man von Stund an in großen Formen komponieren konnte, Sechters Scharfsinn hatte gepredigt, wie man sozusagen in einem Jahrtausend die Allwissenheit erwarb. Jetzt dienten Lehrbücher der Komposition wie die von Lobe, Richter und Adolf Bernhard Marx nur wie geschickte Gehilfen, früher war der Schüler ein Gehilfe seiner Wälzer gewesen. Mit Keckheit und Spaß, die bei Bruckner beinahe wie Vorwitz rechnen, wurden im Beethoven die Versündigungen gegen die unfehlbaren Prinzipien aufgestöbert. Eine Gesinnung meldet sich darin an, die lange nachher zu dem drastischen Ausspruch gegen Mottl führte: »Alles, was wir hier machen, geschieht nach den strengen Gesetzen des Generalbasses, jede Dissonanz wird der Regel gemäß vorbereitet und ebenso aufgelöst, Freiheiten gibt's keine; wenn mir aber später einmal einer was bringt, was so ausschaut wie das, was wir hier in der Schule gemacht haben, den schmeiß' i naus.« So stellten sich auch, als er die Wagnerschen Enharmonien als Zauber erfahren hatte, Sechters und seine Ansicht schroff gegenüber. Während der Dogmatiker die enharmonischen Verwechslungen ausschalt als die natürlichen Feinde der gesunden Melodie, welche zwar das Unwichtige mit einem gewissen Glänze umgäben, bezeichnete er sie als den Schlüssel zur neuen Schule.

Die Freudigkeit erklärt die reißende Eile, mit der er bei Kitzler fortschritt. Der Lehrgang bei ihm dauerte nicht so viele Monate, wie die früheren Klassen Jahre verschlungen hatten. Doch selbst nun noch dünkte er sich nicht mehr als ein Scholar. Aus der Mühsal beiseite sehend, bangte er, es werde für ihn zu spät werden zu heiraten: um so rührender mutet es an, in einem Briefe die kindliche Mitteilung zu hören: »Wir haben bereits die Instrumentation u. dann die Symphonie, wo auch nur, wie du weißt, die Sonatenform ist. – In drei bis vier Monaten bin ich fertig.«

So kamen die Tage des Überschwanges, die Tannhäuser-Aufführungen.

Sie waren Benefizvorstellungen für Kitzler und seine Frau, der Veranstalter hatte sich die Erlaubnis bei Wagner erbeten.

Wagner wurde für Bruckner durch seinen Siebenmeilenstiefelmann Kitzler als Bewohner der weiten Welt entdeckt, als der ältere Bruder unter der heutigen allbescheinenden Sonne. Er war ihm nicht der ferne Fixstern, der sich mit jungen Planeten umgab. Bruckner war sogar in seiner Demut der jüngere Bruder, nicht der Trabant. Aus Wagners frühen Partituren, die den Linzern zu Ohren kamen – »Tannhäuser«, »Liebesmahl der Apostel«, »Fliegender Holländer«, »Lohengrin« –, ist kein Gedanke auf Bruckner übergegangen, nur, da er auch ein Baumeister war, der Traum von neuer Architektur, neuem Maßwerk, neuen Bogengängen. In den Farben schimmerte nicht mehr nur die Psyche auf, sondern auch die Physis äußerte sich darin, und das bedeutete die Aufnahme des Verweslichen in die Unverweslichkeit der Töne, weil ja auch im Werkeltag nie das Leibliche aus dem Seelischen verdammt war.

In der Koloristik erlebte die Musik seit alters die häufigsten Stilwenden. Genügten dem Geiste auf lange hin die immer gleichprägenden Formen, dem kurzlebigen Körper genügten sie nicht. Die tönenden Hieroglyphen für Bewegungen, Gesten, Gebärden wechselten mit den Generationen, wie dann nicht das sie Versinnlichende? War einer erwählt, die Erneuerung zu verkünden, so war er es nicht mehr, wenn er allein blieb. Dem Giovanni Gabrieli folgte Heinrich Schütz, dem Londoner Bach Mozart. Bruckner fand Wagner nicht allein, doch begnügte er sich mit ihm als dem Vollkommensten unter seinesgleichen. Und nicht einmal das: er besuchte Liszt in Budapest. 1864 und 1865 machte er fünf Kunstreisen nach dem Neuesten. Daß Liszt seinen Symphonien Überschriften gab und daß er seinem »Tasso«, »Prometheus«, »Orpheus« und weiteren Arbeiten ausführliche Paraphrasen der anregenden Idee voranstellte, warf sie nicht aus den Angeln und versklavte sie nicht der Literatur.

So heiß ihn die farbige Orchesterlohe des »Tannhäuser« anstrahlte, so wenig störte ihn die Nähe des Brandes bei dem, was er Schularbeiten nannte. Kurz nach der Aufführung der Oper begann er seine Studiensymphonie. Sie hatte von Wagner nichts gelernt, und auch von Kitzler gerade das Hinlängliche über die Sonatenform. Schon die düstere Tonart fmoll fand der erfahrene Theatermann ungünstig. Aber vom Zeitgeist der Romantik war trotzdem einzelnes gebildet worden, was die Schulluft nicht ausbilden konnte. Der leise Anfangsgruß eines Instrumentes war Gruß dieses Zeitgeistes, der Anklang daran im Lebensabschiedsgruß des allerspätesten Symphoniesatzes war es dereinst ebenfalls.

Und die nun sich ballenden Musikgestalten wie gleich die nicht numerierte dmollSymphonie zitierte schon manche noch nicht geschriebene künftige: zuerst die fünfte, dann im Andante die dritte, im Scherzo die erste, im Trio die siebente. Die große dmollMesse spielte im Kyrie Motive aus dem noch unveröffentlichten »Tristan«, aus dem unvorhandenen »Parsival«, im Agnus aus den ungekannten Nibelungen. Sogar in der Rückschau auf die Arbeiten der Zurüstung wimmelt es plötzlich von Wagnerischen Redewendungen. Die Gelehrten haben sie im einzelnen festgestellt. Man hätte sie kaum aufgefunden, wären die von solchen Vorahnungen freien Meisterschöpfungen Bruckners ausgeblieben, denn sie haben nur einen Umriß aus ihrem Entstehungsalter, doch keine Ziele für die Zukunft. Sie wären untergegangen mit den Verbänden, in denen sie stehen.

Sollte Kitzler nicht verwundert gewesen sein, als Bruckner eines Julitages wünschte, freigesprochen zu werden? Es schmeckte nach Zunft und Innung. Das innere Auge Bruckners sah unwillkürlich, ohne daß sein Bewußtsein aufzumerken brauchte, die Musikantenzunft mit Lehrbuben, Gesellen und Meistern in Stufenringen aufgebaut. Daher sein stetes Verlangen nach Lehrbriefen und Freibriefen. Kitzler versagte ihm den seinen nicht; sein Abschied von der Stadt stand bevor, man hielt sich wert und lieb, die Freisprechung wurde ein Freundschaftsfest. Bruckner lud das Ehepaar Kitzler ein, nahm einen Wagen und fuhr nach dem Jägerhause in Kirnburg. Mahl, Brief und Glückwunsch setzten der Unrast ein Ende. Kitzlers Nachfolger, Ignaz Dorn, hatte nur noch Anregungen zu geben, keine Lehren.

Wir verfolgten ein ungewöhnlich langwieriges und zähes Aufarbeiten der technischen Dinge. Doch auch der Arbeiter war von den technischen Dingen aufgearbeitet worden. Diese These meint nicht, daß er verletzt oder gebrochen war. Er blieb heil als geistige Person und hatte sie doch in die theoretischen Gegenstände hinein aufgegeben. Er war in die Bauformen und Baustoffe seines Werkes hinein versunken. Machte sich dieses nun mit Gewalt in die Erscheinung auf, so schuf es in handwerklicher Beziehung ebenso sich selbst, wie er es schuf. Der Verzicht auf den Ehrgeiz des Einzelmenschen hatte nicht von geizloser, allmenschlicher Ehre abgelassen.

 

Der Freund: Rudolf Weinwurm. – Bruckners Linzer Frist wollte vom Geiste ohne Rest zu fristentrücktem Gewirke verwebt werden, und doch hängte sich der ganze kleinstädtische Alltag an ihn, der Stunden verschmatzte, Wochen praßte, Monate wiederkäute. Die Liedertafel »Frohsinn«, deren Chormeister er eine Zeitlang war, tagte nicht nur, wenn sie in ihrem Vereinssaale übte, ihre Seele hauste überall und war am schlimmsten, wenn sie nicht sang. Sie lächelte spöttisch, wenn Bruckner brummend aus dem Domportal trat, sie schielte bei seinen zahlreichen Lektionen ihm auf Haltung und Lippen, sie tuschelte in Intrigen und schrieb in Zeitungen, so daß er vielleicht am liebsten die Tür zu seiner Zweizimmerwohnung im »Mesnerstückl« neben der Stadtpfarrkirche hinter sich schloß. Die Linzer waren nach seinem Urteil »echte Krähwinkler-Charaktere«.

Um sie zu erdulden, mußte man ab und zu sie schmälen oder sie mindestens mit Wehmut abschlagen. Dazu bedurfte man eines Freundes, der nicht zu groß, anhänglich und selber im Leiden an Kleinlichkeiten bewandert war. Bruckner fand ihn in Rudolf Weinwurm, dem Begründer des Akademischen Gesangvereins der Wiener Universität. Flüchtig hatte er ihn in St. Florian gesehen und bald nach seinem Antritt in Linz die Bekanntschaft erneuert, auf der Rückfahrt Weinwurms vom Salzburger Mozartfeste. Als dieser zum dritten Male die Orgelkunst Bruckners in Wien bewundert und den dankbaren Bericht Ludwig Speidels darüber gesandt hatte, war der Bund geschlossen. Weinwurm hatte einen Kreis berühmter Musiker zu dem »Privatgenusse« aufgefordert, und Bruckner antwortete: »Also du bist es, der sich geopfert, du, der für mich so treu sorgte, du, der mich auch künftig nicht verläßt.« Von nun ab nannte er Weinwurm den einzigen wahren Freund, den er besitze. Er fände in ihm das teilnehmende Gemüt, das er bei anderen Vertrauten vergebens suche. Er bat ihn um ein Bildnis, damit es lebenslang einen Ehrenplatz in seiner Wohnung einnehme. In der Mehrzahl der Briefe an ihn freut er sich auf ein Wiedersehen oder bittet inständig, der Freund möge gleich schreiben. Weinwurm mußte mehrmals mit Geld aushelfen, weil die 542 Gulden Sold und der Nebenverdienst nicht reichten. Um so notpeinlicher grämte sich Bruckner, als er eine Gegenbitte Weinwurms zu erfüllen nicht imstande war. Die läppischen Kleinigkeiten verschönerten sich im Herzen des Freundes. Bruckner zögerte nicht, ihm seine Quartierwünsche für Wien mit ausführlichen Einzelheiten vorzutragen, von der Gartenaussicht an bis auf die Retirade hinab. Das Poetische an derlei hausbackener Kameradschaft war die Gewißheit, alles werde wie von einem zweiten besseren und hurtigeren Ich ausgeführt werden. Er wußte seine Klagen über üble Behandlung durch die Mitbürger nicht in den Wind geworfen, darum jammerte er nicht viel, stieß ein paar kräftige Seufzer aus, polterte, rumorte ein wenig, damit der andere begriffe, wie es stand, und beide Verbündeten labten sich alsdann an der Wohltat, daß leisere Klageechos zwischen ihnen hin und her gingen. Einmal teilte Bruckner mit, wie die Mädchen einer auswärtigen Singakademie gegen ihn aufgereizt gewesen seien, wie er infolge arger Beleidigungen aus der Liedertafel ausgetreten sei, ein anderes Mal, wie ihm Weinwurms Bruder Alois in Linz das Du aufgekündigt habe, und er hätte den Grund der Verleumdungen und der Hetze nicht aufdecken können. Einmal bestürmte er Rudolf, ihm zu sagen, warum er gar auch bei ihm beschuldigt worden sei, des weiteren gestand er ihm, wie er, selber grippekrank, sich um ihn wegen der Cholera in Wien gesorgt habe. Die Anhänglichkeit zog ihn aus allen dumpfen Winkeln des Daseins fort, aber sie trübte ihm nicht den Blick für das Gerechte. Als auf einem Sängerbundesfest sein neuer erhabener Chor »Germanenzug« gegen Weinwurms »Germania« unterlag, mußte er von seinen Anhängern mit Zureden fast auf das Podium gezerrt werden, um mit dem zweiten Preise vorliebzunehmen. Das hinderte nicht, daß Weinwurm weiter sein »liebster und wärmster Freund auf der Welt« und der »Balsam des Lebens« blieb, daß er ihm sachlicher als irgendwem sein Ausspähen nach Liebe und Ehe anvertraute, daß er ihm die Kränkung erzählte, wie ihm das Schubertsche Ständchen als Geschenk zurückgewiesen worden wäre, kurzum: »Du bist mir unentbehrlich – ich habe nur einen Freund – und der bist du.«

Wir erschließen aus dieser Freundschaft, was Bruckner von Freundschaft überhaupt erwartete und worin er am einsamsten war. Gönner, Huldiger, Stifter haben ihn in den Hochgefilden seiner Sendung mehr beglückt, aber in den Tiefen des Alltags, mochten ihn die Fröhlichen umringen und er selber mit ihnen behaglich sein, kam ihm die Heimat abhanden.

In den ausgehenden Linzer Jahren wiederholten sich, ungeheuer verstärkt, die Spannungen, die vor dem Abschied aus St. Florian an ihm gerüttelt haben. Unheimliches hatte seine Nerven befallen, sie brachen zusammen. Es war jetzt nicht gut, wenn er allein blieb. Es war vortrefflich, daß ihn in der Kaltwasserheilanstalt Kreuzen der von Bischof Rudigier entsandte Priester bewachte und zu Hause während der letzten drei Jahre seine jüngste Schwester Maria Anna versorgte.

Die Wurzeln seiner überaus herben Melancholie sind in keinen äußeren Tatsachen zu ergraben. Was lag vor? Die Menge der Privatstunden schrumpfte zusammen und mit ihnen der Geldsäckel, aber ein Zuschuß zum Kurgebrauch wurde erbeten und gewährt, der Wunsch nach Gehaltsaufbesserung wurde gewagt in der Hoffnung, nicht taube Ohren zu finden. Bewerbungen um einen zusätzlichen Posten in der Stadt beim heruntergewirtschafteten Musikverein waren an Bruckners künstlerischen Bedingungen gescheitert – die Sänger sollten wenigstens für eine Stunde wöchentlich auf Ehrenwort pünktlich erscheinen –, Bewerbungen nach außerhalb, so um die Stelle des verstorbenen Hoforganisten Aßmayr oder die um eine Beschäftigung unter König Ludwig von Bayern, schlugen fehl, aber immerhin waren die Hochherzigen in Linz nicht träge geworden. Der Kreiskommissär, der Bischof, der Domdechant Schiedermayr blieben ihm gewogen, den Feldzeugmeister Grafen Huyn versetzte er bei einem Besuch durch sein Orgelspiel in eine Stimmung: Ehrfurcht! Ehrfurcht! Ihnen voran hielt, ihm unverbrüchlich verschworen, ein Schüler aus, sein einstiger Amtsnachfolger Karl Waldeck. Bruckner stieß ihn einmal im Zorn über unpünktliche Meßhilfe von sich, Waldeck aber vermittelte ihm Arbeit, immer treu.

Auch viel unglückliche Liebe erläutert uns seinen verzweifelten Zustand nicht. Sie war ebenso Folge wie Grund seiner Verstörtheit. Die siebzehnjährige Josefine Lang richtete die ernsteste Wirrsal in ihm an. Er hatte sie bei einer Schulvertretung kennengelernt, war in seliger Angst um sie, die anderen lächernd vorkam, stellte sie vor die unbedingte Wahl des Ja oder Nein und erhielt die »gänzliche ewige Absage«. Die Glut schwelte unterirdisch weiter und war nicht zu ersticken.

Seine Gesangsproben blieben leer. Warum? War die Welt als »Pagage« begriffen, wie es an Weinwurm heißt, war die Schwermut in Menschenfeindlichkeit umgeschlagen, warum dann der menschenhungrige Verzweiflungsschrei aus der Einöde: »Bitte innigst, retten Sie mich, sonst bin ich verloren«? Phantastische Auswanderungspläne gebaren sich in seinem Kopf. Er habe gehört, Weinwurm wolle zur Hofkapelle nach Mexiko gehen. »Ist etwas Wahres daran? Auch mir wurde ein solcher Antrag gestellt. Schweige gegen Jedermann hierüber und schreib mir. Gehen wir nach Rußland und wo immer hin, wenn man uns im Vaterland nicht kennen will.«

Eine Gaukelei täuschte ihn: er war bereits ausgewandert und hatte sein Land erreicht, kein anderes hätte ihm gefrommt. Der Blitz, um den er solange gerungen, war in mehreren Strahlen niedergefahren und hatte gezündet; eine alte Welt brannte aus, und er war mit unsichtbaren Brandwunden bedeckt. In die neue Welt, aus der die Blitze gesprüht waren, paßten die Gefährten nicht mehr hinein, und auch er als sterbliche Gestalt fand sich fortan nur unbeholfen darin zurecht.

Den zweiten Symphonieversuch in dmoll glaubte er eines Tages selbst mit einer Null überschreiben zu müssen. Obgleich er ihn überarbeitet hatte, fragte ihn ein Sachkenner, wo denn das Thema sei. Richtig, das Thema war eine arbeitende Begleitung. Die brauchbare Keimkraft im weiteren bewahrte sich ohne Zutun auf und streute ihre Samen von neuem aus, als sie gereift waren. Das Scherzo erschien schon in. der nächsten Symphonie wieder, verwandelt, gestrafft, herrischer im Geist, doch verwandt dem Vorgänger schon in dem anfangenden Unisono der Streicher.

Selbstüberschätzung plagte Bruckner nie. Aber als die Nullte (entstanden 1863/64, revidiert 1869) unverzüglich von der dmollMesse beiseite gedrängt war, fühlte er die Glieder der neuen Gestalt an und sagte sich auf seine Weise: Es sind Gigantenlieder. Er hieß sie »mein Kleinod« und schenkte sie in der Widmung der Gottheit. Ihre Form umschreitet schon sein All, hier das der religiösen Erlösung, in geschlossenem Kreise, wie deutlicher und deutlicher die Symphonien. Er stimmte dem golden in weiße Seide gestickten Motto zu, das ihm nach der Aufführung im Dome überreicht wurde: »Von der Gottheit einstens ausgegangen, muß die Kunst zur Gottheit wieder führen.« Erst der Tod entzog es seinen Augen; er hatte den kleinen Lorbeerkranz, an dem die bestickte Schleife hing, unter Glas rahmen lassen. Es begann und beschloß das Dankgedicht eines seiner besten Hörer, Mayfelds.

Ebenso war ihm der Rang seiner ersten bleibenden Symphonie in cmoll bewußt. Wir lesen es wieder mehr in Äußerungen seiner ganzen Natur als in gestochenen Worten.

In den Proben weinte er. Die Musiker mußten sich doch erbitten lassen, das Werk vor dem Höllensturz zu bewahren. Nach der Uraufführung war er trotz des Erfolges zerbrochen, nicht weil er wegen des schwachen Besuchs lediglich aus den Reihen der Aristokratie draufzahlen mußte, sondern weil er es mißkannt fühlte. Die Schwierigkeiten ohnegleichen für das Orchester besiegte er in sich nach dem Glauben, auf den Bach einst eine Motette gebaut hatte: Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf mit unaussprechlichem Seufzen. Die technischen Unbarmherzigkeiten waren aber leichter zu bezwingen als eben der unfügsame kühne Geist. Nach Jahrzehnten noch war Hugo Wolf vor ihm stutzig und gestand, bis auf das Scherzo und einiges aus dem ersten Satz gar nichts verstanden zu haben. Und Bruckner erinnerte sich aus der schmerzmildernden Rückschau, sich beim Finale um keine Katze geschert und nur den funkelnden Überfällen nachkomponiert zu haben. Absichtliche Vermessenheit widersprach seinem Sorgenweg bisher. Was wußte er, was er Böses mit der in langen Ehren ergrauten Sonatenform getan hatte, wie die drei Themen statt der klassischen zwei sowohl dehnten wie preßten, längten und kürzten, wie sich die Verhältnisse der Hauptteile verschoben hatten, wie statt der vorgefaßten Geschlossenheit der Gliederung die offenen Flutungen der Entwicklung eingedrungen waren, wie sogar der Tonalität schwindelte, wie sie sich langsam, atemschwer heranklärte! Was wußte er, welche Riesen er eingelassen und welche Lasten sie besonders in das Finale, den bisherigen Ort der Entlastung, hineingeschleppt hatten! Ebenso axiomatisch waren ihm die Qualstürme im Kyrie der emollMesse, die Verzahnungen und Verbeißungen der Geschlechter Dur und Phrygisch in ihrem Gloria.

Dem widerspricht keineswegs sein fröhliches, geradezu mutwilliges Untertauchen in bürgerlichem Behagen. Er wollte kein mystischer Meister werden, seine Ohren hatten von dergleichen nicht vernommen, er war es aber, und sein gütiger Dämon flüsterte ihm ein, er solle probieren, es zu verleugnen. Zudem brauchte er die breite oberösterreichische Weltlust, um mit ihr in seinem Klangreich die Feierabendtänze zu begehen. Das Vergnügen, mit dem er deftigen Speisen überreichlich zusprach, die Munterkeit, mit der er Wein trank, schnupfte und rauchte, in unbelästigende, wohlig weite Kleidung gesteckt, gab ihn der bescheidenen Mitmenschheit wieder, und sie huldigte ihm in geselligem Geschwätz, wie sie es verstand. Der »Bayerische Hof« und der »Rote Krebs« haben ihn oft gesehen und ihm Leckeres geboten. Seine strotzende Gesundheit wollte in der Arbeit wie in der Rast gleich beschäftigt sein. Er dämpfte sich, er räumte den einen Tisch ab, indem er den anderen besetzen ließ. Er heilte die spukhafte Krankheit der Überanstrengung, die in Spalten seines Ichs nistete, gleichsam durch Auflegen des nächstbesten Lauwarmen.

Zur Sangesbruderumgebung, der er Seichtes und Süßliches aus der Kehle zu schmeicheln hatte, konnte er von seinem Vollbringen unmöglich sprechen, und zu sich selbst davon zu sprechen, war überflüssig, da er als Vollbringer sich schon ohnehin mit Füßen trat. Damit hielt er den Schein aufrecht, als wäre er noch der Bruckner vom »Krebs«, nachdem er durch unbegreifliche Explosionen zu neuer Persönlichkeit umgeschaffen war.

Die Übergänge wurden ihm unkenntlich wie überschwemmte Furten.

Wie die Tiere eine in ihrer Umgebung unauffällige Schutzfarbe annehmen, war seine körperliche Gestalt von einer in die Provinzstadt passenden Schutzgestalt überdeckt. Der gut mittelgroße Mann war stämmig, ein biederer Blick konnte ihn für behäbig halten. Der volle Hals, die breite Brust verrieten zwischen und in den »Häuserkisten« nichts von der Muskelanstrengung, die in den Orkanen des Orgelspiels notwendig und so hitzig war, daß die Wäsche oft mehrmals am Tage gewechselt werden mußte. Und doch scheint in einem damaligen Lichtbild der Ansatz des Nackens, den hartstirnigen Rundkopf gebieterisch zurückzuwerfen, nur gebändigt. Das fleischige Gesicht unter der schlichten Kappe brauner, kurzgeschnittener Haare ist für die erste Musterung wohlwollend intelligent, es könnte, wenn auch nicht gerade einem Gastwirt oder Gewerbetreibenden unter seinen Vorfahren, einem im Verwaltungsberuf Aufstrebenden gehören. Noch ist die Nasenwurzel verdeckt, und was an Leid und Energie auf der Oberlippe über dem geschwungenen Mund irisieren mag, verhüllt sich unter dem breiten Schnurrbart. Die Augen allerdings fragen wie auf jedem Bilde ruhig in ein hinter den Erscheinungen liegendes Erstaunliches hinaus. Noch ist ihr Blau dunkel, später scheint es blasser geworden zu sein. Die von ihnen ausgehenden Falten haben etwas Gütiges und Blankes. Unter dem rechten Auge hat sich in den erbarmungslosen Vigilien ein schmaler Sack angestaut.

Als er einmal auf dem Fasching den weltreisenden Geiger in wallendem Mantel vorstellte, war die Violine winzig. Die vorgegebene Winzigkeit war auch im Leben ohne Faschingsflitter oft sein Schutz.

Wie vor dem Abschied aus St. Florian befiel ihn wieder eine halb aufgeregte, halb lethargische Unentschlossenheit. Simon Sechter war im September 1867 gestorben, es gab keinen geeigneteren für die Nachfolge als ihn. Herbeck wollte ihn demnach an seine Anstalt, das Wiener Konservatorium, ziehen. Bruckner, ganz Kniefall und ganz Zweifel, sah ihn wie den Versucher zu sich kommen, der die Herrlichkeit der Welt in Händen hielt und, ach, sie ihm nicht zu Füßen legte. Er begann zu schwanken, nach rückwärts Halt, nach vorwärts Sicherung suchend, daß sein Fall furchtbar nahe war. Das hinter ihm Liegende war gediegen, aber karg, das vor ihm Lockende nebelhaft, aber geräumig. Das äußere Leben starrte ihn mit einem Male so kahl und unfruchtbar an, wie es war. Er zitterte und forderte wie ein Wucherer. Einmal mußte sich sein Los wenden. Griff er diesmal falsch, so schlugen die bitteren Wasser über ihm zu. Herbeck mußte ihm die unwürdige Verzagtheit verweisen. Er solle nicht so überspannt vom Gehen »aus der Welt« schreiben, wo er »in die Welt« aufbräche. »Es geht ja alles gut! Also ruhig Blut! Haben Sie so wenig Vertrauen auf mein gegebenes Wort, daß Sie sich zu so jammervollen Ausbrüchen gedrängt glauben. Es ist nicht wahr, daß Sie überall daneben kommen, daß Sie Ihr Vaterland verstößt, Sie müssen nur so gerecht sein, einzusehen, daß eine Existenzfrage nicht im Handumdrehen abgetan werden kann, namentlich wenn von dem Betroffenen wichtige und begründete Besorgnisse ausgesprochen werden.« Am gleichen Tage, an dem Herbeck dies schrieb, gab sich Bruckner in einem Briefe an Weinwurm verloren. Statt des Vertrages über die Professur in Generalbaß und Kontrapunkt und Orgellehre am Wiener Konservatorium mit 800 Gulden Gehalt neben der Exspektanz einer Hoforganistenstelle blieb das Nichts. Über Linz war er durch die Verhandlungen innerlich längst hinaus. Es heulte in ihm wie ein aschentreibender Wind. Weinwurm könne sich von seinen Schmerzen und seiner gräßlichen Trauer keinen Begriff machen, er könne weder essen noch schlafen und meine, er müsse hinabkriechen. »Weinwurm, bemitleide mich doch, daß ich hoffnungslos – vielleicht auf ewig verlassen dastehe!« Ebenfalls selbigen Tages streckte er die Hände nach Hans von Bülow aus.

Eine wahre Apokalypse der Kleinmut brauste über ihn hin. Sie ist nicht der Spuktraum eines Beliebigen. Die Hälfte seines Lebens hatte er dem Satan der Plage geopfert, um die andere dem Erzengel opfern zu dürfen. Nun erhob sich die Gefahr, daß das erste Opfer vergeblich sein, das zweite nicht angenommen werden würde. Das Gewissen, die Lauterkeit und den Edelmut in der Mittlerschaft Herbecks leugnete er nicht, aber wie sollte Herbeck ahnen, daß seine Grundkraft nicht der Stoß war, sondern das Aushalten: Andacht in der nüchternen Arbeit, in der Bewunderung.

Indessen, wie ihm verheißen war, es ging ja alles gut. Er erhielt die Professur. Um den gleißenden Titel Professor hatte er sich schon früher vergebens bemüht.

Nein, es ging nicht gut, ohne Schuld Herbecks. Nach der ersten Verbannung in Windhaag hatte er die zweite vor dem Losreißen aus St. Florian durchlebt, die dritte längere vor dem Losreißen aus Linz – nun ging er in das vierte und endgültige Exil.

Linz aber wurde nach seinem Abschied zur eigentlichen Brucknerstadt.

 

Von der Übersiedlung nach Wien ab scheint Bruckners äußeres Leben stillezustehen. Wir fahren uns über die Augen, als müßten wir eine Täuschung wegwischen: War er nicht in zahlreicheren und gewichtigeren Ämtern eingespannt als bisher? Machte er nicht häufigere und weitere Reisen? Wuchsen nicht die Triumphe aus Hügeln zu Bergen, die Niederlagen aus Gruben zu Schlünden? Drängten sich nicht die Aufführungen seiner Werke in Städten und Ländern bis über den Ozean? Reichte seine Bekanntschaft nicht vom Gauner bis zum Kaiser?

Haben wir die siebente, die achte oder die neunte Symphonie im Gehör, um nur diese drei zu nennen, die Königen gewidmet sind – mit Bruckners Worten dem König vom Geist Ludwig II., dem König der Macht Franz Joseph und dem König von oben –, so zählt das alles nicht. Die Ämter, sie sind Fortsetzung des Früheren, und sie fangen ihn nicht mehr. Die Erfolge und Mißerfolge, sie sind Vergrößerungen und Verkleinerungen des Bisherigen, die Reisen, sie sind Wiederholungen, die Aufführungen – wir behalten die Daten nicht mehr, wir nennen uns nur mehr die Dirigenten der ersten Darstellungen, nicht mehr die der zweiten und dritten, wir schlagen das in den Annalen nach. Die Chronik erfaßt plötzlich nicht genug, sie scheint überdrüssige und untreue Dienste zu tun. Sie leitet nicht in die Flüsse der Geschichte, sondern in die Weiher und Lachen der Anekdote. Die Lebensentwicklung zögert auf den zielstrebigen Pfaden und durchquert und umkreist dafür Schichten.

Die Stadt Wien selbst zog sich vor Bruckner zurück und übersprang ihre alten Wälle und Gräben. Eine prachtreiche Bauepoche brach an, die Oper und das Konservatorium waren unter ihren ersten Zeugen. In die Breitspurigkeit und – da die breiten Spuren auch seeleneinwärts führen – Lügenhaftigkeit des Lebens fand sich Bruckner nicht.

Unterdessen bauten unsichtbare Fäuste einen visionären Weltraum aus. Die Reihe der Symphonien scheint auf, in größerer Höhe nochmals annähernd vollständig die gleiche Reihe, in dritter Überhöhung abermals, dazwischen unter den Firnen kürzere Gesangswerke. Während der Jahre 1869 bis 1896, von der Ankunft in Wien bis zum Tode, hört das Wimmeln und Webern der Gedanken an und ab, hin und wieder nicht auf, gleichgesonnener großer Gedanken. Die zweite Symphonie entstand 1871/72, die letzte Eintragung darin 1891, die dritte in dmoll, die Wagnersymphonie, in erster Fassung 1873, in zweiter 1876/77, in dritter 1888 bis 89, die vierte, romantische in erster Fassung 1874, in zweiter 1877/80, in dritter 1888/90, die fünfte, kontrapunktisch dichteste in Bdur 1875/77, die sechste, luftigste und »keckste« in Adur 1879/81, die siebente mit dem ewigen Lichte » non confundar« in Edur 1881/83, die achte, prophetisch heldische in cmoll in erster Fassung 1884/85, in zweiter 1887, in dritter 1890, die neunte gotische in dmoll bis zum vollendeten Adagio 1891/94, mit fünffachen weitausgeführten Skizzen zum Finale bis 1896. Die erste wurde 1890/91 nochmals bearbeitet, das Streichquintett 1879 geschrieben, das Tedeum zwischen 1881 und 1884, der 150. Psalm für gemischten Chor, Sopransolo und Orchester 1892, der orchesterbegleitete Männerchor »Helgoland« 1893. Dazu gesellen sich wohl zwanzig Gelegenheitsarbeiten.

1878 entstand ein chorischer Nachruf für den Freund aus der Jugend, Seiberl, ein Antiphon » Tota pulchra« für Tenorsolo mit Chor und Orgel zum fünfundzwanzigjährigen Bischofsjubiläum Rudigiers. 1879 ein » Os justi«, 1882 zu dem in der Überschrift ausgedrückten Zwecke der »Sängerbund«, 1883 für das schönstimmige Fräulein Luise Hochleitner ein » Ave Maria« für Alt und Harmonium, 1884 ein acappellaGraduale » Virga Jesse«, ein » Ecce sacerdos« für siebenstimmigen gemischten Chor, Orgel, drei Posaunen, 1886 der Männerchor »Um Mitternacht«, 1891 ein Karfreitagsgesang für St. Florian » Vexilla regis« und der Männerchor »Das deutsche Lied«.

Auf der Tafel dieser Daten lesen wir, wie Bruckner, abwendig den Niederungen, aus denen er ins gebirgig Schroffe stieg, doch der Treue zur Herkunft auf keiner Stufe vergaß. Zwar schrieb er, wenn er süchtig nach Orchesterklang war, nicht Brummchöre wie einstmals, aber eigenwillige Zusammensetzungen des Instrumentenensembles stellten sich noch immer ein; zwar komponierte er nicht mehr für die Kurzweil im Lehrer- und Bürgerstübchen, aber der Salon einer aufrichtig bestrebten Dame blieb ihm recht; zwar bot er Männerchören, die sich in die Brust werfen wollten, nichts Taugliches mehr, aber solchen, die sich vor Schwierigkeiten nicht fürchteten, richtete er die Phalanx. Der Kirche, in der seine zeitliche Wohnung wohnlicher war als in Zinshäusern, versagte er seinen tönenden Dienst nicht.

Aber in einer Wachheit über dem allen bauten unsichtbare Fäuste jenen visionären Weltraum aus.

Mustert man das reife Schaffen Bruckners aus zusammendrängendem Abstand, so zeigt es eine merkwürdige Symmetrie, als hätte dem Schicksal diese ausgewogene Einheit vorgeschwebt. In der Mitte der Symphonienreihe liegt die Burg der Fünften mit dem ungeheuren orchestralen Fugenmassiv, wo bei den ersten Aufführungen zwei Bläserorchester sich ablösten, so gewaltig war der befohlene Aufwand an Atem. Alle Teile und Sätze sind ineinandergeklammert, aufeinander bezogen, aus zyklopisch simplem Grundmaterial aufgeführt (siehe die Tabelle bei Haas). Drei Jahre blieb Bruckner an der Arbeit; er hat das Werk nie gehört, die Welt hat es fast bis auf unsere Tage nicht gekannt, denn der Druck hat seine Form im entscheidenden Finale durch vernichtende Striche, fälschende Änderungen der Instrumentation, der Tempi, der Dynamik und noch Roheres verwüstet. Und gerade dieses Werk ist uneinnehmbar, unzerbrechbar, unzerreißbar.

Zu seinen Seiten liegen je vier Symphonien. Vor der ersten gültigen liegen zwei auf dem Papier zwar vollendete, aber innerlich noch nicht vollendete Vorsymphonien, die sogenannte Studiensymphonie und die sogenannte Nullte. Hinter der dreisätzig fertigen neunten Symphonie liegt das innerlich zwar vollendete, aber auf dem Papier nicht zu Ende gediehene Fragment des Finales dieser Neunten.

Zwischen die Erste und Zweite schiebt sich die fmollMesse, zwischen die letzten völlig durchgeführten Symphonien das Tedeum und der 150. Psalm – jene riesenhaften symphonischen Dichtungen mit menschlichen Stimmen, die erste nach der Prüfung durch den Wahnsinn, die letzte vor der Prüfung durch den Tod.

Neben dem harten Werke der Mitte, der fünften Symphonie, welche die Sonatenform nicht sprengt trotz der aus den Tiefen des harmonischen Magmas flammenden, ganz unlinearen Fugengewalten, sondern die Sonate an die Grenze ihres Gebiets rückt – man muß an die Große Mauer in China denken –, neben diesem Werk oder vielleicht in seinem Schutz und Innenhof steht die in den Mitteln zarteste Schöpfung Bruckners, seine einzige Kammermusik, das Streichquintett.

Das strotzend wild in den Vordergrund preschende Hauptthema des ersten Finales mit seinem Sprung in die Oktave hinauf und seinem Rollen die Oktave hinunter empfing von seinem Erfinder in der Rückschau den Namen »Da bin i!«, das allerinnerste Thema im letzten Adagio-Finale wurde von ihm in der Vorschau »Abschied vom Leben« getauft, und es war in der Jugend schon einmal getauft worden, in einer Messe, und es hatte damals »Miserere« geheißen. Jetzt heißt es nicht mehr so, sondern Helle aus der höchsten Höhe fällt als Schlußverkündung auf sein Gebet: das Hauptthema der siebenten Symphonie.

Es ist selbstverständlich, daß solcherlei Symmetrien, nun aber nicht mehr im bloßen Anblick, sondern tätig, das Einzelwerk durchwalten, aber wir finden sie in erstaunlicher Reinheit schon in seinen kleinen Einheiten. Viele Themen bieten wunderbare, gleichsam mathematische Figuren dar, errichten, während sie sich entfalten, ein statisches Gesetz, so das die dritte Symphonie beginnende Trompetenthema. Es steigt von der Oktave seiner Tonart über die feste Hauptstufe schräg zum Grundton hinab, dann, wieder mit nachdrücklicher Rast auf der Hauptteilungsstufe, die gleiche Oktave hinauf, mit vermehrter Bewegungsenergie, denn der Aufstieg ist etwas mühsamer. Die Zählzeiten der Noten des Abstiegs sind: vier, dann drei und eins, dann wieder vier. So wurde eine Oktave in ihrer Leere ausgemessen, denn hallt sie nicht leerer, wenn die Quint hinzutritt, als wenn unterster und oberster Ton ein Unisono bilden? Durch die Quint ist das Flächige räumlich geworden. Was nun? Die folgende halbe Pause scheint es zu fragen. Da regt es sich im verlassenen tiefen Grundton, nimmt einen triolischen Anlauf mit kleiner Terz, ersteigt die Quint und dann, gedehnt, Schritt für Schritt die Oktave des Ausgangs. Der Weg aufwärts ist nicht mehr leer, er ist voll Bewegung und Leben. Was zuerst harmonisch war, ist nun melodisch geworden, und beide Abschnitte sind, als werdender sowohl wie als gewordener Inhalt betrachtet, doch fast kongruent.

Das Ganze dieses Themas aber hat Symmetrien mit dem Bau aller Brucknerschen Hauptthemen. In ihnen ist ein Typ zu enthüllen. Auer formuliert: »Alle diese Themen zeigen als Urzelle den Quintschritt als harmonisches und die um seine Randpunkte oszillierenden Wechselnoten als melodisches Element.« In der Doppelung gibt sich wie in den beiden Keimblättern der von Goethe geschauten Urpflanze die unbegrenzte Metamorphosenkraft der Brucknerschen Musik als erster mythischer Spruch kund. Die zweiten Themen singen, wie die ersten sagen, die dritten arbeiten danach – auswärts, einwärts: alle aus gleichem Baustoff. Welchen Kosmos?


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