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Zweites Stück

Thomas von Aquino spricht in seiner »Summe wider die Heiden« davon, daß Unzuträglichkeiten folgen würden, wenn die Wahrheit von den göttlichen Dingen nur durch die Vernunft erforschbar und nicht auch durch Glaubensüberlieferung zugänglich wäre. »Denn von der Frucht mühefreudigen Forschens, welche das Auffinden der Wahrheit ist, werden die meisten aus drei Ursachen abgehalten. Einige nämlich durch das Nichtveranlagtsein ihrer Säftemischung, aus dem heraus viele von Natur her zum Wissen nicht veranlagt sind, weshalb sie auch durch keine Bemühung daran würden heranreichen können, daß sie den höchsten Grad menschlicher Erkenntnis erreichten, der im Erkennen Gottes besteht. Einige hingegen werden durch den Zwang häuslicher Verhältnisse behindert. Es muß nämlich unter den Menschen solche geben, die sich mit der Verwaltung der zeitlichen Dinge befassen und die so viel Zeit in der Muße beschaulichen Forschens nicht würden aufwenden können, daß sie an den höchsten Gipfel menschlichen Forschens heranreichten, das ist: an die Gotterkenntnis. Einige aber werden durch Faulheit gehindert.« Als weitere Unzuträglichkeit nennt Thomas dann die notwendige lange Übung zur Anpassung an das Höchste, da die Seele in der Jugendzeit noch in verschiedenen Regungen der Leidenschaft flute, und als letzte die unserer Vernunft zumeist beigemischte Falschheit.

Anton Bruckner von Ansfelden trägt die fünf Kennmale, die hier nach der Einschau eines der erleuchtetsten Sucher aller Zeiten einen Menschen befähigen, die Wahrheit von den göttlichen Dingen zu sammeln und zu erfahren. Er besaß die Säftemischung, die ihn befähigte, die – doch auch aus Feuer gemachte – Flamme der Geduld anzuzünden, eine Kienspanflamme wie in den Windhaager Nächten, und bei ihrem Lichte dreißig Jahre lang zu forschen, – dann die Fackel zu entfachen und sie dreißig Jahre dem Genius zu halten. Ferner wurde der ehelose Mann in winzigen Wohnungen mit einem Weihwasserbecken und einem alternden Flügel nicht von häuslichen Verhältnissen zerstreut. Drittens: das Hindernis der Faulheit war ihm so fremd wie der Unglaube; ihm stände der Name »das fleißige Herz« an. Viertens ließ er es an der notwendigen langen Übung zur Anpassung an das Höchste nicht mangeln und lenkte die Flutungen der Leidenschaft ihm zu. Endlich war seiner Vernunft keine Falschheit beigemischt.

Er war wohlausgestattet, in seiner Musik die Wahrheit der göttlichen Dinge zu künden.

Hier stocken wir schon. Woher wissen wir, daß es in den Symphonien Bruckners um äußerste Dinge wie Gotteserkenntnis und Gottesaussage gehe? Wir meinen die Frage nicht eng; wir meinen sie wie ein durchbohrendes Schwert, gerichtet gegen das Letzte. Billige Beweise für Bruckners Einigkeit mit seinem katholisch konfessionellen Gewissen sogar innerhalb der Kunst helfen uns nicht. Ein paar Miserere- und Benedictus-Zitate, aus Messen in die Symphonien hinübergenommen, erklären nicht das geringste an unserem Eindruck: Deum a tergo vidi et obstupui. Die Gottheit nur vom Rücken gesehen zu haben und zu erschauern, es zerschlägt den Gedanken an jede kodifizierte Konfession. Der Schreck soll uns nicht körperlich gelten, sondern sein Zeichen soll die letzte seelische Erweckung andeuten, das letzte Staunen, das letzte Merken, die letzte Andacht. Unser Frommwerden vor Bruckners Symphonik nährt sich nicht an Weihrauchgeruch, eher an Gewitterozon, es sieht auf keine Geißel der Kasteiung, eher auf peitschende Gischtbrandungen des Ozeans.

Wäre es nicht trotzdem vermessen, dieses Elementare trotz unserer Vorbehalte und Verwahrungen vor abnutzbaren Hyperbeln mit unserem Begriff aller Begriffe zu taufen? Zwar schrieb Bruckner, als er das Tor seiner Welt mit der dmollMesse auftat, über den Eingang: O. A. M. D. G., das ist: Omnia ad majorem dei gloriam, und als er das Tor schloß, stand die Inschrift vom Tedeum her und als gedachte Widmung der Neunten wieder da. Das ist eine stolze Entsprechung des J. J. Johann Sebastian Bachs: Jova juva oder Jesu juva. Aber schon in die erste große Messe ist die Symphonie eingebrochen: Leiden und Sterben Jesu sind dem Orchester vorbehalten, welches das überlieferte Symbolum nicht beten kann. Ebenso reißt das Orchester außer dem Erdbeben die Auferstehung an sich; im Hosianna verfärbt es rücksichtslos die Harmonien nach seiner Lust. Auch die Einleitung des Benedictus bleibt durch sechzehn Takte Herrlichkeit des Orchesters: das Cello führt an und beginnt vor dem Chor. – Für einen über das Bekenntnis hinausgerichteten Willen spricht auch, daß in der fMesse Inkarnation, Eintritt ins Menschenwesen und Kreuzigung thematisch gleichlaufen: der Gottmensch befindet sich in allen Stadien im vorweggenommenen Lichtreich des Auferstandenen.

Sollen wir dieses christliche Lichtreich mit dem Wohnsitze der Gottheit identifizieren? Wir haben etwas höchstes Namenloses gespürt und verzichten nicht darauf, den höchsten uns bekannten Namen aus der Umklammerung durch den Gebrauch in Tausenden von Jahren und Millionen von Händen zu lösen.

Der erste bedeutende Apostel Bruckners bemerkte, beim Anfang einer Symphonie Bruckners beginne nicht ein Musikstück, sondern die Musik. Weil der unüberhebliche Hörer sich diesem Eindruck schwer weigern kann, trägt sein Ohr ihn über den Anfang hinaus in den Uranfang. Zuweilen ist wirklich die Regung im anhebenden Orchester noch jenseits von Ton und Klang, dabei von einer eben noch erträglichen Weihe der Erwartung, wenn man weiß, was in den nächsten Takten sich gebären wird, denn wundersamerweise hört man erst bei wiederholtem Hören zum ersten Male, nicht beim ersten. Doch hätte die Weihe mit etwas Außerweltlichem zu tun? Entsteht aus dem Tönen der Ton und aus dem Zusammentönen der Klang, Harmonie, Melodie, so geht das Schicksal der Töne nach menschlichen Methoden fort bis ans Ende. Von wann ab wäre der Eintritt der Gottheit festzustellen, durch welche Pforte träte der Gott in seine Welt, wo wäre überhaupt eine Welt? Heften wir dem Unaussprechbaren hinterrücks doch wieder ein Dogma an? Blieb es unaussprechbar, da es im Klange sinnlich ausgesprochen wurde? Wir sahen Dogmatisches in die Instrumente verlegt: Leiden und Sterben Christi. Leidet Christus dort noch? Stirbt er noch dort?

Rühren wir an den Schlaf des Alls, in dem wir uns nur eine Fingerspanne weit träumend hin und her bewegen, so verschwindet der perspektivische Irrtum, der die Natur und den Geist getrennt und widersetzlich zeigt. Die Menschheitsgeschichte mit dem Geiste als ihrem Regenten verkleinert sich zu einem winzigen Ausschnitte aus der Gesellschaftsgeschichte der organischen Gattungen, soviele ihrer sind, und diese wiederum bildet einen Bruchteil in der Entwicklungsgeschichte der gesamten Lebewesen. Die Epoche der Wissenschaft von der Gottheit, gestalte sie sich in Mythen und Kulten, Prophetien und Theologien, in der Furcht des Totems oder im Vertrauen der Kunst, ist nur ein Kapitel in der anthropotropen Artgeschichte, – das letzte bis jetzt, aber was uns im Rücken liegt, kann auch vor unserer Stirn liegen. Es hieße an der Gottheit freveln, sie nur dem einen Kapitel der versuchten Erkenntnis vorzubehalten. Die Verzweiflung darüber, stets auf ein Vorletztes zu stoßen, niemals auf ein Letztes, hat die ehrwürdigen und manchmal nur bunten Sorgen, sich des Letzten dennoch zu bemächtigen, hervorgetrieben.

Die Mächtigsten unserer Gattung werden in der Tat des Geheimnisses teilhaftig, nicht seines Inhalts, doch seiner Äußerung in ihnen. Es neigt sich ihrem Glauben sowohl wie ihrer Offenbarung. Das Was ihres Glaubens und ihrer Offenbarung wäre wieder nur Inhalt, das Wie ist Äußerung wie in der übrigen Natur. Das läuft nicht auf jene Allbeseelung hinaus, die wir Pantheismus nennen, denn auch die Seele ist schon Äußerung. Und eine Äußerung über viele zu erhöhen, wäre dünkelhaft vom Humanen her.

Im Abscheu davor haben die großen scholastischen Denker sich geübt, zu teilen und nochmals zu teilen, abzuziehen und nochmals abzuziehen, und sie haben dennoch das Ganze übrigbehalten, nicht krank und mager, sondern unendlich gestärkt. Im Lächeln darüber haben die großen mystischen Denker sich befleißigt, zusammenzutun und zusammenzutun, Armut und Armut, Fülle und Fülle, Schweigen und Schweigen, und das Ganze ruhte fort in sich, kein Mehr und kein Minder. Die Natur mutet in ihren Nachdenksamkeiten fern an, als sollte sie erst erscheinen, aber auch der Geist, aber auch der Gott. Der Eindruck rührt daher, daß die Gewohnheit und das Gewöhnliche unseres Denkens ausgeschaltet sind, daß die zahllosen Eigennamen für die Einheit ausgelöscht wurden. Man kann sie nicht mehr anrufen, als kennte man sie. Sobald man die Einheit nicht wie seinesgleichen anruft, offenbart sie sich.

Eine dieser Offenbarungen ist in Bruckners Musik zu uns gekommen. Da sie als Musik kam. ist ihr Erstes nicht Kühle der Natur, des Geistes, der Schöpfung, der Gottheit – wie soll man ihr Elementares am triftigsten ausdrücken? –, sondern Strahlung. In ihrer Wärme liegt der Glaube an göttliche Wirklichkeit wie an jede.

Wir begäben uns in die Irre, wenn nicht viel von dem, was wir für Bruckners Musik in Anspruch nehmen, für alle oberste Musik gälte. Nur das Entzücken, als entstände das Elementare hier zum ersten Male, befällt uns selbst wie etwas Elementares.

Am geizigsten sind die Menschen mit dem Gefühlsopfer. Sie haben als Kinder aufgenommen und angenommen, ehrlich zu sich, redlich zur Gabe; sie haben sich kneten lassen, umgestalten, verunstalten lassen aus dem Naturstand, wenn man will. Nun kommt je und je einer, der sie wieder mit dem Einfachen beschenken will, der sie aufmerksam macht wie Adalbert Stifter, daß Gehen, Stehen, Sitzen, Schlafen in den Jahrtausenden dauernder sind als ihr Wann und Wohin, ihr Wer und Was, daß Gruß und Abschied im Grundriß menschlicher Begegnung wichtiger sind als ihr Anlaß, Zweck und Inhalt.

Und es kommt einer wie Bruckner, dem das Leben gerade hinreicht, um mit dem Entzücken über Dreiklänge und Septakkorde fertigzuwerden. All der wahrhaft zermalmende Kunstverstand, den er um dieses Entzücken breitete und tummelte, dünkt sich nicht erhabener als die Seligkeit eines solchen Dreiklangs. Das sollte den Hörer zum Erstaunen einladen, doch der entsinnt sich lieber, daß es schon lange her ist, als Haydn in der »Schöpfung« mit so einfachen Harmonien aus Moll malte, wie Gott sprach: Es werde Licht! – und wie er dann im parallelen CdurDreiklang aufwärtsjubelte, um mit gewaltiger Wirkung auszudrücken: und es ward Licht! Es ist dem Hörer unvergeßlich, weil das Einfache, auch nach zehntausend Wiederholungen, erstmalig bleibt, wenn es als ein Einmaliges erfunden wurde. Vereisende Hörer aus Altland und versengende aus Neuland überhören leicht, was weder in Altland noch Neuland noch in der Mitte liegt. Bruckners Schlichtes, seine Pausen, sein Stieg in Staffeln, sein animalisch spürsames tonales Gehör, sein selbstverständliches Anknüpfen über breiteste Strecken hin verficht seinen besonderen Anspruch.

Erst wenn die Natur sich ganz und gar als Natur äußert, zeigt sie sich als Geist, erst wenn der Geist sich ganz und gar als Geist bekennt, bekennt er die Natur. Den kosmischen Einblick in beide sucht von ihrer letzten Warte auch große Wissenschaft, große Philosophie, große Theologie. Ihre Systeme beweisen nur scheinbar das Unbeweisbare, dem sie als ihrem einzigen Sinn allesamt zulaufen. Am hellsten ist der Einblick von den Künsten her. In ihnen sammelt sich die Leidenschaft des Seins, Werdens, Vergehens – ätherisches Spiel, welches das Dasein ist. Der Künstler reißt dieses reinste Spiel an sich wie Beethoven, oder er läßt sich von ihm hinnehmen wie viele andere auf vielerlei Arten.

Ein früher Christus von Dürer liegt auf der Erde von Gethsemane hingeworfen, er gibt die Brust, den Leib, die Beine an sie auf, er breitet die Arme an sie hin, als wäre es die ganze Erdkugel, die er umklammere. Bach lauscht in dem sausenden Geschehen mitten inne: ihm ist es immer da im Kreislauf der Heilsgeschichte – Geburt, Erdenwandel, Tod, Auferstehung und wieder Geburt, ohne Ablaß. Es hat nicht begonnen und endet nicht. Das Kirchenjahr kreist, so das Sünderjahr, das Königsjahr, der Äon des menschgewordenen Ewigen. Weihnacht, Passion, Pfingsten sind überall, kehren immer wieder, in den Lüften und Wettern, in allen Geschöpfen, in der Dreiheit Hölle, Erde, Himmel, in der Trinität. Wo er hingreift, sei es, daß er ein Instrumentalkonzert ersinne oder einen Inkarnatus-Chor. ist ein Stück davon; das Schweigen unterbricht das All-Tönen nur zufällig.

 

Je nachdem wir die Schwerkraftsmitte des Brucknerschen Werkes unter wechselnden Begriffen zu bestimmen suchen, ereignet es sich in den verschiedenen Sphären des Gefühls, die alle das Gleiche bedeuten. Die Sphären stecken ineinander, die Umfange der einen verlaufen näher, die der anderen ferner zur Mitte. Wir bedienen uns dieses Gleichnisses und vieler anderer, weil auch die abstrakte Sprache nicht von der Anschauung zu lösen ist, doch vergessen wir keinen Augenblick, daß Gleichnis nie die Gegenwart ersetzt.

Am nüchternsten benannt, könnte das die Sphäre dieser Musik Zusammenballende vielleicht das Scholastische heißen. Es enthält, was die Jahrhunderte an Lehre gefunden haben. Es betreibt ein bewußtes Verwalten des Geheimnisvollen. Die Scholastik beruft sich immer auf einen Aristoteles, und hätte sie ihn der Gottheit so nahe gebracht wie Thomas von Aquino. Schrieb Bruckner einmal das Wort äolisch nachträglich auf eins seiner Notenblätter, ziemlich früh, so rief er die Autorität der Kirchentöne an; unterzog er die Posaunenchöre seiner Symphonik einer Sondermusterung, ob sie der Sechterschen Fundamentallehre standhielten, so grüßte er die hohe Schule, die allgemeinverbindlich und unerschütterlich das Falsche vom Richtigen schied, nicht zu Lohn und Strafe, nur zur restlosen Erfassung.

Eine andere Sehweise wäre die geschichtliche. Die Sphäre wächst. Beethoven schließt sich auf der einen Seite an, Wagner auf der anderen; Schubert lebt mit seinem volkstümlichen Gesänge und seinen Harmonierückungen in Bruckner weiter; Verdi denkt in einer Messe wie er. Eine ziemlich häufige, holde Kadenz, die nach ihrer Verschwisterung mit Textworten Marienkadenz benannt werden konnte, schreibt sich von Mozart und Haydn her. Die große gmollOrgelfuge von Bach leiht sich mit einem Stück ihres Subjekts dem unbewußten Gedächtnis dar. Aber auch höchstwahrscheinlich Ungekanntes wie das Thema der BACHFuge Bachs wird wiedergeboren. Die Gesinnung der letzten Quartette Beethovens wird vor dem Kennenlernen in Bruckners Quintett Gesang. Ebenso geistert der Kampf unserer Tage um erweiterte Tonartlichkeit in kürzeren Strecken Brucknerscher Musik voraus. Nicht in der emsig besuchten Vorlesung des Professors Hanslick, der eine breite formalistische Wüste bis ins achtzehnte Jahrhundert hineingedehnt sah, hat Bruckner die Geschichte seiner Kunst gelernt, nicht in Archiven. Bibliotheken und historischen Konzerten hat er sie studiert, sondern sie entstand in ihm autochthon noch einmal. Sie war in der Realität, unbeschadet der Um- und Abwege, vom großen Gesetz beherrscht. Es ist transzendent. Das kleine Gesetz zu erfüllen, wenn das große es will, ist selbstverständlich; ebenso das kleine zu brechen, verlangt es das große. Nicht anders verfuhr der Meister in dem ihm eigenen historischen Kosmos. Nur war das Wesensungemäße auszulassen, um bis zur Gregorianischen Litanei in sich hinabzudringen.

Überdies gehören alle schöpferischen Geisler auch der Vorzeit der Geschichte nur zeitweilig an. Sie verlassen sie im künstlerischen Aufbruch, und die Nachfahren, welche auf sie hören, nehmen sie unhistorisch, so wie sie waren. Herleitungen versagen.

Eine andere Sehweise ist die der unhistorischen Gleichzeitigkeit aller Dinge. Keine Werkreihe war dann zu vollenden, sondern eine Welt zu enthüllen. Das Nacheinander entschiede nun nicht viel. Der Musikant wäre nun das Instrument. Auf diesem Instrumente spielte sich das kosmische Wesen öfter als in den geschriebenen Noten: immer. Der Mönch Petrus Forschegrund entschlummerte im Walde und erwachte in sich. Als ein solcher Mönch konnte Bruckner auf der Orgel phantasierend schon längst das Gleichzeitige sagen, bevor er es schreiben konnte. Als er es zu schreiben verstand, verließ die Finger mehr und mehr die Lust am phantastischen Greifen, und die kranken Füße wurden zu schwer für seine kolossalischen Pedaltriller.

Das blinde Gesicht des Simultangeistes erkennt nicht den Zwang, warum das eine zuerst, das andere sodann ausgeführt werden müsse, weil es dem logischen Zwange schon im Urgründe alles Gegenständlichen verfallen war. Es gibt nicht viele Urgründe, sondern nur einen Urgrund. Wenn er in manchen Symphonien von neuem aufgetan wird, so ist es keine neue Erfindung, sondern eine neue Erinnerung.

Ein weiterer Aspekt ist der des Heidnischen. Die tellurischen Leidenschaften beziehen den Plan. Sie schonen auch die Menschenseele nicht. Ihr Temperament liegt über allen Temperamenten. Noch seine Stille ist unselbstisch, sie gehört nicht dir oder mir, sie ist Weltenstille. Heidnisch grell funkeln Sonneneinbrüche in die Struktur, Fanale, von unten rührt sich zu Katastrophen das niemals schläfrige, immer kreißende Chaos, das gierig ist, sich zur Gestalt und in ihr aufzuzehren. Und auch die lange Dauer wird nur, um sich zu verschlingen. Riesige Akkordkolonnen haben sich aus dem Boden erhoben und müssen vorüber, sie straffen sich, sie stampfen uniform heran, sie dröhnen vorbei und haben ihre Dauer mit sich fortgetragen. Wo dagegen (in zweiten Themengruppen) gesungen wird, ach, es sind meist nur zwei innig gesättigte Strophen, und bei der Wiederkehr sind sie in anderes Tonartlicht verklärt, und ihre Stimmen haben sich mitverwandelt, erklingen aus anderen Instrumenten. Unbesorgt um das erzogene Gehör eines Spätlings, das sein Heidentum abgelegt hätte und unnaiv vergleichen könnte, steigen auch sie in keine durch Schuld und Sühne gekühlte Zeit nieder. Sie fühlen sich sicher zwischen lastenden gequetschten Akkordgletschern, gepreßtem Niederwuchten, in schreiender Welt. Sie behalten das unschuldig Prangende, Strahlende, Selbstleuchtende, Erhellte oder das ebenso unschuldig Überschattete, Zitternde, Niedersinkende. In der Ruhe wird das Heidnische zum Panischen. Voller Selbsterlösung ist die Ruhe Triumph ohne vorhergegangene Gewalttat. Darum werden nicht Kadenzwirkungen gesucht, also Heimkehr der Kraft, sondern Fortleitungen der Kraft. So geben sich auch die tollkühnsten Steigerungen nicht als verzweifelnde, erschöpfbare Kräfte. Ihnen bleibt nur übrig, in der Raserei abzubrechen und neu aufzubauen oder alles zu zerschmettern.

Der letzte Aspekt ist vielleicht der magische. Es werden ohne erkennbare Mittel Berge versetzt. Die thematischen Kolosse von den Anfängen schwingen sich über den Makrokosmos des ersten Satzes, um, wie in der neunten Symphonie, erst gegen Satzschluß niederzuwuchten, oder sie überschweben, wie von der dritten ab immer, die ganze Symphonie und reißen sie zuletzt mit sich in den Weltraum empor, wo nur noch die unbändige, maßlose Glutform vor der Erkaltung und mithin die Ermöglichung irdischen Lebens besteht. Man hat das oft eine Apotheose genannt: wenn darunter die Rückgabe des Lebensstoffs in die Hände des unbekannten Demiurgen verstanden wird, soll es gelten. Vor diesem Ziele ereignen sich magische Ekstasen, die ebenfalls gesonnen scheinen, sich ohne Cherubimflügel, alle Berührung mit Körperschwerem meidend, durch sich selbst zu tragen.

Den Widerstrebenden befällt nicht die Bezauberung durch solche unzeitigen Mächte. Er erhebt Vorwürfe wegen der Verschwendung an melodischer Erfindung, die angereiht, unbedachtsam verschüttet sei. Das Getast der Entwicklung, der Sog der Umgestaltung, der Schuß ins Wachstum sind so stark, daß man im Jährling, im Tausendgrün, im rissigen Tempelhain das Pflanzreis nicht mehr erkennt. Schon die bloße Umkehrung entfremdet manche Themen für das Gefühl ihrer geraden Gestalt. Sie verkehren sich nicht in ihr eitles Spiegelbild, sondern sie stülpen ihren Sinn mit um. Es ist unfaßbar erstaunlich, wie aus dem Gottesruf: Es werde Licht! – dem viel vorweltlicheren als bei Haydn – eine Weidwerkfanfare wird; und nichts als die Umkehrung einer Quinte und die Übernahme eines Rhythmus brachte das Wunder hervor. Nichts verbindet mehr in der Empfindung das einleitende Streicherpizzikato des fünften Adagios mit seiner Parodie im fünften Scherzo. Es ist nur zum Streicherstakkato im schleunigen Dreivierteltakt geworden, während es vorher in langsam und erschrocken gezupften Triolen den Viervierteltakt durchmaß.

Wenn ein Dichter anschaut und das Gesehene ausdrückt, unterscheidet er sich in dem über den Mitteln liegenden Ergebnis nicht von dem Musiker, der das gleiche geschaut und ausgedrückt hätte. Viele Amusische teilen mit den beiden das Sehen und das Mitteilen, aber ihre Aufzählung und Beschreibung ermangelt, wo nicht der Eindringlichkeit, der Ausdrücklichkeit der Kunst. Die Ausdrücklichkeit ist in der Musik sowohl unbestimmter wie zugleich ungleich bestimmter als in den übrigen Künsten. Kann sie Baum und Stein nicht nachbilden, Gesichter und Erlebnisse nicht malen: die in uns erregten Beziehungen zum Außenweltlichen trifft sie genauer als jegliche andere Ausdruckskunst. Ebenso kann sie Gott und Teufel, Verdammnis und ewiges Leben nicht aufzeichnen, aber die Ausstrahlungen der Überwelten mit gleicher Deutlichkeit wie die der Dinge und Ereignisse hinieden. Daraus folgt ein Günstiges für die Gefühlsreichweite der Musik, ohne daß sie für ihre Vision irgendwo zu borgen hätte. Das sich bewegende Gefühl ist das sehende Organ, das Auge ist es nicht. Das Kräftedrängen zu befragen, was da dränge, ist unmöglich. Nicht privat, nicht ichhaft, nicht welthaft, vermittelt es dennoch Gehalt und Inhalt, und zwar in der Unheimlichkeit des Absoluten. Zugleich verfügt diese Abstraktion über die Macht, Wunden zu heilen, Bedürfnisse zu stillen, die meist noch nicht eingestanden waren. Und hat einer diese Wunden nicht, so muß er in der Kunst seinen Wunsch erkennen: hätte ich sie doch! – Und er wird sie entdecken.

 

Durch die vergebliche Herausforderung der erklärenden Vernunft sind eine Reihe von Stellen in den Symphonien Bruckners berühmt geworden. Die Analytiker haben scharfsinnig die Vorgänge darin um und um gewendet, und zuweilen fand sich der Scharfsinn vor der übergroßen Einfachheit beschäftigungslos, er bewunderte. In der Maestoso-Koda der Sechsten läuft das Thema schulstubengerecht im Quintenzirkel durch alle Tonarten, und nie scheint Trompete und Hörn so viel von der Seelenweite der Welt gewußt zu haben. In der ersten Koda der Siebenten erbaut sich über einem dreiundfünfzigtaktigen Orgelpunkt der erstaunlichste metaphysische Lichtberg. In kanonischer Umschlingung erschwebt ihn der Nachsatz des Hauptthemas, und dann hält ihn sein Anfang in den grenzenlosen Raum. Die siebzehn einleitenden Takte des ersten Adagios wirren sich unter Druck und banger Spannung, unter Seufzen und Röcheln von unten, leisestem Hornrufen von irgendwo im Ungewissen, langsam sich entschließender Vorwärtsregung durch das Tonartlose, bis das sanftgestillte feste Asdur endlich durchbricht. Den Grüblerweg kann man nachgehen, aber nicht entdecken, was den Grübler bis ins Mark lähmte. Rätselhaft vor dem Erreichen der Haupttonart ist auch der vortonartliche Anfang des neunten Adagios, wiewohl sich alles technisch deuten läßt. Und am Eingang des neunten Scherzos liegt die akkordliche Sphinx. Um den vorher nie gehörten Akkord hat sich eine beobachtende Literatur gesetzt. Der Akkord erkennt keine Verwandtschaften an; die Umlagerung auch nur eines Tones in die Oktave verändert seinen Charakter vollständig: er will nicht tristan-erotisch blühen, sondern im Totentanz mittanzen.

Es ist unleugbar eine Auslegung des Alls in dieser Musik, doch würde sie alsbald verfälscht, wenn ihr ein System aus Worten erbaut werden sollte. Denn der Verlauf ist ja musikalisch, das heißt weder dem Worte verwandt noch auch entgegengesetzt. Scheuen wir uns nicht, einer Tonerscheinung eine Vorstellung zu gesellen, oder müssen wir es manchmal sogar unwillkürlich, so sollen wir diesem Schatten nicht weit folgen, er geleitet uns sonst zum Hades. Empfinden wir beispielsweise einen Orgelpunkt auf der Tonika als das reine Element, so wollen wir uns nicht an die alten reinen Elemente Erde, Wasser, Luft, Feuer verlieren. Gleichnisse nach der Musik können immer nur einen Augenblick dienen, sie lassen sich nicht durchführen.

Auch wenn es der sterbliche Mensch Bruckner sagte: es gibt im Scherzo seiner vierten Symphonie weder eine erzählbare Jagd, noch im Trio dazu einen eßbaren Schmaus der Jäger mit Tanz. Ebensowenig gibt es im Finale eine Jagd des sagenhaften wilden Jägers in krachendem Nachtsturm.

Die gelegentlichen hilflosen Programmworte Bruckners sind von fast allen seinen Hörern verworfen worden. Wenn Ehrfürchtige meinten, der Schöpfer müsse doch sagen können, was er geschaffen habe, oder wenn Neugierige erfahren wollten, was der Musikant musiziert habe, so haben sie auf eine Weise recht, die tiefsinniger ist als sie selbst. Der Musikant Bruckner weiß, was er musiziert, in der Tat so genau, daß er es nur in der Anwendung der klingenden Saiten, des Blechs, des Holzes ausdrückt, ohne Umweg und Abschweifung in außermusikalische Gerechtsame. Erst hinterher ist er sich zuweilen mit Begriffen der Schule nachgegangen und hat in seine Partituren eingezeichnet, was sich da harmonisch entwickelt hatte, wie es nach den immanenten Gesetzen der Akkorde fortgeschritten war und ob es noch stichhielt. Und der Schöpfer Bruckner weiß, was er schafft: daher ist sein Geschaffenes als Leben den Begriffen entzogen, wie nichts Lebendiges von Begriffen, die sich ihm nähern, wirklich berührt wird. Vermögen Worte an einer Blume die Gestalt, die Farbe, den Duft, den Standort zu beschreiben, so vermögen sie ein Ähnliches vor einem musikalischen Thema. Indessen das Leben selbst verwandelt sich, ob Worte, Blicke, Hände, die es halten wollen, im Anzüge sind oder nicht, und da es in dieser Verwandlung dauert, solange es währt, entrückt es sich der Erscheinung in jeder anderen Form außer seiner eigenen. Das trifft auf die Verknüpfungen und Gegensätze des Lebens vervielfacht zu. Mit einem die begrifflichen Kategorien nur nebenher mitschaffenden Verstände binden sich die Motive in Themen, in Themengruppen und lösen sich wieder, so laufen sie durch die übergeordneten Verbindungen und Teilungen in der Sonatenform, durch Exposition, Durchführung, Reprise, Koda. Das Offenbare ist, nach Novalis, das ganz Geheimnisvolle, so auch das im Klang Offenbare.

Gleichwohl lassen sich aus den wenigen Deutungsworten Bruckners zu seinen Werken mit Vorsicht einige Schlüsse ziehen. In einer Stelle der achten Symphonie vernahm er den Tod im Vollzuge seiner Sendung. Er vernahm es in der Weite des musikalischen Raumes. Nicht nur Einer starb und nicht Er fürchtete sich, dieser eine zu sein, nicht viele vergingen, sondern alle und alles, und das nochmalige und nochmalige und nochmalige Hinunterrollen des chromatischen Motivs stand für die unersättliche und ewige Wiederkehr.

Verlegen und stammelnd, dabei stolz auf den Fund, klingt seine zweite ausführlichere Deutung der gleichen Symphonie. »Im 1. Satze ist der Tromp.- und Cornisatz aus dem Rhythmus des Thema: die Todesverkündigung, die immer sporadisch stärker, endlich sehr stark auftritt, am Schluß: die Ergebung. Scherzo: Hpth.: deutscher Michel genannt; in der 2. Abteilung will der Kerl schlafen, u. träumerisch findet er sein Liedchen nicht; endlich klagend kehrt er selbes um. Finale. Unser Kaiser bekam damals den Besuch des Czaren in Olmütz; daher Streicher: Ritt der Kosaken; Blech: Militärmusik; Trompeten: Fanfare, wie sich die Majestäten begegnen.« Wer Bruckner erfahren hat, wird sich scheuen, diese wunderlichen Späne und noch weitere, die von dem kosmisch großen Werke fielen, zu zertreten. Kaiser und Kosaken oder dafür Johanneische Reiter von den Enden der Welt, gleichviel, wenn ihr Eingaloppieren in den Klang sie unsichtbar macht. Tappte ihm mit dem Thema des dritten Satzes dieser Symphonie der deutsche Michel durch das Scherzo, träumte ihm beim Trio der Michel in das Land, so mag uns wohl eine riesige Urgestalt erscheinen, und sie mag uns vielleicht sogar nie wieder entschwinden. Nur was sie wirkt und was sie träumt, besitzen wir nie anders als in den Tönen des Orchesters, und es wiegt gleich, ob wir den Mann Anton Bruckner aus Ansfelden oder seinen vorgeschobenen Stellvertreter als Urheber und Gefäß der Träume verstehen.

Es verhält sich damit nicht anders als mit der sagenhaften Geburt der sämtlichen Leitgedanken der siebenten Symphonie. Nach Bruckners Angabe war ihm ein verstorbener Freund, der Linzer Kapellmeister Ignaz Dorn, in einer Nacht erschienen und hatte ihm das Hauptthema des ersten Satze;: diktiert und dabei die Worte gesagt: Paß auf, mit dem wirst du dein Glück machen. Er habe es sogleich aufgeschrieben. Das Finale wird von dem Thema in formaler Abwandlung beherrscht, und sein Haupt bricht, vom Erlebnisgang durch das Werk machtvoll erfüllt, am Schlüsse durch. So wäre die Konzeption auch dieses Satzes auf den toten Freund zurückzuführen. Die Erfindung des Adagios war von der Vorstellung der Todeskrankheit Richard Wagners geführt, und der Tod des Meisters hatte ihm den Abgesang eingesungen. So war wiederum ein Fremder an der Arbeit mitbeteiligt gewesen. Schließlich der Einfall zu dem noch übrigen Satze hatte ihn beim Krähen eines Gockels überfallen. Nun, der tierische Mitschöpfer mit seinem dämonischen Hahnenschrei weckt den Erdkreis.

Danach wären die Grundweisungen zu dem ganzen Werke von Sendboten aus dem Unbetretbaren überbracht worden, und für Bruckner bliebe davon nichts übrig. Wir leuchten in die Kunde vom Verkehr des Drüben mit dem Hüben nicht hinein, weil sie selbst leuchtet. Bruckners Seele reicht als Einzelseele von der christlichen Frühe bis in die Zukunft; sofern sie an der Allseele teilnimmt, ist sie außerhalb der Begrenzbarkeit. Jedenfalls führen seine Angaben über den Inhalt seiner Musik diese Musik aus der Reichweite des Programmatischen. War sein Gemüt neben anderen mittelalterlich, so sagte er bäurisch das Moderne nach, das er ringsum gewahrte. Es schien auch ihm verführerisch angetan, es lockte auch ihn durch den Neuerungswillen, die Erfolge und den Gehalt an Vorkämpfertum. Da er nicht primitiv war, mochte er nicht argwöhnen lassen, daß er irgendwo zurückgeblieben sei, und wäre es nur in der Unterstellung unter Programme. Gelegentlicher Nachahmungen der Laute, die den epischen Tag durchtönen, war er natürlich fähig wie alle ihrer Sinne frohen Musiker. Indessen, die Schläge der Geißelung und der Hahnenschrei machen nicht Bachs Passionen, Kuckuck und Nachtigall nicht Beethovens Pastorale. Ebensowenig dringt der Ruf des Vogels Zizibe, der Waldmeise, in das Gewebe der romantischen Symphonie Bruckners. Er ist nur eine Allegorie in ihrer wirklichen Sprache. Wer weiß, wie wenige der Ruf an den Rufer erinnert hätte, wären sie nicht durch Bruckner aufmerksam gemacht worden. Die tönenden Findlinge von draußen bekräftigen, daß es nur eine Natur gibt, die sich in mannigfachen Mundarten kundgibt, einmal prosaisch, einmal sibyllinisch, einmal orphisch.

Dies vorausgesetzt, gewinnen Bruckners Rückspiegelungen des Klanges ins Sichtbare doch symbolische Bedeutung. Sein Klingen schweift etwa ins romantisch Entlegene: da hebt sich eine mittelalterliche Stadt aus der Morgendämmerung, die Tore öffnen sich, Ritter reiten in den Wald. Indem er dies mitteilt, spricht er von großen Entfernungen im Räume und in der Zeit. Denken die Ritter unbewußt an den Gral und an Christus, mit dessen Blute er sich gefüllt hat? Hebt die Sonne sich zum ersten Male aus den erwärmenden Nebeln wie damals, als sie geschaffen wurde, und tönt nun wie aus Faustens Himmel in Brudersphären Wettgesang, und vollendet sie ihre vorgeschriebene Reise mit Donnergang? Es soll Bruckner nichts untergeschoben werden. Ob die Vorstellungszusammenhänge der Empfindungen in dem Symphoniebeginn ähnlich den hier angedeuteten sind oder sein könnten, niemand wird es erforschen. Nur stehn die heiligen Worte des Tons und die alltäglichen einander gegenüber, weltenfern. Das Bewußtsein hascht vergebens nach dem Überbewußtsein.

Der Weg in dieses Überbewußtsein war der Weg des Brucknerschen Lebens. An ihm hatte er nicht als verweslicher Mensch teil, sondern als Gefäß unverweslicher Natur. Und das Wort Natur streng genommen, gibt es für das menschliche Urteil nicht ein Stück Natur und nicht das Ganze der Natur, denn das Wesen hebt den Begriff der Grenze auf. Ein Vogel wäre nicht ohne alle Vögel, ein Mensch nicht ohne die Menschheit. Eins rührt alles an. Der Weg, den etwa Herder in seinen Ideen zu einer Philosophie der Menschheitsgeschichte enthüllt hat, die Erde sei ein Planet um die Sonne, und so hinab durch die Organisationen bis auf uns, läßt sich auch in umgekehrter Richtung erfliegen. Das Ganze der Schöpfung äußert sich in jeder einzelnen seiner Gestaltungen, hier klar, hier trüb, hier im Traum, den wir Leben nennen, hier in dem Leben, das wir Tod nennen.

Wie wenig es auf das Erhärtete für den Augenschein ankommt, entnehmen wir, um mit den weisen Augen eines Antipoden auf uns hinüberzublicken, der Philosophie Buddhas. Auch er offenbart die Gottheit der Natur, obschon er keinen Gott offenbart. An seiner Strahlung werden wir milder und heller, als habe das All sich an seinem Blute zur Freude erwärmt, und doch überredet er uns fort und fort, mit unseren Leidenschaften keiner anderen Leidenschaft und keinem Dinge anzuhaften. Verlöschen in uns sollen wir um der Befreiung vom Leide willen. Der Kampf, uns vom Schmerze der Welt zu heilen, wird uns zur Heilung des Schmerzes in der Welt. Uns will er befreien, und er befreit die Welt. Dies ist gewiß nicht der denkerische, aber der musikalische Sinn seiner Lehre.

Ein solcher Sinn ist weder archaisch noch zeitlos.

Bruckner ist nicht unzeitgemäß, weil die Zeit, die ihn zählt und in der er zählt, in ihm wie eine Quelle zutage trat. So quellhaft war sie in früheren ihm ähnlichen Geistern zutage getreten, so kann sie in künftigen wieder aufbrechen. Da es unmöglich ist, die Raumvorstellung aus dem Bilde zu entfernen, und weiter unmöglich, hierüber anders als im Bilde zu sprechen, mögen wir es in uns verbreitern und vermehren, über den Quellmund hinauf in sein Gebirge und hinab in seine Ebene; und sinnen wir noch bewachsene Ufer hinzu und Gestalten, welche den Trank trinken, so fehlt nicht viel, daß sich die abstrakt ohnehin unbegreifliche Zeit mit Welt aus ihrem Vermögen umgebe und die alte Welt verdränge. Der Vorgang ist die Übermannung der Wirklichkeit durch die Vision, welche die Wirklichkeit zwar nie zerstört noch stört, aber in neuen Ordnungen leuchtend und herrlich macht. In den Kämpfen großer Künstler befehdet die Welt mit ihren Realen oft die Künstler, diese jedoch kämpfen mit ihren Visionen um die Realität. Bruckner ging waffenlos in seinem Kosmos, während einige, die seine Brüder hätten sein sollen, mit vergifteten Waffen auf ihn eindrangen.

Brüder? Der nächste Nachbar wohnte hundert Jahre weiter.

 

Nach Beethovens und Schuberts Tode war die Sonate, besonders natürlicherweise ihre angestrengteste Form, die Orchestersonate, alt und müde geworden. Ihre Glieder waren steif und unlustig, ihre Gedanken hatten sich erfahren und festgefahren. Die Musik ging zu den anderen Künsten auf Besuch, um sich nach Anregungen und Erfrischungen umzutun. Die Maler wirtschafteten im klar anschaulichen Vordergrunde, konnte man das musizierend nicht auch einmal versuchen? Die Dichter waren pfiffige Leute, sie hatten unverbrauchte Ideen, sollte man nicht das Poetische auf die Symphonie zu übertragen probieren? Schon das Grundsätzliche solcher Vermischungen sieht nach Bluttransfusionen aus.

Bruckner wandte den Blick nicht auswärts, sondern einwärts. Wie ehemals sein Studieren durch Ausschluß alles dessen, was nicht Studium war, den Kosmos ausschritt, so wurde sein Schaffen durch Ausschluß alles dessen, was jenseits des Schöpferischen lag, erst recht kosmisch. Innerhalb des Kosmos war alles zu erfinden, daneben lag nichts. Die Versenkungsgewalt spannte alle Abstände innerhalb der Symphonie so weit auseinander, daß die alten schematischen Bezeichnungen für die Verfassung darin zopfig und kurzatmig werden. Sie sind von den Betrachtern vielfach ausgewechselt worden. Die formalistischen Chrien werden sofort Ausgeburt des Wahnsinns, wenn sie hier noch Geist und Seele in Formalien einzukramen versuchen. Will einer von achttaktiger Periode, Vorder- und Nachsatz sprechen, so gerät er, obwohl auch das möglich ist, sehr bald ins Stolpern, will er von der althergebrachten Reprise im Sonatensatze reden, so muß er sich dabei bescheiden, von Wiederholung meist nicht viel zu finden, dagegen womöglich Durchführungshaftes und trotzdem eine leuchtende Erinnerung an die Exposition. Sucht der Schematiker in Finales oder Adagios die Rondoform A B, A B, so kann er sie zwar befriedigend oft finden, aber er wird den Kopf darüber schütteln, was aus ihr geworden sei, wie sie, mit Sonate, Fuge, Choral und was immer gemengt, einhergehe, und wird sich dennoch schämen, das niedere Recht vor dem höheren zu verteidigen.

Die formale Satzkunde aus dem früheren Besitzstande wurde beibehalten, nur wurde sie mit löwenmütiger Vernunftstärke begründet. Warum hat eine Symphonie auch bei Bruckner noch zwei Ecksätze? Nicht etwa, weil es sich aus altmeisterlichem Herkommen rechtfertigte, sondern weil der vierte Satz eine Fortsetzung und Beendigung des ersten ist. Wer nicht bloß Getön und Getöse hört, kann das Brucknersche Finale ohne die ganze Symphonie nicht verstehen. Die letzten Sätze haben Taktart und meist Tonart mit den ersten gemein.

Sie stehen urhaft immer in Viervierteln, frühere Tondichter waren darin freier, moderner gewesen. Keiner aber hatte ja auch so weit her zu kommen und so weit hin zu gehen. Wegen der Entfernung vom Anfang bis zum Ende tritt der Held des Ereignisses, das Hauptthema, im Bewußtsein seines Vorhabens majestätisch, ruhegroß an, während er im Finale heldisch, lapithisch, kentaurisch sich vorzuschleudern weiß. In den beiden mittleren Sätzen, wenn er in den Abgrund seines Innern versinkt oder wie ein Halbgott mit den Menschen tanzt, läßt er natürlich das Bewußtsein von seiner Gestalt und Aufgabe aus dem inneren Blickfeld. Er schlafwandelt ja in seinen Schmerzen, Seligkeiten und Verklärungen. Das Bewußtsein seiner Einheit mit sich selbst geht ihm dabei nicht verloren. Die Mittelsätze stehen zu den Ecksätzen immer in Dominant- oder Parallelverwandtschaft oder Nachbarschaftrückung zur Sekunde.

Warum aber überhaupt das heldengleiche Grundthema? Auch das ist durch Bruckner neu und profund begründet worden. Es ist keineswegs gegeben, keineswegs aus dem Einfall aufgelesen, sondern es wird geboren. Es entsteht, um zu sein. Es fängt niemals im Forte an. Es verdankt sein Dasein einer Gruppe von Kräften, die alle zusammenwirken, alle unentbehrlich sind. Im Finale sodann wäre es widersinnig, wenn es sich nochmals entwickeln wollte. Es tritt fertig auf, wohl aber durch das Lebenserlebnis verwandelt. Es hat sein Kindes-, Jünglings-, Mannesalter, nur das Greisentum fehlt ihm, denn es verachtet den Tod und tut den Schritt gleich in die Unsterblichkeit mit unverbrennbaren Seraphsflügeln. Es weiß, daß es aus den Grundintervallen, den Grundrhythmen sich erschuf, die auch unsterblich sein müssen, sonst hätten sie nicht die Kraft des Erzeugens besessen, und sie wären nicht vorhanden gewesen. Wie aber etwa ein Mensch nicht in jedem Augenblick nur die Summe seiner Kräfte ist, sondern vor allem deren Potenz, die sich einmal wacker und einmal besinnlich erweist, die immerfort Teile daraus verbindet, entwickelt, steigert, ausscheidet, so ist das Thematische Bruckners beschaffen. Wenn es geworden ist, wird es noch immer, im ganzen und im Teile. Die Übergestalt im Gestaltwandel zeigt sich nur selten. Der Wandel ist Erlebnis; daher das Übergewicht dessen, was man Entwicklungsmotive genannt hat. Es leuchtet ein, daß die Symphonie Bruckners drei- oder viermal so lang ist als die früherer Läufte.

Die Hauptthemen der letzten Sätze erst sind Klanggestalt und Klanggewalt in einem. Wer die Gestalt nicht sieht und daher vor ihrem Getön erschrickt, faßt auch die Gewalt nicht. Wer diese nicht fühlt, sieht die Gestalt nicht. Er sieht nur etwa den einstürzenden Turm einer Oktave, die nochmals eine Terz tiefer hinabbricht und sich dann, als sei sie doch wieder ein lebendes Wesen, in mehreren Absätzen wieder hinaufquält. Der synthetische Blick auf das Äußere und Innere ist unentbehrlich. Was in keiner Gestalt erscheint, ist nicht. Die Synthese kann sich nicht mehr bloß in spezifisch musikalischen Begriffen bewegen. Sie erkennt die Musik in dem, was allen Künsten gemeinsam ist.

Für den Ausdruck dieses Gemeinsamen stellen sich, nicht zu vermeiden, Grunderfahrungen aus dem ewigen menschlichen Epos über allen Epen ein. Wir können nicht umhin, von stehen, gehen, laufen, treten, stampfen zu sprechen, von stürmen, tragen, schieben, schweben, von ermatten, sinken, sich senken, versinken, von heulen, pfeifen, wüten, dröhnen, überschäumen, von seufzen, schluchzen, trösten, verklären, erlösen. Begegnen wir dem bei allen Musikern, so machen wir Rangunterschiede, je nachdem wir mehr das Zeichen der Figur oder den ihr innewohnenden Willen meinen. In ausgehenden Stilepochen weiß der Hörer sehr weit voraus den Verlauf bis ins einzelne, er ahnt, wie von dem Komponisten gefühlt und geordnet werden wird. Harmonik, Rhythmik, Dynamik, selbst die sie anführende Melodik haben dann ihren Reiz darin, daß sie ein jedes Ding in dem Satz richtig und straff an seinen Platz bringen. Ein neues Stück bietet dann nur ein neues Beispiel mit anderem Material.

In der Brucknerschen Symphonie treibt unverbrauchte Regung nicht nur in horizontaler Richtung gegen das Unendliche, sondern ebenso nach oben, nach unten. Ist das Dynamische ausdehnungslos, so mag seine Weise zu wirken sich in räumlichen Symbolen am leichtesten erläutern. Nach August Halm hat es mit besonderem Veranschaulichungsglück Ernst Kurth unternommen, das dionysische Spiel der symphonischen Wellen, ihr An- und Rückfluten, ihre Steigerungen zu Höhenkämmen, ihre Ermattungen, ihr Ineinandergischten. ihre Neubildungen, ihre Farben zu verfolgen. Er brauchte, weil das Meer unausschöpflich ist, weit mehr als tausend Großoktavseiten. Das Bild geht sofort in seinem psychologischen Wesen weiter: Feuermeere, Nebelmeere, Lichtmeere, Berggipfelmeere – man darf nichts lokalisieren.

Lokalisiert aber ist die Tonsprache. In allem führt der Weg von einer Grenze bis zur anderen, wie es jene Antrittsvorlesung Bruckners für das Harmonische und Kontrapunktische verhieß. In seiner Verstrickung liegt etwa ein Ton, spannungsgeladen. Er »spaltet« sich, und das Zerfällte wird wieder Ton. Aus eins wird zwei, nach oben, nach unten. Wir haben uns vom Ausgang nach beiden Seiten um eine kleine Sekunde entfernt. Die Wendung nach den angrenzenden Halbtönen finden wir in allen Größen festgehalten. Die vier ersten Töne des Hauptthemas der zweiten Symphonie zeigen den Vorgang im engsten Zirkel. Die Ränder der Themenbahn zu Beginn des neunten Adagios zeigen ihn verbreitert und verinnerlicht. Ganze Satzstrecken leben von seiner Energie, wie im vierten Finale zwischen dmoll und Edur lange das unerlöste Esdur schlummert. Die Tonartrückungen unter Abschneidung der alten Umwege keimen ebenfalls in der geheimnisstillen Tonspaltung.

Spalten sich die Töne nicht, so behalten sie im Akkorde und seinen Strebungen zu weiteren Akkorden, damit durch die mehrfache Deutbarkeit die gleiche unbeschränkte Spannung. Zu geborenen Dissonanzen kommen solche durch Erhöhung und Erniedrigung, gleichsam durch Rangveränderung, und solche, die als Schicksal durch die Stimmführung zufallen. Diese Schicksalsmöglichkeiten werden entweder auf der Stelle oder bei künftigen Neuansätzen verwirklicht. Aus den Akkorden spinnen sich polyphone Bewegungen hinaus, in Akkorden spinnt Polyphonie sich ein. Oft dringen dabei zwei Tonarten ineinander, reißen aneinander in gigantischem Schütteln, bis die Lawine an den Rand eines Höllenkessels gerollt ist, darüber schweben bleibt oder plötzlich im Unraum verschwindet. Selbst in Gesangsthemen mischen sich wundersam friedliche Gesandtschaften fremder Tonarten. Aus verschiedenen Landschaften hergepilgerte Akkorde scheinen sich an, nehmen, als wären sie kristallen, gegenseitig vom Eigenlichte des anderen auf. Die Tonarten breiten die Skala des Lichtspektrums aus. Die Kreuztonarten erstrecken sich bis zur Blendung ins Helle, wir denken an so manches Edur und Hdur, BTonarten suchen das Milde und Dunkle, sanft und rein das Asdur, verklärt und verzückt Des- und Cesdur, schmerzlich cmoll, furchtbar fmoll, gotisch großartig dmoll. Das sind nur ein paar grobe Risse. Weil die Tonarten für Bruckner so durchaus Charakter sind, wendet er sie, unbekümmert um das Fortkommen der Werke in der kalten Welt, dem inneren Auftrag gemäß an. Drei Symphonien stehen in cmoll, zwei in dmoll, darunter die neunte, den Vergleich mit Beethovens Neunter herausfordernd. Aus dem nämlichen Charaktergrunde kann er mit einer Tonart sehr sparsam sein. Kurth führt sehr schön aus, wie uns der Anfang der vierten Symphonie in ein Meer, in ein nur an der Oberfläche in andere Farben gebrochenes Weltall von Esdur versetzt, dann aber das Esdur erst auf dem Höhepunkte des Satzes wiedererscheinen und erst am Schlusse des Werkes ganz deutlich ausbrechen läßt.

Der Aufgang des Lichtes in den Harmonien oder sein Erlöschen wird oft nicht gleich von helleren oder dunkleren Instrumenten verkörpert. Zwischen den klaren und dumpfgefärbten Instrumenten liegen Empfindungszwischenräume wie zwischen den Tönen der leeren und vollen Akkorde. Die Streicher, das Holz, das Blech bilden in sich geschlossene Sippen, sie werden einander gern entgegengesetzt, nicht nur ihre Weisen. Fernen klaffen zuweilen zwischen ihnen; aber sie reiben und quälen einander. Die Sippenmitglieder schließen sich ungern anderen Familien an, der orchestrale Besitz bleibt oft über längere Satzteile erhalten. Die Instrumente wechseln, wenn zum Beispiel mit Eintritt eines neuen Themas der Inhalt umgestimmt wird. Dann folgen etwa die hölzernen Sänger den harmonischen Trübungen und Hellungen leise nach in Kreuz und Be, in Licht und Weh. Und doch ist das Instrument noch etwas anderes als der Erfüller harmonischer Wege. Zum Kraftwillen im ganzen tritt die Kraft an sich. Der Gedanke wird plastisch in verschiedener Dichtigkeit, Schwere, Leichte. Bruckner liebt kein Verstärken, kein Verbleichen um seiner selbst willen, sondern er prägt seelisch das Stärkere, er gestaltet seelisch das Blassere, das Lautere, das Leisere. Die Blechbläser weben ihm das entwerdende Dunkel, das Licht bei geschlossenen Augen: bei anderen Tonschöpfern ergeben sie sich gerade umgekehrt der weltlichen Helle und Freude. Der Blechbläsersatz kann mit Sanftmut Gottvater und im Affekt Gott den Geist verehren. Aber der eherne Mund der Trompeten, Posaunen, später Tuben weiß auch ungeheure Runensprüche, er weiß den autochthon erfundenen protestantischen Choral, der, manchmal zu einem einzigen leisen Akkord verkürzt, eine Frage aus nicht antreffbaren Welten beantwortet.

Die Streicher sind das Allgegenwärtige, sie lassen die Atmosphäre des Alls wogen, zittern, duften, sie steigen in flirrende Höhen diatonisch hinauf, ihre Bässe schleichen chromatisch in die Tiefe, wo der Boden schwankend wird. Sie machen in der Mitte Schmerz und Sehnsucht blühen, groß und frei wie die Geigen im Adagio des Streichquintetts, oder die Celli inbrünstig in hohen Lagen am Beginn der zweiten Symphonie, wo es die Bratschen leichter hätten.

Das Holz ist gern über leeren Weiten einsam. Die Leere und die Weite vergeht nie. In ihr gebiert sich das Ereignis, und es stirbt da. Geschlechter der Helden und Leidenden haben ihren Raum darin und gleichsam ihr Grab und ihre Auferstehung. Die Erlebnisse verdrängen nicht den Weltraum, der sie hält und trägt. Sie werden sich nicht selbst genug in einem Verstände des Hochmuts, der das Zeitliche und Ewige vergißt, sondern sie besiegen das Zeitliche und anerkennen das Ewige, indem sie in beides eingehen. Bruckner ertönt registerhaft wie Bach, er meidet das Einschmelzen und Einfärben des Klanges. Dieser tritt auf als Substanz durch und durch, er verstärkt das den meisten Unvernehmbare so, daß es auch andere vernehmen. Mixturen enthält das Akkordliche genug, die Kolorierung dieser Mixturen ist überflüssig. Die Skala spannt sich doch vom Geräusch bis zur schwelgerischen Melodie. Es gibt der rechtmäßigen Mittel, sie räumlich, nicht flächig zu erfüllen, so viele. Da löst sich aus dem Hintergrunde in gezupften Streicherakkorden der bange Schemen eines Chorals, und erst nachher wird er aus dem somnambulen Geschwirr zum vollen Chor erwachen. Eine andere Achse des Gesangs reicht vom gregorianisch Felsigen bis zum atonalen Spätnebel. Eine andere läuft vom Tremolo in der Höhe bis zum Tremolo in der Grundtiefe, mit klingenden Inseln oben, unten. Nimmt man's formalistisch, so behält man Materie in der Hand, eine chromatische Begleitfigur drunten, droben ein paar Flötentöne, die jeder erfinden und blasen könnte, anders aber belauscht man Grundwasser, nicht geheuer, verwehende Cirrusflocken: nur lasse man das Hörende nicht vom Akustischen vergiften.

Die kontrapunktische Gegensätzlichkeit schert ebenfalls vom Punkte bis dahin auseinander, wo Maß und Zahl nicht sind. Vom gleichen Ansatz her richtet sich eine thematische Linie in die Höhe und als Umkehrung in die Tiefe. Verkleinerungen, also Beschleunigungen eines Motives bringen Verdichtungen und Aufgipfelungen zustande, Vergrößerungen, also Verlangsamungen verlieren sich in stillen Tälern. Melodische Doppelerfindungen, besonders in den Gesangsthemengruppen, verbinden zwei Lebensstimmungen, eine mehr menschliche und eine mehr naturhafte. Sprichwörtlich sind solche Koppelungen geworden wie die im dritten Finale, wo ein Choral und ein Ländler gleichzeitig miteinander gehen: hier trägt man einen Toten hinaus, und nebenan tanzt man auf der Hochzeit – in diesem Sinne drückte sich Bruckner darüber aus. So kommt die zwei- und dreiteilige Hälfte des Brucknerrhythmus übereinander zu stehen, wie es noch viele andere Kontrapunkte der Rhythmen gibt. Sinnbildlich gesprochen, liegen Kristallinisches und Schwarzerdiges in den verschiedenen Sätzen horizontal widereinander. Wenn Teile der Durchführung und der Wiederaufnahme ineinandergeschoben sind, so entspringen natürlich daraus auch Gegensätze des Denkstils. Einen Kontrapunkt der geschichtlichen Zeiten stellt jenes Miteinander von Symphonie, Choralfuge und Doppelfuge mit dem ersten Hauptthema und dem Finalethema im letzten Satze der fünften Symphonie auf. Die Altkirche und die neue singen widereinander, die Urlandschaft raunt am Anfang, der offene Himmel drommetet am Ende.

Kühnheit ist ein fast schwaches Wort für die Vereinigung aller Hauptthemen der vier Sätze im Finale der achten Symphonie. Bach hat einmal die vier Zeilen des Liedes »Vom Himmel hoch, da komm ich her« gleichzeitig ertönen lassen. Bruckner schrieb, als er seine Viereinigkeit im ätherreinen Cdur vollbracht hatte, in die Noten: Halleluja! Eine ähnliche Zusammenballung erreicht er in vielen seiner Unisonos. »Es werden gleichsam alle Stimmen im Einklang zusammengefaßt, die sonst nach verschiedenen Richtungen hin wirkenden Energien werden vereinigt, und in dieser vom Hörer vielleicht unbewußt empfundenen Vervielfältigung der Intensität der Energie mag nicht zuletzt die Höhepunktswirkung derartiger Unisoni gelegen sein« (Orel).

Strecken der Einfachheit, Ruhe, Sammlung tun sich allenthalben in den Leidenschaften des Scharfsinns und den Gefühlsstürmen auf. Noch einmal sind hier die Choräle und vor allem die tiefen, keineswegs stummen Generalpausen zu nennen. Die Pausen dienen manchmal dazu, einen Nachhall abzuwarten, der erst stark, dann matter aus der Ferne eintrifft. Dann wird es leer über der Tiefe, und etwas Neues macht sich daraus auf. Dann sind unsichtbar knetende, knotende, emsige Hände in unterweltlicher Werkstatt fertiggeworden. Manche Pausen könnten so gedeutet werden, als sei ein Choral eben darin verklungen oder sollte aufklingen. Denn oft gibt er sich nur in dunkel eingeschlossenen Fragmenten, in einsamen Registern zu erkennen, als ein Getrümmer von Bangigkeit, hängengebliebener Weihrauch, verlorene Lichtspur irgendwo. Vereinzelte Pianissimo-Akkorde der Posaunen und Hörner vergewissern sich dann des warmen Dreiklangs. Sie blicken aus nach den gebundenen Chorälen vor, in und nach den großen Kämpfen. Die stehen in unverziertem akkordischen Satz: Macht und Wahrheit des Errungenen oder des in Hinkunft Gewissen.

Auf Vereinfachung und Verdeutlichung war Bruckner immer aus. Seine Verbesserungen beziehen sich auf »Beseitigung unspielbarer Violinpartien, Beseitigung der Überladung und Unruhe der Instrumentation«. Die ursprünglich vier gleichzeitigen Gesangsthemen im ersten Satz der Vierten wurden auf zwei vermindert. Alle Finales bis auf eins wurden umgegossen. Freilich erzwang sich neben der formalen Vervollkommnung zuletzt auch das Schwermütige und verzerrt Unbändige den späten Einlaß in die Vierte.

Die Abschnitte innerhalb der Sätze sind klar geschieden, in den Endsätzen sinken zwischen ihnen Klüfte ein. Das war bei einem Gehör sehr weit voraus, sehr weit zurück notwendig. Die Verwandlungen unterwegs waren so entschlossen, daß die Wiederkehr der Urform nicht mehr zu erwarten stand. Und gerade sie arbeitete sich nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten, aus all dem Leben heraus zu ihrer unantastbaren Gültigkeit.

Aber nun lenken wir den Blick zurück in die irdische Form, wo Bruckner im Gedränge wohnte.


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