Hermann Löns
Der zweckmäßige Meyer
Hermann Löns

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Gerichtszeuge

Der Krischan Kötter, der stand vor Gericht,
Als Zeuge wurde er vernommen.
Drei Stunden hat warten müssen er,
Davon wurde ihm ganz beklommen.
»Wer falsch schwört,« sagt der Präsident,
»Wird in Zuchthausstrafe genommen,
Und darf außerdem nicht vor Gericht
Wieder als Zeuge kommen.«
Der Krischan hört ganz andächtig zu,
Ganz benaud ist ihm zu Sinnen,
Von dem Warten auf dem Korridor,
Von dem Knurren im Magen drinnen.
Und als er endlich abtreten kann,
Da meint der Krischan trocken:
»Daß man dann nicht Zeuge zu sein braucht,
Das könnte mich beinahe verlocken.«

In Reisebeschreibungen habe ich als kleiner Junge gelesen, daß in China die sonderbare Sitte besteht, daß das Gericht alle an dem Prozeß Beteiligten, also den Angeklagten, den Kläger und auch die Zeugen einsperrt und hundsmiserabel behandelt und beköstigt. Schon damals, wo ich solch Proppen war – nicht höher wie zwei aufeinandergestellte Achtel – fand ich diese Manier höchst dummerhaft und lächerförmig, und ich sprach mir selbst meine herzliche Gratulation zu der erfreulichen Tatsache aus, daß ich nicht als Chinese, sondern als Deutscher auf die Welt gekommen war. Dieser Tage habe ich nun die Erfahrung machen müssen, daß bei uns in Deutschland dieselbe unangenehme Manier in der Rechtspflege besteht, wenn auch in einer unseren patenten Sitten mehr angepaßten, weniger rauhbeinigen Form. Ich mußte nämlich vor Gericht. Da die Sache mir neu war, so freute ich mich sehr darauf, machte mich, wie es sich gehört, sehr fein, und wanderte frohen Mutes zum Justizpalast. Um ja nicht zu spät zu kommen und meinen Wechsel dadurch auf dem Undamm zu bringen, tanzte ich eine Viertelstunde früher an und stand nach einer kurzen, aber lehrreichen Odyssee durch zwanzig Korridore, zehn Treppen und drei Stockwerke vor dem mir angegebenen Zimmer.

Ich hatte noch fünf Minuten Zeit. Es tat mir leid, daß es nicht 15 waren, denn ich sah zu viel Interessantes. Da waren die Gerichtsdiener in ihren vornehmen Uniform. Da waren alte Richter, die still über die Korridore gingen, und junge Rechtsanwälte, die mit gehobener Stimmen laut ihren Klienten mitteilen, daß sie in der zweiten Instanz ganz bestimmt gewinnen würden. Da waren Leute mit ängstlichen Gesichtern, das waren die Kläger; und da waren Leute, die frech um sich guckten, das waren Angeklagten. Da waren Bänke, auf denen viele Leute saßen, alte und junge, und alle sahen aus, als wollten sie jeden Augenblick einschlafen. Einige sahen immerzu nach ihren Uhren und murmelten geheimnisvolle Sprüche, die ich erst später verstand. Und kleine Jungens mit großen Mappen liefen herum, als hätten sie riesig viel zu sagen; das waren Schreiberlehrlinge. Und große Herren mit kleinen Notizbüchern kamen und gingen; das waren die Zeitungsberichterstatter, schreckliche Menschen, denen es Spaß macht, wenn möglichst viele Leute die gräßlichsten Sachen machen, denn darin liegt ihr Verdienst. Einer von ihnen sagte zu seinem Kollegen: »Sagen Sie bitte auf der Redaktion Bescheid, sie sollten Platz lassen. Ich habe noch einen brillanten Selbstmord und einen ganz famosen Unfall mit tödlichem Erfolg!«

Es war sehr interessant. Da war ein Mann, der schimpfte, weil er keine Zeugengebühren kriegt. Er verlöre den halben Tagesverdienst. Er war nämlich Bettler und Landstreicher. Eins gefiel mir nicht. Das Gericht ist ungalant. Ein hübsches junges Mädchen, das riesig fein angezogen war, wurde von einem Gefängniswärter vorgeführt, als wäre sie ein Kerl. Er konnte ihr doch den Arm bieten. Schließlich hörte ich, daß ein Herr folgende lakonische Rede hielt: »Himmelkreuzbombengewitterdonnerkeil! Jetzt ist es gleich elf und ich bin noch nicht dran. Wieder muß ich den Frühschoppen verbummeln!« Da fiel mir ein, daß ich auf elf Uhr geladen sei, und ich wollte gerade in das Zimmer hineingehen. Ein Berichterstatter hielt mich aber zurück und fragte mich: »Sind Sie schon mal irgendwo rausgeschmissen?« Ich antwortete: »Dieses nicht, sondern nein,« worauf er sagte: »Na, denn ist Ihnen das was Neues und Interessantes und dann gehen Sie man zu.« Ich verzichtete, denn es gibt viele Dinge, die ich ebensowenig kenne, als kennen lernen möchte. »Wann sind Sie vorgeladen?« fragte er dann weiter. »Auf elf,« sagte ich. »Auf elf? Na, dann kommen Sie mit mir, was wollen Sie sich hier mopsen. Ich will eben nach Hildesheim fahren, dort mit meiner Vetter einen Frühschoppen machen und wieder zurückfahren. Kommen Sie mit, Zeit haben Sie die Masse.« Ich ließ den Herrn einfach stehen. Ein solche Frivolität war mir noch nicht vorgekommen. Er fragte nochmal: »Na, woll'n Sie? Vor zwei Uhr kommen Sie nicht heran!« Ich sagte ihm, er sollte nicht glauben, daß er mich für'n Dummen haben könne; ich bäte mir aus, daß er mir den meiner Stellung zukommenden Respekt entgegenbrächte, worauf er lachend abschob. Gleich darauf kam ein anderer, erkundigte sich nach dem Zweck meines Daseins und riet mir dann, ein Brechmittel zu nehmen oder etwas Ähnliches. »Wissen Sie, wenn Sie elend sind, kommen Sie eher ran. Und elend werden Sie auf jeden Fall. Wovon, ist ja ganz egal, ob durch Brechmittel oder Warten.« Bald darauf kam ein Dritter. Er was so freundlich, mir mitzuteilen, daß noch zehn andere Personen in dasselbe Zimmer auf elf Uhr geladen seien, und entfernte sich, nachdem er mir diese ermutigende Mitteilung gemacht hatte.

Um zwölf Uhr hatte ich das Gefühl, als ob mein innerer Mensch sich nach Tätigkeit sehnte. Da ich zufällig kein belegtes Butterbrot bei mir hatte, so holte ich einen Nikotinspargel herfür. Gerade wollte ich ihn mir in der klassischen Physiognomie befestigen, als ein Gerichtsdiener mir laut und deutlich sagte. »Sie, können Sie nicht lesen?« Ich nickte freundlich, weil das lebhafte Interesse, das der Herr an mir nahm, mich freute, und steckte ein Streichholz an. Er aber wies mir ein Schild, worauf zu lesen, daß der, wer hier rauchte, es sich selbst zuzuschreiben hat, und ernst sprach er: »Können Sie nicht lesen? Das Rauchen ist verboten!« Ich machte ein erstauntes Gesicht und meinte: »Soo! Ich dachte, das gälte bloß für die Öfen und die Beamten! Ich rauche übrigens sehr gute Zigarren!« Da wurde er aber ganz spee und sagte: »Und wenn Sie meinshalben Sechspfennigs-Zigarren rauchen, hier dürfen Sie se doch nicht rauchen!« Ich sagte: »Na, denn nicht,« und steckte schnell das brennende Streichholz in die recht Westentasche. Das sieht riesig ulkig aus, wenn man's kann. Sonst brennt man sich die Finger an und macht sich lächerhaft. Schnell ging der Herr fort; er hatte Angst vor mir.

Da er ein bißchen barsch zu mir gewesen war, so machte es mir Spaß, ihn zu reizen. Als er wieder vorbeikam, steckte ich wieder einen Elendsstengel in den Mund und steckte einen Sticken kunstreich in der rechten Hosentasche an. Sofort war er wieder da und schnob mich an: »Ich hab' Ihn' doch gesagt, sie soll'n nicht rauchen!« Ich sah ihn kaltlächelnd an und sagte: »Das will ich ja auch gar nicht:« Fassungslos starrte er mich an und fragte dann bescheiden: »Ja, zu was stecken Sie denn das Streichhölzchen an und nehmen die Zigarre in den Mund?« Ich neigte mich zu seinen Ohr und flüsterte »Weil ich vor lauer Warterei schon halb dötsch und halb blödsinnig bin!« Da nickte er beistimmend und entlief.

Mittlerweile war es halb ein Uhr geworden. Mein Magen machte einen Spektakel, daß ich mich seines Besitzes schämte, in meinen Knien verspürte ich ein Gefühl, als seien dort die Kugellager nicht in Ordnung, und im Rücken war mir, als wäre das Rahmenrohr kaput. Und immer wurde ich noch nicht aufgerufen. Leute gingen rein und kamen raus, bloß ich nicht. Und dann hatte ich auch kalte Füße, und die habe ich bloß beim Skat gern. Und im linken Backenknochen zuckte es eklig. Ich habe da einen Kusen, der entschieden mal wieder neu verlötet werden muß. Gegen dreiviertel eins dachte ich, mein letztes Stündlein sei gekommen. Hunger, Kopfweh, Zahnpein, Rückenschmerzen, Eisbeine, allgemeine Mattigkeit, Übelkeit, Schwindel, Atembeklemmungen, präkordiale Angst, Tatterich, Ohrensausen, Funkensehen, Herzklopfen, kalter Schweiß, alle diese angenehmen Vorboten einer baldigen Agonie traten nach und nach ein. Ich wollte gerade zu einem Berichterstatter gehen und ihn bitten, wenn mir etwas zustoßen sollte, es Frau Döllmer zu telefonieren, da rief der Gerichtsdiener meinen Namen. Ein unerwartetes Glück hat schon manchem schwache Menschen den Tod gebracht. Mein Zustand war so erbärmlich, daß ich mich keineswegs gewundert hätte, wenn es mir ebenso gegangen wäre. Aber meine kräftige Konstitution überwand den Nervenschock; Übelkeit, Schwindel, Mattigkeit, alles ging fort und ich fühlte wieder Kraft in mir.«

Was mich aber am meisten ärgerte, war, daß meine Vernehmung gerade vier Minuten achteindrittel Sekunden dauerte. Wenn sie wenigstens eine Stunde gedauert hätte, aber zwei Stunden zu warten, und dann vier Minuten vernommen zu werden, um einer vierminutigen Vernehmung wegen fast an den Rand des Grabes zu kommen, das paßt mir nicht. Ja, wenn es noch eine Verhandlung gewesen wäre, deren voraussichtliche Dauer niemand, weder der Justitzminister noch der klügste juristische Universitätsprofessor voraussehen kann, dann hätte ich noch nichts gesagt. Aber hier, wo es sich bloß um eine Vernehmung handelte, da fand ich es doch etwas quant, so mit dem Menschenleben zu spielen. Mein einziger Trost war nur der, daß drei andere noch länger warten mußten. Der eine ist, wie mir seine Frau erzählte, erst am anderen Morgen nach Haus gekommen.

Ich fluchte also wie ein Türke, als ich überhungert und eisgebeint heimsockte. Ich bin jetzt aber nicht mehr imstande, über die Justiz der Chinesen zu feixen. Auch bei uns werden Angeklagte, Kläger und Zeugen von vornherein als strafbare Subjekte behandelt. Denn als etwas anderes, als eine harte Strafe, kann ich die Warterei nicht auffassen.

Sie hoffentlich auch nicht. Oder sollte jemand von Ihnen anderer Ansicht sein, so bitte ich hiermit um sein Fratzotyp. Ich möcht's gern auf'm Pfeifenkopf haben.


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