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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Wie soll ich niederschreiben, was sich kurz nach dem eben Erzählten ereignet hat?

Der Tod eines Kindes ist etwas so Alltägliches, etwas so Unwichtiges! Wenn vernünftige Leute ein solches Ereignis im allgemeinen betrachten, werden sich die meisten nur freuen, daß ein menschliches Wesen vor den Mühsalen der langen Jahre, die ein Leben ausmachen, bewahrt worden ist. Denn wer könnte die Behauptung des Pessimisten widerlegen, nicht geboren werden sei besser, als auf die Welt kommen, und sterben besser als leben? Die aber, so der einzigen Hoffnung ihres Lebens beraubt worden sind, finden nur wenig Trost in Vernunftgründen. Der Gram ist die selbstsüchtigste aller selbstsüchtigen Regungen. Ich habe alles verloren, was mir mein Leben verschönte – genügt das nicht für die niedergeschmetterte Seele?

Für Carlotta bedeutete der Verlust ihres Kindes ein Wandern durch das finstere Tal; für mich bedeutete er zuerst Carlottas Leben und dann eine leere Stelle in meinem neugeordneten Lebensplan. Noch immer verfolgte mich der Fluch eines erfolglosen Lebens. Eine bescheidene Aufgabe hatte ich mir jetzt gestellt gehabt. Die Entwicklung eines neuen Geschlechts in der Gestalt von Carlottas Knaben; aber selbst diese geringe Leistung ward mir vom Schicksal verweigert.

Eine Erkältung, ein Kruppanfall, ein angstvolles Wachen, und das kleine Wesen war tot! Als es schon eiskalt war, mußten Antoinette und ich es Carlotta fast mit Gewalt wegnehmen. Ich allein fuhr mit ihm hinaus auf den Friedhof. Der kleine weiße Sarg stand mir gegenüber in dem Mietwagen, und oben darauf lag ein Strauß weißer Blumen von Antoinette. In der Friedhofkapelle wartete noch ein zweites Bruchstück der Menschheit auf sein Grab, und das Gebet wurde für beide Leichen gemeinsam gesprochen. An dem kleinen weißen Sarg stand ich allein; neben dem schwarzen hatte sich ein großes Trauergefolge aufgestellt. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick auf die Inschrift: »Jane Elliot im sechsundachtzigsten Lebensjahr«. Der Geistliche sprach von den beiden Gestorbenen als von unserm geliebten Bruder und unsrer geliebten Schwester. Entweder war das ein schauerlicher Scherz, oder eine schauerliche Wahrheit.

Mein kleiner, so »eigenartig bevaterter Sohn« hatte meine Hilfe in den Nöten des Lebens recht wenig gebraucht, dafür aber hatte seine Mutter jetzt meinen ganzen Beistand nötig. Ohne mich wäre sie gestorben, das ist meine feste Überzeugung. Ich war ihre einzige Rettungsplanke in den Wassern der Trübsal, die über sie hingingen. Sie klammerte sich an mich an – ja buchstäblich klammerte sie sich an mich an. Stundenlang saß ich bei ihr; sie ließ mich nicht los. Nur das sichere Gefühl meiner körperlichen Gegenwart schien sie zu beruhigen.

Obgleich diese schlaflosen Tage und Nächte noch nicht sehr weit zurückliegen, habe ich doch nur eine verschwommene Erinnerung davon. Das schwache Licht in dem vertrauten Zimmer, das ich einst wie eine Grabkammer verriegelt hatte, die Schatten an den Wänden, das fiebernde Gesicht und die großen eingesunkenen Augen Carlottas in den Kissen, ihre kleine Hand, die meine verzweiflungsvoll festhielt, der leise Schritt der Wärterin – das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Auch als Carlotta wieder zu sich gekommen war, wollte sie mich beständig neben sich haben, obgleich sie lange Zeit nur wenig sprach und mich auch kaum zu bemerken schien. Sie war von ihrem Kummer und Elend noch ganz benommen. Erst da machte ich mir klar, welche Rolle das Kind in ihrer Entwicklung gespielt hatte. Ihre Natur war in ihren tiefsten Tiefen erschüttert und ihr Gefühlsvermögen erweckt worden. Ohne die geringsten Skrupeln hatte sie mich damals verlassen; ohne eine Spur von Leidenschaft hatte sie sich Pasquale hingegeben. Und dann war sie zu mir zurückgekehrt wie ein verwundetes Tier, das seinen Schlupfwinkel aufsucht. Ganz allein für das Kind war die leidenschaftliche menschliche Liebe aus dem in ihrer Seele schlummernden Funken aufgelodert. Und nun war das Kind tot, die Sonne war von ihrem Himmel verschwunden, und sie fror in der eisigen Finsternis der Welt.

Dann kam eine Zeit, wo ihre Zunge sich löste und sie unaufhörlich von dem Kind sprach, bis sie eines Tages behauptete, es sei noch am Leben, ungestüm danach verlangte – und von neuem im Fieber lag.

Endlich erwachte sie eines Morgens aus einem tiefen Schlaf. Als sie mich an ihrem Bett sitzen sah – ich hatte die Wärterin morgens um sechs Uhr abgelöst – lächelte sie zum ersten Male, seit das Kind krank geworden war, und ergriff meine Hand, um einen Kuß darauf zu drücken.

»Wenn man beim Erwachen dein Gesicht sieht, Siir Markuus lieber, dann ist es gerade, als sei man im Himmel,« flüsterte sie.

»Ich will doch hoffen, daß der Himmel mit hübscheren Leuten bevölkert ist,« sagte ich.

»Hu!« lachte Carlotta. »Weißt du denn nicht, daß du schön bist?«

»Du mußt mir nicht mit einem solch alten Witz kommen, Carlotta,« sagte ich und erinnerte sie daran, wie sie einmal in ein lautes Gelächter ausgebrochen war, als ich ihr gesagt hatte, ich sei sehr schön.

Carlotta wartete geduldig, bis ich ausgeredet hatte, dann sagte sie mit einem leisen Seufzer: »Du kannst das nicht verstehen, Siir Markuus Liebling. Ich habe an mein Kindchen und an die Engel gedacht – und alle Engel sehen aus wie du!«

Um meine Verlegenheit über die allzu schmeichelhafte Bemerkung zu verbergen, zeichnete ich ihr lachend ein Bild von mir mit langen Flachshaaren und weißen Flügeln.

»Meine Engel hatten keine Flügel,« sagte Carlotta ernst. »Sie trugen alle Schlafröcke, es waren wirkliche Engel. Und einer, der dir am ähnlichsten sah, trug mein Kindchen im Arm und reichte es mir, damit ich es küssen könnte. Dann legte er es zum Schlafen auf eine weiße Wolke und nahm mich dafür in seine Arme, und als er mich dann forttrug, fort, fort, fort durch die Luft, da weinte ich nicht, daß ich mein Kindchen verlassen mußte. War das nicht sonderbar? Ich schmiegte mich dicht an ihn an, so« – sie machte mir das Anschmiegen vor, indem sie sich in ihre Kissen drückte – »und es war so süß!«

Durch die zugezogenen Gardinen fiel der bleiche Sonnenschein eines schönen Februarmorgens. Ich drehte die verhüllte elektrische Lampe aus und ließ das volle Tageslicht ins Zimmer hereinfluten.

»O,« rief Carlotta, »wie herrlich die liebe Sonne ist! Jetzt ist es mehr als je wie im Himmel! Weißt du,« fügte sie geheimnisvoll hinzu, »gerade ehe ich aufwachte, war alles ganz dunkel, und ich hatte meine Engel verloren und suchte sie.«

Weise gab ich ihr den Rat, jetzt nicht nach weiteren Gliedern der hiérarchie en déshabillé zu suchen, sondern sich mit den niedrigeren Bürgern unsres Planeten zu begnügen.

»Ich will versuchen, zufrieden zu sein, Siir Markuus Liebling,« sagte sie mit einem zärtlichen Händedruck.

Das arme Kind tat, wenn ich bei ihr war, ihr Möglichstes. Aber ich erfuhr, daß sie oft vor einem Häufchen Kinderkleider sitze, ein Stück nach dem andern aufnehme und sich dabei fast die Augen ausweine; so blieben ihre Wangen blaß und eingefallen, obgleich sie sich jetzt schnell erholte, und ihre Augen behielten einen kummervollen Ausdruck. Das Wetter änderte sich, es wurde feucht und neblig; Carlotta kauerte den lieben langen Tag hindurch vor dem Kaminfeuer und bewegte oft stundenlang keinen Muskel. Ihr Lieblingssitz war die Kaminbank im Wohnzimmer. Ihr eigenes Boudoir im unteren Stock, wo sie von der vortrefflichen Miß Griggs gewöhnlich unterrichtet worden war, betrat sie fast gar nicht mehr.

Einmal brach sie plötzlich ihr Schweigen und rief mich mit der ihr eigenen Umstellung meines Namens. Ich sah von dem Schreibtisch, wo ich arabische Grammatik studierte, auf.

»Ja?«

»Ich habe gedacht – o gedacht, gedacht, o so lange. Ich habe gedacht, daß du mich sehr lieben mußt.«

»Ja, Carlotta,« sagte ich mit einem schwachen Lächeln, »das denke ich auch.«

»Ebenso sehr wie ich mein Kindchen liebte?« fragte sie ernst.

»Vielleicht habe ich dich früher anders geliebt.«

»Und jetzt?«

»Vielleicht jetzt gerade so wie du dein Kindchen, Carlotta.«

»Ich liebte mein Kindchen, weil es mir gehörte,« bemerkte sie und sah dabei durch die zarten Finger ihrer einen Hand in die Flammen. »Ich wollte alles für den Kleinen tun und wünschte gar nicht, daß er etwas für mich tun sollte. O, für ihn wäre ich gerne gestorben. Es ist so merkwürdig. Ja, ich bin überzeugt, daß du mich so liebst, Siir Markuus. Aber warum?«

»Weil du, als ich dich vor fast zwei Jahren in den Anlagen des Embankments fand, beinahe so hilflos warst wie dein kleines Kindchen,« erwiderte ich, nicht ganz der Wahrheit gemäß.

Carlotta warf mir einen raschen Blick zu.

»Damals hieltest du mich für das, was du ›eine verfluchte Unannehmlichkeit‹ heißt. O, ich weiß es jetzt. Ich bin klug geworden. Aber du warst immer gut. Ich sah dir an, daß du gut sein müßtest, als du dort auf der Bank saßest. Du hast in einem schmutzigen kleinen Buch gelesen.«

» L'Histoire des Uscoques,« murmelte ich. Wie längst vergangen erschien mir das alles!

Eine Pause trat ein. Still ließ ich meinen Blick ein paar Augenblicke auf Carlotta ruhen; sie war schon wieder in tiefe Gedanken versunken. Ich seufzte – wohl über das allgemeine Elend des Lebens – und nahm mein Arabisch wieder auf.

»Siir Markuus?«

»Ja.«

»Warum hast du mich nicht fortgejagt, als ich zurückkam?«

Ich schlug die arabische Grammatik zu und setzte mich neben sie auf die Kaminbank.

»Mein liebes kleines Mädchen, welch eine Frage! Wie hätte ich dich aus deinem eigenen Heim fortjagen können?«

Sie sah mich sonderbar angstvoll von der Seite an, richtete aber ihre Augen sogleich auf das helle Feuer, warf mir dann abermals einen raschen Blick zu, und den Kopf in ihren aufgestützten Armen verbergend, brach sie in heftiges Weinen aus. Mit den ungeschickten Trostworten, die einem Mann zur Verfügung stehen, murmelte ich etwas von dem Kindchen.

»Ach, ich weine nicht wegen des Kindchens,« schluchzte sie. »Ich weine um mich und um dich. Und wegen aller der Dinge, die ich zu verstehen anfange.«

Sanft strich ich ihr übers Haar; dann zündete ich mir eine Zigarette an und ging im Zimmer auf und ab. Carlottas psychologische Entwicklung verwirrte mich einigermaßen, und doch durchzitterte mich ein leiser freudiger Schauer über ihr Erkennen meiner Liebe. Aber zugleich tönte mir auch das traurige: Zu spät, zu spät! wie eine Totenglocke in den Ohren. Ich dachte an das, was hätte sein können, und sagte mir die ganze Leier abgedroschener Klagen vor: Ich war alt geworden; die Leidenschaft war erloschen. Meine Hoffnung – die Hoffnung, das Trippeln von Kinderfüßchen im Hause zu hören, die Hoffnung auf den Stolz einer Quasivaterschaft, auf ein, wenn auch nur stellvertretendes Weitergeben der Lebensfackel – diese Hoffnung lag tot und begraben in dem kleinen weißen Sarg. Nur eine große, ruhige Liebe war zurückgeblieben. Ich war ein müder, alter Mann, und Carlotta war mir eine heißgeliebte Schwester – oder Tochter – ja sogar Enkelin, so alt fühlte ich mich. Und als ich ihr beim Aufstehen von der Kaminbank half und die Tränen von ihren Augen küßte, geschah es mit einem so großväterlichen Kuß, wie nur je einer in der Welt gegeben worden ist.

Wieder die alte Frage! Was zum Kuckuck soll ich mit Carlotta anfangen? Aber es war doch nicht mehr ganz dieselbe; jetzt hieß es vielmehr: Was zum Kuckuck mit Carlotta und mir anfangen? Unauflöslich waren wir durch unsre eigenartige Verwandtschaft miteinander verbunden.

Vor allem brauchte Carlotta jetzt Sonnenschein – statt der unangenehmen Kälte eines englischen Frühlings – sowie ein Herauskommen aus diesem Haus des Kummers und des Todes. Außerdem fühlte ich auch, wie notwendig mir selbst ein weiterer Gesichtskreis war. Die Stadt London, die ich nie betrat, lag wie ein Alp auf mir. An dem ruhelosen Hasten und Jagen darin konnte ich mich nicht beteiligen. Unter den fünf Millionen Einwohnern waren nicht fünf, mit denen ich vertraulich hätte reden können. Judit war aus meinem Leben ausgeschieden. Für meine Tanten und Basen stand ich jenseit der von der Moral gezogenen Grenzlinie. Mrs. Mc Murray wußte noch nichts von meiner Rückkehr nach England. Daß ich diese gütige Freundin schlecht behandelt hatte, konnte ich nicht leugnen. Sie wäre sofort herbeigeeilt, um Carlotta in ihrer Not beizustehen. Aber hätte sie Carlotta verstanden? Wenn ich es mir jetzt überlege, bin ich davon überzeugt; in jenen Tagen aber überlegte ich gar nicht. Wie eine Schnecke verkroch ich mich in meinem Haus. Dieser Vergleich ist recht alltäglich – aber das war ich ja auch – die alltäglichste menschliche Schnecke, die je ein alltägliches zehnzimmeriges Haus bewohnt hat. Und nun wurde mir das Haus mit allen seinen unnützen Büchern und mit seinem millionenmal unnützeren Manuskript »Geschichte der Moral der Renaissance«, mit allen seinen traurigen Erinnerungen und allen den herumspukenden Gespenstern der Erfolglosigkeit ein ungesundes Gefängnis, in dem mein kraft- und saftloses Dasein dahinschwand. So entschloß ich mich denn, es zu verlassen, von meinen Büchern Abschied zu nehmen, die »Moral der Renaissance« abzuschwören und mit Carlotta hinaus in die weite Welt und in den Sonnenschein zu ziehen, um dem Geschick entgegenzugehen, das die erhabenen Götter uns zuzuteilen für gut finden würden.


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