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Siebzehntes Kapitel

1. November.

Fünf Tage ist es her, seit der Schlag gefallen ist, und erst jetzt fange ich an, mich zu erholen; erst jetzt kommt mir der fürchterliche Schmerz zum Bewußtsein.

Wie im Traum bin ich umhergegangen. Verschwommene Gesichter und Stimmen wie aus weiter Ferne begrüßten mich im Klub. Meine Augen überflogen unzählige Druckzeilen, ohne daß ich eine Silbe davon verstanden hätte. Ich zwang mich zu einer mechanischen Arbeit, indem ich ganze Stöße von kurzen Notizen für mein Geschichtswerk abschrieb, aber ich tat es, ohne daß mein Verstand sich auch nur mit einer Spur von Verständnis daran beteiligt hätte. Päpste, Fürsten, Künstler sind eine Kategorie von lose zusammengestellten Namen, die bei mir weniger Gedankenassoziationen hervorrufen als die Namenreihen des Londoner Adreßbuchs. Blöde habe ich ins Feuer oder auf die tropfenden Zweige der Bäume vor meinem Fenster gestarrt. Von Jammer betäubt, wanderte ich durch die Straßen – im zoologischen Garten suchte ich Trost.

Eine freundliche braune Bärin bittet dort ganz menschlich um Kuchen, und durch mein fleißiges Füttern entspann sich eine Art Freundschaft zwischen uns. Müßig stehe ich vor dem Käfig, dessen Bewohnerin eine eigenartige Teilnahme für mich zu hegen scheint. Sie legt den Kopf auf die Seite, sieht mich mit schmachtenden braunen Augen an, und sich auf die Hinterbeine niederlassend, streckt sie bittend die Tatzen durch die Gitterstäbe. Gerade so bat und flehte Carlotta. Ich habe über die Gnosis und Seelenwanderung Betrachtungen angestellt. Carlotta als ein gewöhnliches menschliches Wesen mit einer unsterblichen Seele hat gar nicht existiert; was ich von ihr kannte und liebte, war nur das Gaukelbild einer weiblichen Gestalt, in der ein Urgeist wohnte, der dazu verdammt war, sich immer wieder einen neuen Aufenthaltsort zu suchen. Nur der zögernde Schatten dieser menschgewordenen luftigen Hülle war es, der auf der Viktoriastation gesehen wurde. Jener mir verhängnisvoll gewordene Geist, der keinen irdischen Gesetzen unterworfen ist und von unerklärlichen Mächten getrieben wurde, hat sich in der kleinen braunen Bärin verkörpert, die sich jetzt so seltsam, so zärtlich – mit Carlottas Augen, mit Carlottas Bewegungen – vor mir gebärdet. Gestern bat ich diese Carlotta, doch zu mir zurückzukehren. Ich sagte, das Haus sei so leer, selbst die Zimmer hätten Sehnsucht nach ihr. O ich flehte mit heißer Leidenschaft, und die Augen vor mir sahen mich so schmelzend an, daß ich schon glaubte, ihr Herz sei gerührt. Aber da kam plötzlich ein anderer Besucher herbei, das Geschöpf stieß einen winselnden Klagelaut aus und streckte die Tatzen heraus, um Kuchen zu erbetteln, und als ich das sah, war ich ganz sicher, daß ich in der Bärin Carlotta vor mir hatte.

Schweigend habe ich den Schlag hingenommen; bis jetzt habe ich niemand etwas davon erzählt, und ich habe auch keine Erkundigungen eingezogen. Wenn ein Mann von seinem besten Freund betrogen und von dem Mädchen, das er liebte, verlassen worden ist, sind Zeit und Einsamkeit die einzigen Tröster. Und bei wem sollte ich Trost suchen? Ich hatte zu wenig Verkehr mit meinen Verwandten, und sie machen sich nichts aus mir.

Nicht eine Zeile kam von Carlotta. Ebenso leichten Herzens und ohne Gewissensbisse, wie sie einst Hamdi Effendi verlassen hat und mit dem armen Jungen gegangen ist, der sie von Alexandretta weglockte, ebenso leichten Herzens ist sie auch von mir geschieden. Ich möchte wohl wissen, ob sie, wenn sie jetzt die Nachricht von meinem Tod bekäme, auch sagen würde: »Ich bin so froh!«

Ob die Flucht von den beiden vorher geplant war, oder ob Pasquale ihr auf dem Weg nach Avenue-Road aufgelauert und ihr dort vorgeschlagen hat, mit ihm zu gehen, davon habe ich keine Ahnung. Aber es ist auch gleichgültig. Sie ist fort – das ist die einzige schreckliche Tatsache, die Bedeutung für mich hat. Keine Erklärungen, keine Bitten um Verzeihung könnten meinen Schmerz lindern. Wenn sie anders wäre, dann könnte ich sie vielleicht hassen – aber so vermag ich es nicht. Wie könnte man ein Wesen hassen, das weder ein Herz noch eine Seele hat? Aber lieben kann man es – Gott weiß wie blind! So habe ich Carlottas Zimmertür abgeschlossen und den Schlüssel an mich genommen. Es soll ganz unberührt bleiben, ganz genau so, wie sie es verlassen hat – und ich traure um sie wie um eine Verstorbene.

Was Pasquale anbetrifft – wenn mein Charakter dem seinen ähnlich wäre, würde ich ihn durch halb Europa verfolgen, und dann würde einer von uns beiden den andern umbringen. In einer Hinsicht gleicht er Carlotta, er ist nämlich jedes sittlichen Gefühles bar. Wie ließe sich sonst dieses Rätsel lösen? Wie könnte man sonst seine rasch auflodernde Ritterlichkeit gegen jene schwindsüchtige Waschfrau mit dem schwarzen Verrat, den er in jenem Augenblick schon gegen mich geplant haben mußte, in Einklang bringen? Ich wußte ja wohl, daß er schon viele betrogen hat, daß ihn keinerlei Rücksicht auf Ehre und Freundschaft von irgend etwas zurückhielt, sobald eine Frau im Spiel war. Aber ich hatte doch geglaubt – aus welchem Grund, weiß ich nicht, abgesehen von meiner eigenen unerhörten Eitelkeit – daß er vor mir eine besondere Achtung habe, ja, ich war wirklich des Glaubens gewesen, dieser Wolf werde aus einer gewissen Idiosynkrasie heraus meinen Schafstall für heilig halten. Wenn irgend ein Zweifel an seiner Treue in mir aufsteigen wollte, so schämte ich mich darüber, und so habe ich ihm mein Lamm ohne Zögern in den Rachen geworfen. Und während er mein Vertrauen so schamlos täuschte, suchte ich armer Mann verzweiflungsvoll seine Hilfe, um meinen Liebling der Gewalt jenes Türkenhundes zu entreißen!

Ich hatte das Gefühl, daß ich Hamdi Effendi eine Abbitte schuldig sei; es ist nur recht und gut, wenn ich mitten in dieser possenhaften Tragödie, in der ich eine Rolle spiele, auch noch ab und zu den Anstand wahre. Aber ist nicht Hamdi Effendi für das moralische Unrecht, das ihm zugefügt worden ist, schon reichlich entschädigt durch die große Freude, die er empfunden haben muß, während er mich mit seinen Spöttereien auf die Folter spannte? Trotz meines tiefen Kummers bin ich mir, wenn ich an jenen lächerlichen, demütigenden Mißgriff im Hotel Metropole denke, durchaus bewußt, daß ich unter tief verletzter Eitelkeit leide.

 

2. November.

Heute erhielt ich die Nachricht vom Tode des alten Simon Mc Quhatty. In den wenigen hellen Augenblicken der letzten Tage hatte ich wiederholt daran gedacht, seine freundliche Gegenwart aufzusuchen. Jetzt hat ihn Gevatter Tod über das Moor hinweggeführt.

 

3. November.

Antoinette brachte mir diesen Morgen einen großen, an Carlotta adressierten Karton. Der Bote, der ihn gebracht hatte, wartete unten.

»Ich wollte nur Monsieur fragen, ob ich die Sendung zurückgehen lassen soll,« sagte sie, mit den Tränen kämpfend.

»Nein,« sagte ich, »lassen Sie das Paket hier.«

Aus der Geschäftsadresse ersah ich, daß der Karton einiges Pelzwerk enthielt, das ich vor vierzehn Tagen für Carlotta bestellt hatte – das arme Kind fror so sehr in unserm kalten Klima.

»Aber, Monsieur,« begann Antoinette, »der arme Engel –«

»Braucht die Sachen vielleicht im Himmel,« sagte ich.

Die gute Alte starrte mich an.

»Wir wollen es wie die alten Ägypter machen, Antoinette,« sagte ich. »Diese legten Nahrungsmittel, Wein, Kleider und allerlei Kostbarkeiten in die Gräber der Abgeschiedenen, damit deren Schatten in alle Ewigkeit sich daran erfreuen möchten. Wir müssen uns einbilden, daß hier ein Grab sei, denn in London kann man keine Pyramide errichten, obgleich es eine unendlich große Wüste ist. Das kleine Zimmer droben im zweiten Stock bildet das Allerheiligste, wo der mit süßen Spezereien einbalsamierte und in endlos lange leinene Binden gewickelte Körper in tiefem Schweigen ruht.«

»Aber Mademoiselle ist doch nicht tot!« rief Antoinette schaudernd. »Wie kann Monsieur so etwas sagen! Es ängstigt mich, wenn Monsieur so spricht!«

»Es ängstigt mich auch, Antoinette,« erwiderte ich ernsthaft.

Als Antoinette sich entfernt hatte, trug ich den Karton mit dem Pelzwerk die Treppe hinauf, stellte ihn uneröffnet auf Carlottas Bett und schloß beim Hinausgehen die Tür wieder zu.

 

9. November.

Ich habe einen großen Entschluß gefaßt. Diese ganze letzte Woche habe ich damit verbracht, der Sachlage fest in die Augen zu sehen, und heute nacht, wo ich nicht schlafen konnte, kam ich zu einem Entschluß, der als die endgültige, unwiderrufliche Lösung der Frage vor mir steht. Da ich aber dem nächtlichen Entschluß nicht recht traute, weil das Gehirn durch nervöse Schlaflosigkeit überaus erregt wird, habe ich diesen ganzen Tag hindurch, wo ich bei klarem Verstande war, die Sache noch reiflicher überlegt.

Ich habe das Herz eines Weibes gebrochen; die leidenschaftliche Hingabe eines Weibes, das mir teuer gewesen ist, habe ich zurückgestoßen, einer Frau von großangelegtem Charakter, einer Frau von scharfem Verstand, die meine auserwählte Gefährtin, mein ebenbürtiger Genosse auf allen nur erdenklichen geistigen Gebieten gewesen war, einer feinfühlenden, edelgesinnten Dame in dieses Wortes buchstäblicher Bedeutung. Der Himmel mag wissen, was eine Frau Liebenswertes an mir finden kann! Wenn ich in den Spiegel sehe, so erblicke ich ein hageres Gesicht mit einer Habichtsnase, dem der Stempel der Unbedeutendheit für immer aufgedrückt zu sein scheint, ein Anblick, bei dem sich meiner maßloses Erstaunen bemächtigt, und doch bleibt die Tatsache bestehen, daß mir, dem Unliebenswürdigen und Unwürdigen, das unschätzbarste Gut zu teil wurde, die Liebe einer Frau. Ich erinnere mich, wie lustig Pasquale über diese Wertschätzung lachte. Er meinte, Frauenliebe sei so billig wie ein Haufen Spielsand für die Kinder, und zu nichts weiter zu gebrauchen, als Sandkuchen daraus zu backen. Der verfluchte zynische Schurke! »Sie müssen immer im Auge behalten,« sagte er bei einer andern Gelegenheit, »daß ein Mann, und wenn er auch häßlich wäre wie die Sünde, aller Wahrscheinlichkeit nach eben doch angenehm gefunden wird. Noch immer hat die ›Schöne‹ unerwartete Reize im ›Tier‹ gefunden, und das wird so bleiben bis zum jüngsten Tag.«

Aber ich bin eben ein ganz armes, häßliches Tier, ohne jegliche Aussicht, jemals in einen Prinzen verwandelt zu werden; ein gewöhnliches, schwerfälliges, schulmeisterliches Tier; ein betörtes, kurzsichtiges, verächtliches Tier! Und doch hat mich Judit geliebt! Aber anstatt den Göttern auf den Knieen für dieses Gnadengeschenk zu danken, stieß ich es zurück und wurde verrückt vor heißem Verlangen nach etwas unendlich Geringerem, nach Carlottas Kinderlippen und ihrem goldbraunen Haar. Ich habe Judits Herz gebrochen, und dieses Verbrechen will ich sühnen.

Das Verbrechen sühnen! Wenn ich mir den Sinn dieser Worte klarmache, überkommt mich heiße Scham! Mir ist, als sei das, was ich mir zu tun vorgenommen habe, eine sehr herbe Buße! Ja, in eine solche Gefahr gerät man, wenn man sich wie ich angewöhnt hat, stets in Gleichnissen zu denken. Diese Gewohnheit hat mir meine unbestimmten, schiefen Ansichten vom Leben, von mir selbst und von meiner Umgebung beigebracht. Wenn ich einem jungen Mann einen Rat zu geben hätte, würde ich sagen: »Lerne klar denken!« – Sühnen, jawohl! Ich will zu ihr gehen und ihr beichten. Sagen will ich ihr, daß diese schreckliche Einsamkeit meine Seele vernichte. Niederknieen will ich vor ihr und sie anflehen, mir mit der großen Güte einer echten Frau ihre Liebe wieder zu schenken, meine Gehilfin und Gefährtin zu sein, die ich lieb und wert halten werde, bis der Tod uns einst scheidet. Sie wird ein wenig Mitleid mit mir haben, denn ich habe schwer gelitten, und ich will herzliches, aufrichtiges Mitleid mit ihr haben; dann wird unser gemeinschaftliches Leben auf der Basis aufgebaut werden, wo es heißt: tout comprendre c'est tout pardonner; und dann werden wir in Wirklichkeit ein gemeinsames Leben führen. Wie oft habe ich von oben herab über ihre Angst vor der Einsamkeit gelächelt. Der Himmel möge es mir verzeihen! Damals kannte ich deren Schrecken noch nicht. In den ersten Tagen, als ich noch ganz betäubt war, hat mir die Einsamkeit Trost gewährt, aber jetzt umgibt sie mich wie eine geheimnisvolle und furchteinjagende Macht. Meine Seele schreit nach menschlicher Gegenwart in meinem Hause, und in meinem Herzen muß ein weibliches Wesen wohnen.

Der Welt zum Trotz wollen wir wie Mann und Frau miteinander leben. Mögen die Moralprediger uns verdammen – es soll uns nicht anfechten; für Judit wird es in sozialer Beziehung wenig Unterschied machen, und was mich betrifft – habe ich denn nicht so wie so schon der öffentlichen Meinung ins Gesicht geschlagen? Habe ich nicht in meiner Tante Jessica Augen bereits das öffentliche Gewissen verletzt, und schließt mich meine Base Rosalie nicht mit einem Schauder in ihr laues Gebet ein?

Wenn ich ihnen nun wirkliche Ursache gebe, mich zu verdammen, so werden sie weder klüger, noch besser, noch betrübter sein. Und wenn die Baronswürde beim Erlöschen einen schlechten Geruch hinterläßt, so weiß wenigstens ich genau, daß dieser Geruch viel besser ist als der, den dieser Titel hatte, als mein Urgroßvater für die Dienste, die er seiner kgl. Hoheit dem Prinzregenten geleistet hat, damit belohnt wurde. Dies ist die einzige Art, wie ich Judit Genugtuung geben kann, und es ist der einzige Weg, auf dem ich Trost finden kann. Wir werden reisen: Italien, Judits geliebtes Italien ruft mich. Wahrscheinlich werden wir uns in Florenz niederlassen. Dieses Haus hier, das mir wie die Wohnstätte von Verrückten vorkommt, werde ich aufgeben. Durch die reine, zarte Liebe meiner Judit wird mein Herz von der verderblichen Leidenschaft gereinigt werden, und schließlich wird der Friede wieder darin einkehren.

Ich habe Carlottas Bild aus dem Rahmen herausgenommen und ins Feuer geworfen; zur Strafe für ihre Hexenkünste habe ich sie verbrannt, und mit Genugtuung sah ich die Flammen um das Bild herumzüngeln und daran hinauflecken. Der letzte Blick, den sie mir gleichsam noch zuwarf, ehe die Flammen ihr Bild verschlangen, hatte noch den alten unendlichen Reiz; die wahrhaft teuflische Zauberkraft war von dem grellen gelben Lichtschein so gesteigert, daß mich brennendes Verlangen nach ihr ergriff und ich am ganzen Körper zitterte.

Aber jetzt ist das vorbei, und ich bin fertig mit Carlotta. Wenn sie sich einbildet, ich werde mich hinsetzen und warten, daß mich der Wind, der über den Primrose-Hill dahergezogen kommt, ebenso verrückt machen soll wie einst den Gastibelza, ›l'homme à la carabine‹ in Viktor Hugos Gedicht, dann täuscht sie sich gewaltig. Von dieser Stunde an, das schwöre ich, existiert sie nicht mehr für mich – ich will essen und schlafen und lachen, als ob sie nie gelebt hätte. Polyphem liegt behaglich auf Carlottas altem Sofaplätzchen und betrachtet mich mit seinem sardonischen Auge. Er ist ein böses, ungläubiges, spöttisches Tier, das vor ein paar hundert Jahren mit samt seiner früheren Herrin verbrannt worden wäre.

Jetzt, wo ich diesen meinen unwiderruflichen Entschluß gefaßt habe, kann ich wieder vernünftig denken und bin ruhiger geworden.

Morgen gehe ich zu Judit.


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