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Einundzwanzigstes Kapitel

Ich habe Judits Brief beantwortet. Nach dem langen Schweigen kam es mir zuerst sonderbar vor, als ich nun wieder an sie schrieb. Aber schon nach kurzer Zeit konnte ich ihr wieder mein Herz ausschütten, wie ich es nie zuvor gegen irgend jemand, sei es Mann oder Weib, getan habe. Die Tatsache, daß wir uns voraussichtlich nie mehr im Leben sehen würden, brachte uns geistig einander viel näher, und der Ton ihres Briefes hatte auch meiner natürlichen Zurückhaltung die Zunge gelöst. So erzählte ich ihr denn ausführlich von dem verflossenen Jahre, von dem erinnerungsreichen abgeschlossenen Zimmer im oberen Stockwerk, von der Zeit, wo ich dem Wahnsinn nahe gewesen war, von meinem mühseligen Suchen nach einer Theorie und von meiner jetzigen Stellung zu diesem Problem. Als der Brief geschrieben war, fühlte ich mich getröstet; ich wußte ja, Judit würde alles verstehen. Der Brief war ungefähr nachmittags um sechs Uhr fertig geworden, und da es der erste Privatbrief war, den ich seit meiner Rückkehr nach London geschrieben hatte, scheute ich mich, ihn Stenson zur Besorgung zu geben, und trug ihn deshalb lieber selbst zum Briefkasten. Die frische Luft machte mir gleichsam Vorwürfe über mein unvernünftiges Stubenhocken der letzten Wochen und lud mich ein, draußen zu bleiben. Es war schon dunkel. Ein frühzeitiger leichter Frost machte die Novemberluft sehr belebend. Als ich so durch die schönen wohlgepflegten Straßen von St. John's-Wood dahinwanderte, fühlte ich mich meinen Mitmenschen unwillkürlich näher gerückt, und eine warme Teilnahme für die alltäglichen Vorgänge hinter den erleuchteten Fenstern erwachte in meinem Herzen. Ab und zu öffnete sich eine Gartentür und ein Herr im Gesellschaftsanzug mit einer Dame, einer anmutigen Masse von Atlas, Rüschen und Pelz, trat heraus; einen Augenblick fiel das Licht aus der offenen Haustür, wo das Zimmermädchen mit weißer Schürze und weißer Mütze stand, auf die beiden Gestalten; dann bestiegen diese den wartenden Wagen und fuhren in die Dunkelheit hinein, wohin meine Phantasie sie begleitete. Manchmal zeigten sich Silhouetten auf den Fenstervorhängen, besonders in den oberen Stockwerken, denn es war die Stunde des Umkleidens, und mit den Werktagskleidern wurden auch die Sorgen des Werktags abgeworfen. In einem Hause, das weit von der Straße zurückstand, waren die Vorhänge des Wohnzimmers nicht zugezogen. Als ich vorbeiging, sah ich einen Herrn ein glückstrahlendes Kind in die Höhe heben und die Mutter lächelnd daneben stehen. Dies ist in zehntausend Familien, wenn der Vater von seiner Arbeit heimkehrt, etwas Alltägliches, und doch bewegte es mich. Sein Brot verdienen, sein Geschlecht fortpflanzen, Pflichten und Verantwortlichkeiten auf sich nehmen, ihnen tapfer entgegentreten, das junge Geschlecht auf den rechten Weg leiten, und auf das alles zurückblicken und sagen zu können: »Ich habe meinen Beruf erfüllt und kann ruhig in die ewige Werkstatt hinübergehen« – heißt das nicht wirklich und wahrhaftig leben? Und der Lohn? Das Alltägliche – der Willkommgruß von Weib und Kindern und das fröhliche Spielen mit einem jauchzenden Kind! Das alles habe ich entbehren müssen; ich bin daneben hergegangen. In meiner törichten Unwissenheit habe ich über diese heiligen Dinge des alltäglichen Lebens gelästert; und wahrhaftig, ich bin dafür belohnt worden mit einem öden Heim und einem Leben, das der Menschheit ebenso viel nützt wie das des heiligen Simon Stylites auf seiner Säule.

Die Straßen entlang wandernd, verfolgte ich die Spur der mir von Judit geoffenbarten Weisheit weiter, und als ich an meinem eigenen Hause ankam, glaubte ich auch, auf dem Punkt zu sein, sie fassen zu können.

»Aber was zum Kuckuck soll ich mit ihr anfangen, wenn ich sie erst habe?« sagte ich, während ich die Haustür aufschloß.

Ich hatte meinen Stock in den Ständer gestellt und zog eben meinen Überrock aus, als sich die Tür des Zimmers neben dem Speisezimmer öffnete und Antoinette auf mich zustürzte.

»O Monsieur, Monsieur!« rief sie händeringend. »O Monsieur, wie soll ich es Ihnen nur sagen?«

»Was gibt's denn, Antoinette?« fragte ich.

»Monsieur darf nicht böse werden. Monsieur ist ja so gut wie le bon Dieu. Aber es wird Monsieur wehtun.«

»Aber was ist denn los?« rief ich verwirrt. »Haben Sie das Essen anbrennen lassen?«

Ich war weit entfernt, ihre Antwort auch nur zu ahnen.

»Monsieur – sie ist zurückgekehrt!«

Einen Augenblick war ich einer Ohnmacht nahe, und das Herz drohte mir stillzustehen. Antoinette sah mich mit ihrem breiten tränenüberströmten Gesicht an.

»Monsieur darf sie nicht fortjagen.«

Sanft schob ich sie beiseite und trat in das kleine Zimmer, das ich einst als Boudoir für Carlotta eingerichtet hatte.

Auf dem Sofa saß sie, blaß, abgehärmt und ärmlich gekleidet. Zuerst sah ich nur ihre großen braunen auf mich gehefteten Augen, in denen der flehende Hundeblick sich zu herzbrechender Traurigkeit verstärkt hatte. Bei meinem Eintritt stand sie nicht auf, sondern duckte sich, als ob ich sie schlagen wolle. Sprachlos sah ich sie an, während Antoinette schluchzend an der Tür stand.

»Nun,« begann ich endlich.

»Ich bin heimgekommen,« sagte Carlotta.

»Du bist lange weggeblieben.«

»Ja–a–a,« sagte Carlotta.

»Warum bist du gekommen?« fragte ich.

»Ich hatte kein Geld,« erwiderte sie, mir ihre offene Hand mit ausdrucksvoller Gebärde hinstreckend. »Ich hatte nichts mehr als das gehabt.« Dabei deutete sie auf eine kleine Handtasche. »Alles andre ist auf dem Mont-de-Piété – im Leihhaus gewesen, und in der Pension wollte man mich nicht länger behalten. Ich bin ihnen für drei Wochen schuldig geblieben, und dann haben sie mir Geld für eine Fahrkarte nach London geliehen. Ich habe gesagt, Siir Markuus werde es ihnen zurückzahlen. Da bin ich heimgekommen.«

»Aber wo – wo ist Pasquale?« fragte ich.

»Er ist vor fünf oder sechs Monaten fortgegangen. Er hat mir etwas Geld gegeben und hat gesagt, er wolle mir noch mehr schicken. Aber er hat nichts geschickt. Er ist nach Südafrika gegangen. Er hat gesagt, dort sei ein Krieg, und er wolle kämpfen, und er hat gesagt, er sei meiner ganz überdrüssig. O, er war so unfreundlich!« rief sie mit einem Beben ihrer Kinderlippen. »Ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen!«

»Bist du verheiratet?«

»Nein,« sagte Carlotta.

»Der Schuft!« knirschte ich zwischen den Zähnen.

»Er wollte mich heiraten, aber dann hat er gesagt, in Paris sei das einerlei! Zuerst ist er so nett gewesen, aber bald darauf – o Siir Markuus lieb, er war so grausam!«

Ein kurzes Schweigen herrschte. Antoinette weinte an der Tür und warf halblaute Bemerkungen dazwischen. » La pauvre petite, le cher ange.«

Carlotta betrachtete mich gedankenvoll und zum ersten Mal bemerkte ich in ihren Augen einen Ausdruck des Leidens. Der Kummer lähmte mir die Zunge.

»In was für einer Pension hast du denn gewohnt?« fragte ich schließlich, während mir unaussprechlich schreckliche Gedanken durch den Kopf gingen.

»Ich bin in einer französischen Familie gewesen, bei einer alten Dame und zwei alten Töchtern und einem dicken deutschen Professor. Pasquale hat mich dahin gebracht. Es ist sehr anständig gewesen,« fügte sie mit einem matten Lächeln hinzu, »und so langweilig. Madame Champet hat mich kaum allein auf die Straße gehen lassen.«

»Gott sei Dank, daß du nicht in schlechte Hände gefallen bist!« sagte ich.

Carlotta zog die Nadeln aus ihrem vertragenen Strohhut, der das gerade Gegenteil von der zierlichen Kopfbedeckung war, über die sie vor einem Jahr in Entzücken geraten war, und warf ihn neben sich auf das Ruhebett. Eine Locke ihres herrlichen goldbraunen Haares fiel ihr lose in die Stirn herein, und dadurch wurde der kummervolle Ausdruck ihres Gesichts noch vermehrt. Sie stand auf, und nun glaubte ich eine sonderbare Veränderung an ihr zu bemerken. Mit ausgestreckten Händen kam sie auf mich zu und flüsterte:

»Siir Markuus –«

Ich nahm ihre beiden Hände in die meinen.

»O, meine Liebe,« sagte ich, »warum hast du mich verlassen?«

»Ich war böse. Und ich war sehr dumm,« antwortete Carlotta.

Ich seufzte, ließ sie los und trat auf die Seite. Von der Türschwelle her hörte man das Schluchzen der guten alten Antoinette.

»O, Monsieur wird sie doch nicht fortschicken.«

Ich wandte mich zu ihr.

»Warum machen Sie denn Mademoiselles Zimmer nicht zurecht? Das wäre gescheiter, als nur dazustehen und wie ein Wasserfall zu weinen.«

»Weil Monsieur den Schlüssel hat,« jammerte sie.

»Das ist wahr,« sagte ich.

Dann dachte ich darüber nach, wie unpraktisch es doch sei, wenn man ein Schlafzimmer in ein Mausoleum für eine Lebende verwandelt. Carlottas Zimmer war nun ein ganzes Jahr lang verschlossen und konnte also nicht im Handumdrehen bewohnbar gemacht werden; es mußte ja ganz feucht und dick mit Staub bedeckt sein.

»Mademoiselle soll heute nacht in meinem Zimmer schlafen,« sagte ich. »Stenson soll mir hier ein Bett zurechtmachen und herbeibringen, was ich nötig habe. Gehen Sie und sagen Sie es ihm.«

Antoinette verschwand, und ich wandte mich an Carlotta.

»Bist du sehr müde, mein Kind?«

»O ja, so müde!«

»Warum hast du denn nicht geschrieben, damit man alles zu deinem Empfang hätte bereit machen können?«

»Ich weiß nicht, ich war zu unglücklich. Siir Markuus,« – sagte sie nach einer kleinen Pause, hielt aber wieder inne.

»Ja?«

»Ich werde ein Kindchen bekommen.«

Sie sagte dies in ihrer alten kindlichen Weise, des Geschlechtsunterschieds zwischen uns völlig uneingedenk, und mit ihrem kleinen ausländischen Nachdruck auf den letzten Konsonanten. Ich warf einen schnellen Blick auf sie: die Tatsache war unverkennbar. Mit hilflos ausgestreckten Händen stand sie vor mir und sah dabei so rührend aus, daß es einem Teufel ins Herz geschnitten hätte.

»Gott sei Dank, daß du heimgekommen bist,« sagte ich dumpf.

Da fing sie leise zu weinen an. Ich legte meinen Arm um ihre Schulter und tröstete sie. Schluchzend redete sie allerlei Unzusammenhängendes. Sie wünschte, sie hätte Pasquale nie gesehen. Ich sei gut. Sie wolle immer bei mir bleiben. Sie wolle nie wieder davonlaufen.

Ich ging nun mit ihr die Treppe hinauf, öffnete die Tür ihres Zimmers mit dem Schlüssel, den ich ein Jahr lang an meinem Bund getragen hatte, und drehte das elektrische Licht auf.

»Sieh nach, was du von deinen alten Sachen noch brauchen kannst,« sagte ich. »Ich werde dir Antoinette gleich heraufschicken.«

Etwas verwirrt schaute sie sich um.

»Warum soll ich in deinem Zimmer schlafen, wenn doch dieses für mich zurechtgemacht ist – mein Nachthemd – sogar das heiße Wasser.«

»Liebes Kind,« sagte ich, »dieses heiße Wasser wurde vor einem Jahr für dich hereingestellt. Es wird jetzt kalt sein.«

»Und meine roten Pantoffeln – und mein Morgenrock!« rief sie zitternd, stammelnd. Dann fiel sie neben dem staubigen Bett auf den Boden und lag wie ein Häufchen Unglück da in schmerzlichem, leidenschaftlichem Weinen. Ich stahl mich hinaus und schickte Antoinette zu ihrem Beistand.

Vor einem Jahre hatte ich gerast und getobt, hatte das Leben für unerträglich gehalten und hatte den erhabenen Göttern geflucht; ich habe damals gelitten, sicherlich habe ich gelitten; aber ich will hoffen, daß ich nie mehr durch solche Qualen hindurch muß wie in der ersten Nacht nach Carlottas Heimkehr. Sogar heute noch kann ich, sobald ich die Augen schließe, jenen eisigen Druck auf meinem Herzen fühlen.

Etwa eine Stunde später kam Carlotta zum Essen herunter. Sie trug ein rosa Morgenkleid, eines der letzten Einkäufe, die sie damals gemacht hatte, und das Antoinette (wie Carlotta, um ihr langes Ausbleiben zu entschuldigen, sagte) am Feuer gewärmt hatte. Sie saß an ihrem alten Platz mir gegenüber, reumütig, unterwürfig, aber weder schüchtern noch bedrückt. Stenson bediente uns so ernst und gleichmütig, als hätten wir die Uhr der Zeit um ein Jahr zurückgestellt. Die einzige leise Anspielung auf das Geschehene waren seine mir ins Ohr geflüsterten Worte: »Sir Markus, ich habe eine Flasche Pommery heraufgeholt, da ich dachte, Sie würden vielleicht davon trinken wollen.«

Es rührte mich, denn der gute Kerl hatte kein anderes Mittel, mir seine Teilnahme auszudrücken. Carlotta ließ sich ihr Glas von ihm füllen. Sie nippte daran und sagte dann, der Wein tue ihr gut; sie sei keine Abstinenzlerin mehr, erklärte sie. Einmal habe sie zu viel getrunken, und da habe sie am andern Tag Kopfweh gehabt.

»Warum bekommt man denn Kopfweh davon?«

»Nemesis,« antwortete ich.

»Was ist Nemesis?«

In der gewohnten halb spaßhaften Art beantwortete ich ihre Frage, und in ihrer alten Weise erwiderte sie: »Ich verstehe das nicht!«

Wie unendlich vertraut war mir das alles, und doch wie beängstigend fremd.

»Wo ist Polyphem?« fragte sie.

»Tot,« sagte ich.

»O, woran ist denn der arme Polyphem gestorben?«

»Er ist am Schluß des letzten Akts eines tragikomischen Schauspiels vom Schicksal erschlagen worden.«

Ein ganz schwaches »hu« ertönte von Carlottas Lippen; aber schnell faßte sie sich wieder.

»Ich habe oft an Polyphem und an Siir Markuus und an Antoinette gedacht,« sagte sie sinnend. »Und dann habe ich gewünscht, ich wäre daheim. Ich bin sehr unartig gewesen.«

Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und umschloß ihr Gesichtchen mit ihren Händen. Ernst sah sie mich an und schüttelte den Kopf.

»O, du bist gut, o, du bist gut!«

»Iß weiter, liebes Kind,« sagte ich, »und bewundere Antoinettes Kunst, die es fertiggebracht hat, zu gleicher Zeit zu kochen und bei dir oben zu sein.«

Demütig gehorchte sie, und ich sah ihr zu, während sie mit einem wahren Heißhunger aß. Ich erfuhr, daß sie außer etwas Kaffee und Brot am frühen Morgen nichts genossen hatte. O, trotz allen Schmerzes fühlte ich mich durch ihr Heimkommen doch seltsam geschmeichelt. Trotz allem galt ich ihr also etwas – selbst wenn sie auch nur der Instinkt einer verlorenen Katze hiehergeführt hat. Sicherlich ist niemals auch nur der leiseste Gedanke in ihr aufgestiegen, meine Tür könnte ihr möglicherweise verschlossen sein. Ihre ersten Worte waren: »Ich bin heimgekommen.« Und das erste, was sie tat, als wir nach dem Essen das Wohnzimmer betraten, war, daß sie meine Hand streichelte, diese an ihre Wange drückte und mit einem tiefen Seufzer ausrief: »Ich bin so glücklich!«

So seicht auch ihre Schmetterlingsnatur sein mag, diese Worte kamen aus ihrem innersten Herzen. Es ist unmöglich, daß sich irgend jemand über das unbedingte Vertrauen eines Kindes oder eines Tieres nicht freuen würde, und diese Freude ist eine der reinsten, die es gibt. Der Mensch spürt, daß dieses instinktive Gefühl bis zu einem verborgenen Keim des Guten in seiner Natur hindurchgedrungen ist, und für den Augenblick ist alles Böse in ihm entwaffnet. So hatte Carlotta blindlings das beste in mir berührt. In ihren Gedanken stellte sie mich zwischen Katze und Köchin, und bei jedem belegten Brötchen befindet sich ja das Wichtigste in der Mitte.

Sie schmiegte sich in ihre gewohnte Sofaecke, und da es ein kühler Abend war, schickte ich nach einer Decke, die ich über sie breitete.

»Sieh, ich habe die lieben roten Pantoffeln wieder,« sagte sie, ihren Spann wölbend.

»Und ich habe meine Carlotta wieder,« sagte ich.

Ich schob meinen Stuhl zu ihr hin, und nach und nach erfuhr ich die ganze unglückselige Geschichte.

Pasquale hatte ihr von der allerersten Minute ihrer Bekanntschaft an den Hof gemacht – schon damals, wo ich nach der » Histoire comique de Francion« suchte. Ohne daß ich es wußte, war er oft mit ihr zusammengetroffen. Sie hatten einander geschrieben, und die für Carlotta bestimmten Briefe waren in einem benachbarten Papierladen abgegeben worden. Daß Carlotta Pasquale nicht wirklich liebte, davon bin ich felsenfest überzeugt. Aber er war jung und hübsch und hatte die Erscheinung und die ganze Art eines Lebemanns. Carlotta war lenksam und immer durchaus wahrhaftig. Wenn ich sie ausgefragt hätte, wäre sie sofort mit der ganzen Wahrheit herausgerückt, da ich jedoch niemals Verdacht hegte, fragte ich auch nie. Manchmal wunderte ich mich, wie häufig sie Pasquale in ihren Reden zitierte. Ich bemerkte auch allerlei sonderbare Zufälligkeiten, aber ich war viel zu ungewandt, um aus solchen Vorkommnissen Schlüsse zu ziehen. Pasquales damaliges Erscheinen auf dem Paddington-Bahnhof war vorher ausgemacht, und seine Herzogin in Ealing war geflunkert gewesen.

Offenbar hatte er mit seiner Neigung für Carlotta gespielt. Er konnte ja die Frucht pflücken, wenn es ihm beliebte. Vielleicht hielt ihn auch ein Restchen von Treue gegen mich zurück. Wer konnte es wissen? Jene Nacht, in der wir mit Hamdi zusammentrafen, führte die Krisis herbei. Die Drohungen des Türken hatten sowohl Carlotta als mir große Angst eingeflößt; Pasquale mußte also seinen Streich sofort ausführen. Er sah Carlotta am nächsten Tag – ach, wäre ich doch daheim geblieben! – und sagte ihr, ich wolle sie nur heiraten, um sie vor Hamdi zu schützen, meine Liebe jedoch gehöre jener andern Dame. Er aber, Pasquale, könne sie ebensogut vor Hamdi beschützen. Kurz nachdem Pasquale fort war, begegnete Carlotta der andern Dame, und diese flehte sie an, mich aufzugeben. Carlotta wußte nicht, was sie tun sollte. Das arme Kind, wie hätte sie es auch wissen sollen? Am vorhergehenden Abend hatte ich ihr gesagt, sie solle mich heiraten, und sie war bereit, mir zu gehorchen. Mit dem Gedanken an diese Heirat hatte sie sich zu Bett gelegt. Am Morgen ging sie dann in ihre Klavierstunde, und Pasquale lauerte ihr auf. Sie schlenderten miteinander die Straße hinunter, dann rief Pasquale einen Wagen herbei und fuhr mit ihr davon.

»Er hat beteuert, er liebe mich,« sagte Carlotta, »und er hat mich geküßt und mir gesagt, ich müsse mit ihm nach Paris gehen und ihn heiraten. Und ich fühlte mich so schwach, so« – mit ausdrucksvoller Gebärde ließ sie die Arme hilflos sinken – »und was konnte ich da machen?«

»Dachtest du denn gar nicht daran, daß ich betrübt, vielleicht unglücklich darüber sein könnte?« fragte ich so sanft als möglich.

»Er sagte, du würdest mit der andern Frau ganz glücklich sein.«

»Hast du ihm geglaubt?«

»Darum eben habe ich gesagt, ich sei böse gewesen,« antwortete Carlotta einfach.

Sie fuhr in ihrer Erzählung fort – dieser alten, elenden, verhaßten, verabscheuungswürdigen Geschichte. Zuerst war alles ganz lustig gegangen. Dann wurde Carlotta krank. Sie machte zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem europäischen Winter; da stellte sich denn heraus, daß ihr Hals sehr empfindlich war, und sie erkrankte an Bronchitis. Aber für Männer von Pasquales Art haben kranke Frauen nicht mehr Wert als ein lahmes Pferd oder ein schadhaftes Auto, ja sie werden ihnen dann vielmehr zu einer entsetzlichen Last. Pasquales Temperament trieb ihn ab und zu, phantastisch-ritterliche Taten zu tun, das entsprach einem romantisch-theatralischen Zug in seiner geschmeidigen Natur; aber sich einer Frau während ihres Krankseins zu widmen, das war etwas ganz andres. Der Italiener des fünfzehnten Jahrhunderts haßte eine fortgesetzte Berührung mit Leiden und Schmerzen wie den Teufel; auch er würde ohne weiteres seine Stiefel einem Bettler hingeworfen haben; aber ebenso würde er auch in seinem Palast, über dem Verließ, worin sein Bruder schmachtete, getanzt haben.

Die arme Carlotta wurde vernachlässigt und fing an, das Brot der Enttäuschung zu essen. Als sie wieder gesund wurde, zeigte sich noch einmal ein schwacher Schimmer der alten Neigung bei ihm. Ach, ist diese jämmerliche Geschichte nicht schon millionenmal geschrieben worden? Warum soll ich mir durch die Wiederholung das Herz zerreißen? Es gab wilde Wutausbrüche, Eifersucht, Streit, Tränen.

»Und dann hat er eines Tages gesagt: ›Du verfluchte kleine Närrin, du bist mir in den Tod zuwider!‹ Damit ist er weggegangen und ich habe ihn niemals wieder gesehen. Später hat er geschrieben und seinen Diener geschickt, der hat mich in die Pension gebracht.«

»Und doch, Carlotta,« sagte ich bitter, »würdest du wieder zu ihm zurückkehren, wenn er nach dir schickte.«

Sie sprang auf, packte mich fest am Arm – ich saß dicht neben ihr – und in ihr Gesicht trat der entsetzte Ausdruck eines Kindes, das sich vor Gespenstern fürchtet.

»Zurückgehen? Nach dem, was er mir angetan hat? Du würdest mich doch nicht zurückschicken? Siir Markuus lieber, nicht wahr, du behältst mich bei dir? Ich will gut sein, gut, gut. Aber zu Pasquale gehen! O nein, nein!«

Sie fiel in die Sofaecke zurück und heftete ihre großen tiefen flehenden Augen auf mich.

»Du weißt, liebes Kind, daß hier deine Heimat ist, solange du darin bleiben magst,« sagte ich. »Aber« – ich strich ihr sanft übers Haar – »kommt er zurück, wenn dein Kind geboren ist, sein Kind –«

Da richtete sich Carlotta stolz auf.

»Es ist mein Kind, meines ganz, ganz allein!« rief sie. »Es gehört nur mir, und ich erlaube niemand, es auch nur anzurühren,« fuhr sie mit einem weichen Ausdruck fort, »niemand als Siir Markuus.«


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