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Neunzehntes Kapitel

11. November.

Gestern nacht schrieb ich einen langen Brief an Judit, worin ich sie beschwor, die längst verwirkten Ansprüche ihres Mannes nicht anzuerkennen, sondern sich mit mir fürs ganze Leben zu verbinden. Dabei war ich so boshaft, zu denken, daß dies Mr. Rupert Mainwaring ganz recht geschehe.

Wenn jemand fromm geworden ist und dem Sekt entsagt hat, so macht er durch diese Tatsache das Unrecht, das er in unbekehrten Tagen seinen Nebenmenschen zugefügt hat, nicht wieder gut. Mr. Mainwaring hat eine Strafe, die ihm bis jetzt in merkwürdig geringem Maße zu teil geworden zu sein scheint, wohl verdient; denn wohlgemerkt, wenn er auch dort draußen in Hoxton ganz aufrichtig in Sack und Asche Buße tut, so ist das für ihn in seiner begeisterten Stimmung doch keine eigentliche Strafe. Judit dagegen verdiente eine Entschädigung, die nur ich allein – aller herkömmlichen Sitte und den Gefühlen des hochehrwürdigen Rupert Mainwaring zum Trotz – ihr zu bieten imstande bin.

In diesem Vorgehen sah ich auch tatsächlich die einzige Möglichkeit, Judit vor der wahnsinnigen Zumutung zu retten, sich Mr. Mainwaring und dem Anachoretenchristentum in die Arme zu werfen, wodurch ihr doch ihr ganzes späteres Leben zur unerträglichen Qual werden müßte. Sie war in der Lage der Andromeda, ich in der eines gar nicht heldenhaften Perseus, der sie von dem Ungeheuer befreien sollte, dem Ungeheuer, dessen Schlupfwinkel die kleine ärmliche Missionskirche in Hoxton ist.

Ich schrieb den Brief in einem Anfall der tiefsten Abspannung, wo das Gemüt nur schwacher Regungen fähig, das Empfindungsvermögen wie gelähmt ist. Heute aber ist mir ganz anders zu Mut; meine Nerven haben sich wieder etwas erholt, und da ist es mir, als habe sich in das Verhältnis zwischen Judit und mir etwas Gemeines, niederträchtig Tragisches eingeschlichen.

Zu meiner großen Überraschung brachte mir Judit heute abend ihre Antwort selbst. Dies war das erste Mal, daß sie mein Haus betrat, und das erste, was sie sagte, nachdem sie ihren Blick mit einem ausdrucksvollen Lächeln durchs Zimmer hatte schweifen lassen, bezog sich auf diese Tatsache.

»Es ist fast genau so, wie ich es mir ausgemalt habe – und ich habe es mir ausgemalt. Können Sie sich wohl denken, wie oft?«

Sie war ruhiger, wenn auch nicht glücklicher. Der verstörte Ausdruck ihres Gesichts hatte sich in den der Resignation verwandelt. Ich sah, daß sie fror, und zog einen Lehnstuhl dicht ans Kamin heran. Mit einem müden Seufzer sank sie hinein und ich kniete neben ihr nieder. Dann zog sie die Handschuhe aus und legte mir ganz wie früher eine Hand auf den Kopf. Diese Berührung tat mir unendlich wohl; es war mir, als wären wir nun endlich im ruhigen Hafen gelandet.

»Nun sind Sie doch zu mir gekommen, Judit,« flüsterte ich.

»Ja, mein Lieber, aber nur, um Ihnen zu sagen, daß ich nicht zu Ihnen kommen kann.«

Mein Herz wurde schwer.

»Warum?« fragte ich.

Nun ergab sich ein kleines Wortgefecht. Nach Frauenart brachte Judit nur halbe Gründe vor, deren Unzulänglichkeit ich ihr sofort bewies. Ich wiederholte ihr die Gründe, die ich in meinem Brief angeführt hatte, aber sie stellte ihnen Andeutungen und unklare Anspielungen entgegen. Und zum Schluß zerhieb sie den Knoten, indem sie sagte: »Ich kehre wieder zu meinem Mann zurück.«

Jäh sprang ich auf, und mein Mund sprach das eben Gehörte mechanisch nach. Judit aber wiederholte es mit so schmerzlichem Nachdruck, daß es mir wie das Läuten der Totenglocke tönte, die das unwiderrufliche Ende anzeigt; ich konnte nichts mehr sagen.

»Ehe wir scheiden, muß ich Ihnen noch ein Geständnis machen, Markus,« sagte sie. »Bei mir hat sich nämlich plötzlich ein Gewissen entwickelt, zu dem ich allerdings von jeher Anlage gehabt habe.«

»Immer, immer sind Sie die beste und teuerste Frau für mich gewesen,« rief ich.

»Und doch habe ich Sie betrogen. In jenem Brief hatte mir Pasquale seine Flucht mit Carlotta mitgeteilt. Ich hatte Sie belogen – aber ich war in einem Zustand, der an Wahnsinn streifte.«

Ich stützte meinen Ellbogen auf den Kaminsims und sah auf sie hinunter. Sie sah so zart und zerbrechlich aus wie eine Meißner Porzellanfigur, einer schlechten Handlung vollständig unfähig. Da ich stumm blieb, fuhr sie fort: »Es war nicht meine Absicht gewesen, Pasquale in die Hände zu arbeiten, Gott weiß es – und doch habe ich es getan. Erinnern Sie sich an jene schreckliche Nacht und an unser Gespräch am folgenden Morgen? Ich bat Sie, Carlotta jenen ganzen Tag zu vermeiden – unsre tote Liebe zu betrauern. Ich wußte, daß Sie Ihr Versprechen halten würden. Sie haben ein außerordentlich feines Ehrgefühl; wenn alle Männer Ihnen glichen, ach, dann wäre die Erde hier schon ein Paradies!«

»Das in wenigen Wochen schon wegen allgemeiner Unzulänglichkeit zu Grunde gehen würde,« murmelte ich bitter.

»Es gäbe dann keine Gemeinheit, keinen Verrat und keine niederträchtigen Schliche mehr. Ach, Markus, Sie müssen mir verzeihen. Ich war am Rande der Verzweiflung angekommen und kämpfte um mein Lebensglück. Einen letzten schwachen Versuch wollte ich noch machen – ich schickte Sie aus dem Weg und ging selbst hierher, um mit Carlotta zu sprechen. Unterbrechen Sie mich nicht, Markus. Lassen Sie mich ausreden! Ich traf Carlotta etwa hundert Schritt von hier auf der Straße, und wir gingen zusammen in den Regent's Park. Dort setzten wir uns auf eine Bank, und ich erzählte ihr unsere ganze Geschichte; ich sagte ihr, daß ich Sie liebe, und bat sie, Sie freizugeben. Ich glaube nicht, daß sie mich ganz verstand, Markus. Während ich sprach, lachte sie und bombardierte ein Hündchen mit Kieselsteinen. Da gewann ich mein Gleichgewicht wieder; ich ließ sie dort sitzen und kehrte, von Scham überwältigt, tief gedemütigt in meine Wohnung zurück. Daß Pasquale in Carlotta verliebt war, wußte ich, denn er hatte es mir an dem vorhergehenden Abend gesagt und mich gefragt, auf welche Weise ihre Heirat mit Ihnen noch zu verhindern wäre. Der Erklärung, die Sie Hamdi Effendi gegeben hatten, schenkte er keinen Glauben. Aber Carlotta gegenüber habe ich Pasquale nie erwähnt; ich habe ihr nie zu verstehen gegeben, daß außer Ihnen noch jemand da sei, der sie gern haben wolle. So weit wenigstens habe ich treu zu Ihnen gehalten, Markus. Zwei oder drei Tage nachher kam Pasquales Brief. Und ich erwartete Sie – in übermächtiger Freude! Ich wußte, Sie würden zu mir kommen, und ich war so verrückt zu glauben, die Zeit werde alles heilen – Sie würden vergessen – die schönen vergangenen Tage würden wieder auferstehen – und ich könnte Sie dann lehren, mich zu lieben. Aber da, ganz plötzlich, ohne ein Wort der Warnung – das war von jeher seine Art gewesen – erschien mein Mann. Und nachher kamen Sie und boten mir Zuflucht und Trost an. O, und da war es mir, als träte der Racheengel mit seinem feurigen Schwert vor mich hin! Denn ich hatte Ihnen ein Unrecht zugefügt, hatte Sie um Ihr Glück gebracht. Wenn ich bei Carlotta nicht den Gedanken erweckt hätte, Sie zu verlassen, so wäre sie nie davongelaufen. Wenn ich das nicht getan hätte, oder wenn Sie mich geliebt hätten, Markus, dann wäre mir vielleicht alles in einem andern Licht erschienen. Ich fange an, an Gott zu glauben und seine Hand in allem zu erkennen. Ich könnte nicht zu Ihnen kommen und als Ihre Frau mit Ihnen leben, Markus; Gründe, die sogar stärker sind als meine Liebe zu Ihnen, verbieten es mir. Unser vereintes Leben wäre kein so angenehmes inniges mehr, wie es unser Verhältnis bisher immer für mich gewesen ist. Wir sind am Scheideweg angelangt, und ich muß meinem Manne folgen.«

Ich fühlte, daß Judit recht hatte. Wenn sie ihr Temperament nicht gerade zu einer unverantwortlichen Handlung hinreißt, hat sie ein außerordentlich feines Gefühl für die absolute Wahrheit.

»Am Scheideweg?« sagte ich. »Jawohl, aber können Sie nicht am Kreuzweg verweilen? Können Sie nicht Ihr bisheriges Leben weiterführen – und uns beide, Ihren Gatten und mich, als gute Freunde betrachten?«

»Rupert braucht mich,« antwortete sie hastig. »Er ist in großer Seelennot. Weil er seiner selbst noch nicht sicher ist, hat er sich in diesen religiösen Fanatismus gestürzt. Wir haben heute noch einmal lange darüber gesprochen. Vielleicht kann ich ihm helfen.«

»Ist er es auch wert, daß Sie ihm Ihr Leben opfern?«

Sie beantwortete meine Frage nicht sogleich, sondern stützte den Kopf in die Hand und schaute nachdenklich ins Feuer.

»Er ist bösen Leidenschaften unterworfen,« begann sie endlich. »Das Trinken und die Frauen, sie haben ihn hauptsächlich heruntergebracht. Während unsres kurzen Ehestandes habe ich diese Hölle kennen gelernt. Er sagt, wenn er wieder falle, dann sei er in alle Ewigkeit verloren. Er glaube an handgreifliche Höllenqualen für die verdammten Seelen, an das ewige Feuer, an Teufel und Ofengabeln. In mir allein sehe er seine Rettung. Ich muß zu ihm, aber wenn mir die Missionskirche einmal ganz unerträglich ist, dann werde ich mich auf einige Tage zu Delphine Carrère flüchten, um meine Nerven wieder zu beruhigen.«

Was hätte ich sagen sollen! Die Schrecken der Einsamkeit lagerten sich um mich her. Ich hätte ihr ja wohl von meiner Not vorschwatzen und ihr das Herz mit meinem bemitleidenswerten Klagen zerreißen können. Cui bono? Ich kann vor Frauen nicht jammern – übrigens vor Männern auch nicht. Wenn ich allein bin, dann kann ich fluchen und schwören, kann den Termagant spielen und in einer Privatvorstellung den Tyrannen noch übertyrannen. Aber vor andern – nein. Ehe mein Urgroßvater sich des Baronstitels würdig erwies, war er sicherlich auch schon ein Gentleman gewesen.

»Aber bei diesen Besuchen werden Sie dann kaum ein ›sich selbst lebendes, nachdenkliches Ich‹ sein können,« sagte ich.

Sie lachte, aber das Lachen wurde zu einem Schluchzen.

»Wissen Sie das noch? Es ist freilich noch nicht sehr lange her, doch kommt es mir vor, als sei es vor vielen vielen Jahren gewesen.«

Wir stellten noch allerlei moralische Betrachtungen an, wie es arme Sterbliche zu tun pflegen, die sich etwas Schweres zu sagen haben, es aber gern noch einige Augenblicke hinausschieben möchten. Judit besah sich meine Bücherständer, entdeckte viele von den Büchern, die sie einmal von mir entlehnt gehabt hatte, und begrüßte sie nun als alte Freunde.

»Hat Benvenuto Cellini immer hier gestanden?«

»Jawohl,« antwortete ich, indem ich die Hand über die Bücherreihe gleiten ließ. »Er steht unter seinen Zeitgenossen, in seinem Jahrhundert; anderswo würde er sich nicht glücklich fühlen.«

»Und Ihre Geschichte – wie weit sind Sie damit?«

Ich zeigte ihr den Stoß fertigen Manuskripts; sie sah ein paar Bogen an, legte sie aber hastig wieder hin und wandte sich ab.

»Ich kann nicht lesen, jetzt nicht, Markus!«

Dann blieb sie vor ihrem eigenen Bild, dem einzigen, das noch auf dem Kaminsims stand, stehen.

»Bitte, geben Sie es mir zurück.«

»Warum denn?« fragte ich.

»Es wäre mir lieber – ich möchte nicht, daß Sie es verbrennten.«

»Es verbrennen! Das Letzte, was mir von Ihnen geblieben ist?«

Mit tränenfeuchten Augen sah sie mich an.

»Sie sind gut, Markus – nach allem, was ich Ihnen gesagt habe, hegen Sie keine bitteren Gefühle gegen mich.«

»Warum sollte ich? Weil Sie wie Don Quichote handeln? Weil Sie aus Idealismus ein Martyrium auf sich nehmen?«

»Haben Sie nicht gehört, was ich über Carlotta sagte?«

»Liebe Judit!« war alles, was ich erwidern konnte.

Jetzt ist sie fort. Wir küßten einander zum Abschied – es war ein Kuß der Erinnerung und der Entsagung! Werden wir uns je wiedersehen?

Dunkelheit umgibt mich, ich bin müde, müde und möchte, daß ich schlafen könnte, wie jener Mönch von Heisterbach, um als alter Mann mit der leidenschaftslosen Entsagung eines Greises wieder zu erwachen; oder noch besser, ich möchte gar nicht mehr erwachen. Solche arme Narren wie ich sind am besten tot.

Ich schaue zurück und sehe meine ganze Philosophie widerlegt; alle meine schönen Ansichten liegen am Boden, wie Puppen, aus denen das Sägemehl herausgelaufen ist. Mit einer ebenso grausamen als selbstgefälligen Unwissenheit habe ich Judit in all diesen Jahren beurteilt. Mit meiner Weisheit ist es wirklich nicht weit her gewesen, und deshalb will ich jetzt nicht über sie urteilen.

Hätte ich Judit mit heißer erotischer Leidenschaft geliebt, dann hätten uns alle bekehrten Schufte der ganzen Christenheit nicht trennen können.

Und daß sie – das arme Ding – mit Carlotta gesprochen hat, was macht das? Was sagte sie von Carlotta? Sie habe gelacht und ein Hündchen mit Kieselsteinen bombardiert.

O mein Gott!

 

12. November.

Bei meiner jetzigen Lebensweise werde ich verrückt. Ich will die Aufsicht über das Haus Stenson und Antoinette übergeben und ins Ausland gehen. Ich habe an Verona gedacht. Ein Ort ist mir so lieb wie der andere, wenn es nur nicht dieses Haus hier ist – das Haus des Todes, des Wahnsinns und des Verbrechens. Außerdem liegt Verona in Italien, und dort habe ich stets Frieden gefunden.

Ich will meine Tollheit beichten. Dieses Buch enthält die Geschichte meiner Irrtümer – die vollständige Ausgabe des Possenspiels, das zu spielen die erhabenen Götter mich berufen haben. Gestern abend dachte ich, der Vorhang sei gefallen, aber ich hatte mich getäuscht. Hört mich an und macht es wie ich, wenn ihr könnt – lachet!

Ich hatte mir vorgenommen, heute fleißig zu sein, denn ich bin eigentlich kein Tagedieb und erwerbe mir durch meine Arbeit das Recht zu leben. Wenn ich einmal mein Geschichtswerk herausgebe, dann wird die Welt, so wenig das Buch an und für sich auch wert sein mag, doch um etwas reicher werden. Und ich erkläre hiemit feierlich: Meine Beschäftigung war in den letzten Jahren viel bedeutender, viel edler als damals, wo ich mir meinen Unterhalt durch die Sklaverei in der Schule verdiente, wo ich den Kindern den nutzlosesten, traurigsten, einseitigsten Zweig der Wissenschaften beibringen mußte, den Zweig, womit Pädagogen in ihrer Verblendung den Geist von viel Tausenden ihrer Mitmenschen gelähmt und deren Leben ruiniert haben – nämlich die elementare Mathematik. Auf der ganzen weiten Welt gibt es nicht einen einzigen Menschen, für den die Kenntnis des Binomischen Lehrsatzes oder die Dreiecksgesetze von größerem praktischem Wert wäre als die Kenntnis des Choctaw, der Cabala oder des Buches von Mormon – es sei denn, daß dieser Mensch ein Mathematiker von Profession wäre, dann könnte er sich meinethalb in dem Alter, wo der Jurist die Gesetzeskunde und der Arzt die Anatomie zum Gegenstand eingehenden Studiums macht, damit beschäftigen. Mit dem Gefühl der Scham und Herabwürdigung sehe ich zurück auf die Tage, wo ich um des kärglichen täglichen Brotes willen meinen Verstand dazu hergab, mit diesem höchst geringwertigen leblosen Gegenstand den eindrucksfähigen Kindern wertvolle Stunden zu verderben, die mit so vielen schönen und bedeutenden Dingen hätten ausgefüllt werden können. Es heißt freilich, durch die Mathematik werde der Verstand geübt, und die Knaben würden zum Denken angehalten. Aber das ist nicht der Fall. In Wirklichkeit ist die Mathematik nur ein trockener Lehrstoff, der sich dem Lehrgang einer Schule leicht einfügt. Ihre Unantastbarkeit erspart dem Erzieher unendlich viel Mühe, und den Hauptvorteil bietet sie unverständigen akademisch gebildeten jungen Leuten, die sich durch den Unterricht in diesem Fach einen unrechtmäßigen Unterhalt verdienen und hinwiederum andre befähigen, ihrerseits das kommende Geschlecht darin zu unterrichten. Ach, ich bin heute nacht verrückt – warum habe ich mir diese Tirade gegen die Mathematik gestattet? Offenbar mußte ich mir irgendwie Luft machen, das sehe ich jetzt ein. Ich sagte, ich erwürbe mir mein Recht zu leben, denn ich sei kein Tagedieb, und diesen Ausspruch muß ich aufrecht erhalten. Mit seiner vie sentimentale erzwingt sich der Mensch keine Achtung, nicht einmal Selbstachtung, und nach dem, was ich heute getan habe, muß ich den oben genannten Anspruch auf Achtung mit aller Gewalt festhalten, weil ich ihn auf einem andern Gebiet verwirkt habe.

Ich verbrachte also den Tag in ununterbrochener Arbeit. Aber am Abend, da überkam mich heiße Sehnsucht nach ihr! Ach, eine ganze Kleinigkeit war schuld daran! Antoinette, die die unregelmäßigen britischen Zuckerstücke nicht ausstehen kann, hat einen Laden aufgespürt, wo sie den alleregalsten Würfelzucker des ganzen Kontinents kaufen kann, und von diesem bringt sie mir zu meinem Kaffee nach Tisch. Zerstreut tauchte ich die Ecke eines Zuckerstückchens in den Kaffee und schaute zu, wie die braune Flüssigkeit den weißen Kristallzucker durchzog. Da durchzuckte mich die Erinnerung an Carlotta. Sie hatte diese Gewohnheit gehabt. Bis der Zucker ganz durchsättigt war, hielt sie ihn mit ihren Fingern in den Kaffee, und steckte ihn dann hastig, damit er nicht zerschmelze, in den Mund. Zerschmolz er aber doch, dann brach sie in ein herzliches Gelächter aus und rieb eifrig den Flecken von ihrem Kleid, und in all meinen Rocktaschen wurde Jagd auf mein Taschentuch gemacht, damit sie ihre rosigen Fingerspitzen daran abwischen könnte. Wie die Kinder in Frankreich nannte sie das tropfende Zuckerstückchen » un canard«. Es war freilich nur etwas Gewöhnliches, aber mit einem Schlag standen mir die vieltausenderlei zarten, törichten, liebenswürdigen Vertraulichkeiten vor Augen, die Carlottas berückenden Reiz ausgemacht hatten.

Ja, ich weiß, daß keine Sprache der Welt irgend ein Wort hat, das die kindische Torheit eines Mannes, den ein in Kaffee getauchtes Stückchen Zucker verrückt macht, richtig ausdrücken könnte.

Es gibt eine französische Redensart, die man aber weder bei Lamartine, noch bei Chateaubriand oder sonst einem der höflichen, gefühlvollen Dichter findet: » avoir les sangs tournés de quelqu'un.« So geht es mir. » J'ai les sangs tournés d'elle.« Irgend jemand hat einmal irgendwo irgend etwas über die Leidenschaft eines vierzigjährigen Mannes gesagt – das muß mit dieser französischen Redensart zusammenhängen.

Ich schob meinen Kaffee unberührt auf die Seite, und sehnsuchtsvoll, ach so sehnsuchtsvoll vergrub ich meinen Kopf in den Händen. Das Heimweh nach ihr überwältigte mich; Stunden vergingen, ich rührte mich nicht. Als die Dienstboten zu Bett gegangen waren, schlich ich mich hinauf in Carlottas Zimmer, das genau so geblieben war, wie es Antoinette in jener Nacht, wo sie noch hoffte, als nichts mehr zu hoffen war, für sie hergerichtet hatte. Hier brach ich zusammen; der Himmel weiß, was ich tat.

In blinder Wut, Gott verfluchend und mit dem Wunsche, sterben zu können, kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. Das Feuer war fast erloschen, und mechanisch ergriff ich das Schüreisen, um es wieder anzufachen. Ohnmächtiger Zorn drohte mich zu überwältigen, mir wurde alles rot vor den Augen, und eine abscheuliche Lust zu morden, überkam mich – unter einer Menge höhnischer Teufel stand ich ganz allein. Als ich mich zum Feuer niederbückte, fühlte ich ein Kratzen auf meiner Schulter. Mit einem Schrei fuhr ich zurück und erblickte vor mir auf dem Kaminsims ein schwarzes, einäugiges Ungeheuer, das mich mit dem Ausdruck durchtriebenster Bosheit betrachtete. Ehe ich wußte, was ich tat, hatte ich aus voller Kraft schon das Eisen auf den Kopf des Tieres niedersausen lassen, und im nächsten Augenblick lag es tot zu meinen Füßen.

Finis coronat opus.

 

22. November.

Verona. »Die Geschichte der Moral der Renaissance« habe ich aufgegeben. Das Manuskript mit seinen Eselsohren und dem staubigen Stoß Notizen liegt dort drüben auf einem Haufen in einer Ecke des Zimmers, in dem ich fröstelnd neben einem kleinen Ofen sitze. Das Zimmer mit seinen Marmorfliesen ist sehr groß, kalt, unbehaglich und erinnert an »die weiten Hallen des Todes«. Seit acht Tagen bin ich hier. Ich dachte, hier Ruhe finden, die Luft Italiens wieder einatmen zu können. Bei den Meisterwerken eines Girolamo dai Libri und Cavazzola sollte mein Herz wieder frei und leicht schlagen, und beim Anblick der blauen, mit Burgen gekrönten Berge, die jene Künstler so gerne malten, sollte mein Empfinden dem ihren ähnlich werden. In dieser Stadt vergangener Zeiten würde ich, das hatte ich mir alberner Weise eingebildet, Regent's Park vergessen und mein Gemüt auf das Leben stimmen können, das einst ihre engen Straßen erfüllt hatte.

Aber ich habe nichts gefunden als Einsamkeit. Heute stand ich vor dem verstümmelten Fresko von Morone, das vor sechs Jahren mein ganzes Entzücken gewesen war – jetzt haßte ich es mit grundlosem Haß. Die Madonna strafte die von Girlanden umgebene Inschrift: » Miseratrix virginum Regina nostri miserere«, Lügen und begrüßte mich mit einem unbarmherzigen Lächeln. Der unbekannte Märtyrer zu ihrer Linken schaute mit harter Gleichgültigkeit gerade aus, und der heilige Rochus sah mit seinen sehr in die Augen fallenden Pestbeulen übertrieben dick aus. Das Bild war mehr als unbedeutend; es war beleidigend und trieb mich aus der Gemäldesammlung fort. Draußen verhüllte ein grauer Nebel die Berge, und ein feiner durchdringender Regen rieselte vom Himmel herab. Ich schlich nach Hause und schlug zum fünfzigsten Male, seit ich hier bin, meine Geschichte der Moral der Renaissance auf. Mit einem endgültigen Fluch warf ich sie in die Ecke.

Ich hasse das Werk. Keine Bohne gebe ich für die Renaissance oder für ihre Moral! Ihre Menschen halte ich für eine pestilenzialische Herde von Farbenklecksern, Reimschmieden, Halsabschneidern und Buhlerinnen; ihre ὔβρις hat den Schmelz der Schönheit eingebüßt und ein gemeines freches Ansehen angenommen. Sie beleidigen mich durch ihre geräuschvolle Großtuerei, durch ihren Hang zu den sinnlichen Lebensgenüssen, hauptsächlich aber, weil sie mich stets an Pasquale erinnern. Und doch hatten sie – vor Jahren – einen großen Eindruck auf mich gemacht. Damals füllten sie die graue Öde meines Lebens mit Tönen und Farben! Woher kommt dieser Wechsel?

Aus mir selbst! Ich selbst bin mir ein Gegenstand quälenden Interesses geworden, ich selbst komme mir viel malerischer vor, als so ein gutmütiger Bummler des Quattrocento in Verona, der zum traurigsten und langweiligsten Schatten eines Gespenstes verblichen ist. Nur ich allein existiere noch! Das lautet wie die kolossale Einbildung eines Geisteskranken, aber der Himmel weiß, daß es das nicht ist. Wenn du in deinem ganzen Kiefer rasende Zahnschmerzen hast, wenn dir Ohren, Augen und Gehirn davon weh tun, ist da nicht für dich dein Kopf das ganze Weltall? Bist du dir in diesen Stunden der Qual nicht selbst das wichtigste aller Geschöpfe? Und niemand nimmt dir das übel! Tadle mich deshalb nicht ob dieser meiner Stunde moralischen Zahnwehs.

In längstvergangenen Tagen bin ich das Opfer einer sonderbaren Sinnestäuschung gewesen. Ich schmeichelte mir, das einzige Wesen auf der Welt zu sein, das keine Rolle in der Komödie des Lebens zu spielen habe. Wie der geisteskranke König von Bayern saß ich allein in dem großen Zuschauerraum und betrachtete mit geringer Aufmerksamkeit die mir ziemlich kläglich scheinende Aufführung. In meiner einsamen Loge hielt ich mich für ganz sicher. Aber ich hatte nicht mit den erhabenen Göttern gerechnet, deren Schatten die stillen leeren Reihen füllen und die einen Sterblichen in ihrer Mitte eifersüchtig betrachten. Ohne jegliche Warnung wurde ich von meinem Sitz gerissen, auf die Bühne geschleudert, und ehe sich meine geblendeten Augen an das Rampenlicht gewöhnen konnten, war ich schon in ein unerträgliches Drama verwickelt. Ich war ganz unvorbereitet, konnte meine Rolle nur unvollständig, überhörte meine Stichwörter und stolperte, wie alle Dilettanten, über meine eigenen Füße. Und doch war der dumme Mummenschanz ganz aus dem Leben gegriffen. Mitten unter dem Lachen der stillen, schattenhaften Götter wollte ich von der Bühne fliehen. Ich kam nach Verona und finde nun, daß ich auch hier noch immer meine Rolle weiter spiele. O, ich habe immer Theater gespielt, ja, schon von meiner Geburt an; der Zweck unsres ganzen Daseins ist ja doch, die erhabenen Götter mit unsern Theatervorstellungen zu unterhalten. Die Welt ist die Bühne, und das sternbesäte Weltall der unermeßliche Zuschauerraum.

Eine Gnade haben die erhabenen Götter den Mitgliedern ihrer Schauspielertruppe gewährt: Jeder kann jeden Augenblick endgültig abtreten. Und ich fühle, daß für mich dieser Augenblick nahe ist. Ein letzter Monolog, und dann kann ich wie Bajazzo mit einem Seufzer sagen: La comedia è finita – das Spiel ist aus! – und der Rest ist Schweigen. Jedenfalls will ich meine eigene Geschichte erzählen. Meine Geschichte der Moral der Renaissance mag in ihrer Ecke liegen bleiben und verfaulen, während ich mich mit einem viel wichtigeren Gegenstand beschäftige, mit der »Moral des Markus Ordeyne«. In vielen ereignislosen Jahren ist es mir eine liebe Gewohnheit gewesen, kurze Einträge in mein Tagebuch zu machen, aber ich habe mich nie ausführlich darin ausgesprochen; bis jetzt hatte ich das auch gar nicht nötig. Aber nun, wo Judit und Carlotta mich verlassen haben, wo mein einziger Freund, Pasquale, für immer aus meinem Leben ausgeschieden ist, und sogar der teilnehmende Polyphem durch meine mörderische Hand in die Ewigkeit getrieben wurde, fühle ich das unwiderstehliche Verlangen, mich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben vollständig und endgültig auszusprechen. Es soll mein Schwanengesang sein. Was nachher daraus wird, ist mir gleichgültig.

Und wenn das letzte Wort geschrieben ist, dann gehe ich in die Pinakothek und stelle mich vor das Fresko von Morone. Lächelt mir dann Miseratrix virginum Regina noch immer zu, so soll mir das ein Wink und ein Zeichen sein. Dann werde ich in diese Marmorhöhle zurückgehen und meine Abschiedsvorstellung geben. Theatralisch-künstlerisch soll alles zugehen – das verspreche ich feierlich – und die erhabenen Götter in ihrer Loge werden zweifellos ihre innige Freude daran haben.

*


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