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Verhüllt.

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Größere Ausdehnung als heutzutage hatten einst unsere Landseen, man bemerkt das leicht an einzelnen, ihnen naheliegenden Weihern, die aus früher Zeit zurückgeblieben sind, wo Vertiefung des Bodens und reichlicher Zufluß von Quellen und Bächen ihrer Fortdauer günstig waren. Bewaldete oder angebaute Höhen trennen sie von der größeren Wasserfläche, der sie einst angehört hatten, und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sieht man sie seltener und kleiner werden. Wo vor dreißig oder vierzig Jahren noch kräuselnde Wellen gespielt, da mäht jetzt die Sense Ginster, Fieberklee, Minzen und andere Kräuter, die durch einen eigentümlich starken Wohlgeruch sich von den Pflanzen anderer Wiesen unterscheiden und den lockeren, sumpfigen Boden verraten, dem sie entsprießen.

Ein solcher Weiher lag am Fuße eines Berges, 268 der sich sanft gegen die Ebene hin absenkte, und über ihm ragte ein dem Anscheine nach ziemlich wohlerhaltenes Schloß. Lange Zeit stand es verlassen und ging dem Verfall entgegen. Die Familie, der es gehörte, war ausgestorben, und die entfernten Verwandten, die im Auslande lebten, hielten einen Pächter darauf, der ein paar Wohnräume für sich benützte, das übrige zu Grunde gehen ließ.

Da geschah es einst, daß die Regierung einen stillen, vom Weltverkehr abgeschiedenen Platz für Erbauung einer Irrenanstalt suchte, und ein Ingenieur, der öfters in die Gegend bei Vermessungen gekommen war, schlug das alte Schloß vor, das sich durch seine Lage vortrefflich für den gewünschten Zweck eigne. Sein Vorschlag und seine Pläne wurden angenommen.

Es dauerte nicht zwei Jahre, so war das Schloß in ein Asyl für Geistesgestörte und Gemütskranke umgewandelt und eingerichtet mit allen Erfordernissen, welche die vorgeschrittene Wissenschaft erheischt. Das Haus hatte seine eigenen Wirtschaftsgebäude, Bäckerei, Kellerei u. s. w., von den Patienten selbst wurden, je nach ihrem Zustande – von den weiblichen die Näh- und Strickarbeiten besorgt, auf der männlichen Abteilung gab es 269 Schreiner- und Schusterwerkstätten. Ein großer, parkähnlicher Garten, von hohen Mauern umgeben, diente mit Turn- und Spielplätzen zur Erholung.

Indessen hatte der Fortschritt auch außerhalb der Mauern sich geltend gemacht, und es stund nicht lange an, so vereinigten sich die Besitzer der umliegenden Grundstücke neben und unter dem Schlosse dahin, den Weiher, der ohnehin von Jahr zu Jahr kleiner wurde, vollends auszutrocknen und den dadurch gewonnenen Boden unter sich zu verteilen. Die Bäche, die ihn bisher genährt hatten, wurden abgeleitet und die nächsten Wiesen damit bewässert. Ein sehr trockener Sommer unterstützte die Arbeiten, und gegen den Herbst zu war nur noch ein kleiner Fleck von dem ehemaligen Weiher übrig geblieben.

Hier, wo der Wald an das Ufer heranreichte, hielten ein paar mächtige Eichen ihre Schatten über das Wasser ausgebreitet und verhüteten so die vollständige Austrocknung. Unter den Zweigen schwammen auf der trägen, dunklen Welle noch einige Seerosen. Als nun auch diese plötzlich über Nacht verschwanden, ging bald im Volksmund die Sage, es sei die Nixe des Sees fortgezogen und habe die letzten ihrer Blumen mitgenommen. Sie verschwand, 270 hieß es, im Walde, nachdem sie vorher noch einigemal sich nach dem Weiher umgewendet und wie zum Abschied zurückgewinkt habe.

Von dieser Sage hörte auch der junge Hilfsarzt, der dem Direktor der Anstalt beigegeben war und eben erst von der Universität kam. Nicht unempfänglich für romantische Eindrücke, schrieb er sich alles und genau, wie man es ihm erzählte, in sein Tagebuch und begleitete den Text mit einer hübschen Illustration. Er war ein guter Zeichner, malte auch und hatte derartiges viel gesehen, so daß sein Aquarell im Stile von Moritz Schwind recht artig ausfiel.

Während er daran im Garten zeichnete, näherten sich ihm zuweilen Patienten und sahen ihm aufmerksam zu. Wie sie sich äußerten, sich die Darstellung erklärten, war ihm sehr anziehend und gab ihm, der ein scharf beobachtender Kopf war, oft merkwürdige, für die Behandlung nicht unwichtige Aufschlüsse über Grad und Beschaffenheit der ihm anvertrauten Geisteskranken.

Vor allen war es ein junges, schönes Mädchen, das gern um ihn verweilte und ihre oft seltsamen, mitunter höchst treffenden Bemerkungen nicht zurück 271hielt. Ein sinniges Wesen und eine feine Bildung sprachen sich in diesen Bemerkungen aus. Eigen war es: so oft sie das Bild gesehen hatte, sang sie im Fortgehen mit ihrer schönen, wunderbar ergreifenden Stimme ein Lied, oder vielmehr nur die halbe Strophe eines Liedes. Lange noch sang sie es vor sich hin, und man hörte sie noch von ihrem Zimmer herab die Strophe wiederholen. Es war, als ob sie sich damit in Schlaf singen wolle.

Der junge Arzt war von der innigsten Teilnahme für die Unglückliche beseelt und versäumte nie, von seinen Ausflügen ihr einen Strauß von Bergblumen mitzubringen, die sie stets mit großer Freude entgegennahm und pflegte. Die kleine Aufmerksamkeit schien ihr wohlzuthun, schien sie mit zartem Bande dankbarer Gefühle an ihren Arzt zu fesseln.

Als er ihr aber einstmals nach einer längeren Wanderung in die Umgegend einige Seerosen reichte, da erschrak sie heftig, redete so wirr und aufgeregt, daß der junge Mann zu seinem Leidwesen bemerkte, er habe durch sein Geschenk einen tief erschütternden Eindruck auf die Arme hervorgebracht. Er mußte mit Schmerz erfahren, daß von Stund an ihr Zustand einer auffallenden Verschlimmerung entgegen 272ging. Gewiß haben solche Blumen, sprach er zu sich, einst in der grausamen Katastrophe, bei der ihr Geist umnachtet ward, eine besondere Rolle gespielt. Er wagte indes nicht, auch nur durch eine anspielende Frage darauf hinzudeuten. Seine traurigen Blicke, der tiefe Ernst in seinen Zügen verrieten genug, was ihn bewegte. Sie schien es nicht zu bemerken, ihr Geist war mehr als je der Wirklichkeit abgewandt.

Von dem Direktor jedoch wurde die Mitteilung gegeben, daß das Mädchen, aus sehr gutem Hause und von den edelsten Anlagen, eine den Ihrigen erwünschte Partie ausgeschlagen hatte, aus Neigung zu einem Menschen, der, ihrer in keiner Weise würdig, in rohester und niedrigster Absicht ihre Liebe gewinnen wollte, um mit ihrer Hand eine im Vergleich mit seiner bisherigen Lage überaus vorteilhafte Stellung zu erreichen. Als er von seiten der Eltern Widerstand erfuhr, hielt er es nicht für der Mühe wert, länger um den gewünschten Besitz zu ringen, und führte ebenso roh, wie er begonnen hatte, das Ende herbei.

»War diese Neigung nicht selbst schon das erste Anzeichen von geistiger Störung!« warf der junge Arzt dazwischen.

273 »Wohl möglich,« antwortete der Direktor, »genug – die aufs tiefste Beschämte und Gekränkte ertrug lang im geheimen ihren Schmerz, bis er endlich überströmend die gequälte Seele ganz und gar mit Nacht umgab.«

»Eine Ophelia,« seufzte Doktor Lünin auf, »gebrochenes Herz, gestörter Geist. Haben wir einen Leitfaden in unserer Pathologie, der hier einen Zusammenhang nachweisen kann?«

»Drücken wir uns milder aus,« erwiderte der ältere Arzt, »und sagen wir: krankes Herz, gestörter Geist, so läßt sich eher Ursache und Wirkung erklären, und somit ist es auch erlaubt, eine günstige Prognose zu stellen. Widmen Sie,« fuhr er fort, »der Kranken alle Aufmerksamkeit; wir haben einen Fall vor uns, der noch eine Heilung erwarten läßt. Vor allem sehen Sie nur ja darauf, daß das Mädchen nicht in den östlichen Flügel der Anstalt sich verirrt! Die Aussicht dort von den Fenstern müßte sie an ihren heimatlichen Wohnort erinnern; der Anblick ist nämlich fast derselbe, und wir müssen alles verhüten, was ihr ein Bild der verlebten Zeit ins Gedächtnis zurückrufen könnte. Ich bin deshalb froh, daß der See, der da drunten lag, nicht mehr vor 274handen ist, sie würde ihn von ihrem Zimmer aus gesehen haben; der Anblick eines Wasserspiegels wirkt überhaupt nachteilig auf solche Kranke.«

Der junge Arzt hielt sich genau an die ihm gegebene Vorschrift. Er fand dadurch immer mehr Gelegenheit, um das reizende Geschöpf zu sein, das in ihrer halbbewußten Unbefangenheit ihn oft so tief rührte, oft aber auch erschreckte und schaudern machte vor den Abgründen in der menschlichen Natur!

Nun erklärt es sich, warum die Seerosen einen so schrecklichen Eindruck auf ihr Gemüt ausübten, sagte er zu sich. Vielleicht gab es auch zu Hause solche, und die Erinnerung an ein bitteres Erlebnis knüpft sich an deren Anblick. Vielleicht sind aber die Beziehungen so entfernter Art, daß der Verknüpfungspunkt nur in der zerrütteten Geistesthätigkeit selbst liegt und mit keiner Wirklichkeit in Verbindung steht. –

   

Der Herbst neigte sich zu Ende, der Weiher im Thal war vollständig ausgetrocknet und einträglicher Grund und Boden geworden. Der Winter brachte in dem Befinden der meisten Pfleglinge der Irrenanstalt einige Besserung. Auch die nunmehr ausschließlich von dem Hilfsarzt und mit mehr als ge 275wöhnlicher Teilnahme behandelte Kranke zeigte sich heiterer, ruhiger und gab alle Hoffnung auf gänzliche Wiederherstellung. Je mehr diese Hoffnung an Berechtigung gewann, um so mehr wurde auch seine Neigung eine innigere, schwärmerische zu der holden Kranken, die sich ihm nun wieder öfter und rückhaltloser näherte.

Bald ereignete sich etwas, das dem sorgsam wachenden Blicke des Arztes nicht entging, obwohl es anscheinend von geringer Bedeutung war. Er bemerkte, daß ein neu eingetretener Wärter von der männlichen Abteilung trotz des Verbotes zuweilen in den Korridoren sich zu schaffen machte, an welche die Zimmer der weiblichen Kranken anstießen. Doktor Lünin wies ihn weg, ein zweites Mal mit Strenge, und als er ihn wieder betraf, hielt er sich für verpflichtet, seinem Vorgesetzten Anzeige zu machen.

Es kam denn auch durch Aussagen anderer Bediensteter heraus, daß der zudringliche Mensch bereits mehrmals versucht hatte, in das Zimmer von Fräulein Firmin zu gelangen. Unzweifelhaft war es seine Absicht, sich ihr zu nähern. Ob es ihm gelungen und was er vorhatte, blieb ungewiß. Auffallend aber war seither das Benehmen des Mäd 276chens: die sanfte Schwermut, die sonst immer über ihr Gesicht gebreitet lag, wich einem fröhlichen Ausdrucke; anstatt der traurigen Strophe, die sie früher gesungen, trillerte sie heitere Kinderlieder oder Tanzweisen.

Den Ärzten schienen diese Symptome nicht ohne Verbindung mit den jüngsten Vorgängen. Man hatte den Wärter entlassen, und in der That stellte sich heraus, als man weitere Nachforschungen pflog, daß der vermeintliche Wärter der Verwalter auf dem elterlichen Gute Mariens gewesen und der Gegenstand ihrer jugendlichen und unglücklichen Neigung war. Er hatte sein schändliches Benehmen bereut und wollte versuchen, ihre Liebe wieder zu gewinnen, die ihr angethane Kränkung wieder gut zu machen. Vielleicht glaubte er an gar keine Geistesstörung und wähnte sie wider ihren Willen in die Anstalt verbracht. Wenn sie ihn sehen würde, wenn er sie sprechen könnte, so müßte sie jedenfalls wieder seinem Willen sich fügen. Er wollte sie veranlassen, mit ihm zu fliehen; die Eltern, dachte er, würden dann nicht mehr zögern, ihre Einwilligung zur Ehe und das geforderte Heiratsgut zu geben. Im Dienst der Schwiegereltern könnte er dann nicht mehr 277 bleiben, man müßte ihm eine Staatsanstellung verschaffen, und so wollte er mit seiner jungen, reichen Frau in die Stadt übersiedeln und als hochangesehener Mann ein prächtiges Leben genießen.

Zur Ausführung dieser Absicht hatte er bei der Gutsherrschaft Urlaub genommen unter dem Vorwande, seine entfernten Eltern zu besuchen, und wußte mit erschlichenen Empfehlungen sich als Wärter in die Irrenanstalt einzudrängen. Gesehen hatte sie ihn bereits, und er glaubte aus dem staunenden Aufleuchten in ihren Zügen bemerkt zu haben, daß ihre Gefühle für ihn noch nicht erloschen seien.

Sein ehrgeiziger Plan wurde durch das energische Auftreten des jungen Arztes, dem er keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochte, rasch und gründlich vereitelt.

Die Kranke ahnte nichts von seiner Entfernung. Sie blieb heiter und schien die Abwesenheit dieses Mannes, den sie vielleicht noch gar nicht wiedererkannt hatte, durchaus nicht zu vermissen.

   

Die Faschingszeit rückte heran, und die Ärzte berieten sich, ob sie nicht eine Karnevalsunterhaltung den leichter Erkrankten ihrer Anstalt gönnen sollten. 278 Man entschied sich dafür. Ein Abend wurde bestimmt und ein Saal festlich geschmückt. Die Wahl, sich zu maskieren und wie, blieb jedem überlassen. Einige wählten Kostüme, in denen sich etwas von der fixen Idee, an der sie litten, aussprach, und wollten Bedeutendes vorstellen: Könige, Feldherren, große Staatsmänner; andere wieder in toller Selbstironie wählten Schellenkappen, die Schwermütigen hüllten sich in Klosteranzüge, die weniger Aufgeregten ahmten aus nächster Umgebung Tracht und Gebaren anderer Kranken oder des Dienstpersonals nach; die meisten aber warfen sich die nächsten besten Kleidungsstücke unordentlich und phantastisch um und lachten darüber mehr als alle übrigen. Die ganze Versammlung bot einen etwas unheimlichen Anblick.

Marie hatte sich sehr geschmackvoll und sinnig maskiert, sie schien eine Griechin der antiken Welt vorstellen zu wollen, eine Jägerin aus dem Gefolge Dianas. Ein wallendes Gewand in schönem Faltenwurf umhüllte die reizende Gestalt. Um die nackten, vollen Arme schlangen sich goldene Armbänder, in den Locken trug sie einen Kranz von Seerosen. Es waren künstliche.

»Wo sie die nur her hat! offenbar mitgebracht und bisher ge 279heim gehalten,« sagte sich der junge Arzt, der sie mit freudestrahlenden Blicken betrachtete. Ihm dünkte dieser Schmuck ein günstiges Zeichen, vorher hatte sie vor diesen Blumen erschreckt zurückgebebt.

Sie drängte sich hart an ihm vorüber und flüsterte ihm zu: »Ich erwarte dich, komm!« –

Man mußte ihr Platz machen, sie wolle tanzen, rief sie laut in die Menge. Mit zierlichen Schritten begann sie, das Kleid in den Fingerspitzen haltend, einen eigenen Tanz, den sie wohl selbst erdacht hatte. Bald hob sie beide Hände verschlungen über den Kopf, bald schien sie nach etwas zu haschen oder stemmte den einen Arm trotzig in die Hüfte und wand sich rascher und rascher im Kreise. Immer wilder wurde ihr Tanz, da, mit einemmal sah sie sich um, als suche sie jemand – – welches Feuer, welche Liebe lag in diesem Blicke! Als sie nicht fand – was sie suchte, bemächtigte sie sich eines Leuchters, indem sie rief: »Ich werde ihn dennoch finden« – und stürzte mit dem flackernden Licht in der Hand aus dem Saal.

Lünin, um ein Unglück zu verhüten, wollte ihr nach. Als er, beinahe, gleichzeitig mit ihr, ihr Zimmer betrat, hatte sie die Kerze auf den Boden geschleudert, ihre 280 Locken aufgelöst, den Kranz und die Kleider zerrissen und warf sich schluchzend und mit heißen Küssen an seine Brust.

Die schöne Gestalt so plötzlich, so innig ihm hingegeben, entflammte auch ihn – aber als er in ihre Blicke sah, welche Kälte, welch seelische Entfernung! Eine Wirklichkeit, ein blühendes Leben hielt er umfaßt, eine Unmöglichkeit, eine tötliche Entfremdung starrte ihn an und durchschauerte ihn. Ein Doppelwesen hielt er in seinen Armen, höchstes Glück und tiefen, leeren Abgrund, liebliches Licht und schauervolle Nacht zugleich. Die irren Augen sahen ihn so trocken, so stechend an; der Mund, geöffnet wie um ein süßes Geständnis auszusprechen, war von stummem, sinnlichem Begehren geschwellt; die Hand, die er noch in der seinigen hielt, war fieberheiß und alles – alles – nichts als Wahn und Wahnsinn.

Es kam ihm vor, als wäre er selbst nun nahe daran, die Besinnung zu verlieren, er mußte mit Gewalt sich fassen, er wandte sich ab, wand sich sanft von ihr los und brachte sie auf ihr Lager. Er rief wie eine Schlafende sie beim Namen, als müsse er sie wecken – sie schlug die Augen auf – ein Ach kam leise über ihre Lippen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden 281 Händen – er war fort. Die herbeigeeilte Wärterin fand sie noch so, ruhig ließ sie sich völlig entkleiden und versank sogleich in Schlaf.

Doktor Lünin war trostlos, er machte sich, als er auf sein Studierzimmer gekommen war, die schwersten Vorwürfe. »Ich Elender« – sprach er, »welchen Weg hab' ich betreten! Anstatt, wie es meine Pflicht gewesen wäre, alles für die Beruhigung der Unglücklichen zu thun, nähre ich selbst eine hoffnungslose, wahnsinnige Liebe in mir und erwecke in ihr Empfindungen, die nicht mir gehören, die ihren Zustand nur immer schlimmer, aussichtsloser gestalten müssen. Empfindungen, die nicht mir gehören,« wiederholte er, »und dennoch – wenn es mir gelänge, sie zu retten, sie dem Denken, dem Leben wiederzugeben, würde dann nicht auch die falsche, die nächtliche Liebe weichen müssen, und die echte, wahre mir als Lohn und Dank werden? Aber die Mittel, die ich bisher anwandte, brachten ja gerade das Gegenteil davon hervor. Gegengift? Wahn gegen Wahn! O ich muß fort, ich muß ihren Anblick, ihren Umgang meiden – sonst bin auch ich verloren!«

»Wie geht es der Kranken,« fragte er die 282 eintretende Wärterin, welche kam, um ihm Meldung, zu machen.

»Sie schläft,«, berichtete diese, »leise singend ist sie eingeschlafen, ach, Herr Doktor, wie schad' ist es um dieses schöne Frauenzimmer!«

»Ja, ja,« entgegnete Lünin kurz, »sehen Sie während der Nacht ein paarmal nach, und bringen Sie ihr morgen ein reichliches Frühstück.«

»Ganz wohl,« antwortete die Wärterin, indem sie sich entfernte, »wenn die gute Dame nur auch etwas genießen möchte.«

Die Aufregung des verhängnisvollen Festes hatte indes keine nachteiligen Folgen – vielmehr war in der verhüllten Seele des Mädchens seit jenem Abend eine Stimmung erwacht, die als eine Annäherung an die normale Daseinsgewohnheit angesehen werden konnte. Sie vermied es, den Doktor anzusehen, wenn er zum Besuche kam, ein leises Erröten flog über ihre Wangen sie gab kurze und bestimmte Antworten, man sah, daß sie sich Mühe gab, alles Bewußte in sich festzuhalten; sie fügte sich mit mehr Geduld als sonst den Anordnungen der Ärzte.

»Sie wird genesen,« rief Lünin aus, »sie wird erkennen, wer ihr wahrhaft zugethan ist, 283 sie wird nach und nach einen geistigen Halt an mir finden – mir vertrauen, mich lieben!«

   

Eines Tages fragte er sie: »Sind Sie nicht musikalisch, Marie, spielen Sie nicht Klavier?«

»Nein, aber die Harfe lernt' ich –« war ihre Antwort.

»O, das müssen Sie wieder aufnehmen, ich werde Ihnen ein Instrument kommen lassen.«

Sie lächelte und schüttelte den Kopf – »Ach, ich werde wohl alles vergessen haben.«

»Möchten Sie nicht doch den Versuch wagen? Sie würden mir eine große Freude damit machen,«

»Nun, wenn es das ist, dann will ich es versuchen. Schicken Sie nach Hause um meine Harfe. –«

Lünin war stolz auf den Gedanken, die Musik als Heilmittel zu verwenden. Eine so edle Beschäftigung konnte nur von günstigem Einfluß sein.

»Versuchen Sie es auch mit einem Spiele, ich meine mit dem Schachspiel,« sagte eines Tages der Direktor, als ihm Lünin von seinen Erfolgen gesprochen hatte; »das Schachspiel erfordert ungeteilte Aufmerksamkeit und spornt den Ehrgeiz, niemand will sich gern besiegen lassen. Ich kannte Damen, 284 die vor Ärger Thränen vergossen, wenn sie matt gesetzt wurden. Soweit dürfen Sie es aber nicht kommen lassen, im Gegenteil lassen Sie sie zuweilen gewinnen!«

Die Harfe war gebracht worden, ein prächtiges Instrument, mit Elfenbein eingelegt. Die Umrahmung der Saiten stellte an ihrem obern Teil eine Sirene vor. Marie ließ es mit großer Freude auf ihr Zimmer bringen, aber tagelang hörte man nicht, daß sie auch nur eine Saite berührt hätte; einstmals jedoch, da man schon verzichtet hatte, sie spielen zu hören, es war in einer Mondnacht, klangen auf einmal mächtige Töne durch das geöffnete Fenster. Lünin hörte es mit Entzücken und tief erregt, am liebsten wäre er gleich zu ihr hinauf geeilt und hätte ihr seine Liebe bekannt.

Er mußte sich gedulden, er fühlte die Kraft dazu in sich, er hoffte ja. –

   

Mit dem Frühjahr wurde sämtlichen Kranken mehr Freiheit gestattet, und Marie freute sich wie ein Kind, wieder in den Garten zu dürfen, wo nun Flieder und Goldregen in schönster Blüte standen.

So kam sie einmal in den Gängen, die schon 285 im jungen Laubschmucke prangten, auf Lünin zu und fragte: »Warum zeichnen Sie nicht mehr?«

»Ich hatte wenig Zeit übrig, auch gefiel mir nichts, aber haben Sie einen Wunsch, soll ich Ihnen etwas skizzieren?«

»O ja,« sagte sie schlau – »zeichnen Sie mich!« –

» Sie, mein Fräulein? – Recht gern! Dann müssen Sie uns aber auch eine Freude machen und bald, bald gesund werden.«

Er hatte ihre Hand gefaßt und sah ihr ruhig in die Augen – o wie sehnlich wünschte er aus diesen schönen, tiefbraunen Augen wieder das Licht des Verstandes ihm entgegenleuchten, auf dieser edlen Stirne wieder die Ruhe sinnigen Nachdenkens zu sehen! All sein Wünschen und Hoffen hing davon ab. Sie bog sich zu ihm über, als wolle sie ihm etwas zuflüstern, ihn küssen – ihre Locken berührten wie schmeichelnd seine Wangen – plötzlich schrak sie zurück, lachte grell auf und eilte hinweg.

»Alles aus!« murmelte er für sich und seufzte tief auf.

An einem der nächsten Tage hatte sich der Himmel – es ging bereits gegen Anfang des Sommers – mit schweren, schwarzen Wolken um 286zogen, ein wolkenbruchartiger Regen ergoß sich über das Land und hielt auch die Nacht über und den folgenden Tag an – der Schnee löste sich in den höheren Gebirgen unter dem anhaltenden Wehen des Föhn und wälzte gewaltige Massen des trüben Gletscherwassers in die Thäler. Alle Flüsse waren ausgetreten, und die kleinsten Bäche schwollen zu Flüssen an. Auch diejenigen, die vormals den Weiher gebildet hatten, zerrissen ihre Eindämmungen und füllten wieder ihr altes Bett rauschend und wogend aus.

Bald war wieder der kleine See an seiner früheren Stelle, ganz wie vordem, nur daß er jetzt grollend und tobend sich gebärdete. Dabei sah man auch die ganze Natur in Aufruhr. Gewitter folgte auf Gewitter, unaufhörlich zuckten die Blitze, rollte der Donner.

Von ihrem Fenster aus beobachtete Marie die Veränderungen in der Landschaft, die sie täglich vor Augen gehabt – ihr schien es, als ob sich alles verändere. Ihr gegenwärtiger Aufenthalt selbst verwandelte sich, es kam ihr vor, als würde die Scene nun bald wieder ihre Heimat sein. In jedem der wenigen Augenblicke, da der Regen nachließ, ging sie voll Unruhe nach dem Garten, und einst als ein Arbeiter ein 287trat und sie durch die geöffnete Pforte den hellen Wasserspiegel von flüchtigen Sonnenblicken beleuchtet sah, stieß sie einen Schrei aus und mit mit dem freudigen Ausruf – »ich komme!« – ins Freie. Mit ausgebreiteten Armen stürzte sie nach dem Abhange und in die tosende Flut.

Das alles war so rasch geschehen, daß niemand es vermuten, niemand es verhindern konnte. Die schäumenden Wogen hoben und senkten die Entseelte und trugen sie fort – fort. – Spät erst, – nachdem die ganze Überschwemmung vorüber war, fand man die Leiche in einer Schlucht zwischen Wurzeln und Strauchwerk, aber so entstellt, daß viele Leute behaupteten, es sei nicht dasselbe Fräulein, dem sie oft im Schloß oben begegneten.

Ihr Arzt, der sie so sehr geliebt hatte, der schon zu hoffen anfing, er werde ihren Geist zu neuem Leben erwecken und damit für sich ein still und heißersehntes Glück erreichen, war nun selbst nahe daran, in Wahnsinn zu verfallen. Er bedurfte aller inneren Kraft, des ganzen Aufgebotes seiner Wissenschaft und seines Berufes, um sich der furchtbar drohenden Gewalt zu erwehren.

Noch lange nachher sah man ihn am Ufer des 288 Weihers, der nun wieder wie vorher ruhig und tiefblau dalag, unter jenen Eichen, wo nun auch wieder Seerosen blühten, und es war ihm oft, als stiege dann in der stillen Sommernacht die Nixe herauf. Sie nahm die Züge der Geliebten an, und wie halb im Traum fühlte er sich von liebenden Armen umfangen und einen Kuß auf seiner Lippe, der nicht von irdischer Natur war, wiewohl er dem sanften Hauch der Abendlüfte glich, die schmeichelnd und kosend über die Wellen her ihn umwehten. –


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