Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Äschylus.

62 63

I.

Da waren sie hinausgezogen in der Morgenfrühe eines nebligen Novembertages im Jahre 1832, die Offiziere und Soldaten unserer kleinen Garnisonsstadt, mit klingendem Spiel und begleitet von der halben Bevölkerung, von ihren Segenswünschen und Zurufen. Sie sangen: »Leb wohl, du teures Land, das mich geboren,« und es schallte weit hinein in die Waldungen und umher. Ja, da rückten sie hinaus in voller Kriegsrüstung auf der Heerstraße nach Tirol, dem wolkenumschleierten Gebirg entgegen, und weiter und weiter ans Meer und über das Meer in ein fernes, fremdes Land; und dieses Land, das Ziel ihres Feldzuges, es war Hellas, das hochgefeierte, glorienumstrahlte Hellas, und sie waren beauftragt, den König des Hellenenlandes dort als schützende Heimatgarde für die ersten Jahre seiner 64 Regierung zu umgeben, der Regentschaft zur Seite zu stehen und bis zur vollständigen Organisierung einer griechischen Armee die Besetzung der festen Plätze des neuen Königreiches zu übernehmen.

Verschieden waren die Vorstellungen, die sich im allgemeinen über die Lage der Dinge und die Geschicke, denen die wackern Truppen entgegengingen, gebildet hatten; während manche für Land und Volk der Griechen höchlich eingenommen waren, hegten andere wieder ein ungünstiges Vorurteil und sagten sich: Was erwartet unsere Leute? Ein vom blutigen Empörungskriege verwüsteter Boden, halbwilde Bewohner mit ganz anderen Sitten und Charakteren, eine durchaus andere Lebensweise, Mühen, Entbehrungen und fürs erste nach langen Tagmärschen eine in rauher und stürmischer Jahreszeit zu bestehende Seefahrt! –

Bei der Mehrzahl der Ausrückenden jedoch, vorzugsweise bei den Offizieren, war ein großer Enthusiasmus für die Sache der so lang unterdrückten und nun befreiten Hellenen lebendig, alle beseelte überdies Pflichtgefühl und soldatischer Mut. Als die Kunde, daß ein bayrisches Korps die Bestimmung habe, den König Otto zu begleiten, und als die zur Expedition be 65stimmten Abteilungen bekannt wurden, traten viele der jüngeren Offiziere aus andern Regimentern in die hierzu befohlene Brigade ein, Soldaten, deren Dienstzeit zu Ende ging, ließen sich neu verpflichten oder drängten sich freiwillig zur Aufnahme. –

Seit Jahren war die Teilnahme für die Befreiung der Griechen vom türkischen Joch eine große gewesen; in ganz Europa galten ausgezeichnete und hervorragende Männer, in Bayern König Ludwig selbst, als begeisterte Philhellenen, aber auch für das alte, für dasjenige Griechenland, welches einst die Glanzepoche eines Blütenalters der Menschheit darstellte, auch für Hellas waren nicht wenige begeistert.

Unter diese zählte ein Verwandter meines elterlichen Hauses und älterer Freund des Studentenkreises, dem ich angehörte. Während wir Jüngern noch in der Oberklasse sehnlich dem Ende des Schuljahres und dem Übertritt an eine höhere Lehranstalt entgegensahen, war Eugen Falther bereits im zweiten Jahre Universitätsstudent. Er besuchte uns stets in den Ferien, nahm an unsern Kneipabenden teil und ging gern mit denjenigen von uns um, in denen er ein idealeres Wesen und Bestreben er 66kannte. Eine Narbe über seiner rechten Wange trug nicht wenig dazu bei, ihn zum Mittelpunkte von unser aller Verehrung zu machen.

Unser Freund teilte zwar nicht die Ansicht derjenigen, die in den Neu-Griechen echte Nachkommen der Miltiadesse und Demosthene sahen; er hatte Fallmerayers Geschichte von Morea gelesen und wußte, daß die jetzige Bevölkerung Griechenlands zum größten Teile aus byzantinischen Asiaten und eingewanderten Slaven bestand, ihn zog es nach den geheiligten Stätten des klassischen Altertums, nach den Gebirgen und Buchten Attilas und Arkadiens, jenen Schauplätzen der denkwürdigsten Thaten und Ereignisse, nach den Überresten der herrlichen Bauten, welche den Sturm der Jahrhunderte überdauert hatten.

Bisher fast ausschließlich archäologischen und geschichtlichen Studien zugewandt, hatte er sich noch für kein Berufsfach entschieden; jetzt ergriff er mit Freude die Gelegenheit, seinen heißesten Wunsch zu verwirklichen, das Land seiner Sehnsucht zu betreten. Er schloß sich einem Freiwilligenkorps an, das gleichzeitig mit den inländischen Bataillonen nach Griechenland abgehen sollte. Seine vielfachen, besonders sprachlichen Kenntnisse und der Einfluß 67 seines in Regierungskreisen hochangesehenen Vaters, der zwar nur ungern seine Einwilligung zu dem Vorhaben des Sohnes gab, erwarben ihm bald das Offizierspatent.

Überall war er um seines heitern und offenen Wesens, seiner unverwüstlich guten Laune willen, Eigenschaften, die sich schon in seinem angenehmen Äußern aussprachen, beliebt und gern gesehen; dennoch hatte er sich in voller Unabhängigkeit bewahrt, er war frei und ohne bindende Neigung geblieben, keines der hübschen Mädchen seiner Vaterstadt oder der Residenz hatte sein Herz besiegt. Scherzend hatte er vielmehr vor dem Ausmarsche uns Freunden erdichtete Schmachtbriefe und Elegien vorgelesen, welche er an die eine oder andere Schöne von Griechenland aus senden werde.

Wir lachten darüber, dachten uns aber, er hätte es nicht thun sollen; denn eine, das wußten wir, eine liebte ihn doch innig und würde ihm gewiß aufrichtige Thränen nachweinen. Ihn kümmerte das wenig; er ließ uns vielmehr über die Vorbereitungen staunen, die er, seine Reise zu nützen, getroffen hatte; er war über alles unterrichtet, kannte genau die topographischen, sozialen und politischen Verhältnisse des Landes, dem er seine Dienste 68 widmen wollte, er kannte die Wege, die Entfernungen, die Provinzen und Ortschaften, die Parteien des Landes und ihre Häupter, und vor allem wußte er jede mythologisch oder historisch merkwürdige Stelle, wußte jeden noch vorhandenen Überrest eines antiken Bauwerkes.

Die Bücher, die er auch immer mit sich zu führen beteuerte, waren Homer und Pausanias.

»Ich werde,« sprach er, »wohl unter den Griechen, wenn auch keinen Pylades, doch einen Freund finden, der mich auf Wanderungen und Forschertouren begleitet; wenn nicht, so werde ich auch allein mein Glück versuchen. Beneidet mich! welch wunderbare Stätten werd' ich sehen! Wären nur genügende Hilfsmittel mein, ich ließe ausgraben – welche Schätze wollt' ich da entdecken, um sie dem Licht und der Verehrung der Menschen wiederzugeben! Nun, Ihr sollt von mir hören.«

Der Tag des Abschiedes kam heran. Am Vorabende desselben nahm der alte Regierungsrat den Sohn auf sein Zimmer und sprach zu ihm:

»Ich habe dir eine Mitteilung zu machen, ein Geheimnis zu enthüllen, das dir nicht länger verschwiegen werden darf und am wenigsten jetzt, wo du von uns gehst und ein Land betreten wirst, das in naher Verbindung mit dieser Enthüllung steht.

Du hast noch einen Bruder, es lebt mir ein Sohn erster Ehe; ich sage, er lebt, obwohl ich dessen keine Gewißheit habe. Frühe schon zeigten sich an ihm Eigenschaften, die mich mit größter Besorgnis erfüllten; ach, sie haben sich bewahrheitet. Trotzig, hochfahrend, hartnäckig, immer nur seinem Kopfe folgend, keiner Ermahnungen achtend, stürzte er sich fort und fort in Unbesonnenheiten, verfeindete sich mit seinen Lehrern, dann, als er Militär wurde, mit seinen Vorgesetzten. Er kam weg, ließ sich in politische Umtriebe ein und mußte aus dem Lande, um der Untersuchung und dem Gefängnis zu entgehen.

Meinen Klagen über sein verwüstetes Leben hielt er den kränkenden Vorwurf entgegen, daß ich durch eine zweite Ehe ihn zum Paria gemacht, ihn verstoßen habe. Seine hierdurch vernachlässigte Erziehung sei an allem Übel schuld, auch an seinen Fehlern. Er werde sich nicht bessern – bessern! rief er und lachte wild auf. Das war unser letztes Begegnen.

Er wollte nach Amerika, nach Brasilien, ich hörte jedoch, er habe diesen Vorsatz nicht ausgeführt, sondern sich zunächst nach 70 dem südlichen Frankreich und dann nach Griechenland begeben. Solltest du dort seine Spur, vielleicht ihn selbst antreffen, achte sorglich und forsche ja genau, ob es ratsam ist, sich mit ihm einzulassen! Sein Einfluß ist unheilvoll, er ist der böse Dämon unserer Familie.« –

Eugen horchte hoch auf, er hatte, was er nie gewußt, einen Bruder, und dieser Bruder war ein verlorner Sohn! Widerstrebende Empfindungen durchwühlten seine Brust: er sollte ihn nicht lieben dürfen, ihn fliehen, ihn nicht einmal, wenn er ihn träfe als seinen Bruder anerkennen dürfen! Und gerade, daß er unglücklich war, und das war er ja gewiß, nahm so sehr für ihn ein, erregte so sehr das Mitgefühl und mehr noch die Verwandtschaft des Blutes. Dem Vater versprach er zwar alles und hatte auch den Vorsatz dazu; jedoch in seinem Innern ward etwas laut, was sich gegen den harten Befehl sträubte. Bald aber siegte seine angeborne Lebensfreudigkeit und drängte die beunruhigende Mitteilung in den Hintergrund.

Seinen Freunden hatte er beim Abschied baldige Nachricht versprochen, und er hielt Wort. Nicht vier Wochen waren verstrichen, so erhielten wir die ersten Briefe, die sämtlich von gleich gutem Mute 71 zeugten und in denen er mit Humor nach den Angelegenheiten in der Vaterstadt sich erkundigte. Keiner der Philister des Kasinos, keine Klatschbase war vergessen; aller war in so kennzeichnender Weise gedacht, daß wir wohl ersehen konnten, wie die Erinnerungen an »zu Hause« noch lebendig waren; freilich bildeten diese Erinnerungen das hauptsächlichste Thema der Gespräche zwischen den Kameraden und ihm, auf dem Marsche sowohl als im Quartier.

Es wurde spät im Dezember, als die Expedition von Triest aus unter Segel ging. Die Flotille, welche die bayrischen Truppen aufnahm, bestand aus 33 größtenteils griechischen gemieteten Segelschiffen und wurde von drei Kriegsschiffen der Großmächte begleitet, einer englischen, einer russischen Fregatte und einer französischen Korvette. Das Schiff, auf welchem sich Eugen befand, hieß Agamemnon.

»Also dem Führer Führer der Völker bin ich ganz besonders anvertraut,« schrieb er, »ich habe Zeit genug, den Homer zur Hand zu nehmen, die Fahrt geht sehr langsam, viel zu langsam für meine sehnlichen Wünsche! Oft mußten wir die Segel beilegen, um unbehilflicher Fahrende nachkommen zu lassen; bei der Insel Lissa lagen wir 72 zwei Tage still aus Mangel an Wind. Wie freue ich mich, Ithaka zu sehen! ich hoffe wenigstens, wir steuern nahe genug daran vorüber, und ich kann ein wenig hinüber grüßen. Armer Odysseus, zehn Jahre lang auf diesen wilden Gewässern herumgeschleudert zu werden! Aber wo bliebe alle Poesie, wenn du nicht wärest, geheimnisvoller Ozean mit deinen Nächten und Stürmen, Tiefen, Inseln und Klippen, den ewigen Anregungen des Mutes und der Phantasie! Einmal, denkt euch, traf mich der Kapitän über dem Lesen in der Odyssee – ›wenn Sie wollen,‹ versprach er mir, ›so fahren wir später in einem Boote nach einer der kleinen und gebirgigen Inseln des Archipelagus; dort sollen Sie dann die Bekanntschaft von Menschen machen, die den Schilderungen des Dichters heute noch entsprechen, die in ihrem Äußern den Typus der alten Hellenen bewahrt haben. So gänzlich ausgestorben, wie viele im Abendlande glauben, sind die alten Geschlechter noch nicht.‹

Ich willigte gern in sein Anerbieten. Er versprach mir, in Athen, wohin ich zuerst wollte, mich abzuholen und den besprochenen Ausflug mit mir zu unternehmen. Wir näherten uns nach einer 73 mehrtägigen, stürmischen Fahrt der Insel Corfu. Der Himmel heiterte sich auf, ein Wintertag im Süden, einer jener herrlichen, die von den alten Dichtern die halcyonischen genannt wurden, breitete sich vor uns aus. Wie mußte ich des prächtigen Gedichtes ›Archipelagus‹ von Hölderlin gedenken:

          ›Denn immer im Frühling,
Wenn den Lebenden sich das Herz erneut und die erste
Liebe den Menschen erwacht und goldener Zeiten Erinnerung,
Komm' ich zu dir und grüß' dich im stillen, dich Alter!‹

Ja, und wirklich zog es schon wie eine Ahnung des Frühlings über das tiefblaue Meer, und milder wehte es von den Gärten Corfus herüber. Wir landeten. Die Stadt selbst ist nicht gerade schön zu nennen, aber von der Esplanade des Hügels, wo die Festung steht, genießt man unter herrlichen Bäumen die Aussicht auf das Ionische Meer.

Immer tiefer und inniger leb' ich mich hinein in das Gedicht des Sängers von Chios. Hier ist seine Welt, und sie ist noch nicht ganz untergegangen; in der Natur ist sie noch lebendig.

Wie fremdartig und doch wie anziehend kommt mir immer die Stelle vor, wo die Sirenen zum Odysseus sagen:

74

›Denn wir wissen dir alles, wie viel in den Ebenen Trojas
Argos' Söhne und die Trojer vom Rat der Götter erduldet,
Alles, was irgend geschah auf der viel ernährenden Erde.‹

Alles zu wissen, ja das scheint auch damals schon sehr begehrt gewesen zu sein, wie hätten die Sirenen sonst damit zu verlocken gesucht? Wie sehr verstanden sie, was des Dulders Seele bewegte! Geht es doch manchmal auch mir so, gar zu gerne ließ ich mir verkünden, wie es euch ergeht, was euch bewegt. –

Aber ich weiß es ja, in einer der milden Nächte hat es mir das Rauschen des Meeres, die Schiffplanken anschlagend, vertraut – in den hohen Zirkeln der Vaterstadt wird Whist gespielt, und ihr, lieben Freunde, ihr begnügt euch mit einem Tarok. Die höhere Damenwelt ladet zu Theekränzchen ein, die bürgerliche Fraubasenschaft ratschlagt beim Kaffee, und ihr wieder, ihr singt und geigt eure Quartetten, sprecht vielleicht ein- oder das andere Mal über Politik, Litteratur, Moralphilosophie. Nicht wahr? Gewiß bin ich, daß ihr euch auch zuweilen ganz alte verschollene, vormeidingerische Anekdoten erzählt. Möchtet ihr doch auch das edle Schachspiel nicht versäumen, 75 das leg' ich euch ans Herz!

Ich habe Distichen auf unsere Schiffe gedichtet, viele nämlich tragen klassische Namen, als: Argo, Asträa, Medusa.

Apropos, bei euch ist jetzt Fasching, nun da wird doch der neue Doktor und der Assessor einige Bälle arrangiert haben? Wie wird Luise vor Freude an der Mama emporhüpfen, wie Minna sanft erröten! Hier auf dem Meere, weißt du, wer hier tanzt? Eine Schar von Delphinen, die neben unsern Schiffen sich tummeln, und ein paar Matrosen auf dem Deck, wozu ein dritter die Guitarre spielt. Ihr werdet auch einen Maskenzug veranstalten, ich könnte euch die prächtigsten Kostüme dazu schicken. Aber Geduld, Herz, deiner harrt Athen!« –

Der nächste Brief unseres Freundes war aus Nauplia datiert. Bei aller Vorliebe und Hingebung für den Odem der Vergangenheit, für die Größe der gewesenen, der antiken Welt, blieb Falthers Sinn Herz doch für die Eindrücke der Gegenwart gleich empfänglich, das sprach sich deutlich in den Mitteilungen aus, die er an uns von den Neuigkeiten des Tages vor seiner Landung und von der des Königs Otto in Nauplia gelangen ließ.

Mit lebhaften Farben und mit stolzem Patriotis 76mus, den man aus jeder Zeile herausfühlte, schilderte er den großartigen Moment der Ankunft des Königs, das Heransegeln der Flotille, dann zuerst den Empfang durch die im Hafen vor Anker liegenden Kriegsschiffe der Großmächte, hierauf die Bewillkommnung durch das am Ufer versammelte Volk. Die tausendstimmigen Hochrufe, der Donner der Kanonen, das Wehen der Flaggen und Wimpel übte eine begeisternde Wirkung auf alle, die Zeugen des großartigen Vorganges waren.

»Es war die Auferstehungsfeier eines Volkes, die Wiederaufnahme seines Lebens in die Geschichte und Kultur,« schrieb er. Vor allem erhebend war der Augenblick für die bayrischen Truppen, die, nun ihre beschwerliche Seefahrt überstanden, den jungen König, dessen Schutz und Begleitung sie bildeten, so enthusiastisch begrüßt sahen.

Mit Einbruch der Nacht war die Stadt beleuchtet, und weit hinein ins Land sah man auf den Bergen von Argos Freudenfeuer brennen.

Der Tag von Nauplia war ein schöner, glückverheißender gewesen; bald aber sprach eine weniger günstige Veränderung aus den Briefen Eugen Falthers. Mit dem Aufhören der Meerfahrt schien 77 seine heitere Stimmung verschwunden zu sein; eine tiefernste, fast melancholische Anschauung hatte sich seiner bemächtigt. Mit jedem Schritte weiter auf klassischem Boden nahm diese Gemütsrichtung zu – der Anblick der kahlen Gebirge, die fast baumlosen Ebenen und die Ruinen bedrückten ihn unsäglich.

Der junge Offizier hatte wenige Monate nach seiner Ankunft in Nauplia Urlaub erhalten und war über Epidaurus und Ägina nach Athen gereist. Von dort schrieb er:

»Obwohl ich darauf gefaßt war, überall Öde und Verwüstung zu finden, so befiel mich doch ein niederschmetterndes Weh, als ich diese Säulen, diese Mauern des Parthenon-, Zeus- und Theseustempels erblickte, so viele gestürzte, fast möcht' ich sagen, erniedrigte Reste des Schönsten und Erhabensten, was je auf Erden gestanden, was je ein Menschenauge beseligt und entzückt hat. Welche Größe und welcher Verfall! Spuren, welch eines Lebens voll Götterlust und Seelenhoheit und welch grausame Hand des Todes darüber! Unerbittliches Verhängnis!«

Ja, Fallmerayer hatte recht, als er die ewig denkwürdigen Worte schrieb:

»Mit gleicher Wut, wie durch geheimen Instinkt 78 getrieben, eilten Könige und auswärtige Nationen, diese geist- und lichtvoll organisierte Sektion des menschlichen Geschlechtes zu demütigen und zu unterdrücken, die Könige wollten die Schmach rächen, welche in alten Zeiten aus den griechischen Republiken über die Throne gekommen; die Nationen aber die Geistesüberlegenheit bestrafen, welche die Natur den Bewohnern Griechenlands vor den Völkern der übrigen Zonen als Erbteil überlassen zu haben scheint … so gefährlich ist es, selbst im Guten, das Gesetz der moralischen Gleichheit zu verletzen.«

»Goldene, ja eherne Worte, die verdienten, der Menschheit immer und immer wieder ins Gedächtnis gerufen zu werden,« fügte Eugen Falther in seinem Briefe hinzu – »ich werde täglich, stündlich an ihre Wahrheit gemahnt.«

Beinahe froh war er, als sein Urlaub zu Ende ging und er den Befehl erhielt, in Korinth mit seiner Abteilung zusammenzutreffen, um gemeinschaftlich mit einem Infanterie-Bataillon an die Nordgrenze zu marschieren, woselbst mannigfache Einfälle von türkischen Räubern und aufrührerischen Palikaren stattfanden. Denn viele der Häuptlinge, 79 welche den Guerillakrieg gegen die Türken geführt hatten, zeigten sich der neuen Ordnung der Dinge abhold und keineswegs geneigt, den Maßregeln der Regentschaft sich zu unterwerfen. Die Palikaren, diese aus den Freiheitskriegen emporgewachsenen unbändigen Parteiführer, setzten den Krieg, den sie gegen die Ungläubigen geführt hatten, nun gegen die ihnen fremden und lästigen Einrichtungen des neuen Königtums fort.

Daß seine kriegerische Thätigkeit auch nach dieser letzteren Richtung hin in Anspruch genommen werden sollte, trübte einigermaßen die Kampflust des jungen Ulanenlieutenants; sein Pflichtgefühl hieß ihn gehorchen; aber sein Inneres empörte sich, gegen Männer die Waffen zu ziehen, die er als Patrioten anerkennen mußte.

Der Kapitän, der ihn auf eine der Inseln zu führen versprochen hatte, war ihm nicht mehr begegnet, dagegen unternahm er an einem der letzten Tage, die er noch in Athen verweilte, einen Ausflug nach Salamis. Von einem Felsen der Insel aus übersah er die Bucht. Eben zog vom Vorgebirge Sunion ein Gewitter her. Eugen versetzte sich im Geiste in die Stunde der großen Seeschlacht; 80 er sah die gedrängte Flotte der Athener, ihr gegenüber die unzähligen Schiffe der Perser. In heißer Erwartung des Ausgangs pochten die Tausende tapferer Herzen und in der Stadt Athenes die der angstvollen Frauen.

Himmel und Erde schienen in dies Bangen über die Entscheidung mit hineingerissen, er vergegenwärtigte sich das so lebhaft, und er fuhr, wie aus einem Traume geweckt, auf, als jetzt der Blitz aus den schwarzen Wolken zuckte und ein ferner Donner folgte. Da war es ihm, als höre er vom Gebirge, wie damals, die Götter selbst zum Kampf heranstürmen, um ihrem Athen beizustehen.

»Äschylus,« rief er aus, »du Miterringer und Sänger dieses Sieges, dreimal sei dein Name gepriesen!«

Plötzlich vernahm er hinter sich eine Strophe aus den Persern mit sonorer Stimme vortragen, und als er sich umsah, stand ein Mann in seltsamer, halb fränkischer, halb asiatischer Kleidung vor ihm. Derselbe war von mehr als mittlerer Größe; sein schwermütiges Gesicht, in welchem die ursprünglichen Züge des Abendländers noch erkennbar waren, hatte einen Ausdruck von Wildheit und verriet einen an Sitte und Lebensweise des Morgenlandes Gewöhnten, einen Mann, der jahre 81lang im Kriegszustand und unter einem halb barbarischen Volke gelebt hatte. Lang fiel sein ehemals wohl blondes, jetzt gebräuntes Haar unter dem griechischen Fez auf breite Schultern, und der rotbraune Bart wallte bis auf die Brust herab. Den polnischen, ganz abgetragenen Überrock hielt eine rote Schärpe umgürtet, in welcher Säbel und Pistole staken. Seine Fußbekleidung bestand aus schlecht zusammengefügtem rohem Leder und bekundete hinreichend den herabgekommenen Zustand des Philhellenen; denn ein solcher war es, der vor Eugen Falther stand, und aus seinem Munde waren jene Verse des Äschylus gekommen.

»Sie nannten,« begann er mit mehr Anstand, als man nach seiner Erscheinung hätte vermuten sollen, »Sie nannten den furchtbarsten und gewaltigsten der alten Dichter! ja, der hat es gekannt, das Schicksal, wie keiner!«

Falther faßte bei diesen Worten sogleich Zutrauen zu dem Landsmanne – denn als solchen erkannte er ihn unverzüglich – er reichte ihm die Hand und lud ihn zu verweilen ein.

»Ich fürchte, Sie gestört zu haben,« entschuldigte sich der Fremde, »in solchen Augenblicken wird jede Unterbrechung unangenehm empfunden, aber ich konnte nicht damit zurückhalten.«

82 »Ich wüßte nicht eine angenehmere Überraschung, als die Rezitation einer Dichtung, die in diesem Moment berechtigter ist, als jedes andere Wort, und Sie mir um so willkommener erscheinen läßt. Ich bereue sehr, meinen Äschylus nicht mitgenommen zu haben – unverzeihlich ist es von mir! Hier wie nirgends ist der Ort, sich die gewaltigen Chöre zu wiederholen, jene klagenden, wie sie untertauchen in die Tiefe, übertönt vom Brausen der Flut und vom Jubel des Sieges.«

»Ich kann Ihnen aushelfen,« antwortete der Philhellene und zog aus der Seitentasche seines polnischen Rockes eine vergriffene Ausgabe des großen Tragikers.

»Ich danke!« entgegnete Falther. »Es ist doch hübsch, daß gerade hier klassische Bildung eine Annäherung vermittelt und wohl auch Liebe zur Dichtkunst, aber wie und wo kann ich Ihnen das Buch wieder zurückstellen?«

»Behalten Sie es als Angedenken unseres eigentümlichen Zusammentreffens, möge es Ihnen in den eintönigen Stunden Ihres Dienstes Erholung bringen!«

»Erholung?« rief Falther aus, »eine seltsame 83 Bezeichnung für die Macht, die ein großer Genius auf uns ausübt, – und doch, es ist wahr, worin läge mehr Erholung, als gerade im Erhabenen? Gern würde ich das Buch annehmen, aber ich fürchte, Sie vermissen es.«

»Nein,« beteuerte der Philhellene, »ich bedarf seiner nicht mehr, es würde mich nur an Stunden des Glückes erinnern, die vielleicht unwiderbringlich verloren sind. Aber – Sie können mir eine Gegengefälligkeit erweisen.«

»Gern, was ich kann! sprechen Sie.«

»Nehmen Sie mich als Ihren Diener an! Sie sehen, in welchem Zustande ich bin, ich hungere und bin völlig mittellos. Solchen Dank hatten wir. O, mit welchen Erwartungen, mit welcher Begeisterung kamen wir in dies Land und wie wurden wir enttäuscht! Seit vielen Jahren dienen wir Philhellenen; nun kommt ihr, und wir können gehen.«

»Ja, kommen Sie zu mir,« entgegnete Falther, »aber nicht als ein Diener, nein, als mein Reisegefährte, mein Landsmann!«

»Ich danke Ihnen und werde Ihnen nicht lange lästig fallen. Gewähren Sie mir Ihren Schutz bis an die Grenze, ich höre, Ihre Eskadron ist nach 84 Zeitun beordert, nur bis dorthin bitte ich Sie, mich mitzunehmen, nur bis an die Grenze.«

»Nur bis an die Grenze?« fragte der Offizier verwundert, »und was haben Sie weiter vor?«

»Dann gehe ich zu den Türken.«

»Wie, zu den Türken, die Sie bisher auf Leben und Tod bekämpften?«

»Ja, eben zu diesen, ich gehe zu Mehemed Ali nach Ägypten; da sind noch Aussichten, und da mich die Ägypter als Feind kennen gelernt haben, so werden sie mich wohl in ihren Dienst nehmen.«

»Sie trennen sich durch diesen Schritt für immer von Kultur und heimischer Sitte. Lassen Sie sich abraten! Muß es denn sein? Nur schwer wiegende Gründe können Sie dazu bestimmen.«

»Fragen Sie mich nicht, welches diese Gründe sind,« versetzte ruhig der Philhellene, »es kommt vielleicht noch eine Zeit, wo ich Ihnen meine Schicksale erzählen kann; für jetzt möge es Ihnen hinreichend sein, zu erfahren, daß ich mein Vaterland verließ, um hier der Sache der Befreiung zu dienen. Manches Treffen habe ich mitgemacht, habe große Entbehrungen ausgestanden, wie oft 85 dem Tod und zwar einem grausamen Tod ins Auge geblickt, nun, da der Sieg – allerdings nicht allein durch uns – errungen ward, wie werden wir belohnt! Nicht in dem Rang, den wir während des Freiheitskrieges einnahmen, gestattet man uns in die Armee zu treten! Wir, in selbständiger Führung einer Truppe geübt und des Landes kundig, wir sollen nunmehr Subalterndienste thun, andern, Unerfahrenen, nachstehen – das ist der Lohn für alle Kämpfe, Strapazen und Wunden! War schon das frühere Gouvernement undankbar, die Regentschaft ist es noch viel mehr. Wie gesagt, ich gehe zu den Türken.«

Falther sah den Sprecher etwas zweifelhaft an. Er wußte wohl, daß diese Männer, die ihre Heimat, oft auch eine Stellung dort aufgegeben und Gut und Blut dem griechischen Freiheitskampfe geweiht hatten, nicht immer so belohnt wurden, wie es ihre Tüchtigkeit und Aufopferung verdiente, aber er wußte auch, daß viele unter ihnen übermäßige Ansprüche machten, daß viele, an ein regelloses und abenteuerliches Leben gewöhnt, in die neuen, auf strengere Ordnung gerichteten Zustände nicht mehr paßten.

86 Und der vor ihm stand, schien einer dieser Unzufriedenen. Doch er hatte seine Zusage gegeben, seinen Schutz dem Unglücklichen angeboten, und er machte es sich zur Pflicht, die Zusage zu halten. Überdies flößte ihm Wals, so nannte sich der Philhellene, in seinem ganzen Wesen, seiner offenen, freien Sprache, dem kühnen Blicke seiner Augen, Teilnahme und Vertrauen ein.

So wiederholte er ihm denn mit Wort und Handschlag die Gewährung seines Wunsches.

Mit einem eigentümlichen Lächeln sah ihn Wals dabei an, halb Hohn, halb Freude sprach aus seinen Mienen, Erstaunen und Zweifel. –

»Wir gleichen uns eigentlich ein wenig,« sprach er, »finden Sie nicht auch?«

Falther bestätigte die Frage durch ein gleiches Erstaunen. Ein erschreckender Gedanke stieg in ihm auf. Wär' es möglich, der vor ihm wäre –

»Sehr ähnlich sehen wir uns,« wiederholte Wals, »wie ist Ihr Name?«

»Falther. Eugen Falther.«

»Ja wahrlich, es ist so,« rief der Philhellene, »wir sind Brüder!«

Überwältigt von der unleugbaren Gewißheit 87 wiederholte Eugen:

»Ja, es ist so! O, ich habe es gleich geahnt, lieber, unglücklicher Bruder!«

Die Liebe siegte, sie umarmten sich, und Thränen rannen über ihre Wangen.

»Die Eltern leben also? Ach laß mich nicht weiter fragen, du, nimm mich, wie ich bin! meine Vergangenheit sei dir keine Sorge, in Kampf und Mühsal bin ich ein anderer geworden!«

»Ich glaub' es dir und würd' es glauben, auch ohne dein Wort.«

»Und nun eins vor allem,« begann jetzt der ältere, »ich bleibe bei dir, aber wie es zwischen uns ausgemacht ist, als dein Diener, auch nenne du mich Wals, ich habe den Namen eines wackeren Wundarztes angenommen, der mir einst das Leben rettete.«

»Ich soll dich, den älteren, als meinen Diener behandeln? Mute mir das nicht zu!«

»Es muß so sein, schon aus Politik, und mir gilt es überdies als eine Sühne, die ich den Eltern schuldig bin und auch dir, denn ich betrachtete dich, den Nachgebornen, als Ursache meines Unglücks. Wie oft ruhte, wenn du dich in unschuldigem Spiele herumtriebst, mein Blick voll 88 Neid und Haß auf dir! Schlage mir diese Bitte nicht ab!«

»Einstweilen möge es sein,« entgegnete Eugen, »weil du so willst und weil vielleicht deine persönliche Sicherheit davon abhängt.«

   

An einem herrlichen Frühlingsmorgen verließen die Brüder Athen. Sie trafen in Megara das Kommando, zu welchem Eugen beordert war. Wals ließ es sich nicht nehmen, die Leistungen eines Dienenden pünktlich zu vollziehen. Eugen sah es mit Schmerz, fand aber, daß er sich nicht weigern dürfe, noch könne, da jener geschickt jede Gelegenheit zu vermeiden wußte, wodurch das Verhältnis hätte geändert werden können.

Nur einmal nahte sich ihm der ältere und sprach: »Wenn du nach Hause schreibst, erwähne meiner nicht.«

Eugen nickte: »Wie du willst.«

»Hat man öfters über mich zu dir gesprochen?«

»Der Vater am Vorabende meiner Abreise.«

»Sonst niemals?«

»Niemals.«

»Nun denn, es ist am besten so, du schreibst nichts von mir nach Hause.« –

Sie kamen auf ihrem Marsche nach Theben, das 89 aus einer einzigen Straße bestand, nach Livadia, dann über das Schlachtfeld von Chäronea und sahen da in Stücke zerbrochen den Löwen, den Philipp zum Andenken an seinen Sieg setzen ließ. Da die Zerstörung von vielen getadelt wurde – es war der Palikare Odysseus, der das Siegesdenkmal des Mazedonierkönigs zertrümmert hatte, – äußerte Falther zu seinem Bruder:

»Mir dünkt, es ist gleichgültig, ob dieser Löwe steht oder in Trümmern liegt. Wer erinnert sich nicht bei seinem Anblick mehr an den Todestrotz der heldenmütigen Thebaner, als an die Siegesstärke des mazedonischen Heeres?«

Ihr Weg führte sie nun weiter durch die Thermopylen an den Copaisee nach Zeitun. Hier wurde ein längerer Aufenthalt genommen.

Für die Zurückhaltung, womit sich sein Bruder gegen ihn benahm, entschädigte sich Eugen durch das Geschenk des Buches, das er von ihm erhalten hatte und das er stets bei sich trug. Äschylus ward ihm sein treuester Gefährte. Nach den Persern las er die Orestea, dann den Prometheus. Wie tief bewegten ihn diese Dramen!

»Wahrlich,« schrieb er uns, »dies ist nicht mehr die kindlich heitere Welt homerischer Gestalten, hier langt die Schuld mit eherner 90 Faust ins menschliche Bewußtsein, und ihr folgen die schlangenlockigen, bis zum Wahnsinn treibenden Eumeniden.«

Wie der Mensch gerne geneigt ist, vor den mächtigen Eindrücken der Poesie sein eigenes Thun strenger zu prüfen, strenger mit seiner Vergangenheit ins Gericht zu gehen, so geschah es auch jetzt mit Falther, und mehr als je zwang es ihn, vor seinem Gewissen Rechenschaft über die Beharrlichkeit abzulegen, womit er seinen Plan durchgesetzt, seiner Neigung in die Ferne gefolgt war. Es kam ihm vor, als habe er ein schweres Unrecht an denjenigen begangen, die er in Sorgen um sich zurückließ, denn besonders seiner betagten Mutter hatte der Abschied wehe gethan. Wie herzlos kam er sich jetzt vor, wie lieblos erschien ihm seine Handlungsweise! Er verglich sich mit seinem vielgeschmähten Bruder und mußte sich sagen, daß er als der stets Begünstigte tadelnswerter als jener sei. Das hatte er vorher nie so schwer empfunden.

Jetzt drängte sich ihm die Verantwortung für alle Folgen, die sein Fortgehen haben konnte, oft und öfter auf; es war ihm, als sähe er seine Mutter vor sich, wie sie ihn mahnte mit bitteren 91 Vorwürfen und unter Thränen, er möge zu ihr zurückkehren, sie fühle sich krank und wünsche vor ihrem Tode, ihn nochmals zu sehen.

Er suchte Zerstreuung, aber er fand da, wo er sie suchte, nur neues Unbehagen, neuen Grund zu innerem Zerwürfnis.

Einstmals saßen die Freiwilligen vor dem einzigen Kaffeehause, das es damals in Zeitun gab, und rauchten ihre Cigaretten. Das Gespräch kam bald auf die Angelegenheiten des Landes; jemand hatte die Nachricht gebracht, es seien die Palikaren, welche von den früheren Truppen in dieser Gegend zu Gefangenen gemacht wurden, in Missolunghi hingerichtet worden; es hätte sich aber im ganzen Lande niemand gefunden, um den Henkersdienst an ihnen zu verrichten, man mußte bei den Türken nachsuchen, und die schickten einen Neger.

Eugen äußerte sich unverhohlen dahin, dieser Umstand beweise, auf welche Seite das Rechtsgefühl des griechischen Volkes sich stelle, und er selbst finde, dieses Verweigern sei der Beweis einer hochherzigen Gesinnung.

»Das mag dahin gestellt bleiben,« nahm ein Major das Wort, ein alter Haudegen, der noch die napoleonischen Feldzüge nach Spanien und Rußland mitgemacht hatte, – 92 »so viel ist gewiß, daß diese Kerls zehnmal den Tod für ihre Räubereien und Grausamkeiten verdient haben!«

»Ja, sie haben Räubereien verübt,« erwiderte Falther, »notgedrungen, weil sie wie wilde Tiere gehetzt wurden, und Grausamkeiten allerdings gegen diejenigen, die ihnen als Verräter erschienen.«

»Man hatte ihnen Pardon angeboten und sie aufgefordert, sich der Regierung zu unterwerfen; da sie es nicht gethan, sind sie Rebellen und zwiefach des Todes schuldig.«

»Diese unbändigen Parteiführer,« warf der junge Mann hier wieder ein, »betrachten sich als die rechtmäßigen Erben des Befreiungskrieges, warum sollten sie sich Institutionen unterwerfen, die von der Diplomatie ihrem Lande aufgedrungen wurden, einer Ordnung der Dinge, die ihnen ebenso fremd, als lästig und verhaßt erscheinen muß?«

»Darüber zu kalkulieren,« wurde ihm entgegnet, »haben diese Herren kein Recht; niemals hätte sich Griechenland durch sich selbst befreit, so wie es in Parteiungen gerade dieser Anführer zerspalten war, wenn nicht Europa sich seiner angenommen hätte. Nun mag es auch die Strenge 93 der Hand fühlen, die ihm Rettung gebracht hat.«

Eugen wollte eben etwas erwidern, als ihn ein Blick seines Bruders traf und ein Wink, der ihn bat, sich nicht weiter zu äußern.

»Wär' es nicht klüger,« rief indes ein jüngerer Kamerad, »wir ließen die politischen Raisonnements und unterhielten uns über Liebesabenteuer, gewiß hat doch schon einer oder der andere von uns eines erlebt.«

»Nein, nein,« riefen die meisten, »aber du wahrscheinlich?«

»Nun ich streifte wenigstens daran,« nahm derselbe wieder das Wort.

»Erzähle!« bat man.

»Gut, wenn ihr Geduld habt, die unbedeutende Geschichte zu vernehmen, so hört:

Ich hatte mir die Zuneigung eines Türken erobert, die so weit ging, daß er mich einlud, eine Tasse Mokka mit ihm zu schlürfen und zwar in seinem eigenen Hause. Ich nahm an. Zur festgesetzten Stunde trafen wir uns, er führte mich richtig in seine von einem herrlichen Garten umgebene Wohnung. Ein betäubender Duft von Rosen strömte mir entgegen, auf dem Wege nach einer Art Veranda kamen wir an einem vergitterten Fenster vorüber, seitwärts davon stand eine Thüre offen und ließ den Blick 94 in ein Vorgemach streifen, mit Sofas ringsum an den Wänden, das mit herrlichen Teppichen belegt war. Auf einem dieser Teppiche lagen, nein, funkelten ein paar der niedlichsten Pantoffeln. Sie waren mit Perlen und Edelsteinen geschmückt. O, wie hübsch die waren! Sie schienen mir beseelt von den unsichtbaren, in meiner Phantasie aber leibhaft gewordenen blühenden Insassen. Ich bewunderte sie mit wahrer Schwärmerei und konnte mich nicht enthalten, einen in die Hand zu nehmen und den Namen zu küssen, der darauf eingestickt war. ›Amine,‹ wenn ich, der arabischen Schriftlichen nur wenig kundig, recht zu lesen verstand. Mein Freund, der Türke, nahm die Gefühle, die mich bewegten, sehr ungünstig auf, er sah mich mürrisch an und drängte mich fort. Seine Freundschaft hatte ich durch diese platonische Huldigung ein für allemal verscherzt.« –

»Ist das alles,« lachten die Kameraden, »das dein ganzes Abenteuer?«

»Wer ein pikanteres weiß, geb' es zum besten, vivat sequens,« rief der Erzähler aus.

Es meldete sich niemand. Eugen sah auf, und wieder begegnete er einem Blicke seines Bruders, der, seiner Dienerrolle getreu, sich in den Hintergrund 95 des Zimmers zurückgezogen hatte. Ein Blitz schoß aus seinen Augen, der eine mühsam unterdrückte innere Bewegung verriet. Er trat hervor und mit einer beinahe herausfordernden Stimme fragte er den jungen Rittmeister, wo das geschehen sei, was er eben erzählt habe.

»Wo, wollen Sie wissen?« gab ihm der Gefragte etwas unfreundlich zur Antwort – er hätte lieber gesagt, wie kannst du dich erfrechen, mich zu fragen? – »Wo« – wiederholte er gedehnt, »ich glaube, es war irgendwo in einem Nest auf Negroponte; aber der Türke, wenn Sie ihn allenfalls aufsuchen wollen, der ist längst nicht mehr in Griechenland, der ist nach Beirut gezogen.« –

Wals trat auf Eugen Falther zu, fragte ihn, ob er etwas zu befehlen habe, und entfernte sich.

Beim Nachhausegehen nahm der Major den jungen Ulanen bei Seite und flüsterte ihm zu:

»Kennen Sie diesen Wals schon länger? Haben Sie keinen Verdacht gegen ihn? Nehmen Sie sich wohl in acht, beobachten Sie ihn: ich habe Gründe, zu vermuten, daß er mit Tafil Bus in Verbindung steht, der stets Nachricht über unsere Bewegungen erhält.«

96 »Und weshalb soll es gerade Wals sein, der ihn benachrichtigt?« erlaubte sich Eugen einzuwenden.

»Wie gesagt, ich habe meine Gründe,« versetzte der Major. »Behalten Sie ihn scharf im Auge, Adieu!«

»Es ist nicht möglich,« sagte Eugen zu sich selbst, »es kann nicht sein, aber wodurch gab er Grund zum Verdachte? Ich muß der Sache auf die Spur kommen.«

Vergeblich.

Wals kam an diesem Abende nicht wie gewöhnlich, um gute Nacht zu sagen. Eugen rief, fragte nach, ihm – er war fort, er war verschwunden. Das erschreckte ihn. Gott, wenn es wahr wäre, was der Major gesagt hatte! Was er zu Hause über den Bruder hatte hören müssen, wäre ja nur Beleg für seine Schuld! Und er hatte ihn so lieb gewonnen! war nahe daran, zu hoffen, daß er ihn erheben, daß er ihn noch glücklich sehen werde!

Sich selbst machte er darüber Vorwürfe, daß er heut im Gespräche die Partei der Palikaren genommen hatte. War es denn zu leugnen, daß sie unmenschlich gehaust hatten! War die Regierung nicht gezwungen, sich ihrer um jeden Preis zu ent 97ledigen, mit unerbitterlicher Strenge gegen sie vorzugehen? Wie konnte er so thöricht sein, diese Ungeheuer zu entschuldigen, zu verteidigen?

»Ach,« schrieb er damals an die Freunde, »mir scheint, es liege seit einiger Zeit ein Fluch auf all meinem Denken und Thun, ich dränge mit Vorliebe nach Dingen, die mir widerstreben sollten. Ich glaube, daß ich sanft und weich von Natur bin, wie komm' ich dazu, mich auf Seite der Wildheit und Barbarei zu stellen? Sonst war ich froh und heiter gesinnt, nun folg' ich einem dämonischen Zuge nach dem Düstern und Unheimlichen und allem, was, wenn es mächtig würde, mein Verderben wäre. Ich stelle mich bloß und vereinsame. Und dennoch, wie verführerisch ist dies Alleinstehen, dies Beharren auf sich selbst, der trotzige Stolz gegenüber den alltäglichen Urteilen, die meist nur gedankenlose Vorurteile sind! Mißkennet mich nicht, liebe Freunde, eine Veränderung geht in mir vor, das fühle ich – wohin ich gelange, wenn die Krisis überstanden, wer weiß es? Lebt wohl, vielleicht auf Wiedersehen – vielleicht!«


98

II.

Mit solchen Bekenntnissen schloß einer der letzten Briefe unseres Freundes. Ich hebe nun aus seinen späteren nicht mehr einzelne Stellen hervor, sondern es folgt das Weitere seiner Schicksale in fortlaufender Erzählung, zum Teil aus andern Aufzeichnungen von ihm, aus seinen Tagebüchern, zum Teil aus Mitteilungen von solchen, die in dienstlicher oder freundschaftlicher Beziehung ihm nahe standen.

So viel scheint aus allem hervorzugehen, daß der Zwiespalt zwischen dem Pflichtgefühl und seiner moralischen Weltanschauung, wie er es nannte, immer tiefere Furchen in seinem Gemüte zog. Tausendmal wünschte er sich, endlich einem der Feinde gegenüber zu stehen, mit ihm sich auf Leben und Tod zu messen; das allein hielt er für einen ehrenvollen Ausgleich der in ihm sich bekämpfenden sittlichen Mächte.

Die Entfernung seines Bruders, die nur zu sehr den allerschlimmsten Argwohn rechtfertigte, trug nicht dazu bei, seine Zweifel an allem, sein Mißtrauen und seine Menschenscheu zu versöhnen, und 99 so kam es, daß er sich mehr und mehr von allem Umgang zurückzog, und so oft es sein Dienst erlaubte, ganz allein die Gegend durchstreifte. –

Eines Abends gelangte er, träumerisch auf seinem Pferde dahintrabend, in eine Schlucht, die auf ein Thalbecken mündete, in dessen Mitte sich ein Hügel erhob, den andere kegelförmige und seltsam gezackte Felsen umgaben. Nach einer Seite hin mußte von oben die Aussicht frei sein und in der Ferne das Meer erblicken lassen. Er bemerkte, daß den Hügel altes Mauerwerk kröne, es schien von nicht geringem Umfange zu sein, jedoch nur wenig über die Oberfläche des Bodens erhoben.

Er ritt den steilen und beschwerlichen Pfad hinan und sah vor sich die Reste eines antiken Theaters. Glücklich über die Entdeckung, spornte er sein Pferd und gelangte über Stein und Gestrüpp in das Innere. Bis auf die Sitzreihen und Umfassungsmauern war alles zerstört. Deutlich erkennbar war noch die Bühne, aber von herabgestürzten Pfeilern und anderem Mauerwerk überdeckt. Tiefe Stille herrschte. Kaum ließ ihr einförmiges Lied hie und da eine Cicade vernehmen.

Hier also, sagte sich Eugen, hier war es, dies war die heilige Stätte, 100 auf welcher die furchtbaren Vorwürfe der griechischen Tragödie den Zuschauern vergegenwärtigt wurden. Hier raste der blutige Bruderzwist des Eteokles und Polynices. Hier wurden die Jammerrufe und Todesschreie Kassandras und Klytämnestras, die Klagen Hekubas gehört, hier wurde Antigone verurteilt, lebendig begraben zu werden. Alle dunklen Greuel und Schrecken, die den Menschen erreichen können, wurden hier dem ohnmächtigen Menschengeschlecht, das ja vergebens gegen das Verhängnis ankämpft, leibhaft und unerbittlich vor Augen gebracht, und eine trostlose Weisheit, die der blinden Ergebung in das Unvermeidliche, begleitete das herzzerreißende Schauspiel.

Der junge Ulane band sein Pferd an einen der mächtigen Bäume, die zwischen den Ruinen aufgewachsen waren, und maß schrittweise die Länge und Breite des Bühnenraumes ab. An dem einen Ende des Halbkreises war ein höhlenartiger Eingang zu bemerken, vielleicht führt er, dachte Eugen, zu der Treppe, nach der Tiefe, zu der, auf welcher die Schatten emporstiegen. Möglicherweise konnte hier etwas zu finden sein, ein antikes Relief – er versuchte mit seinem Säbel den Schutt 101 wegzuräumen, da schoß plötzlich vor ihm eine Schlange pfeilgerade in die Höhe, zischend und ihn mit den zornfunkelnden Augen bedrohend. Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück, zog aber gleich darauf seine Waffe, um ihr den Kopf zu spalten, als sie ebenso rasch niedertauchte und verschwunden war.

»Sie hat recht,« sagte der Reiter zu sich, »sie hütet den Abgrund, in den eine vergangene Zeit hinabgesunken ist, mit all seinen Schauern. Wehe dem, der sich diesen Schauern zu nahen und sie in die Helle unseres Daseins heraufzubeschwören wagt!«

Ein unheimliches Grausen befiel ihn und fesselte ihn zugleich an den einsamen Ort. Wie? hatte er sich wirklich zu weit dem Reiche der Schatten genähert und ihre unsichtbaren Arme umspannten ihn und hielten ihn fest? –

Schon war die Sonne hinter den Bergen hinab. Mächtig ergriff ihn der Anblick der dunkelnden Felsen umher, die unbewaldet und unbewohnt, starr und einsam in den noch abendhell erleuchteten Horizont emporragten. Es erwachte in ihm ein Verlangen, sich das Bild der hier gewesenen Zeit recht 102 lebhaft vorzustellen, sich ganz in die Scenen eines Schauspieles, wie es hier aufgeführt wurde, hineinzubetrachten, vor seinem Geiste die tragischen Vorgänge aufleben zu lassen, und wunderbar – es geschah. Zwar nur auf einen Augenblick, ein Phantasieblitz nur, ein hellsehender Moment zeigte ihm jetzt leibhaft die übermenschlichen Gestalten der antiken Tragödie, ihre grotesken Masken, die schweren Gewande; er sah und glaubte zugleich auch den herzerschütternden Gesang des Chors zu vernehmen; aber so rasch, wie das Bild entstanden, war es wieder verschwunden, was seine Augen so täuschend wirklich gesehen, war dahin.

Nicht so der Gesang. In der That, dieser Gesang verstummte nicht, das war keine Täuschung, langsam, eintönig hoben und senkten sich die Rhythmen eines Klagegesanges, deutlicher und näher drangen die fremdartigen Melodien an sein Ohr. Und wie er horchte und sie deutlicher unterschied, so wurden auch Worte vernehmbar. Es war wirklich ein Klaggesang um einen toten Helden. Doch nicht die antike Sprache war es, in der gesungen wurde, es waren neugriechische Worte, und Stimmen von Frauen klangen zwischen die tieferen der Männer. –

103 So viel er hören konnte, lautete das Lied ungefähr so:

»Nicht durch der Feinde Kugeln, nicht durch das Schwert bist du gefallen – nicht auf dem Schlachtfeld, wo die Tapfern sterben.

Nennet nicht seinen Tod, nicht den Ort – blicket nicht hin, wenn ihr vorübergeht. – Rächet ihn!«

Hierauf antwortete eine Gegenstrophe:

»Dürft ihr ihn rächen – fiel er nicht, ein Opfer für euch, für uns alle, für die Freiheit! – Beten wollen wir, betet!« –

Dann klangen wieder die Stimmen der Männer vor:

»Rächen wollen wir, wir sind seine Brüder! Adler, die ihr über die Berge kommt, was bringt ihr? Wir bringen in der Totenstille die Rache.«

Der Gesang verstummte.

Falther konnte nicht in Zweifel sein, daß er sich in großer Gefahr befinde, daß ihm, wenn er bemerkt würde, das Schlimmste bevorstehe. Offenbar waren hier die Verwandten eines der hingerichteten Palikaren zusammengekommen, und ihr Ruf nach Rache war nicht mißzuverstehen.

Seine ersten Gedanken waren 104 sein Pferd und seine Waffen. Er war entschlossen, sein Leben teuer zu verkaufen. Bei seinen eben angestellten Nachforschungen war er glücklicherweise wieder dem Baume nahe gekommen, an dem er sein Tier angebunden hatte; er schwang sich in den Sattel, zog seinen Säbel und ritt dem Ausgange des Amphitheaters zu.

Der Stille, die nun eingetreten, folgte das Summen und Murmeln einer erregten Volksmenge; – war man seiner Anwesenheit gewahr geworden und bereitete einen Schlag gegen ihn vor?

Er war gefaßt, das Äußerste zu bestehen, Mut und Geistesgegenwart verließen ihn nicht, waren vielmehr nur stärker und intensiver in ihm rege.

Aber wie ward ihm, als er aus dem Schatten der Mauer herausritt und in die Helle des eben aufgehenden Mondes kam! Er sah vor sich eine Schar silberbärtiger Greise und schwarzverschleierter Frauengestalten regungslos daknieen. Der vorderste der Greise hielt ein großes hölzernes Kreuz in den Händen, wie eine Standarte. Niemand rührte sich, keines der Knieenden sah auf – sie lagen auf ihren Knieen, wie Versteinerte.

Nur eine der Gestalten fuhr bei seinem Nahen empor, die bei ihm zunächst 105 kniete, der Huf seines Pferdes hatte ihr Kleid gestreift, sie richtete sich erschrocken auf, und bei der heftigen Bewegung wallte der Schleier etwas zurück. Ein Mädchenantlitz von antiker Form sah verwundert zu ihm auf, auch ihn fesselte das Antlitz – aber sie, schneller sich fassend, wandte blitzschnell das Gesicht ab, ohne durch ein Wort oder eine Miene zu verraten, daß sie in ihrer Andacht gestört worden. Alle andern ebenso. Waren sie derart in ihre Anbetung vertieft, oder wollten sie ihn nicht sehen?

Besonnenheit sagte ihm, daß es am besten sei, diese ihm so günstige Situation zu benutzen; er ritt daher langsam und, als würde er sie gar nicht gewahr, an den Betenden vorüber. Noch war er nicht weit weg, als der Gesang aufs neue begann, lauter und, wie es ihm vorkam, drohender als vorher.

Sollten sie jetzt erst sich erinnern, daß ein Feind in ihrer Gewalt gewesen? Was sollte er thun? Sein Pferd zu rascher Flucht spornen oder gerade durch furchtlose Haltung einen Angriff abwenden?

Er befand sich bereits wieder in der Schlucht, und die Mondhelle war einer tiefen Dunkelheit gewichen, es war so finster, daß er keinen Schritt 106 weit vor sich sah, auch das Pferd benahm sich ungeduldig und scheu.

Indem er eben fester seinen Säbelgriff umfaßte, fühlte er seine Hand gehalten, und hart neben ihm sprach eine Stimme:

»Fürchte nichts, ich bin's.«

»Du? O Himmel, wie kommt das? Warum suchst du mich hier?«

»Nur um dir mit ein paar Worten Lebewohl zu sagen und dich über mein plötzliches Verschwinden aufzuklären. Ich weiß, man hatte mich im Verdacht, mit Tafil Bus in Verbindung zu stehen.«

»Und dein Entfernen,« fiel ihm Falther ins Wort, »war nicht geeignet, diesen Verdacht zu verscheuchen.«

»Das dachte ich wohl, doch geb' ich dir mein Wort, daß man mir unrecht gethan. Konnte ich es aber darauf ankommen lassen, daß dein Vorgesetzter mich ins Verhör nahm, mich verhaften ließ und allenfalls zu weiterer Untersuchung auf eine Festung schickte? Dem konnte ich mich nicht aussetzen, heute nacht überschreite ich die Grenze.«

»Also wirklich steht dein Vorsatz unabänderlich?«

»Das Ziel meines Weges ist Konstantinopel, jede Verzögerung bringt mir tötliche Qual.«

107 »Ich verstehe dich nicht.«

»Du sollst alles erfahren, auch die Gründe, die mich bewegen. Du magst mich dann verdammen, verabscheuen – nein, das nie! – aber nicht ohne Mitleid wirst du dich in Zukunft des Bruders erinnern, den du am Ufer von Salamis gefunden, um ihn so bald wieder zu verlieren! Gönne mir noch einige Minuten vor unserm Abschiede!«

Falther stieg vom Pferde, hing den Zügel um seinen Arm und folgte dem Bruder, der ihn nach einem in Felsen gehauenen Ruheplatze seitwärts vom Wege führte. Hier nahmen sie Rast, und der ältere begann:

»Kurze Zeit bevor die Großmächte Griechenlands Unabhängigkeit aussprachen und die Türken sich zurückzuziehen begannen, führten wir Philhellenen in Gemeinschaft mit einigen der Palikaren, welche Kalokotroni befehligte, einen Handstreich aus; wir überrumpelten eine kleine Festung, die von den Türken nur schwach besetzt und schlecht bewacht war. Die Besatzung wurde niedergehauen, zum größten Teil auch die Einwohnerschaft; Frauen und Kinder machte man zu Gefangenen, in der Absicht, für sie Lösegeld zu erhalten. Die Konsuln von Frankreich, 108 England und Österreich kauften nämlich Gefangene los und brachten sie nach Smyrna, wo reiche Türken einen Fond gegründet hatten, um die Gefangenen von den Konsuln gegen Erstattung der Auslagen einzulösen und weiter für sie zu sorgen.

Was nun in der eroberten Festung an Gold und Kostbarkeiten vorhanden war, behielten die Anführer der Griechen für sich, uns Franken teilte man weibliche Gefangene zu, die wir zugleich für den rückständigen Gehalt, den man uns nicht auszahlen konnte, annehmen mußten. In Athen konnte dann bei den Konsuln, wer seine Gefangene dahin brachte, die Summe erheben.

Viele waren es zufrieden, denn die Türkinnen ergaben sich mit jenem, den Orientalen eigenen Fatalismus und wohl auch, weil sie weniger roh von uns behandelt zu werden hofften, gern in ihr Schicksal und waren voll Zärtlichkeit und Liebkosung für ihre neuen Gebieter. Mich ließen diese bedauernswerten Geschöpfe, denen es, wie mir schien, an jeder Bildung des Herzens und Geistes mangelte, sehr gleichgültig; körperliche Vorzüge ohne die der Seele hatten keinen Reiz für mich.

Die mir zugeteilte Türkin Amine war noch sehr jung und unterschied sich vorteilhaft von ihren 109 Schicksalsgenossinnen dadurch, daß sie tiefbetrübt über ihr trauriges Los war und stets den im Kampfe gebliebenen Vater, der vor ihren Augen getötet worden war, beweinte. Ich machte mich mit ihr auf den Weg nach Athen. Obwohl ich mich schon einen Tag lang in ihrem Besitze sah, hatte ich sie doch nicht einmal aufgefordert, sich zu entschleiern. Als es geschah, blickte ich nicht ohne Rührung in die kindlichen Züge einer eben aufblühenden seltenen Schönheit.

Ich zog mich eilig, fast erschrocken zurück und überließ ihr die einzige Schlafstelle des Hauses, in welchem wir übernachteten. In meinen Waffen schlief ich vor der Thüre ihres Gemaches auf bloßem Boden. Da gingen die seltsamsten Empfindungen durch meine Brust; aber nie, wie damals, mit gleicher Begeisterung, wiederholte ich mir die großartigsten und erhabensten Stellen aus unserem Dichter.

Als ich um Tagesanbruch meine Gefährtin weckte, geschah es mit einiger Scheu und Zurückhaltung, ich wagte nicht recht, zu ihr aufzublicken. Mein Eifer, ihr auf dem Wege gefällig zu sein, war übrigens um vieles lebendiger geworden; frisches Wasser aus dem Felsquell für sie zu holen, Blumen, auf die 110 sie hinwies, oder die kühlende Frucht vom Granatbaum ihr zu bringen, war ich unermüdlich.

Aber mir bangte vor der nächsten Nacht und schon sank die Sonne, und wir hatten noch kein bewohntes Dorf gefunden, nichts als zerstörte, abschreckende Reste von Häusern, vor deren Anblick meine Begleiterin zurückschauderte. Wir versuchten es, weiter zu reisen, immer in der Hoffnung, ein passendes Obdach zu finden; aber ungeahnt schnell ging die Dämmerung in Dunkelheit über, so daß wir genötigt waren, unser Lager im Freien aufzuschlagen.

Die Lüfte waren mild und warm, wir ließen uns unter dem blühenden Laubdache eines Orangenhaines nieder; ich breitete ihr meine Decken aus und hatte die Freude, das liebliche Geschöpf bald in Schlummer eingewiegt zu sehen; umduftet von den Wohlgerüchen der Blüten, schlief sie sorglos zu meinen Füßen. Die Sterne glänzten in unvergleichlicher Helle, ich beugte mich nieder, ich umschloß Amine mit den Armen und preßte meine brennenden Lippen auf ihren jungfräulichen Mund. Sie erwachte, sie sprang auf, ach, sie sah mich an mit so bittender, so überaus schmerzlicher Gebärde und sprach:

›Hattest du bisher Schonung mit 111 meiner Trauer nur geheuchelt und zeigst dich jetzt auch wie die andern? Sieh, an diesen Kleidern trocknet noch meines Vaters Blut. O mein Beschützer, warum weckst du meine Klagen wieder auf, meine bittern Thränen wieder? Ja es ist wahr, ich bin deine Sklavin; aber du schienest mir edel!‹

Ich hörte diese Worte, ohne etwas erwidern zu können. Mitleid und Leidenschaft kämpften in meiner Brust, ich weiß nicht, ob ich nicht der letztern Gewalt erlegen wäre, aber meine Aufmerksamkeit wurde plötzlich nach anderer Richtung hingelenkt. Ich hörte die Pferde unruhig werden, und meine Erfahrung sagte mir, daß Schakale in der Nähe sein mußten. Ich eilte daher rasch zu den Bedrohten, die ängstlich schnaubten und sich loszureißen versuchten, und indem ich mein Gewehr nach der Seite hin abfeuerte, wo ich das Herannahen einer der Bestien wahrzunehmen glaubte, befreite ich mich zugleich von äußerer und innerer Gefahr. Ich wurde ruhig, meine Besonnenheit kehrte zurück, ich blieb bis zur Morgenfrühe auf Wache.

Des nächsten Tages erreichten wir Athen. Alle Mittel, um weiter für mich und Amine zu sorgen, waren erschöpft: ich hatte nichts mehr, um noch eine weitere Nacht 112 unsern Lebensbedarf zu beschaffen; ihre fortwährende Traurigkeit, ihr scheues Benehmen gegen mich verletzte meinen Stolz; einige Beschämung, mein früherer Leichtsinn und meine Abenteuerlust, all das veranlaßte mich, die Schutzbefohlene ohne Zögern an einen der Konsuln gegen Ausbezahlung meines rückständigen Gehaltes zu überliefern. Sie sollte, bis eine Schiffsgelegenheit nach Konstantinopel sich ergebe, in einem Kloster untergebracht werden. –

Jetzt, da wir uns trennen mußten, wurde mir der Abschied doch schwerer, als ich geglaubt hatte. Das Mädchen aber vergaß alles um sich her: ihre Liebe zu mir, die sie bis dahin keusch in sich verschlossen hatte, brach rückhaltlos zu Tage, sie stürzte sich in meine Arme, umfing mich mit heißen Thränen und überhäufte mich mit Küssen.

Ich mußte mich von ihr losreißen, ich hatte sie ja verkauft, und nichts mehr konnte unser Schicksal ändern. War ich aber standhaft im Augenblicke der Trennung, so verließ mich alle Kraft, nachdem sie mir entrissen war. Ich litt, was nur ein Menschenherz erleiden kann; in schlaflosen Nächten und verzweiflungsvollen Tagen irrte ich, wie ein Rasender, umher.

Endlich faßte ich den Entschluß, sie noch einmal zu sehen, sie, 113 wenn sie einwilligte, zu entführen, mit ihr zu sterben; denn ohne sie zu leben schien mir unmöglich. Endlich gelang es mir, in dem Kloster Zutritt zu erlangen: ich erfuhr, daß sie bereits abgereist sei. War es wahr, oder hielt man sie absichtlich zurück?

Ich stürzte mich aufs neue in Kämpfe; noch gab es Gelegenheit, dort den Tod zu suchen. Ich blieb verschont. Als es aber nun Friede ward, erwachte die schmerzliche Erinnerung an die Geliebte aufs neue mit unwiderstehlicher Gewalt. Ich erfuhr, daß sie wirklich nach der Türkei zurückgekehrt war. Bei der Erzählung deines Kameraden – war es nur ein Zufall, daß er ihren Namen aussprach? – durchfuhr es mich wie ein Blitz. Jetzt weißt du, weshalb ich dort hinübergehe.

Tafil Bus ist nur meine erste Station auf dem Wege nach Konstantinopel. Und nun laß uns scheiden! Habe Dank für deine Liebe, sie war ein schöner Lichtstrahl in meinem verhängnisdunklen Leben. So oft du in unsern Äschylus blickst, gedenke mein!«

»Armer, unglücklicher Bruder,« rief Eugen, »mögest du deinen sehnlichen Wunsch erreichen, dann aber vollende unser Glück und komme wieder, komme zu mir! Wir wollen dann beide ...«

114 »Nein, ich weiß, was du sagen willst, für mich giebt es keine Umkehr, keine Heimkehr. Wege, wie die meinen, führen nie wieder zurück.«

Sie schieden unter Thränen. Rasch klomm der eine den Berghang hinan, der andere bestieg sein Pferd und sprengte davon.

   

In der Gesellschaft schwieg Eugen über sein nochmaliges Zusammentreffen mit Wals; er trat aber aufs schroffste jedem entgegen, der einen Zweifel in dessen Charakter setzte, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß bald niemand mehr ihm gegenüber sich äußerte und die Angelegenheit in Vergessenheit kam.

Um so lauter machte bald darauf Tafil Bus seinen Namen wieder ruchbar; er erschien unvermutet ganz in der Nähe, und man erfuhr, daß er sich nach dem Süden zu wenden beabsichtige. Zu diesem Zweck mußte er ein Stück griechischen Territoriums durchziehen. Da wollte man ihn abfassen.

Die Eskadron Ulanen und einige Kompagnien der Freiwilligen wurden zur Streife gegen ihn aufgeboten. Man mußte einen Teil des Agraphagebirges übersteigen, der Zug ging auf engen und schmalen Fußpfaden, oft den tiefsten Abgründen 115 entlang, steil hinauf und ebenso steil wieder hinab. Obwohl die Reiter absitzen mußten und ihre Pferde führten, so stürzte doch ein oder das andere in die Tiefe und wurde nur mit Mühe und schwer verletzt wieder heraufgebracht. Die deutschen Pferde, mit denen die Truppe beritten war, zeigten sich für solche Wege nicht tauglich genug.

Was für die Beschwerlichkeiten entschädigte, waren die herrlichen Waldungen, die man durchritt, Weiden, Oleandergebüsche mit ihren roten Blüten in Fülle, Platanen, Edelkastanien prangten überall in voller Kraft und mit dem eigenen reichen Ausdruck des südlichen Pflanzenwuchses. Die Blumen hauchten Wohlgerüche aus, große Schmetterlinge wiegten sich auf den Blüten, und ein Wasser von der erwünschtesten Frische belebte die Kraft und den Mut der Reiter.

Manchmal hörte man das deutsche Lied erschallen:

»Morgenrot, Morgenrot –
Leuchtest mir zu frühem Tod.«

Es wäre beinahe für Falther zur Wahrheit geworden. Man hoffte, Tafil Bus vom Rückzüge ins türkische Gebiet abzuschneiden, und er, sonst so 116 gut über die Bewegungen seiner Verfolger unterrichtet, schien diesmal seinem Schicksale nicht mehr entrinnen zu sollen. Er war bereits umgangen und genötigt, um sich den Ausweg zu bahnen, ein Treffen anzunehmen. Es kam zu einem Gefecht, in welchem es beiderseits Verwundete und Tote gab.

Eugen Falther, der sich durch kühne Tapferkeit auszeichnete, setzte einem der Räuber nach, in welchem er, da derselbe nicht, wie die andern, einen Fez, sondern einen Turban trug, den gefürchteten Tafil Bus selbst vermutete. Sein Eifer befeuerte die Schützen, die zu beiden Seiten des Weges mit ihm voranstürmten und ein lebhaftes Feuer unterhielten.

Schon war es ihm geglückt, dem Fliehenden näher und näher zu kommen, schon hoffte er ihn zum persönlichen Kampfe zu stellen, als der Türke schnell einen steilen Fußpfad einschlug, auf dem ihm, wie vorauszusehen war, der Deutsche nicht mehr folgen konnte. Dieser hob daher die Pistole, um den Feind wenigstens zu verwunden und zum Gefangenen zu machen; aber in dem Augenblick, da er zielte, streckte sich seitwärts über dem Wege, hinter einem Felsblock, eines der langen türkischen Gewehre hervor, und eine wohlgezielte Kugel traf 117 auch ihn. Er hatte eben losgedrückt und noch die Genugthuung, indem er vom Pferde sank, auch seinen Gegner aus dem Sattel stürzen zu sehen. Es war nur ein Moment, diese Katastrophe.

Seine Reiter hoben ihn auf, und als er nach einiger Zeit aus der ersten Betäubung erwachte, fand er sich auf einer Tragbahre, auf einer ebensolchen neben sich sah er einen Schwerverwundeten, den vermeintlichen Tafil Bus. Es war aber ein anderer, und der reichte ihm die Hand herüber und sprach:

»Nein, es war nicht deine Kugel, Bruder! Nun ist mir der Weg zu ihr abgekürzt, drüben werde ich Amine wiedersehen.«

Eugen starrte ihn sprachlos an, die Sinne vergingen ihm, überwältigt von Schmerz und der Verzweiflung erliegend, sank er zurück. Seine Truppen brachten ihn nach dem nächsten Dorfe in das Haus des Popen.

Nach langen Wochen in sorgfältiger ärztlicher Behandlung genas er; das heftige Wundfieber hatte in seinem Geiste den Eindruck des letzten zermalmenden Schlages verwischt. Allmählich mit der Genesung kam auch die Erinnerung wieder. Dann erschien ihm das Dasein so wertlos, so abscheulich, 118 so entsetzlich, daß er mehr als einmal den Verband sich abriß, um den Tod herbeizuführen. Es sollte ihm nicht gelingen; Ohnmacht und Blutverlust waren stärker als sein selbstmörderischer Wille, und eine sorgsame Hüterin des Kranken rief jedesmal noch rechtzeitig den Arzt zu Hilfe.

Einst als der Verwundete aus seinem schlafähnlichen Zustande erwachte, bemerkte er, daß durch das Fenster zwei dunkle und teilnehmende Gazellenaugen ihn beobachteten. Es war die Tochter des Popen, die ihn während des heftigen Fiebers gepflegt, ihm die kühlenden Arzneimittel gereicht hatte. Sein Erwachen verscheuchte sie; er hatte sie aber doch wieder erkannt: es war jenes Mädchen, das er in den Ruinen des alten Theaters damals gesehen hatte, als jener, an die Alten ihn mahnende Klaggesang ertönt war. Die dunklen Mächte, die seit jenem Abend ihn umschlungen hielten, schienen mit ihrem Anblick wohl wieder ihm näher getreten zu sein; aber in milderer, fast versöhnender Gestalt.

   

Nach langer Zeit öffnete er wieder in einem Briefe den Freunden in der Heimat sein Herz; in dem ersten, den er nach seiner Herstellung schrieb, hieß es:

»Es werden Fragen in mir rege, Fragen 119 nach dem Lose des Menschengeschlechtes, denen ich mich nicht mehr entreißen kann, die mich tiefer und tiefer in die Rätsel des Daseins hinabgeleiten, oder soll ich, darf ich schon sagen, in sie einweihen? Oft scheint es mir, daß die große Masse der Sterblichen in mittlerer Ruhe so dahinlebt; einige aber dazu auserkoren seien, alles Ungeheure zu erfahren, alles Leid und die furchtbarsten Qualen der Seele zu erdulden. Und diese sind vielleicht die Pfeiler des großen Baues der Menschheit. –

In den furchtbaren Zuckungen des Prometheus rast nicht nur er selbst, es ist, als ob auch die Naturkräfte Blut und Sehnen hätten und mitbebten und schäumten in Schreck und Zorn und ausriefen: So groß ist der Mensch und zu so großem Elend ist er geboren!

In den Träumen meines Wundfiebers verfolgte mich dieser Gedanke – ich sah eine Legion mächtiger Geister in immer neuen Formen des Menschenlebens den großen Empörungskrieg gegen die Weltordnung, wie sie schlecht genug bestellt ist, ringen und sah sie unterliegen und zu gräßlichen Strafen verdammt; aber immer wieder auftauchen und durch Jahrtausende den nie endenden Titanenkampf fortführen. Nein, ich nicht mit ihnen – 120 ich fühle mich so klein, so nichtig diesen gigantischen Duldern gegenüber. –

Gestern lag ich unter einer Platane auf dem Gipfel eines Berges und blickte hinaus über die Höhen und Buchten unter mir. Eine schwere Wolke zog heran, den halben Horizont einnehmend, so schwarz und dunkel, daß selbst das Grün der Lorbeer- und Myrtengebüsche dunkler zu werden begann. Langsam sich niedersenkend, lagerte sie über einem Berggipfel und breitete sich aus wie mit ausgebreiteten Armen und zurückgebogenem Haupte. Die Sonne warf im Untergehen ihre flammendsten Strahlen auf das Wolkengebild, und es leuchtete nun, in Feuer getaucht, einer gigantischen Gestalt gleich, die an den Felsen geschmiedet schien.

›Prometheus,‹ rief ich, ›ist es wahr, du bist noch, helfender Freund und Erbarmer der Menschen?‹

Und wie ferner Donner klang es herüber:

›Erkennst du mich, war ich dir nicht der Gekreuzigte auf Golgatha, trug ich nicht als Entdecker der Atlantis die ersten Ketten in der neuen Welt? Brachte ich euch nicht die Erkenntnis des Himmels und seiner Gesetze und litt dafür im Kerker? Wieder und wieder kommen werd' ich, und nie enden wird 121 das Weh der Erde, bis auch eures endet und alles an jenem letzten Tage, wenn sie selbst mit ihren Geschöpfen auslöscht und zerstiebt.‹ –

Ich hörte die Worte des Gefesselten in den Bergen verhallen, es zerfloß das Wolkengebild, dämmernd kam es über die Erde, und aus den Gründen und Schlünden der Meeresbucht rauschte es empor wie Gesang der Okeaniden. Milder traten dann die Sterne hervor und besonders an einen heftete sich mein Blick mit Sehnsucht, an den im Westen aufzitternden Abendstern; er leuchtet ja dort, wo die Heimat ist. Über eure fruchtbaren Gelände, eure schönen Eichen- und Tannenwaldungen ist sein sanftes Licht aufgegangen.

Ein wunderbares Gefühl beschleicht mich, die Heimat, die Vergangenheit, alles was hinter mir liegt, erscheint mir so traut, so lieb! unwiderstehlich zieht es mich, wie mit himmlischen Tönen ruft es mich. Ach, ich ertrag' es kaum! Es ist mir zu Mut, als habe ich schon über mein Lebensziel hinausgelebt.

Grüßet mir alle Lieben in der Heimat! Nächstens mehr.«

   

Dies war der Schluß des letzten Briefes, den wir von Eugen Falther erhielten. Wir erfuhren aber, daß er von Zeitun nach Athen zurückversetzt 122 wurde, dort einen längeren Urlaub erhalten habe, weil es seine Absicht war, die Seinigen wiederzusehen, und namentlich, seine niedergebeugte Mutter zu trösten. Da zu gleicher Zeit die ersten Truppen der Kommandierten ins Vaterland zurückkehrten, so nahm er sich vor, mit diesen gemeinschaftlich die Heimkehr anzutreten. Wie erschraken wir, als von Triest aus die Kunde seines Todes kam! Die genauere Nachricht, – es war der Brief eines altern Freundes, der uns seinen Hingang meldete, – enthielt folgendes:

»Als Lieutenant Falther aus Zeitun wieder in Athen eintraf, waren wir alle erstaunt über die auffallende Veränderung, die mit ihm vorgegangen. Er führte ein seltsames Leben, vernachlässigte alle seine früheren Bekannten und streifte tagelang einsam in den Gebirgen umher, einzig mit Mönchen und Hirten im Umgang. Er kam dann gewöhnlich über die Zeit, für welche er Erlaubnis hatte, und in hohem Grad auch äußerlich verwildert zurück, was ihm manche dienstliche Unannehmlichkeit zuzog. Sein Gesicht war noch brauner und hagerer geworden, als es schon in Zeitun war, und die Falte zwischen seinen Augenbraunen vertiefte sich immer 123 mehr. Allmählich wurde er still und in sich gekehrt; der sonst so lebensfrohe Mann konnte stundenlang in unserem Kreise sitzen, ohne mit einem Wort oder einer Miene seine Teilnahme an der Unterhaltung zu verraten. So oft aber das Gespräch auf die Heimat oder auf frühere Zeiten kam, sahen wir, daß Thränen in seine Augen traten.

Eines Tages langte ein Paket an ihn von Hause an, zwischen den Briefen, die es enthielt, befand sich eine weiße Rose. Falther versicherte uns, er wisse nicht, was es zu bedeuten habe und woher die Rose komme; endlich sagte er bitter lächelnd, er habe einmal auf einem Balle seiner Tänzerin eine weiße Rose dargereicht, die werde es wohl sein. Dabei entfiel die Blume seinen Händen, er wandte sich ab und wir hörten ihn heftig schluchzen.

Wir wußten nicht, was wir von seinem Gemütszustande halten sollten; als wir aber am Bord des Schiffes ihn immer mehr erkranken sahen und seine Phantasien einzig nach der Heimat gingen, da erkannten wir wohl, daß nichts anderes als Heimweh sein Tod sei, und so war es auch – in seinen Delirien beklagte er sich immer, daß der Marsch zu lang dauere, daß die Schiffe nicht schnell 124 genug fahren; er wolle ins Quartier, er wolle nach Haus.

Er starb und ward mit allen Ehrenbezeugungen und von jedem beweint in einem mit Eisen beschwerten Sarg ins Meer versenkt. Für seine so schwer vom Unglück heimgesuchten Eltern, die den Sohn nicht mehr sollten zurückkommen sehen, giebt es wohl keinen Trost; aber daß der Entschlafene von uns allen beweint und vermißt wird, daß uns allen sein Andenken wert und teuer ist und bleiben wird, das mag die Armen wenigstens in etwas erheben.«

* *
*

Indem ich hier die Erzählung schließe, möchte ich noch die Bemerkung anfügen, daß ich nur die Darstellung eines jener rätselhaften Vorgänge gab, in welchen äußeres Geschick und eigentümliche Gemütsanlage sich zum frühen Untergange eines Menschenlebens verketten, das zu langer Dauer und zu fröhlichem Gedeihen bestimmt schien. –


125


 << zurück weiter >>