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Wieder zogen viele Jahre dahin. Ambach war zum Greise geworden; – aber seine geistige Kraft erschien noch ungeschwächt, wennschon er mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten jetzt nur noch in langen Zwischenräumen vor die Öffentlichkeit trat. Seine großartigsten Leistungen lagen hinter ihm, er konnte sie nicht mehr übertreffen, aber er behauptete sich noch würdig auf der Höhe seines verdienten Ruhmes.

Da erhielt er eines Tages eine amtliche Einladung, einer Gelehrtenversammlung beizuwohnen, die in Berlin abgehalten werden sollte. Er beschloß, der Aufforderung zu folgen. Er wünschte, vor seinem Tode mit den Genossen zusammenzutreffen, die auf demselben Felde wie er gearbeitet hatten, und von denen er nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl persönlich kannte; denn er hatte sein Leben lang in großer Zurückgezogenheit gelebt.

Die Berliner Gelehrtenversammlung ernannte Ambach zu ihrem Präsidenten, und in dieser Eigenschaft begab sich der alte Professor am Tage nach der ersten Sitzung zum Unterrichtsminister, um diesem, als seinem Vorgesetzten, seine Aufwartung zu machen. Er wurde mit Auszeichnung empfangen und erhielt noch an demselben Tage eine Einladung zu einem großen Hoffeste, das am nächsten Abend im königlichen Schlosse stattfinden sollte.

Ambach fühlte sich ermüdet von den ungewohnten Anstrengungen der Reise, von den zahlreichen Unterhaltungen mit neuen Bekannten und auch von den Huldigungen, die man ihm dargebracht hatte, aber er hielt es für seine Pflicht, der an ihn ergangenen Einladung zu folgen, und begab sich zur bestimmten Stunde in das Schloß. Dort wurde ihm die Ehre zu Teil, dem greisen Monarchen vorgestellt zu werden, der sich einige Minuten lang leutselig mit dem Professor, als einer Zierde der deutschen Gelehrsamkeit, unterhielt, – und dann war Ambach sich selbst überlassen, allein in einem Gewühl strahlender Uniformen und glänzender Toiletten.

Eine Weile lang durchwanderte er langsam die prachtvollen Säle. – Dann überkam ihn Ermüdung, und er beschloß, seine Wohnung aufzusuchen. Er hatte seiner Pflicht genügt, es war ihm die Freude geworden, den großen Kaiser, den er innig verehrte, von Angesicht zu Angesicht zu schauen, mit ihm zu sprechen – nun konnte ihm das Fest nichts mehr bieten: Vergnügen hatte er dort nicht gesucht. Als er eines der entlegeneren Gemächer durchschritt, in dem es verhältnismäßig öde war, so daß er den ganzen Saal überblicken konnte, sah er plötzlich, daß ihm von der andern Seite des Raumes ein Kollege entgegenkam, ein Universitäts-Professor, wie er selbst im Talar gekleidet, das weiße Haupt mit dem Barett bedeckt. Es war die erste bekannte Figur, die er erblickte – wohl die eines Mitgliedes der Gelehrtenversammlung, in der er den Vorsitz führte.

Ambach schritt dem Eintretenden entgegen, um ihn zu begrüßen, falls er ihn kennen sollte, und er betrachtete ihn deshalb aufmerksam: einen alten würdevollen Herrn, hoher, durch die Jahre etwas gebeugter Gestalt, bleich von Angesicht, schneeweißen Haares, dessen, durch eine scharfe Brille noch vergrößerte große Augen, milde und ernst auf ihm ruhten. Die ganze Persönlichkeit hatte für Ambach etwas seltsam Bekanntes. – Und plötzlich blieb er wie erschreckt stehen. Er hatte in der Erscheinung sein eigenes Spiegelbild erkannt und sich einen Augenblick als einen andern betrachtet. – So also sah er für andere aus, wie er sich soeben gesehen hatte. – Es wurde ihm klarer als zuvor, daß er ein alter Mann geworden sei.

Er stieg die breite Wendeltreppe hinunter und wurde am Fuße derselben von dem aufmerksamen Lohndiener empfangen, den er dorthin bestellt hatte, und der ihn, nachdem er ihm den schweren Mantel umgehängt hatte, – denn die Winternacht war kalt und unfreundlich – nach seinem Wagen geleitete. Auf dem Wege nach dem Gasthofe kam Ambach mit dem Gedanken an sein Alter der Wunsch, seine Vaterstadt Magdeburg wiederzusehen. Er brauchte auf der Ferienreise nur einen kleinen Umweg zu machen, um sie zu berühren. »Wer weiß,« sagte er sich, »ob ich ihr noch einmal im Leben so nahe komme.« – Und er malte sich im Geiste die alte Stadt aus, in der er jung gewesen war, mit ihren ehrwürdigen Kirchen, dem Dom an der Spitze, ihren schönen Straßen – dem »Breiten Weg«, dem »Fürstenwall« – und der »Klosterschule«, auf der er seine Schuljahre verbracht hatte. Alles stand noch klar und deutlich in seiner Erinnerung: es überkam ihn eine förmliche Sehnsucht nach der Heimat, die er seit mehr denn vierzig Jahren nicht wiedergesehen und an die er, inmitten seiner rastlosen Tätigkeit, nur noch selten gedacht hatte.

Die Gelehrtenversammlung hielt ihn noch einige Tage in Berlin fest. – Am Morgen, nachdem die letzte Sitzung stattgefunden hatte, reiste er nach Magdeburg ab. Am Bahnhof wurde er mit den Rufen Bediensteter der großen Gasthöfe empfangen. »Stadt London!« – »Stadt Braunschweig!« – »Erzherzog Stephan!« – »Grimmas Hôtel!« Der letzte Name schlug als etwas besonders Bekanntes an Ambachs Ohr. – »Grimmas Hôtel!« War das nicht das Gasthaus, in dem er während seiner letzten Anwesenheit in Magdeburg, unmittelbar vor seiner Abreise nach England, abgestiegen war? – Ja, sicher! Jetzt erinnerte er sich deutlich daran. – Er winkte dem Manne, auf dessen Mütze in goldenen Buchstaben »Grimmas Hôtel« zu lesen war, übergab ihm seinen Gepäckschein und was er an leichtem Handgepäck bei sich führte und sagte ihm, er solle ein gutes, warmes Zimmer für ihn nehmen. – Dann machte er sich auf den Weg, um noch so viel wie möglich von Magdeburg zu sehen, ehe der kurze Wintertag zu Ende gegangen sein würde.

Ambach durchschritt neue Stadtteile, die ihm unbekannt waren und die ihn nicht mehr kümmerten, als wenn er in Chicago gewesen wäre. – Das Neue, wenn es nicht zu seinem Beruf gehörte, hatte längst aufgehört, seine Aufmerksamkeit fesseln zu Können. Daß er Magdeburg sehr vergrößert finden würde, hatte er vorausgewußt. Als er es zum letzten Male besucht, hatte die alte Stadt 50 000 Einwohner gehabt, jetzt zählte sie das Vierfache. – Sie könnte noch zehnmal größer gewesen sein, ohne daß dieser Umstand ihn berührt haben würde. Ihn verlangte nur danach, das alte Magdeburg, sein Magdeburg, wiederzusehen. Und bald darauf befand er sich in dessen Mittelpunkt: auf dem »Alten Markt« mit dem steinernen Bildnis Kaiser Ottos, bei der Ratswage, der Katharinenkirche, auf dem Breiten Weg – vor der Klosterschule. Dort blieb er eine Weile stehen. Dann trat er ein.

Der erfahrene Pförtner erkannte in dem stattlichen alten Herrn sofort einen Gelehrten, wahrscheinlich einen Professor, möglicherweise einen Freund des gestrengen Herrn Direktors. Er erkundigte sich höflich nach den Wünschen des Besuchers und geleitete ihn nach der im Kloster gelegenen Wohnung des Direktors, als Ambach gefragt hatte, wo er diesen finden könnte. – Vor der Wohnung des Direktors angelangt, übergab er dem Pförtner seine Karte, die dieser mit ehrerbietiger Verbeugung hineintrug. – Gleich darauf öffnete sich eine Tür, und ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, mit dem etwas herrischen Zuge im ernsten Gesichte, der dem ausübenden, sich seiner Macht bewußten Lehrer eigen ist, trat Ambach, die Hände ausgestreckt, entgegen.

»Sie erweisen mir eine große Ehre, Herr Professor,« sagte er mit tiefer, wohltönender Stimme. »Bitte, treten Sie näher.«

Er führte darauf Ambach in ein behagliches, warmes Zimmer, dessen Wände beinah vollständig mit Büchern bedeckt waren, nötigte Ambach, sich in einen bequemen Sessel zu setzen, und noch vor ihm stehend, sagte er:

»Was verschafft mir die unerwartete Ehre Ihres Besuches? Womit, Herr Professor, kann ich Ihnen dienen?«

»Ich bin ein alter Klosterschüler, Herr Kollege,« begann Ambach.

»Das wissen wir alle – und sind stolz darauf,« unterbrach ihn der Direktor.

»Und da ist mir plötzlich der Wunsch gekommen, das Kloster 'Unserer lieben Frauen' wiederzusehen. – Deshalb befinde ich mich hier. – Wollen Sie mir gestatten, durch den Kreuzgang und die andern alten Gänge, sowie durch die Säle und über den Spielhof zu gehen?«

Der Direktor sah nach der Uhr: »Ich gehe sogleich mit Ihnen,« sagte er, »in der Hoffnung, Sie nachher hier wiederzusehen; aber ich möchte Sie gerade jetzt nicht länger in diesem Zimmer festhalten. In wenigen Minuten wird nämlich eine Lehrstunde beendet sein, und ich denke mir, es wird Ihnen Freude machen, die Schüler während der freien zehn Minuten bis zur nächsten Stunde auf dem Hofe beobachten zu können.«

Er schritt, sichtlich aufgeregt, voran, und Ambach folgte ihm.

Bald, nachdem die beiden auf der Freitreppe angelangt waren, die von den Klassensälen nach dem Spielhof hinunterführt, öffneten sich in dem Gange, den sie durchschritten hatten, mehrere Türen, und aus denselben traten die Lehrer hervor, denen die Schüler auf den Fersen folgten. Diese gingen, ehrerbietig grüßend, an dem Direktor und Ambach vorüber und liefen dann die Treppe hinunter auf den Hof, der sich schnell mit der frischen, gesunden Jugend füllte. – Ambach blickte auf das Gewühl blonder und brauner Köpfe zu seinen Füßen. Er sprach kein Wort, und auch der Direktor schwieg, denn er wollte die Erinnerungen und Gedanken nicht stören, die in dem Augenblick wohl durch Ambachs Seele ziehen mochten.

Als die Schüler wieder in die Klassen getreten waren, fragte der Direktor seinen Gast, ob es ihm recht sein würde, die Knaben während des Unterrichts zu sehen, und als Ambach dies bejaht hatte, führte er den Professor zuerst in die Prima und dann in die Sexta. Als er dem noch jungen Lehrer der Prima den Namen des vornehmen Besuches nannte, errötete der Lehrer und verbeugte sich ehrerbietig. – Ambachs Blick schweifte aufmerksam über die dichtbesetzten Schulbänke; dann entfernte er sich, nachdem er dem Lehrer die Hand gereicht hatte, mit freundlichem Neigen des greisen Hauptes. Als er gegangen war, sagte der Lehrer zu seinen Schülern: »Das war ein ehemaliger Klosterschüler: Professor Ambach. Erinnern Sie sich des Tages, da Sie ihn gesehen haben, denn es wird Ihnen nicht oft im Leben beschieden werden, einem so guten Mann zu begegnen.«

Die Schüler flüsterten untereinander und sahen sich verständnisvoll an, und der Lehrer gestattete es, denn er wußte, daß einer dem andern zuraunte, was er von Ambach wußte.

Bald darauf befanden sich die beiden alten Herren wieder im Zimmer des Direktors.

»Ich bin ebenfalls ein Schüler des Klosters,« sagte der Direktor; »um einige Semester jünger als Sie, Herr Professor, doch haben wir zum großen Teile noch dieselben Lehrer gehabt, denn ich war in der Quinta, da sie als Primus der Prima glänzten. – Ich erinnere mich, wie oft ich Sie auf dem Hofe bewundert habe; Sie sahen mich Knirps natürlich nicht. – Welch' unüberbrückbare Kluft trennt nicht während der Schuljahre den Quintaner vom Primaner! Später gleicht sich das wieder aus; alle werden mit den Jahren gewissermaßen eines Alters. – Und deshalb möge es mir vergönnt sein, Ihnen als Commilitone Studiengenosse und langjähriger Verehrer eine Bitte vorzutragen. – Ich bin seit vielen Jahren Witwer, meine Töchter sind verheiratet, und von meinen beiden Söhnen ist der eine Pastor auf einem kleinen Dorfe in der Altmark, der andere Offizier in einem Artillerieregimente, das in den Rheinprovinzen steht. – So führe ich denn ein Junggesellenleben, und da frage ich nun, wollen Sie mir die Ehre erweisen und die große Freude machen, heute abend mit mir zu speisen? Wir können von alten Zeiten sprechen, die Ihnen durch Ihren heutigen Besuch des Klosters wohl wieder näher gerückt sind – und auch mir. Denn als ich Sie so ernst neben mir stehen und auf die Knaben blicken sah, die sich lustig im Schulhof tummelten, da sagte ich mir, Sie müßten wohl in dem Augenblick an die Zeiten denken, da Sie als Kind, wie jene unten gespielt hatten – und dieselben Gedanken kamen mir. – Wollen wir heute abend von den alten Tagen sprechen? Sagen Sie ja, und erfreuen Sie mich.«

Der Professor nahm die Einladung bereitwillig an, und einige Stunden später saßen sich die beiden alten Herren an einem mit guten Sachen bedeckten kleinen Tische gesprächig gegenüber. Der Wein hatte die des Wortes gewandten Zungen der zwei gelöst, und Rede und Widerrede folgten sich ohne Mühe und ohne Unterbrechung. Da wurde von den alten Lehrern gesprochen, vom Probst Zerenner, vom Direktor Müller, von Immermann, dem Bruder Karls, den man »den Wüsten« nannte, von Hasse und Merckel, den tüchtigen Hellenisten, von Heil, dem Mathematiker, Teetzmann und Pareidt, den Philologen, Banse, dem Rechenlehrer, Hildebrand und Ehrlich, von dem der eine Unterricht im Zeichnen, der andere in der Musik erteilte. – Und von jedem dieser alten, längstverstorbenen Lehrer wurden Geschichten aufgetischt, die beide, der Professor und der Direktor, seit einem halben Jahrhundert kannten und an denen sie sich heute wieder erfreuten. – Auch Schülergeschichten aus den dreißiger Jahren wurden zum Besten gegeben, darunter einige, an denen sie selbst Teil genommen hatten.

Und sie fingen an lateinisch und griechisch zu zitieren und bald darauf in gewählter Rede lateinisch zu sprechen, bis Ambach, geröteten Antlitzes, leuchtenden Auges, lachend ausrief:

»Lieber Kollege! Was haben Sie angerichtet! Sie wissen, was es bedeutet, wenn zwei beim Wein lateinisch reden!«

Der Direktor, ebenso freudig erregt wie sein Gast, rief zurück: »Ich bin stolz darauf, daß es mir gelungen ist, die goldene Jugend in Ihrer Erinnerung heraufzubeschwören – obgleich,« fuhr er ernster fort, »Sie ja nie alt geworden sind. Wer so schafft, wie Sie noch heute schaffen, der ist ewig jung, für den gibt es kein Alter. – O, Sie Beneidenswerter, von mir neidlos Bewunderter! Wie schön ihr Leben gewesen ist: ein langes Leben, voll edlen Schaffens, voll großer Erfolge! Kann es etwas Vollkommeneres geben? Mit welchem Stolz müssen Sie darauf zurückblicken!«

»Ja, mein Leben ist ein volles und erfolgreiches gewesen,« sagte der Professor nachdenklich; aber er wollte den heitern Abend heiter beschließen, und da es inzwischen spät geworden war, so sprach er in zierlichen lateinischen Versen seinen Dank aus für die Gastfreundschaft, die ihm zu Teil geworden war, versicherte, daß der Abend, den er mit dem alten Schulkameraden verbrachte, ihm unvergeßlich bleiben würde, und stieß, zum letzten Male, auf baldiges, frohes Wiedersehen mit diesem an. Dann trennten sich die beiden mit herzlichem Händedruck.

Sobald der Professor in seinem Zimmer in »Grimmas Hôtel« angelangt war, begab er sich zur Ruhe. Der lange Tag, voll ungewohnter Anstrengungen, hatte ihn ermüdet, und er schlief schnell ein. Am nächsten Morgen erwachte er zu früher Stunde, kleidete sich sogleich, wie dies seine Gewohnheit war, vollständig an und ließ dann den Morgenkaffee auf sein Zimmer bringen, den er, am Fenster sitzend, den »Breiten Weg« zu seinen Füßen, zu sich nahm. Da hörte er Militärmusik erschallen, und bald darauf zog das 27. Infanterieregiment klingenden Spieles an seinem Fenster vorüber. Der alte Fridencianische Marsch, den er hörte, war ihm bekannt, und er sang ihn, mit den Knöcheln der einen Hand den Takt schlagend, leise mit. – Als aber plötzlich die Domglocken wie feierliche Begleitung zu der schmetternden Musik erklangen, da fuhr er zusammen. – Was war das? – Eine Sekunde unwillkürlicher Rückerinnerung – und dann stand die ferne Vergangenheit deutlich vor ihm! – Das war der Marsch, den er mit derselben Begleitung vor mehr als vierzig Jahren an derselben Stelle gehört hatte! Es kam ihm wie ein Traum vor, wie eine Fortsetzung der Jugendgeschichten, die er am Abend vorher gehört und erzählt hatte, und träumerisch sinnend blickte er um sich. – Hatte er nicht diese alte Kommode, diesen schönen Schrank, das hohe Himmelbett schon einmal gesehen? Und jenen Kupferstich, den »alten Dessauer« darstellend! Welche Bewandtnis hatte es doch damit?

– Sinnend legte er die Hand auf die Stirn, dann erhob er sich, nahm das Bild von der Wand und trat damit ans Fenster. Und wie er es drehte und wandte, vergeblich bemüht, den Zusammenhang zwischen dem Bilde und seiner Vergangenheit wiederzufinden, da entdeckte er auf der Rückseite, unter einer dichten Staubschicht seinen Namen: »Vor dem Kampfe, Heinrich Ambach aus Magdeburg am 15. 9. 1845.«

Er stellte das Bild sorgfältig auf den Boden, dann ließ er sich auf einen Sessel fallen und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

»Vor dem Kampfe. 1845.« – Nun hatte er den Kampf des Lebens, bis zum Ende beinah, ausgekämpft – siegreich! Und doch fühlte er sich geschlagen. – Sein ganzes Leben zog in einer kurzen Minute vor seinem Geiste vorüber: sein ganzes, sein volles Leben! – Und wie kurz erschien es ihm! – Die Arme gegen den Körper gelegt, bewegte er die zitternden Hände, die Handflächen in geringer Entfernung gegen einander gekehrt, auf und nieder und sagte leise: »So klein war mein Leben – so klein!«

Seine Gedanken wanderten zurück, noch weit hinter dem Tage, an dem er die Worte: »Vor dem Kampfe« geschrieben hatte. – Er erinnerte sich seiner frühesten Kindheit, und er sah seine Mutter, wie sie auf einem schönen Bildnis dastand, das aus dem Nachlaß seines Vaters vor mehr als vierzig Jahren in seinen Besitz übergegangen war: eine schlanke, junge Frau, bleich von Angesicht, aschblonden Haares, mit großen, traurigen blauen Augen. »Komm zu Bett, Heinz,« hörte er ihre weiche, süße Stimme. Er aber riß die Augen auf. Er wollte eine Erzählung des Vaters, von der er nichts verstand, zu Ende hören – »Ich bin noch nicht müde, Mama. Bitte, laß mich noch ein bißchen aufbleiben ... bitte, laß mich!« – »Nein, komm', mein Kind! Die Augen fallen dir ja zu. Schnell! Der Sandmann kommt.« Er fühlte sich sanft emporgehoben, sein Kopf lag an dem Halse der Mutter. »Ich bin noch gar nicht müde,« murmelte er, schon im Halbschlaf.

Wie lange war das her? – O, über sechzig Jahre!

»So klein war mein Leben ... so klein,« wiederholte er mit derselben Bewegung der zitternden alten Hände ... »so klein!« – Er fühlte sich unbeschreiblich müde.

»Nun, der Sandmann wird ja bald kommen,« sagte er leise.


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