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Sedschi

1

Es war im Oktober oder November 1864, als ich in Yokohama im Hause des englischen Ministers Sir Rutherford Alcock die Bekanntschaft des Major Baldwin machte. Ich erinnere mich seiner, als ob ich ihn gestern gesehen hätte: er war ein stattlicher, schöner Mann, mit schwarzem, krausem Haar, vollem, starkem Bart, dunklen freundlichen Augen und tiefer, wohlklingender Stimme. Er mochte damals fünfunddreißig Jahre alt sein und war erst vor einigen Tagen in Yokohama angelangt.

Er unterhielt sich lange mit mir und war begierig, so viel wie möglich von Japan und den Japanern zu hören. Er sagte mir, daß er beabsichtige, mit einem jungen Freunde, dem Leutnant Bird, einen Ausflug nach Kamakura zu machen, und bat um Erlaubnis, mich nach seiner Rückkehr zu besuchen. Ich ersuchte ihn höflich, dies nicht zu vergessen, und wir trennten uns mit einem »Auf baldiges Wiedersehen«.

Acht oder zehn Tage später hatten sich mehrere meiner Bekannten und Freunde in meinem Hause versammelt. Draußen war es kalt und stürmisch. Ein gutes Feuer im gemütlichen Zimmer, Karten und Zigarren hatten die Gesellschaft bis spät in die Nacht zusammengehalten. Im Laufe der Unterhaltung war erwähnt worden, daß man Charles Wirgman, den Korrespondenten der Illustrated London News, und Albert de Bonnay, einen französischen Edelmann, der sich seit einiger Zeit in Yokohama aufhielt, Tages zuvor in Kamakura gesehen hätte. Sie hatten mir Grüße gesandt und sagen lassen, daß sie in drei oder vier Tagen nach Yokohama zurückkehren würden.

Es war gegen zwei Uhr morgens, und ich war eben eingeschlafen, als ich von einem japanischen Diener geweckt wurde. Der Mann hatte ein verstörtes Gesicht, und mein erster Gedanke, als ich ihn so unerwartet sah, war, daß das Haus brenne. Ich sprang aus dem Bette und fragte, was vorgefallen sei.

»Man hat zwei Fremde ermordet,« sagte er, »und draußen sind Beamte, die Ihnen dies mitteilen wollen.«

Ich sprach mit den Leuten, die das Gesagte mit dem Zusatze bestätigten, daß das Verbrechen zwischen Kamakura und dem Daibuts Der Daibuts ist ein großes Erzbild, den japanischen Buddha darstellend. verübt worden sei. Die Namen der Ermordeten konnte man mir nicht angeben: die Nachricht der blutigen Tat war vor einer halben Stunde nach Yokohama gelangt, und der Gouverneur hatte es sich zur Pflicht gemacht, die Kunde sofort zu veröffentlichen.

Ich zog mich schnell an und lief zum Gouverneur, den ich persönlich kannte. In den Straßen war es leer und dunkel; aber die Wohnung des Gouverneurs war erleuchtet, und ich wurde ohne weitern Verzug in das Empfangszimmer geführt, wo ich den Oberst Brown, Kommandanten des 20. englischen Infanterie-Regiments, zur Zeit in Garnison in Yokohama, und ferner Herrn Lachlan Fletcher, einen der Sekretäre der englischen Gesandtschaft, antraf.

Ich erfuhr auch dort nur wenig Neues: zwei Fremde seien ermordet worden, die Leichen lägen noch auf der Stelle, wo man sie aufgefunden hätte, auf halbem Wege zwischen Kamakura und dem Daibuts. – Das war alles.

Ich war in großer Sorge um Wirgman und de Bonnay und beschloß, nach Kamakura zu reiten, um mir über deren Schicksal Gewißheit zu verschaffen. Ich eilte nach Hause, wo ich meinen Pony gesattelt und meinen Betto, japanischer Stallknecht der in vielen Wettrennen Preise als Schnell- und Dauerläufer davongetragen hatte, für den anstrengenden Ausflug ausgerüstet fand. Obschon es empfindlich kalt war, so hatte er sich doch aller Kleidungsstücke entledigt und sie hinter dem Sattel meines Pferdes befestigt. Er trug nur um Hüften und Lenden eine schmale Schärpe, in der ein kurzes, dolchartiges Schwert steckte. In der Hand hielt er eine Laterne.

Vor der Tür meines Hauses wurde ich von Herrn von Brandt angehalten. Er hatte, wie ich, Kunde von der Mordtat erhalten und teilte meine Besorgnis bezüglich Wirgmans und de Bonnays Schicksal. Als ich ihm sagte, ich beabsichtige, nach Kamakura zu reiten, erbot er sich, mir Gesellschaft zu leisten. Eine Viertelstunde später trabten wir beide die Hauptstraße von Yokohama hinunter zum Tore hinaus.

Ein Ritt von ungefähr drei Viertelstunden brachte uns an den Fuß einer kleinen Hügelkette, die sich zwischen Yokohama und dem Fischerdorfe Kanasava dahinzieht. Die Wege sind dort steil und schlecht. Wir stiegen deshalb ab, um die Pferde am Zügel zu führen und die Tiere und den Betto etwas verschnaufen zu lassen. Der Mond war aufgegangen, die Nacht klar und kalt; von Brandt und ich hatten nur wenige Worte gewechselt. Auf dem weichen Boden hörte man kaum die Tritte der Pferde. Das »haï – haï« des Betto, der durch diesen, sich in kurzen Zwischenräumen wiederholenden Ausruf, die Tiere auf die Unebenheit des Weges aufmerksam machte, unterbrach allein die unheimliche Stille der Nacht. Auf der entgegengesetzten Seite des Berges begegneten wir einem einsamen Wanderer. Der Betto hielt ihm die Laterne unter die Nase, und wir sahen ein harmloses Bauerngesicht. Der Mann war so bestürzt über sein Zusammentreffen mit uns, daß wir kaum ein Wort aus ihm herausbringen konnten. Von dem Morde behauptete er nichts zu wissen.

In der Ebene stiegen wir wieder zu Pferde. Wir ritten durch Kanasava, wo noch alles in tiefem Schlaf lag, und es mochte fünf Uhr morgens sein, als wir in die Kamakuraberge gelangten. Dort mußten wir wieder langsam reiten. Der Betto war außer Atem; als ich ihn aber fragte, ob er noch weiter laufen könnte, nickte er zustimmend mit dem Kopfe. Wir kamen durch einen kleinen, mit einer dünnen Eisrinde überzogenen Bergstrom. Ich sah den Betto, sich Beine und Gesicht darin baden. Die Pferde zeigten noch keine Spur von Müdigkeit, und sobald der Weg es gestattete, setzten wir sie wieder in Trab.

Die Sterne wurden nun bleicher, ein kaltes, graues Halblicht lagerte sich über die öde Winterlandschaft. Vor uns lag die Tempelstadt Kamakura. Brandt und ich hatten während der letzten halben Stunden kaum einige Silben gewechselt. Wir waren beide beklommen: unsere Gedanken eilten unseren Pferden voraus, dem blutigen Ziele unserer Reise zu.

Vor dem großen Teehause von Kamakura saßen mehrere japanische Offiziere. Ich erkannte darunter den Dolmetscher Sinagava. Auf unsere hastigen Fragen antwortete er, wir würden die Leichen am Ende der Tempelallee, dort, wo der Weg nach dem Daibuts plötzlich rechts abbiegt, finden. Die Namen der Ermordeten kannte er nicht. Er hatte die Leichen nicht gesehen.

Im Galopp ging es nun die Allee hinunter. Plötzlich hielten wir beide unsere Pferde an. Einige dreißig Schritte vor uns lag etwas Unheimliches, Schreckliches. Wir hatten Furcht, das zu sehen, was wir gesucht und nun gefunden hatten. Wir stiegen langsam vom Pferde und gaben dem keuchenden Betto die Zügel. – Dicht neben einander lagen zwei Körper, die man mit einer alten Matte bedeckt hatte. Ich zog sie zurück und erblickte zwei schrecklich verstümmelte Leichname. Meine Einbildung war so sehr Herr meiner Sinne geworden, daß ich einen Augenblick Bonnay und Wirgman zu erkennen glaubte. Aber nein – die Ermordeten waren mir fremd. Ich fühlte mich beinah beruhigt; doch war der Anblick grausenerregend. Die Leichen lagen auf dem Rücken, die Arme weit vom Körper, ein Kreuz bildend, die Beine ausgespreizt. Der eine Leichnam war der eines starken, großen Mannes mit schwarzem, krausem Haar und vollem, dunklem Bart, die offenen, gläsernen Augen starrten entsetzlich. In der rechten Hand, von der zwei Finger abgehauen waren, hielt er einen Revolver, in der linken eine mit Blut besudelte Reitpeitsche, neben ihm lag ein abgebrochener Sporn. – Die andere Leiche war die eines jungen, blonden Mannes. Arme und Beine waren buchstäblich zerhackt, der Kopf war beinah vollständig vom Rumpfe getrennt. In der Totenstille, die herrschte, hörte ich deutlich das Ticken seiner Uhr, die halb aus der Westentasche gefallen war. An einem alten Baume, dicht neben den Leichen, waren zwei Pferde angebunden, deren Sättel und Zügel mit Blut bedeckt waren.

Wir hörten Geräusch und blickten auf: zwei Reiter kamen dahergesprengt. Sie sprangen in unserer Nähe von den Pferden, und ich erkannte in ihnen einen Amerikaner, John Stearns, und den schwarzen Pferdehändler Georges, beide Einwohner von Yokohama. Stearns näherte sich den Leichen.

»Das ist Baldwin und das ist Bird,« sagte er, »poor fellows!« »Arme Burschen!«

Und jetzt erst erkannte ich in dem einen verstümmelten Körper den Leichnam des kräftigen, freundlichen Mannes, den ich vor wenigen Tagen bei Sir Rutherford Alcock gesehen hatte.

Bald darauf langte Lachlan Fletcher an. Er war von Leutnant Wood und von der berittenen Garde des englischen Ministers begleitet. Man untersuchte den Ort, wo der Mord geschehen war; aber die stummen Zeugen der Tat gaben unseren Augen wenig Aufschluß. – Hier und da, besonders in der Nähe eines Brunnens, der sich dort befindet, entdeckten wir Blutspuren. – Das war alles.

Die Soldaten hatten zwei Bahren bereitet, und auf diesen trugen sie die Leichen der Ermordeten bis an das nahe Meeresufer, von wo aus sie mit einem Boote nach Yokohama geschafft wurden.


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