Rudolf Lindau
Liebesheiraten
Rudolf Lindau

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Am nächsten Morgen verließ ich Nortorf. Wegen Mertens, der zurückblieb, konnte ich ruhig sein. Er hatte sich sofort mit Franz angefreundet, der sich seiner wie eines gelehrigen Schülers annahm, auf den der Meister dereinst stolz sein will. Ich freute mich, wie er bei Tische Mertens im Flüsterton oder mit den Augen anwies, dies oder jenes zu tun, und wie Mertens bemüht war, seine »Bildung« zu vervollständigen. Auch hatte er bereits am zweiten Tage gelernt, mich in der dritten Person anzureden. »Wie kommen Sie dazu?« fragte ich ihn. »Herr, Franz hat mir gesagt, das gehört sich.« Ich wollte die Autorität des Lehrers nicht untergraben und ließ Mertens sprechen, wie er es für recht hielt. – Aber mein armer Lahmer hatte auch Elisens Gunst gewonnen. Sie hatte mit ihm gesprochen, wie es ihre Art war, freundlich mit kleinen Leuten zu verkehren, und hatte mir dann gerührt erzählt, wie sehr ihr Mertens gefallen habe. »Sein Gesicht ist vertrauenerweckend, er hat gute, ehrliche Augen, und seine Art zu sprechen ist einfach und aufrichtig. Und er ist dir so dankbar, er sagt, du seist wie sein guter Engel, den der liebe Gott ihm in der Stunde seiner höchsten Not gesandt habe, um ihn zu retten.«

Am Meere war es schön! Hell leuchtend, milde wärmend stand die Sonne am klaren Himmel, und sanft bewegt, still und friedlich, als wäre nicht mächtige Bewegung, Sturm und Unwetter ihr wahres Element, wölbte sich der ungeheure Rücken der großen, kalten, grauen See. Die Schiffer und Fischersleute schritten ruhig ihres Weges und gingen ernst ihrer harten Arbeit nach. Hier und da begrüßte mich der eine oder der andere, der mich von früheren Jahren her wiedererkennen mochte; aber die harten, strengen Gesichter mit den klaren, weitblickenden Augen und dem friesischen, schlichten, hellen Haar legen sich nicht leicht in freundliche Falten: würdevoll, kurz und ernst war der Gruß, der mir galt.

Zwischen diesen ruhigen Menschen, deren schweigsame Gleichgültigkeit ich wie zartfühlende Rücksichtnahme auf meinen Zustand empfand, verbrachte ich meine Ferien. Das Wetter blieb nicht einförmig schön. Es kamen rauhe Tage als wie im Herbst, da es stürmte und regnete, und farblose Wolkengebilde, riesigen Ungeheuern gleich, in unübersehbarer, unergründlicher, tiefer Reihe am niedrigen Himmel daherzogen und am dunstigen Horizont das graue Meer in den gleichfarbigen Himmel hineinzuwachsen schien. Einige Schaluppen und schwere Fischerboote wiegten sich im kleinen Hafen in großen Bogen hinter Ankern und Bojen, nirgends war dann ein Segel zu erblicken, und die von schwerem Sturm aufgewühlte See schien allem Lebenden feind: furchtbar und öde. Dann war der Strand leer. Die Männer waren in den Schenken, einige gingen, in bedächtigem Gespräch, gelassenen Schrittes, selten die Länge des kleinen Hauses überschreitend, vor demselben auf und ab, die halbnackten Kinder, die sich an sonnigen Tagen lärmend am Ufer umhertrieben, saßen in den verwitterten, alten, festen Häusern des Dorfes, und ihre aufmerksamen Gesichter, die nach der Mutter schauten, erschienen gar lieblich an den kleinen Fenstern, zwischen blühenden Blumentöpfen, mit denen der Schiffer sein Haus zu schmücken liebt. Wenn mir eines – das mich als Geber von Kieseln, Peitschen und bunten Glaskugeln wiedererkannte – zunickte und dabei die milchweißen Zähnchen zeigte und mit den klaren blauen Augen vertraulich zwinkerte, als wollte es sagen. »Wir beide kennen uns – wir sind Freunde!«, dann fehlte mir die Sonne nicht, um mir das Herz warm zu machen.

Bei jedem Wetter war ich, beinahe den ganzen Tag über, im Freien. – Auf dem Meere hat gutes oder schlechtes Wetter noch viel mehr zu bedeuten als auf dem Festlande; aber Sturm und Regen kümmern den Schiffer wenig, wenn er sein Fahrzeug im sichern Hafen weiß und selbst festen Boden unter den Füßen hat. Leuten, welche die See lieben, geht es wie dem Schiffer. Mir machten sogar Wind und Regen das Herz leichter als milder Sonnenschein; aber daran war wohl meine augenblickliche Gemütsverfassung schuld.

Ich lebte wortkarg und einsam. Meine Wirtsleute waren schweigsame Menschen, und außer mit ihnen verkehrte ich mit niemand. Etliche Male machte ich mit Peter Köhn eine Abendpromenade: sie dauerte selten länger als eine halbe Stunde, während der wir auf dem zwanzig Schritt langen ausgetretenen Pflasterwege vor seiner Tür langsam und regelmäßig auf und niedergingen. Kamen wir in ein Gespräch, an dem Peter Köhn – die beiden Namen wurden stets angeführt, wenn man von ihm sprach, denn es gab sechs Köhns in dem kleinen Dorfe – besonderen Anteil nahm, so drehte er sich, mit mir sprechend, nicht um, sondern machte den kleinen Weg einmal vorwärts, einmal rückwärts gehend. – Häufig sprachen wir bei unseren Spaziergängen nur wenig, nachdem wir uns guten Abend geboten und einige Worte über das Wetter ausgetauscht hatten. Nach einer Weile längeren Schweigens sagte dann Peter Köhn gewöhnlich, seine kurze Pfeife ausklopfend: »Ja es wird Zeit sein heimzugehen: Katharina wartet wohl schon mit dem Tee. Gute Nacht, Herr von Nortorf.«

Nicht selten kam es vor, daß ich den ganzen Tag so gut wie gar nicht sprach. »Guten Morgen« und »Gute Nacht« den Wirtsleuten, und »Schönes« oder »Schlimmes Wetter« einem Vorübergehenden, der mich begrüßt hatte – das war dann so ziemlich alles. Ich hätte am Abend die Worte zählen können, die ich seit frühem Morgen gesprochen hatte. Aber ich langweilte mich nicht, wennschon ich nicht etwa in Nachdenken oder Träumereien versunken war: ich war nicht traurig, ich fühlte mich zu matt, um traurig sein zu können, ich empfand auch nicht das Bedürfnis zu lesen oder zu schreiben. Der Tag ging dahin, ich wußte nicht wie – gleich der Nacht, im Schlaf oder Halbschlummer.

Ostmals dachte ich wohl an Natalie, am häufigsten an unsere letzte Begegnung am Heilig' Abend, wo ich mir dann mein elendes Bild ausmalte und sie still und vornehm vor mir sah; aber meine Gedanken waren ohne Bitterkeit und wunschlos, da ich hoffnungslos war. Natalie schwebte mir vor als etwas sehr Liebliches – was mir nicht gehörte und nie gehören konnte. An Johanna dachte ich fast gar nicht. Ich fühlte mich geschieden von ihr, mochte das Gericht die Scheidung aussprechen oder nicht. Ich war entschlossen, nie wieder mit ihr zusammenzuleben: ich urteilte jetzt, nach meiner Kraftlosigkeit, wie elend sie mich gemacht hatte. Die Erzählung der Kammerjungfer ging mir manchmal durch den Kopf, und was Lothar davon wissen und glauben mochte. Jetzt verstand ich seine Kälte und Zurückhaltung; aber auch das beunruhigte mich nicht. Ich konnte an das alles denken, als ob es einen anderen anginge.

Ich fühlte mich jedoch mit jedem Tage wohler. Ich erwachte nicht etwa zu neuem Leben, wie man sagt; aber die große Ruhe, der Aufenthalt in der reinen, frischen Luft wirkten wohltuend auf mich ein. Einsamkeit in einer großen Stadt, wie man sie so leicht finden kann, macht das Gemüt schwer, weil sie unnatürlich ist. Wo alles zum gemeinsamen Leben einlädt, da empfindet man es leicht wie eine Zurücksetzung, nicht daran teilzunehmen, auch wenn man sich freiwillig zurückgezogen hat; am Meere, wie im großen Walde oder im hohen Gebirge, ist Einsamkeit das Natürliche, und dort wirkt das große Schweigen wie eine kostbare, stillende Medizin.

Als mein Urlaub seinem Ende nahte, bemächtigte sich meiner große Unruhe. Ich dachte mit Angst daran, daß ich nun bald wieder zu dem lauten Treiben der Großstadt zurückkehren müßte. Ich blickte auf das reine, weite Meer, das in dumpfem, tiefem Rauschen und Brausen die mächtige, erhabene Sprache der Natur beruhigend sprach, und ich sah im Geiste enge Straßen, in denen sich Menschen in geschäftiger Hast ungestüm drängten und stießen, und vernahm das schrille Pfeifen der Lokomotiven, das Rollen der Wagen, lautes Rufen, Lachen, Schreien, Schimpfen. Und in diesem Treiben und Lärmen sollte ich weiterleben! Aber ich mußte mich in das Allgemeine schicken.

Ich verließ die See genügend gestärkt, um mein tägliches Leben in Berlin wieder aufnehmen zu können. – Mertens' Augen leuchteten vor Freude, als er mich wiedersah. Er sagte: »Ich hoffe, Herr von Nortorf befinden sich nun wieder ganz wohl.« – »Franzens Schule!« sagte ich mir.

Der Sommer ging dahin. Der Herbst brachte mir einige unvermeidliche geschäftliche Auseinandersetzungen mit Lebrecht und später mit dem Gericht. Eines Tages schrieb mir Lebrecht, die Scheidung sei ausgesprochen, und bald darauf wurde mir auch das dahin lautende Urteil zugestellt. Ich las es nicht einmal durch. Es brachte mir nichts Neues, nichts, was mich jetzt noch erregen konnte. Ich war in meinem Herzen schon längst von Johanna geschieden; nun war festgestellt, daß ich der »schuldige Teil« sei und als solcher die Kosten der Scheidung zu tragen hätte. Auch darauf war ich vorbereitet.

Ich begab mich zu Lebrecht, um mich bei ihm für seine Mühewaltung zu bedanken.

»Darf ich dir gratulieren? Du siehst nicht danach aus. Fehlt dir etwas?«

»Nichts Besonderes; aber es wird wohl einige Zeit dauern, ehe ich den Ärger und Verdruß des letzten Jahres überwunden habe.«

»Das ist ganz natürlich, das kann ich mir denken . . . Was machst du des Abends gewöhnlich?«

»Ich bin meistens zu Hause. Ich bin faul geworden.«

»Das geht nicht; du mußt Leute sehen, dich zerstreuen. Ich werde dich in den nächsten Tagen abholen.«

Ich wartete mehrere Tage, aber Lebrecht erschien nicht. Ich war ihm deswegen nicht böse. Er war ein alter Freund, auf den ich rechnen konnte, wenn ich seiner bedurfte; aber wir lebten in verschiedenen Kreisen und hatten uns seit vielen Jahren immer nur in langen Zwischenräumen und zufällig angetroffen. Ein Geschäft hatte uns zusammengebracht. Es war beendet, und er ging wieder seine Wege, die sich mit den meinen nicht kreuzten. Er hegte freundschaftliche Gefühle für mich, es hatte ihm leid getan, mich anscheinend niedergeschlagen zu sehen, und es war ihm in dem Augenblicke der Gedanke gekommen, mir behilflich zu sein, mich aufzurichten. Aber dann hatte er es wohl wieder vergessen. Er war nicht mein Arzt; aber ich konnte sicherlich auf ihn rechnen, wenn ich eines Rechtsbeistandes bedurfte.

Es war wieder Winter geworden: Weihnachten. Ich hatte weder Natalie noch ihren Vater seit Heilig' Abend vorigen Jahres wiedergesehen, ich wußte nicht einmal, ob sie in Berlin waren. Ich hätte es mit Leichtigkeit feststellen können, aber ich war nicht neugierig, es zu erfahren. Was ging es mich an. Doch dachte ich oft an Natalie, und wenn ich des Abends zu Bett ging, so war sie gewöhnlich mein letzter Gedanke.

Die Feiertage verbrachte ich in Nortorf. Ich hatte etwas unter den besorgten Blicken Elisens und den Erkundigungen Karls und Ellens nach meinem Befinden zu leiden – aber zu einer Aussprache mit Elisen wie im Sommer kam es nicht wieder. Sie verstand, ohne daß ich es zu sagen hatte, daß mir ein solches Gespräch peinlich gewesen sein würde.

Als wir uns begrüßten, blickte sie mir gerade in die Augen und fragte: »Geht es dir besser?« Das sollte bedeuten: »Hast du deinen Kummer wegen Natalie überwunden?«

Ich antwortete darauf: »Es geht mir langsam besser, ganz erträglich; und mit der Zeit hoffe ich ganz zu gesunden.«

»Du siehst noch angegriffen aus.«

»Ja, das ist einmal so, daran kann ich nichts ändern; aber ich empfinde keinerlei Schmerzen oder Unbehagen.«

Später kamen wir nicht wieder auf die Frage meines Befindens zurück – was mir lieb war.

»Warum ist Lothar nicht gekommen?« fragte ich Karl. »Ich hatte gehofft, hier mit ihm zusammenzutreffen. In Berlin sehe ich so gut wie nichts von ihm.«

»Wir hatten ihn natürlich eingeladen. Er hat sich entschuldigt: ›Dringende Abhaltung‹. Was ein Rittmeister im Frieden während der Weihnachtstage wohl für ›dringende Abhaltung‹ haben kann? Offen gesagt: ich bin unzufrieden mit Lothar. Wir existieren gar nicht mehr für ihn. – Und du siehst ihn auch nicht, sagtest du?«

»Höchst selten.«

»Was mag er treiben?«

Ich zuckte die Achseln.

»Wenn er nur nicht spielt und Schulden macht«, fuhr Karl fort.

Das tat er zu der Zeit nicht – aber das erfuhr ich erst später.

Eines Abends, im Monat April, besuchte mich Lothar in meiner Wohnung. – Trotzdem wir uns wenig sahen, kannte er doch genug von meinem Leben, um zu wissen, daß man mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen konnte, mich des Abends zu Hause zu finden. Er sah wohl und hübsch aus, älter als seine Jahre, aber noch jung, und trug seine schmucke Uniform in einer Weise, um die er von vielen beneidet werden mochte. Er hatte mir eine wichtige Mitteilung zu machen. Das erkannte ich sofort bei aller Unbefangenheit, mit der er eintrat. Nach seiner guten Gewohnheit kam er ohne Umschweife auf das zu sprechen, was ihn zu mir führte.

»Du kannst mir wieder einmal gratulieren«, sagte er.

Ich wußte sofort, worum es sich handelte. Der Abend fiel mir ein, an dem er mir seine Verlobung mit Natalie angezeigt hatte. Ich wollte ihm erleichtern, was er mir zu sagen hätte: »Mit wem?« fragte ich lächelnd.

»Mit Agnes von Böhlen«, antwortete er.

Ich gratulierte ihm herzlich. Die Böhlens waren entfernte Verwandte von uns, sehr reiche Leute, die verdientermaßen überall in hohem Ansehen standen. Einer der jungen Böhlens war ein Regimentskamerad Lothars, der andere Legationssekretär an einer unserer auswärtigen Botschaften, Agnes, ein einfaches, hübsches, wohlerzogenes Mädchen, von dem man nur Gutes sagen konnte. Sie hätte mit ihrem Aussehen, Charakter, Namen und Familienanhang, auch ohne die bedeutende Mitgift, die sie zu erwarten hatte, für eine »gute Partie« gelten können. Das Geld war in diesem Falle eine höchst angenehme und annehmbare »Zugabe«, wie Elise in ihrem Briefe über Geldheiraten geschrieben hatte.

»Ja«, sagte Lothar. »Diesmal glaube ich das Richtige gefunden zu haben. Du kennst ja Agnes. Ist sie nicht alles, was ein Mann sich wünschen kann?«

Ich gab rückhaltlos meine Zustimmung.

Lothar schwieg und blickte, leise mit den Hacken aufklopfend, vor sich hin. Er wollte mir noch etwas sagen, ich ahnte auch bereits, was es war, aber diesmal konnte ich ihm nicht zu Hilfe kommen. Plötzlich stand er auf und streckte mir die Hand entgegen:

»Schlag ein, Hermann! Wir wollen wieder Freunde sein . . . wie früher. Ich habe dir wahrscheinlich unrecht getan: dann vergib es mir – und wenn du mir unrecht getan hast, so brauche ich das nicht zu vergeben, da es sich zu meinem Besten gewandt hat und ich dir heute dafür danken würde.«

Ich legte meine Hand in die seine und sagte leise – aber ich war tief bewegt: »Ich habe dir wissentlich nie unrecht getan. Ich bin dir ein treuer Bruder gewesen.«

»Das ist ganz sicher. Verzeihe mir! Solltest du mir in den Weg getreten sein, so war das ohne dein Verschulden. Daran habe ich auch nie gezweifelt. Aber wir wollen das nun alles vergessen sein lassen. Wir sind nun wieder, was wir früher waren: Freunde und Brüder!«

Ich fühlte mich sehr glücklich; aber ich konnte es nicht zeigen.

Lothar sprach nun von seinen eigenen Angelegenheiten, und ich hörte ihm aufmerksam zu. Seine Verheiratung, das war auch bereits festgesetzt worden, sollte in drei Monaten stattfinden. An Karl, Marie und Elise hatte er bereits telegraphiert. »Die werden große Augen gemacht haben«, meinte er.

»Sie werden sich freuen«, sagte ich.

»Gottlob. Sie haben allen Grund dazu!«

Als er mich zu später Stunde verließ, sagte er:

»Nun ist der gute Tag erst vollkommen für mich. Ich werde dich jetzt oft sehen. Ich muß auch für deine Gesundheit sorgen. Du siehst schlecht aus. Du weißt, meine Pferde sind zu deiner Verfügung. Auf Wiedersehen!«

Als er gegangen war, trat ich vor den Spiegel und betrachtete mich aufmerksam. Ich hörte jetzt oft, daß ich »schlecht« aussähe. Es machte mich ungeduldig. Ich konnte doch nichts dafür oder dagegen! Ich lebte so ruhig und regelmäßig wie nur möglich. Mertens ließ mir jede denkbare Pflege angedeihen, und seine geduldigen Augen suchten in meinen Zügen zu lesen, womit er mir wohl Freude machen könnte: aber er störte mich wenigstens nicht durch Bemerkungen über mein Aussehen.

Lothar wollte sich also verheiraten! Der Gedanke kam mir natürlich sogleich, daß dadurch das Hindernis, das mich von Natalie getrennt hatte, beseitigt war. Aber war ich ihr dadurch näher gerückt? Ich konnte es nicht erkennen. Ich konnte mir nicht einmal ausmalen, wie ich es ermöglichen sollte, mit ihr zusammenzutreffen. Wir hatten, so viel ich wußte, nicht einen einzigen gemeinschaftlichen Bekannten, und es konnte mir doch nicht in den Sinn kommen, ihr urplötzlich meine Aufwartung machen zu wollen. Sie blieb mir so fern wie immer – unerreichbar.

Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, daß Natalie mich geliebt habe. Aber was bürgte mir dafür, daß dies richtig war? Und wenn sie mich wirklich geliebt hatte, war das ein Grund, mich noch zu lieben? Wie hatte ich damals auf ihre Liebe, wenn diese jemals bestanden, geantwortet? – Ich hatte eine andere geheiratet! – Das war sicherlich genug gewesen, um jedes wärmere Gefühl, das sie möglicherweise für mich gehegt haben mochte, mit den Wurzeln aus ihrem Herzen zu reißen. Und ich dachte an unsere letzte Begegnung seit meiner Verheiratung. Am Heilig' Abend – vor fünfzehn Monaten! Was konnte seitdem nicht alles vorgefallen sein? Vielleicht war Natalie schon wieder verlobt – vielleicht verheiratet? Wie hätte ich es erfahren sollen, da ich überhaupt nur wenig Menschen sah, und niemanden, der sie kannte? Aber ich beschloß festzustellen, ob sie in Berlin sei.

Ich ging, obschon es spät geworden war, nach dem Hause, das sie bewohnte. Die Fenster des Wohnzimmers waren erleuchtet. – Ich kannte genau die Stunde, zu der Frau Ellrichs mit ihrer Tochter eine Spazierfahrt zu machen pflegte. Ich wartete am nächsten Tage in der Nähe des Hauses an einer Stelle, wo ich in ganz unauffälliger Weise einen Blick in den Wagen werfen konnte, falls er erscheinen sollte. Er kam zur gewöhnlichen Stunde. Natalie und ihre Mutter saßen darin. Sie bemerkten mich nicht. Mir klopfte das Herz!

Nun wußte ich, daß Fräulein Natalie Ellrichs im Hause ihrer Eltern in Berlin weilte. War ich ihr damit näher gerückt? Nicht um einen Schritt!

Ich wollte mich nicht unnütz quälen und aufregen. Ich war mutlos. Ich ergab mich in mein Schicksal und kehrte nicht nach dem Ellrichsschen Hause zurück.

Lothar besuchte mich jetzt häufiger – aber nicht oft. Er brachte jeden Abend in Gesellschaft seiner Braut zu. Das war natürlich. Ich konnte mich nicht darüber beklagen. Ich hatte einem großen Verlobungsmahl im Böhlenschen Hause beizuwohnen. Auch meine Geschwister – außer Marie, die weit von Berlin wohnte – waren dazu erschienen. Es wurden verschiedene Toaste ausgebracht, und alles ging herrlich vonstatten; aber ich fühlte mich unter Elisens sorgenvollen Blicken befangen. Sie machten mich ungeduldig.

»Liebe Elise«, sagte ich. »Deine Augen fragen mich fortwährend, was mir fehlt. Laß das! Was soll ich dir antworten? Es ist doch nicht meine Schuld, wenn ich nicht so heiter sein kann, wie du es wünschest.« Aber als ich sah, daß ihre guten, treuen Augen feucht wurden, da bereute ich, sie durch meine unfreundlichen Worte verletzt zu haben. »Laß nur gut sein, Liese,« sagte ich, »und hab' mich lieb nach deiner Art! Es wird schon die richtige sein.«

Sie lächelte liebevoll, wie nur Mutter oder Schwester dem Sohne oder Bruder zulächeln, und sagte:

»Es ist nun bald ein Jahr her, seitdem du keinen längeren Urlaub genommen hast. Denkst du nicht wieder bald daran, dir Erholung zu gönnen? Das Meer hat dir im vorigen Jahre wohl getan! Und dann gib uns einige Tage in Nortorf! Etwas mehr als das letztemal. Du hast uns stiefmütterlich behandelt.«

»Ja«, sagte ich. »Anfang Juni bin ich wieder bei euch.«

»Und bring Mertens mit; der darf nicht fehlen. Wir haben ihn gern, und Franz und er sind gute Freunde geworden.«

 

Wenige Wochen später reiste ich nach Nortorf ab, und dort wurde ich sogleich nach meiner Ankunft krank, so krank, daß ich mich ins Bett legen und der Arzt gerufen werden mußte. Er kam. Nun gab es die übliche sorgfältige Untersuchung. An Herz und Lungen wurde aufmerksam gelauscht, und der Doktor sah dabei aus, als ob er sehr viel mehr erkenne, als er zu sagen für gut befinde. Was er schließlich sagte, war eben nur sehr wenig. Ein organisches Leiden war nicht vorhanden, ich war »heruntergekommen«; ja, das war das zutreffende Wort. »heruntergekommen« war ich, der Herzschlag war schwach; aber kein organischer Fehler – bewahre! etwas schwach war das Herz – augenblicklich. Vielleicht zu große geistige Anstrengungen oder seelische Aufregungen? Aber das durfte man nicht so gehen lassen, dagegen mußte im Gegenteil energisch vorgegangen werden, sonst konnte der Zustand bedenklicher werden. Bis jetzt lagen keine Symptome vor, die ernste Befürchtungen gerechtfertigt hätten. Aber der Zustand des Patienten mußte, wie gesagt, aufmerksam beobachtet, und es mußte der vorhandenen Schwäche entgegengearbeitet werden, um ein weiteres Umsichgreifen derselben zu verhindern. Zu dem Zwecke wurde verschiedenes verordnet: kleine Pülverchen, die sehr bitter waren, und eine braune Medizin, die einen widerlichen Geruch hatte, und ein eigens für mich zubereiteter Wein, guter, alter Malaga übrigens, von dem ich täglich zu ganz bestimmten Stunden dreimal ein Weinglas voll trinken sollte.

Elise und Mertens sorgten dafür, daß die ärztlichen Vorschriften auf das gewissenhafteste ausgeführt wurden, und ich war ein geduldiger Kranker und nahm alles artig ein, was man mir reichte. Es wurde sonach der vorhandenen Schwäche nach allen Regeln der Kunst entgegengearbeitet; aber sie wollte sich doch nicht vertreiben lassen, sie war stärker als alle Medizinen, mit denen man gegen sie ankämpfte – und ich wurde täglich schwächer.

Eines Morgens – ich lag nun schon länger als eine Woche im Bett – trat Elise in mein Zimmer und sagte mir mit einiger Verlegenheit, ich solle mich nicht wundern und es ihr nicht übel nehmen, wenn sie sich heute und morgen nicht bei mir sehen ließe. – »Klara bittet mich dringend, sie auf einen Tag zu besuchen. Es handelt sich um eine Heiratsangelegenheit in der Familie. Es soll vorläufig noch ein Geheimnis bleiben. – Du bist doch nicht neugierig . . .?«

»Durchaus nicht.«

»Nun, schön also. Sie bittet mich sehr zu kommen, und ich kann es ihr nicht gut abschlagen. Ellen und Mertens passen ja auf dich auf. Bist du böse, wenn ich gehe?«

»Aber durchaus nicht. Wie sollte ich böse sein! Grüße Klara von mir und unterhalte dich gut!«

Eine halbe Stunde später erschien sie wieder bei mir, diesmal reisefertig, um sich von mir zu verabschieden: »Du bist mir böse?«

»Aber Lise!«

»Nun also: auf Wiedersehen. Nimm recht ordentlich ein!«

Am Abend des folgenden Tages kam sie zurück. »Nun wie ist es dir gegangen?«

»Ganz gut!«

»Nicht besser?«

»Nein.«

»Aber doch auch nicht schlechter?«

»Nein. – Nun, und ist eure Heiratsgeschichte abgemacht?«

»Noch nicht ganz; aber ich hoffe, es kommt in Ordnung. – Nur werde ich dich übermorgen noch einmal verlassen müssen. Aber das ist dann sicherlich das letztemal.«

»Und darf man noch nicht wissen, um wen es sich handelt?«

»Wenn ich das nächste Mal zurückkomme, sollst du es erfahren . . . natürlich, wenn alles in Ordnung kommt.«

Ich fragte nicht weiter. Ich hatte eigentlich nur aus Höflichkeit Teilnahme gezeigt.

Es kam alles in Ordnung; aber wie das geschah, erfuhr ich erst später. Elise hatte, wohl zum ersten Male in ihrem Leben, eine Unwahrheit gesagt, als sie mir angekündigt hatte, sie gehe zu Klara. Die Unwahrheit wird ihr sicherlich verziehen werden.

 

Elise hatte mich in ihrer besorgten Liebe für kränker gehalten, als ich wohl eigentlich war, und der Arzt, den sie nach seinem ersten Besuche auszuforschen versucht, hatte sie keineswegs beruhigt. Er hatte gefragt, ob ich etwa eine schmerzliche, seelische Aufregung gehabt habe. Elise, die dem Arzt nichts verschweigen zu dürfen glaubte, hatte von meiner Scheidung gesprochen.

»Wann hat die stattgefunden? Ich frage nicht aus Neugierde, gnädiges Fräulein!«

»Vor sechs Monaten.«

»Das ist ja schon ziemlich lange her. Ihr Herr Bruder müßte seine Frau sehr geliebt haben, wenn er den Schmerz der Trennung von ihr heute noch nicht überwunden hätte.«

»Glauben Sie, daß eine Wiedervereinigung mit ihr ihn heilen würde?«

»Das kann ich unmöglich bestimmt versichern«, sagte der Arzt, augenscheinlich überrascht. Es erschien ihm doch wohl bedenklich, eine Wiederannäherung der geschiedenen Gatten anzuempfehlen. Es wäre ein gar zu gefährliches Experiment gewesen – und es konnte mißglücken! »Ich wollte nur sagen,« fuhr er laut fort, »daß, wenn es ein Herzenskummer sein sollte, der Ihren Herrn Bruder krank gemacht hat, die Krankheit durch Beseitigung des Kummers möglicherweise gehoben werden könnte. Aber ganz sicher ist kein Heilmittel, gnädiges Fräulein: das wird Ihnen jeder gewissenhafte Arzt sagen. Vorläufig wollen wir meine Medikamente wirken lassen.«

Aber die Medikamente wirkten nicht, und immer fester wurde in Elisen die Überzeugung, daß es nur ein Mittel gäbe, um mich wieder gesund zu machen. – Sie war ein mutiges Mädchen, wo es sich um das Wohl derer handelte, die sie lieb hatte. Und seit dem Tode unseres Vaters war ich ihr das Liebste auf der Welt. Sie telegraphierte an Fräulein Natalie Ellrichs und bat diese um eine Zusammenkunft in Berlin. Die Antwort erfolgte umgehend: Natalie Ellrichs stellte sich Fräulein Elise von Nortorf zur Verfügung: diese möchte bestimmen, wann Fräulein Ellrichs die Ehre haben sollte, sie in der Wohnung ihrer Eltern zu empfangen. – Darauf reiste Elise nach Berlin.

Was dort zwischen den beiden vorging – darüber fehlt mir ein klarer Bericht. Keine von ihnen schien sich später noch genau zu erinnern, was die eine oder die andere gesagt hatte. Nur so viel stand fest, daß in dieser ersten Zusammenkunft viel geweint worden war, und daß Elise und Natalie, nachdem sie sich verständigt hatten, als gute Freundinnen voneinander geschieden waren.

Nataliens Eltern, die unter einem geheimnisvollen Schmerze, der an ihrer geliebten, einzigen Tochter nagte, ebenso litten wie Elise an meinem Kummer, waren zunächst im höchsten Grade überrascht gewesen, als Natalie ihnen mit großer Verlegenheit mitgeteilt hatte, Fräulein Elise von Nortorf habe für ihren Bruder Hermann um ihre Hand angehalten. Nach einer kleinen Weile, während der Frau Ellrichs sich nervös gefächelt, hatte Herr Ellrichs gerufen:

»Für Hermann? Meinen Freund? Das habe ich mir immer gedacht! Der paßt auch viel besser für dich als sein Bruder. Ein prächtiger Mensch!«

Und als darauf Natalie ihren Vater unter Tränen umarmt, da hatte sie gewonnene Sache gehabt. Er und Frau Ellrichs hatten nur nach vielem Hin- und Herreden noch den Wunsch ausgesprochen, daß die Angelegenheit möglichst still – am besten wohl auf dem Gute in Nortorf – zu Ende geführt werde, und daß bis dahin mit niemand darüber gesprochen werden sollte.

Am selben Tage noch hatte Natalie meine Schwester ihren Eltern vorgestellt. Elise konnte von unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit sein. Herr und Frau Ellrichs hatten allen ihren Vorschlägen zugestimmt. Diese waren etwas außergewöhnlich gewesen – aber meine Krankheit, die Notwendigkeit, mich gesund zu machen, hatte schließlich alle Bedenken beseitigt.

 

Ich lag im Bette und hielt ein Telegramm Elisens in der Hand. »Um drei Uhr bin ich bei dir. Bereite dich auf eine freudige Überraschung vor!«

»Was sie mir wohl mitbringen wird?« fragte ich mich, und ich dachte an irgendeine Spielerei. – Ich war nicht neugierig und vergaß das Telegramm bald wieder.

Gegen drei Uhr hörte ich den Wagen vorfahren und vernahm Elisens und Ellens Stimmen, ohne zu verstehen, was sie sagten. Es dauerte etwas lange, ehe Elise kam; aber ich wurde nicht ungeduldig.

Es war ein schöner warmer Sommertag. Die Fenster des Zimmers, in dem ich lag, standen offen. Ich hörte die Vögel singen und das Rauschen der großen Bäume. Mir wurde feierlich zumute, und ich lag ganz still. Da hörte ich leise Schritte – dann wurde leise angeklopft.

Die Türe öffnete sich, und darin erschienen zwei schlanke Frauengestalten. Die größere und ältere hielt die Hand der anderen, die einen halben Schritt hinter ihr stand, als scheute sie sich einzutreten.

»Hermann!« sagte Elise. »Hier bringe ich dir deine Braut!«

Und nun war alles gut.


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