Rudolf Lindau
Liebesheiraten
Rudolf Lindau

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Es war im Spätherbst. Ich irrte lange Zeit im Tiergarten umher, der mit seinen entlaubten Bäumen und mit gelben Blättern bedeckten Wegen und Seen mich noch trauriger und hoffnungsärmer stimmte. Ich versuchte vergebens, dagegen anzukämpfen, ich warf mir meine Mutlosigkeit vor, am Siege zu verzagen, noch ehe ich gekämpft hatte. Aber es half nichts: ich blieb traurig und niedergeschlagen.

Gegen sechs Uhr nahm ich in meiner Wohnung mein übliches, einfaches Mittagsmahl ein, und gleich darauf wurde ich von großer Müdigkeit befallen, als hätte ich ein schweres Tagewerk verrichtet. Ich schlief fest ein. Als ich plötzlich erwachte, schlug mir das Herz. Mein erster Gedanke war, ich hätte die Zeit, mein Glück verschlafen. Ich bemerkte, nach der Uhr sehend, mit Erstaunen, daß ich nur einige Minuten die Augen geschlossen und die Besinnung verloren hatte. Ich zog mich an und begab mich langsam zu Fuß nach Frau von Wehrenbergs Wohnung. Es war etwa acht Uhr, als ich dort anlangte. Ich wurde sofort vorgelassen.

Sobald ich mich gesetzt hatte, begann Frau von Wehrenberg in einer Weise zu sprechen, die mir zeigte, daß meine Befürchtungen gerechtfertigt waren, daß sie meinen Antrag nicht annahm. Dies verwirrte mich dermaßen, daß ich zunächst kaum verstand, was sie mir sagte; doch versuchte ich darauf zu antworten. Aber sie ließ mich anfänglich gar nicht zu Worte kommen. Mit der Zeit wurde mir ihrer Rede Sinn klar. Sie sprach ruhig und gelassen, als sagte sie etwas Auswendiggelerntes her, sie saß dabei kerzengerade, unbeweglich; nur von Zeit zu Zeit rieb sie sich die zarten Hände. – Sie fand es nicht in Ordnung, daß ich zuerst mit ihrer Tochter gesprochen hatte, anstatt mich mit meinem Antrag an sie, die Mutter, zu wenden. Sie gab mir, wenn auch nicht in klaren Worten, zu verstehen, daß ich durch mein Benehmen das Vertrauen, das sie mir geschenkt, gemißbraucht habe; – glücklicherweise hätte mein Verhalten aber keine bedenklichen Folgen gehabt, da Johanna sich selbstverständlich beeilt habe, ihrer Mutter einen getreuen Bericht von dem Vorgefallenen abzustatten. – »Einen getreuen Bericht, das heißt also auch einen vollständigen«, sagte sie mit Nachdruck und mich mit ihren zusammengekniffenen Augen scharf anblickend. Ich verstand, daß sie damit zu erkennen geben wollte, sie wüßte sehr wohl, Johanna habe meinen Kuß geduldet und mir dadurch das Geständnis ihrer Gegenliebe gemacht.

»Ich will ganz offen zu Ihnen sprechen«, fuhr sie fort. »Ich gestehe, daß ich mich eine Zeitlang gern mit dem Gedanken vertraut gemacht habe, Sie könnten mein Sohn werden. Ich kenne Ihre ganze Familie, Ihre selige Mutter war meine beste Freundin, ich kenne Sie selbst seit Ihrer Geburt. Alles, was ich von Ihnen wußte, war mir eine Gewähr für das Glück meiner Tochter. Aber ich hatte Sie seit einer Reihe von Jahren aus den Augen verloren, Sie waren mir fremd geworden, und als ich sah, daß Sie sich um Johannas Liebe bewarben, da war es meine Pflicht, genaue Erkundigungen über Sie einzuziehen.«

Sie machte eine Pause und rieb sich die Hände. Dann sagte sie mit harter, unfreundlicher Stimme: »Diese Erkundigungen sind sehr ungünstig für Sie ausgefallen – von meinem Gesichtspunkte aus, nur von meinem Gesichtspunkte aus. – Ich habe Ihnen keinen Vorwurf daraus zu machen, daß Sie ein Spieler sind, daß Sie ein Leben geführt haben, das ich, die ich nur wenig von der Welt kenne, als ein wüstes bezeichnen muß, daß Sie Schulden gemacht und einen Teil Ihres Vermögens bereits vergeudet hatten, noch ehe es in Ihren Besitz gelangt war. Das ist heute nur Ihre Sache und Sache ihrer Familie. Aber es wird meine Sache, wenn Sie mein Sohn werden wollen. Einem Manne mit Ihrer Vergangenheit kann ich das Glück meiner Tochter nicht anvertrauen.«

Ich war einige Sekunden sprachlos. Ich hatte das Gefühl, daß mir bitteres Unrecht geschah. Ich hatte ein Leben geführt, wie Tausende es führten, niemals war mir der Gedanke gekommen, daß ich mich dadurch entwürdigt hätte. Frau v. Wehrenberg sagte, sie kenne die Welt nicht. Sie sprach eine bewußte Unwahrheit aus. Sie war im Gegenteil eine außergewöhnlich weltkluge Frau, und sie wußte sehr wohl, daß junge, reiche Leute mit guter Gesundheit und gutem Namen im allgemeinen nicht wie Heilige leben, sondern alle, mit seltenen und nicht einmal immer rühmlichen Ausnahmen, auf denselben Pfaden wandeln, die ich als junger Mann eingeschlagen hatte. Aber es war nicht üblich, jemand daraus ein Verbrechen zu machen. Man gestattete der Jugend »auszutoben«. Mein Vater, meine Geschwister, gesetzte Freunde, Gönner und Bekannte hatten es mir gestattet, ohne mir deswegen zu zürnen. Was sie von mir erwarteten, war, daß ich als Mann auf die Jugendtorheiten verzichten würde. Das war meine feste Absicht. Ich hatte den ernsten Willen, fortan mit Aufgebot aller meiner Kräfte meine Pflichten zu erfüllen und einem hohen Ziele, das ich mir gesteckt hatte, entgegenzustreben.

Ich fand nur mühsam Worte, dies Frau v. Wehrenberg zu sagen. Der Blick, den sie auf mich richtete, während ich sprach, war nicht ermutigend, und ich kam mir unter demselben wie ein Schuldbewußter vor, der leere Entschuldigungen vorbringt, um das Urteil des Richters zu fälschen und zu seinen Gunsten zu beeinflussen.

Sie hatte mich, ohne mich zu unterbrechen, sprechen lassen. Als ich endlich schwieg, unzufrieden mit dem, was ich gesagt hatte, aber unfähig, etwas Besseres zu finden, und von nagender Unruhe gepeinigt, da antwortete sie: »Ich beurteile Sie nicht hart; ich tadele auch die Nachsicht Ihrer Freunde nicht; aber mich können Ihre Erklärungen nicht umstimmen. Ihre Vergangenheit beunruhigt mich: ich würde gegen mein Gewissen handeln, wenn ich Ihnen das Schicksal meines Kindes anvertraute.«

»Wollen Sie mich ohne jede Hoffnung entlassen?« fragte ich verzweifelnd. »Seien Sie nicht so streng, gnädige Frau, zerstören Sie nicht mit einem Schlage mein ganzes Lebensglück! Stellen Sie mich auf die Probe, verlangen Sie von mir, was Sie wollen! Ich fühle wohl, daß ich Ihrer Tochter nicht würdig bin; aber kein Mann auf Gottes Erdboden wird sich ihr Glück mit solchem Ernste, mit solcher Freudigkeit zur Aufgabe seines Lebens machen, wie ich es tun würde. Johanna weiß das, sie vertraut mir, sie darf mir vertrauen, sie wird für mich sprechen, sprechen Sie mit ihr.«

Frau v. Wehrenberg saß eine Weile nachdenklich da. Ich glaubte sie durch mein Bitten bewegt zu haben und blickte sie ängstlich und erwartungsvoll an. – »Haben Sie Vertrauen zu mir, bitte, haben Sie Vertrauen, ich werde Sie nicht täuschen, ich könnte Sie nicht täuschen«, flehte ich. »Bei allem, was mir heilig ist, ich schwöre es Ihnen.«

Sie hörte mich nicht. Ihre Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt, und als sie nun wieder zu sprechen begann, konnte ich zunächst kaum verstehen, was sie eigentlich bezweckte. Es waren lange, gewundene, unklare Phrasen, in denen sie sich ausdrückte. Ich habe davon nichts behalten, ich erinnere mich nur, mit welch großem Erstaunen mir nach und nach klar wurde, daß es der Geldpunkt war, den Frau v. Wehrenberg so eingehend erörterte. Sie sprach dabei nicht mehr von mir: sie stellte im allgemeinen fest, daß sie die Zukunft ihrer Tochter unter allen Umständen sichern wollte. Als sie auf diesem Punkte angelangt war, wurden ihre Ausdrücke wieder klar und bestimmt.

»Ich weiß aus eigener, trauriger Erfahrung,« sagte sie, »wie elend das Dasein einer alleinstehenden, unbemittelten Frau ist. Ich will meine Tochter nicht der Gefahr aussetzen, daß ihr Leben eine Wiederholung des meinigen werde. Es soll wenigstens von den niederdrückendsten, erniedrigendsten aller Sorgen, den Geldsorgen, frei sein. Dazu kann ich selbst aber tatsächlich wenig beitragen, da ich nicht imstande bin, Johanna eine Mitgift zu geben, und da das kleine Erbe, das ihr nach meinem Tode zufällt, nicht genügen würde, ihr ein unabhängiges Dasein zu sichern. Darum muß ich von meinem zukünftigen Schwiegersohn verlangen, daß er meiner Tochter im Ehevertrage eine bestimmte Summe verschreibe, deren rechtmäßige Eigentümerin sie würde, während ihr Gemahl jeder Verfügung darüber in bindender Weise zu entsagen hätte.«

Ich kann nicht beschreiben, wie peinlich es mich berührte, daß Frau v. Wehrenberg den Geldpunkt in dieser Weise in den Vordergrund schob. Ich bekenne, daß mich dies ihr gegenüber geradezu ungerecht machte, denn ich klagte sie in meinem Herzen an, ihre Tochter für eine gewisse Summe »verkaufen« zu wollen. – Meine Liebe, meine hohe Verehrung für Johanna sollten zu einem Geldhandel um ihren Besitz führen! – Aber ich durfte meine Gefühle nicht zu erkennen geben. Ich drängte sie zurück, ich sammelte mich schnell, und in denselben ruhigen Geschäftston verfallend, den Frau v. Wehrenberg angeschlagen hatte, sagte ich:

»Wenn es zu Ihrer Beruhigung dienen kann, gnädige Frau, daß Ihre Tochter ein unabhängiges Vermögen besitze, so bin ich bereit zu tun, was in meinen Kräften steht, um Ihren Wünschen entgegenzukommen.« Ich zauderte zu sagen: »Was verlangen Sie?« – Ich konnte es nicht über die Lippen bringen, nach dem Preis zu fragen, um den ein geliebtes, reines Wesen von der Mutter feilgeboten wurde. Frau v. Wehrenberg war in dieser Beziehung vorurteilsfreier als ich, doch wurde es auch ihr augenscheinlich nicht leicht, den Kaufpreis zu nennen. Sie suchte wieder nach langen, unklaren Phrasen, um die Sache in möglichst milder Form einzuleiten: mein Vermögen wäre nicht groß, meine Vergangenheit rechtfertige die Befürchtung, daß ich es verlieren könne, ich müßte selbst einsehen, wie beruhigend es für sie – die Mutter – und auch für mich sein würde, wenn wir rechtzeitige Abmachungen träfen, die geeignet erschienen, Johannas Zukunft unter allen Umständen zu sichern. Dabei betonte sie ihre eigene Uneigennützigkeit. Sie habe genug, um zu leben, auch seien ihre Ansprüche der bescheidensten Art; aber wo es sich um ihre Tochter handele, da wollte sie sich lieber der Gefahr aussetzen, geldsüchtig zu erscheinen, als irgend etwas unterlassen, um Johanna eine sorgenfreie Zukunft zu sichern.

Ich hörte ruhig zu. Die Rollen waren gewissermaßen vertauscht. Frau v. Wehrenberg war jetzt befangen und rieb sich in sichtlicher Verlegenheit die Hände, während ich ihr im Gefühl einer eigentümlichen Überlegenheit, der des Käufers zum Verkäufer, gegenüber saß; aber als ich bemerkte, daß sie das unangenehm empfand und übler Laune zu werden drohte, kam mir die Befürchtung, das »Geschäft« könne sich möglicherweise zerschlagen, wenn ich nicht größeres Entgegenkommen zeige. Das wollte ich um jeden Preis verhindern, und deshalb fiel ich Frau von Wehrenberg ins Wort, indem ich sagte:

»Sie haben vollkommen recht, gnädige Frau. Alles, was aus Liebe für Johanna, aus Sorge um sie beabsichtigt wird, findet bei mir das vollste Verständnis. Lassen Sie uns also einfach zu den Tatsachen übergehen!«

Sie konnte sich nicht überwinden tief aufzuatmen, wie jemand, der sich plötzlich von einer drückenden Last befreit fühlt. Ich bemühte mich zu verbergen, daß ich sie durchschaute und fuhr in zutraulichem Tone fort.

»Mein Vermögen ist leider nicht so groß, wie ich es für Johanna wünschte. Ich darf, nach dem, was Sie soeben gesagt haben, vermuten, daß Sie das wissen. Ich besitze siebzigtausend Taler.«

»Ich glaubte hundert«, unterbrach sie mich.

Ich bin fest überzeugt, sie log, denn sie hatte sicherlich erfahren, daß meine ganze Erbschaft hunderttausend Taler betragen, und daß ich einen Teil davon zur Tilgung meiner Schulden verausgabt hatte. Aber ich behielt meine Gedanken für mich und erklärte einfach, auf welche Weise mein Vermögen bis auf siebzigtausend Taler zusammengeschmolzen sei.

»Ah,« sagte sie, »Sie werden danach selbst einsehen, wie pflichtvergessen ich als Mutter handeln würde, wenn ich meine Tochter der Gefahr aussetzen wollte, einst, als Ihre Witwe, mittellos dazustehen und auf die Barmherzigkeit ihrer Verwandten und Freunde angewiesen zu sein.«

Das war mir doch etwas zu stark! Ich antwortete etwas gereizt, daß ich achtundzwanzig Jahre alt und niemals in meinem Leben krank gewesen sei, und die Möglichkeit, daß meine zukünftige Frau Witwe werden könnte, doch wohl nicht sogleich ins Auge zu fassen habe.

Sie lächelte überlegen. »Ja, so sind Sie! Vollständig sorglos! Da ist es, wenn es sich um meine Tochter handelt, doppelt meine Pflicht, alle, auch die entfernten Möglichkeiten zu erwägen. Mein Mann war nicht älter als Sie, als wir uns verheirateten – und ich bin seit fünfzehn Jahren Witwe!« – Sie erblaßte, und aus ihren weitgeöffneten Augen, die in die Leere starrten, blickte leidenschaftliche Bitterkeit. »Oh, wie elend, kummervoll, freudenlos ist mein Leben gewesen!«

Ich fühlte, daß ich sie wieder beschwichtigen müßte. »Verzeihen Sie meine Bemerkung«, sagte ich. »Sie haben vollkommen recht. Johannas Zukunft muß unter allen Umständen gesichert werden. Bestimmen Sie selbst, auf welche Weise dies geschehen soll! Mein Vertrauen zu Ihrer Tochter ist ein unbegrenztes. Ich bin mit Freuden bereit, ihr alles, was ich besitze, zu Füßen zu legen. Ich werde mir dann einbilden können,« fügte ich lächelnd hinzu, denn ich wollte der Unterredung wie der einen harmloseren Ton geben, »ich hätte eine Geldheirat gemacht, und der Wohlstand unseres Hauses beruhte auf dem Vermögen meiner Frau.«

»Sie gehen weiter, als ich verlange«, antwortete sie, ohne auf den versuchten Scherz einzugehen. »Johanna wird eines Tages dasjenige erhalten, worüber ich zu verfügen habe. Verschreiben Sie ihr etwa zwei Drittel Ihres Vermögens, fünfzigtausend Taler, das wird genügen.«

Ich bin ein ziemlich guter Kopfrechner und brauchte keine Zeit, um mir klar zu machen, daß die zwanzigtausend Taler, die für mich übrig bleiben sollten, ein kleines Drittel meines Vermögens ausmachen würden; aber dieses Rechnen und Feilschen ekelte mich wahrhaftig an. »Ganz wie Sie befehlen«, sagte ich trocken. – Und darauf trat eine Pause ein, während wir uns beide verlegen und unfreundlich gegenüber saßen. Ich wußte nicht, wie ich das Gespräch wieder aufnehmen sollte, und Frau v. Wehrenberg ging es in dieser Beziehung anscheinend nicht besser als mir. Nach einer kleinen Weile erhob sie sich und sagte in müdem Tone: »Ich werde nun mit Johanna sprechen, und Sie sollen morgen von mir hören.« Damit reichte sie mir die Hand, die mir noch zarter und kälter als gewöhnlich vorkam, und ich fand mich verabschiedet.

Erst als ich in der Straße war, kam mir der Gedanke, daß ich mein Ziel nun doch erreicht hätte. Das Gespräch zwischen Johanna und ihrer Mutter, das noch stattfinden sollte, war in meinen Augen nur eine Formsache. Johanna hatte mir gestern ihre Liebe gestanden und die Mutter mir soeben stillschweigend ihre Zustimmung zu meiner Verheiratung mit ihrer Tochter gegeben. So wenigstens glaubte ich das, was sie mir gesagt hatte, deuten zu können. Ich hätte nun glücklich sein sollen. Aber ich war es nicht. Die leidigen Verhandlungen über die Geldfrage hatten mir die Freude an meinem Erfolge verbittert. Es lag mir fern, Johanna dafür verantwortlich zu machen; ich dachte im Gegenteil daran, wie peinlich es ihr sein müßte, wenn sie erführe, ihre Mutter habe sie gewissermaßen verkauft, und ich sah meinem Zusammentreffen mit ihr mit einer gewissen Befangenheit entgegen.

»Mein Glück fängt nicht glücklich an«, sagte ich mir. Traurig und niedergeschlagen schlich ich meiner Wohnung zu. Dort fand ich einen unfreundlichen Brief meines Bruders Lothar. Er fragte in augenscheinlich gereizter Stimmung, ob ich seinen Schwiegereltern die Ehre meines Besuches erweisen wollte oder nicht. Er hätte erwartet, daß ich dies gestern, spätestens heute tun würde. Schöbe ich die Angelegenheit noch länger auf, so müßte er dies als ein Zeichen betrachten, daß ich mit ihm zu brechen wünsche. Das sei meine Sache. Er seinerseits könne, um eine Entfremdung zu verhindern, nichts weiter tun, als mir mitteilen, daß ich ihn heute abend bis gegen elf Uhr bei seinen zukünftigen Schwiegereltern finden würde.

Lothar hatte den Brief in meiner Wohnung geschrieben, nachdem Franz ihm gesagt, ich sei gegen acht Uhr ausgegangen, augenscheinlich um einen Besuch zu machen. Wo? – Das hatte der Diener nicht sagen können, da er es selbst nicht wußte.

Es war zehn Uhr. – Ich befand mich gar nicht in der Stimmung, fremde Gesichter zu sehen; aber ich wollte Lothar nicht verletzen. Seine Empfindlichkeit war leicht zu erklären, und ich nahm ihm den gereizten Ton, in dem er mir geschrieben hatte, nicht übel. Ich verließ meine Wohnung sogleich wieder und begab mich nach dem Ellrichs'schen Hause.

Lothar drückte mir, als ich in das Zimmer trat, die Hand so kräftig, daß es mich schmerzte. Er hatte mich wohl ungeduldig erwartet, kaum noch gehofft, daß ich kommen würde, und mein Erscheinen war ihm eine Freude und eine Erleichterung, weil es ihn unangenehmer Aufklärungen enthob, die er andernfalls seinen Schwiegereltern und seiner Braut hätte geben müssen.

»Ich habe dich bereits entschuldigt«, sagte er halblaut, während er mich zu Herrn und Frau Ellrichs führte, die vor einem behaglichen Holzfeuer, das im Kamin flackerte, Platz genommen hatten. Was er erfunden haben mochte, um mein spätes Kommen zu beschönigen, wußte ich nicht. Jedenfalls hatte er mir dadurch mein erstes Zusammentreffen mit seinen zukünftigen Schwiegereltern erleichtert. Ich konnte mich damit begnügen, einige Worte zu murmeln, von denen »herzlichste Glückwünsche« die verständlichsten waren, und auf die Herr und Frau Ellrichs unter Verbeugungen und freundlichem Lächeln mit den üblichen Redensarten antworteten.

Als ich mich setzen wollte, näherte sich mir Lothars Braut, aus einem dunkleren Teile des großen Zimmers hervortretend, in dem ich mich noch nicht umgesehen hatte. Ich ging ihr schnell entgegen, und da sie auf dem Wege zu mir zu zögern schien, so begegneten wir uns weit genug vom Kamine, wo die anderen saßen, um die Worte, mit denen sie mich begrüßte, dort unverständlich zu machen. Sie reichte mir die Hand und sagte leise:

»Es freut mich, Sie zu sehen – mehr als ich es sagen kann. Es ist mein innigster Wunsch, wir möchten gute Freunde werden.«

Ihre großen, schönen, dunklen Augen blickten dabei traurig. Es kam mir der Gedanke, als empfände sie es wie eine unverdiente Kränkung, sich mir gewissermaßen wie eine Bittende zu nähern.

Traurigkeit bei einer Frau oder einem Kinde hat mich immer entwaffnet. – War es des armen Mädchens Schuld, wenn mein Bruder sie wegen ihres Geldes heiratete? Sie war so unschuldig an Lothars Eigennutz wie Johanna an dem ihrer Mutter. Nein – ich wenigstens wollte sie nicht dafür büßen lassen, daß Lothar sich bei seiner Verlobung mit ihr von Beweggründen hatte leiten lassen, die mir erbärmlich erschienen. Natalie hatte meine Teilnahme für sich gewonnen. Ich erwiderte herzlich den leisen Druck ihrer Hand und sagte aufrichtig: »Ich denke, wir müssen gute Freunde werden, wenn Sie mir wohl wollen, denn Sie sind mir, das fühle ich, lieb und wert.«

Da leuchteten ihre Augen in so tiefem, warmem Glanze, daß es mich seltsam ergriff.

In dem Augenblick trat Lothar zu uns. Er hatte wohl erkannt, daß unsere Begegnung eine freundliche gewesen war, und die innige Befriedigung, die er darüber empfand, war deutlich auf seinem Gesichte zu lesen. Er war bemüht, dies zu verbergen, und sagte in gleichgültigem Tone: »Ich habe Glückwünsche von zu Hause erhalten. Deine Briefe waren soeben eingetroffen.«

Er übergab mir zwei Telegramme. Das von Marie und ihrem Manne war kurz und besagte wenig. – »Herzliche Glückwünsche Dir und Deiner Braut. Marie und Otto.« – Daraus konnte man lesen, was man wollte. – Aber Karl hatte nicht mit Worten gespart. Sein Telegramm war ein förmlicher Brief, in dem er Lothar in den wärmsten Ausdrücken, die eine innige Befriedigung zu erkennen gaben, zu seiner Verlobung Glück wünschte; auch empfahl er sich den neuen Anverwandten, deren persönliche Bekanntschaft er bald zu machen hoffte. Zum Schluß hieß es: »Elise trägt nur ihre Grüße und Glückwünsche auf.«

Ich war sehr erfreut und etwas überrascht zu sehen, wie wohlwollend Karl sich der Verlobung gegenüberstellte. Daß er kein engherziger Mann war, hatte ich gewußt; aber doch immer geglaubt, er sei von sogenannten Standesvorurteilen befangen.

Der Abend verlief ohne bemerkenswerten Zwischenfall. Herr und Frau Ellrichs waren beide sichtlich bestrebt, sich mir angenehm zu machen, Lothar gab sich Mühe, unbefangen zu erscheinen, was ihm aber nicht gelang, Natalie verhielt sich schweigsam. Ich betrachtete sie aufmerksam, was ich bei unseren früheren Begegnungen nicht getan hatte. Sie war an Schönheit mit Johanna nicht zu vergleichen, aber entschieden hübscher, »interessanter« möchte ich sagen, als ich mir vorgestellt hatte. Ihre kleine, überaus zierliche Gestalt kam in dem einfachen Kleide, das sie trug, vorteilhaft zur Geltung, und die dunklen, großen, sanft glänzenden Augen, von dichten Wimpern beschattet, waren sehr schön; aber »gefällig« war das Gesicht nicht zu nennen: dazu war der Ausdruck des sehr bleichen, von schwarzem Haar eingerahmten Antlitzes und des Mundes mit den schmalen, festgeschlossenen Lippen zu streng. Auffallend waren in dem Gesicht die feinen, langen, geraden Augenbrauen, die über der schmalen Nase beinahe zusammenwuchsen.

Gegen elf Uhr gab mir Lothar ein nur von mir bemerktes Zeichen zum Aufbruch, worauf wir uns beide erhoben und verabschiedeten. Als wir in der Straße waren, sagte ich ihm, seine Braut habe mir sehr gefallen. Er antwortete: »Und du kennst sie noch nicht. Sie ist ein wahrhaft bedeutendes Mädchen, sie hat ein großes Herz und einen klaren Verstand. Du wirst mich eines Tages aufrichtiger beglückwünschen zu dem, was ich erreicht habe, als du es neulich abends getan hast.«

Gleich darauf fing er an, sich nach Johanna zu erkundigen. – Wie es mit meiner Bewerbung stände? Ein Gefühl der Beschämung verhinderte mich, ihm den Inhalt meines Gespräches mit der Mutter mitzuteilen. Ich sagte ihm nur, ich hätte soeben bei Frau v. Wehrenberg um die Hand ihrer Tochter angehalten. Sie habe sich Bedenkzeit erbeten, und ich erwarte, ihre Antwort morgen zu empfangen.

»Die ehrenwerte Dame ziert sich«, antwortete Lothar. »Sie wird natürlich mit beiden Händen zugreifen. Sie kann froh sein, ihre Tochter so gut loszuwerden. Arme Mädchen aus anständiger Familie, mit gewissen Ansprüchen, die für berechtigt gelten, sind eine Ware, für die nur wenig Käufer im Markte sind.«

Das Wort »Käufer« berührte mich auf das peinlichste. Aber ich sagte kein Wort dazu. Lothar hatte recht: Frau v. Wehrenberg hatte ja ihre Tochter verkauft, für fünfzigtausend Taler, weil sie nicht mehr bekommen konnte. – Und ich war der Käufer. »Wenn ein anderer mehr geboten, hätte er sie bekommen«, sagte ich mir. – Ich kann gar nicht beschreiben, wie traurig und niedergeschlagen ich bald darauf, nachdem Lothar und ich uns vor der Tür meiner Wohnung getrennt hatten, das Lager suchte. – Und es hätte ein Tag des Glücks und des Triumphs für mich sein sollen, der Tag, an dem Frau v. Wehrenberg mir ihre Einwilligung zu meiner Verheiratung mit Johanna gegeben hatte.

Am nächsten Morgen erhielt ich Briefe von meinen drei Geschwistern, denen ich Lothars Verlobung angezeigt hatte. Karl schrieb auch mir mit derselben ungekünstelten Freude, die ich schon aus seinem Telegramm an Lothar erkannt hatte. Er machte auch nicht die entfernteste Anspielung darauf, daß viele von Lothars Verwandten und Bekannten die Verbindung mit der Tochter des reich gewordenen Herrn Ellrichs als eine Mißheirat betrachten würden, sondern äußerte nur seine Befriedigung darüber, daß Lothar, von dem er so viel »Konduite« gar nicht zu erwarten gewagt hätte, sich bei der Wahl seiner zukünftigen Frau von seiner Vernunft habe leiten lassen. »Sie soll ja sehr reich sein, die zukünftige Schwägerin«, schrieb er. »Ich höre von mehreren Millionen munkeln. Ich kann Dir nicht sagen, wie sehr ich mich über die Verlobung freue, und ich begreife gar nicht, daß du über meine Gefühle in dieser Beziehung einen Zweifel hegen konntest.«

Ich würde sehr erstaunt über diesen Brief gewesen sein, wenn ich nicht bereits durch Karls Telegramm an Lothar darauf vorbereitet gewesen wäre.

Mariens Brief war in bezug auf Lothar so, wie ich ihn erwartet hatte: traurig und gut. Sie hätte meinem Bruder eine ganz andere Frau gewünscht. Natürlich! Aber sie hoffte, er würde die Wahl, die er getroffen, niemals bereuen, und er hätte selbstverständlich ihre herzlichsten Wünsche für sein Glück. »Du, lieber Hermann«, fuhr der Brief fort, »wirst nicht ein Mädchen ihres Geldes wegen nehmen. Ich bin dessen sicher. Dazu kenne ich Dich zu gut. Lieber, tausendmal lieber, sähe ich Dich ledig bleiben.« Dann beantwortete sie meine Frage in bezug auf Frau v. Wehrenberg und Johanna. Sie sprach unfreundlich von der Mutter. Sie nannte sie eine verbitterte, selbstsüchtige, neidische Frau, und in Mariens Munde, die ein Engel von Herzensgüte war, hätten mich diese Worte nachdenklich machen sollen. Aber ich ging, wennschon mit einer gewissen Verstimmung, darüber fort. Auch über Johanna sprach Maria sich keineswegs mit der Begeisterung aus, die ich erwartet hatte. »Sie ist sicherlich ein auffallend schönes Mädchen«, schrieb meine Schwester; »aber ich halte sie für unbedeutend, kalt und herzlos. Sie hat seit ihrer Kindheit kaum etwas anderes vernommen als die verbitterten Klagen und gehässigen Vorwürfe ihrer Mutter gegen die ganze Welt. Da ist es schwer, gut und weich zu bleiben, besonders wenn man geistig so unbedeutend ist wie Johanna.« An diesem Punkte ihres Briefes angelangt, schien Marie plötzlich den Grund meiner Anfrage über Frau v. Wehrenberg und Johanna erkannt zu haben. »Du wirst doch Johanna Wehrenberg nicht etwa heiraten?« fragte sie. »Ach nein! Ich irre mich sicherlich, wenn ich eine solche Befürchtung hege. Johanna paßt ganz und gar nicht für Dich. Sie würde Dich nie glücklich machen. Glaube es Deiner alten Schwester, die Frauenherzen besser kennt, als du sie kennen kannst. Beruhige mich über diesen Punkt! Schreibe mir sogleich, ich bitte Dich darum, weshalb Du Anteil an Frau von Wehrenberg und an Johanna nimmst!«

Ich warf den Brief zornig beiseite. – Nein, über Johanna wollte ich mich von niemand belehren lassen. Die kannte ich besser als irgend jemand!

Elisens Brief atmete geradezu leidenschaftliche Bitterkeit. Sie war »empört« über die von Lothar getroffene Wahl, sie verwahrte sich dagegen, jemals die Bekanntschaft der neuen Schwägerin und deren Familie zu machen, sie sprach mit Entrüstung über Karls Anschauungen. – »Karl hat nur eine Sorge, wenn er an Lothar denkt: daß dieser sich ruiniere. Hundertmal habe ich ihn darüber klagen hören. ›Ordentliche Wirtschaft‹, wie er es nennt, ist das erste, worauf er sieht. Er erblickte in Lothars Verheiratung mit einem reichen Mädchen das einfachste Mittel, daß Lothar seine alten Schulden bezahle und nicht in die Lage komme, neue zu machen. Das ist für Karl die Hauptsache; ob das Geld durch eine Geldheirat erworben werden wird, kümmert ihn nicht, und Ellen denkt genau so wie er. – ›Wenn nur Hermann auch eine so gute Heirat machen wollte‹, sagte sie, nachdem Karl uns Deinen Brief vorgelesen hatte. Ich erwiderte darauf, mit einiger Heftigkeit, so glaube ich, denn ich fühlte, wie mir das Blut dabei ins Gesicht stieg, ich hätte eine zu hohe Meinung von Deiner Ehrenhaftigkeit, um Dir Ähnliches zuzutrauen. – Karl und die sanfte Ellen hatten darauf keine andere Antwort, als daß sie mich auslachten. Aber ich will lieber verhöhnt werden, als mich Deiner schämen. – Es gibt nur zwei Frauen, von denen ein Mann Geld nehmen darf: von seiner Mutter und seiner Schwester. Ich bin reicher als du, und ich gebrauche weniger. Ich teile gern mit Dir! Und das wußte unser seliger Vater, als er mich vor Dir bevorzugte.«

Die Briefe beschäftigten meine Gedanken so sehr, daß ich darüber meine eigenen Angelegenheiten eine Zeitlang vergaß, doch erbrach ich mit zitternder Hand einen Brief für mich, den ich auf meinem Pulte im Ministerium vorfand, und der, wie ich an der Handschrift auf dem Umschlage erkannte, von Frau v. Wehrenberg kam. Sie bat mich, sie um acht Uhr abends besuchen zu wollen. Das war alles. Kein Wort von Johanna. Aber ich war nicht mehr beunruhigt, die Sache erschien mir als geregelt, nachdem mir Frau v. Wehrenberg den Kaufpreis für ihre Tochter genannt, und ich mich bereit erklärt hatte, ihn zu zahlen.

Ich war mir wohlbewußt, daß ich Frau v. Wehrenberg unrecht tat, indem ich so unfreundlich über sie dachte. – Ich hatte, wennschon ich noch ein junger Jurist war, doch genug praktische Erfahrung, um zu wissen, daß es keinem Dritten einfallen würde, Frau v. Wehrenberg wegen ihrer Sorge um die Zukunft ihrer Tochter zu tadeln. Die Sorge war eine natürliche, mochte anderen als eine lobenswerte erscheinen; aber mich hatte es erbittert, daß Frau v. Wehrenberg gewissermaßen einen Handel mit mir getrieben, indem sie mir ihre Tochter zuerst verweigert, sich später aber bereit erklärt hatte, sie mir zu geben, nachdem ich das Versprechen geleistet, Johanna fünfzigtausend Taler zu verschreiben. Ich war kein Kind mehr, ich wußte, daß »Geld« bei den meisten Heiratsverträgen eine große Rolle spielte; aber was mich empörte, war, daß Frau v. Wehrenberg die Geldfrage in einer Weise in den Vordergrund geschoben hatte, die Johanna als »Kaufobjekt« erscheinen ließ. Sie hatte mir, wenn auch nicht in dürren Worten, so doch klar und deutlich zu verstehen gegeben, daß ich für fünfzigtausend Taler ihre Tochter haben könne. Sonst nicht. »Mariens Urteil über Frau v. Wehrenberg ist jedenfalls richtig«, sagte ich mir; aber mein Glaube an Johanna blieb unerschüttert. – In dieser Beziehung erwartete mich eine peinliche Überraschung, die zwar nicht bis zur vollständigen Enttäuschung ging, mich aber doch sehr nachdenklich machte.

Frau v. Wehrenbergs Zimmer war leer, als ich es betrat; gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und Johanna erschien darin. Sie blieb dort stehen, die Augen zu Boden geschlagen, das Antlitz mit heißer Röte übergossen. Ich eilte auf sie zu und ergriff ihre beiden Hände, die sie mir überließ. »Johanna!« flüsterte ich, fragend, flehend. Da schlug sie die in feuchtem Glanze schimmernden Augen empor, und ich las darin das Versprechen alles Glückes, das ich ersehnte: das Versprechen ihrer Liebe. Ich hielt sie einige Sekunden wortlos in meinen Armen. Dann sagte sie leise: »Mein geliebter Hermann. Mama hat mir alles erzählt. Wie gut du bist. Wie kann ich dir danken!«

Danken? Danken wofür? Für die fünfzigtausend Taler? Nein – das war nicht möglich! Aber ich wagte nicht zu fragen. Eine Antwort, wie ich sie fürchtete, würde mein Glück vernichtet haben.

Wir blieben etwa eine Viertelstunde allein. Ich weiß nicht, wovon wir sprachen, ich weiß nur, daß ich in ihrem Anblick alles andere vergaß, als daß sie unbeschreiblich schön sei, daß sie mich liebte, daß ich sie lieben durfte, und daß sie mein sein würde.

Die Stutzuhr schlug die halbe Stunde. Johanna erhob sich und entfernte sich einige Schritte von mir. »Mama wird sogleich kommen«, sagte sie.

Und so war es auch. »Mama« trat in das Zimmer.

Ich muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie keineswegs den Versuch machte, eine sentimentale Komödie aufzuführen. Sie umarmte mich nicht, sie nannte mich nicht »ihren lieben Sohn«, sie vergoß keine Tränen: sie war kalt und gemessen, wie ich sie stets gekannt hatte, und kalt und gemessen reichte sie mir die Hand zum Kuß – und das, sowie einige leise Worte, die ich kaum verstand, und die wohl sagen mochten, sie hoffte, wir würden glücklich sein – war ihr Segen zu meiner Verlobung mit ihrer Tochter. Ich fühlte mich durchaus nicht herzlich zu ihr hingezogen, und ich empfand, daß ich der ruhigen Frau mit den gelben Haaren noch heute genau so fremd gegenüberstand, wie es gestern der Fall gewesen war, und wie es immer sein würde.

Die Unterhaltung wollte nicht recht in Fluß kommen. Frau v. Wehrenberg gehörte zu den gesellschaftlich unbequemen Menschen, für die längere Gesprächspausen nichts Unbehagliches zu haben scheinen und die keinen Versuch machen, solche Pausen zu unterbrechen. Sie saß, ohne den Mund aufzutun, zwischen Johanna, die mir eingeschüchtert erschien, und mir, und ich hatte große Mühe, irgend etwas zu finden, um zu verhindern, daß die Unterhaltung ganz einschliefe. Von vertraulichem, freundlichem Aussprechen, wozu die Verlobung doch sicherlich hätte Anlaß geben können, war nicht die Rede.

Ich hatte Lothars Verlobung mit Natalie Ellrichs nicht vergessen; aber eine gewisse Scheu hatte mich eine Zeitlang verhindert, dies heikle Thema zu berühren. In meiner Verlegenheit, etwas zu finden, was Frau v. Wehrenbergs Aufmerksamkeit fesseln könnte, sagte ich nun: »Ich habe ganz vergessen, Ihnen die große Familien-Neuigkeit mitzuteilen: mein Bruder Lothar hat sich mit Fräulein Natalie Ellrichs verlobt.«

»Mit der Tochter des bekannten Armeelieferanten?« fragte Frau v. Wehrenberg.«

»Ja.«

»Lothar v. Nortorf will sich mit einem Fräulein Ellrichs vermählen? Ich kann es nicht glauben.«

»Es ist aber so, und ich glaube, Lothar hat gar keine schlechte Wahl getroffen. Jedenfalls ist nicht nur er damit zufrieden, sondern auch mein Bruder Karl, der ihm bereits seine herzlichsten Glückwünsche gesandt hat und demnächst mit seiner Frau eintreffen dürfte, um die persönliche Bekanntschaft der neuen Anverwandten zu machen.

»Da hat er mehr Eile, als ich haben werde«, antwortete Frau v. Wehrenberg trocken, und darauf blieb sie, gerade vor sich hinstarrend, stumm und steif sitzen. Johanna blickte in augenscheinlicher Verlegenheit zu Boden.

»Ich könnte es nicht übers Herz bringen«, sagte ich ernst und bestimmt, »die Beziehungen zu meinem Bruder abzubrechen, und ich sehe nicht, wie sie mit ihm aufrecht zu erhalten wären, ohne daß Johanna die Bekanntschaft seiner zukünftigen Frau machte.«

»Was Johanna als Ihre Frau tun will, ist ihre Sache; als meine Tochter wird sie die Familie Ellrichs nicht kennen lernen«, antwortete Frau v. Wehrenberg leise und anscheinend ruhig sprechend; doch war ihre Gereiztheit unverkennbar.

Ich brauchte mich nicht lange zu besinnen, um mir klar zu machen, daß eine Antwort, wie sie auf diesen Angriff hätte erfolgen sollen, einen Streit zwischen mir und Frau v. Wehrenberg herbeigeführt haben würde – einen Streit, vielleicht einen Bruch. Darauf konnte ich es nicht ankommen lassen.

»Ich hoffe,« sagte ich milde, »daß Sie sich mit der Zeit eine versöhnlichere Auffassung aneignen werden.«

»Gestatten Sie mir, dies zu bezweifeln«, antwortete sie.

Ich wußte nicht, was ich, da ich einen Streit um jeden Preis vermeiden wollte, darauf antworten sollte, und es trat eine peinliche Pause ein, die ich nicht anders unterbrechen konnte, als indem ich mich erhob, um mich zu verabschieden.

»Wann darf ich morgen wiederkommen?« fragte ich.

»Dies Haus ist jetzt das Ihrige«, antwortete Frau v. Wehrenberg. »Verabreden Sie sich mit Johanna; mir sind Sie jederzeit willkommen.«

Und damit verließ sie das Gemach, nachdem sie mir in üblicher Weise die weiche Hand zum Kuß gereicht hatte. – Ich denke mir, sie mochte wohl fühlen, daß es auch in ihrem Interesse nicht geraten wäre, sich mit mir zu erzürnen, und sie wollte Johanna Gelegenheit geben, mich wieder zu versöhnen.

Sobald sie gegangen war, trat Johanna auf mich zu, legte ihr Haupt auf meine Schulter und sagte zärtlich, einschmeichelnd: »Sei der Mutter nicht böse, lieber Hermann! Es wird ihr schwer, freundlich zu scheinen; aber sie meint es gut, sie ist im Herzen die beste Frau. Du hättest nur hören sollen, mit welcher Bewunderung sie gestern von deiner Generosität sprach.«

Es war mir, als bekäme ich einen schmerzenden Stich. Mein Herz krampfte sich zusammen. »Generosität!« Johanna hatte kein deutsches Wort für das gefunden, was ich getan, indem ich mich erboten hatte, meiner zukünftigen Frau den größten Teil meines Vermögens zu schenken. »Generös« schien ihr die richtige Bezeichnung dafür zu sein, und sie hatte mir in warmen Worten dafür gedankt, an nichts anderes gedacht, als sie mich zum ersten Male als ihren verlobten Bräutigam begrüßt hatte.

Ich taumelte einen Schritt zurück. Der Angstschweiß trat mir auf die Stirn.

»Um Gottes willen – was fehlt dir?« rief Johanna bestürzt.

Ich ermannte mich schnell; aber ich war der Verzweiflung nahe, ratlos. Wäre es nicht das Beste, ich sagte: »Johanna, ich habe mich in dir getäuscht. Gib mir meine Freiheit wieder!« Aber da fiel mein Blick auf sie, wie sie mit weitgeöffneten Augen, geängstigt bis zum Entsetzen vor mir stand, besorgt um mich! Und so unbeschreiblich schön, so wunderbar schön, ein Abbild alles Edlen, Guten, Reinen in der Menschheit! Nein, Johanna konnte nicht kleinlich fühlen. Ihre Mutter hatte versucht, ihr die eigene, niedrige Geldsucht einzuimpfen – aber die gesunde, reine Seele mußte das Gift schließlich abstoßen, wenn es auch einen Augenblick an ihr nagte. Was ich als Wahrheit zu erkennen wähnte, war nichts als oberflächlicher, trügerischer Schein. Nein, ich wollte nicht an Johanna zweifeln, ich durfte es nicht. Es wäre eine Versündigung an ihr gewesen!

Ich drückte sie stürmisch an meine Brust. »O, Johanna, einzig Geliebte,« flüsterte ich, »sei mein guter Engel, rette mich!«

»Dich retten?« fragte sie erstaunt. »Retten: wovon? Welches Unglück bedroht dich? Ich verstehe dich nicht. Du beunruhigst mich. Sprich!«

»Laß nur!« sagte ich besänftigend. »Laß nur! Alles wird noch gut werden. Es muß ja gut werden, wenn du mich lieb hast, da ich dich über alles liebe. Sag' Johanna, hast du mich lieb, wirklich lieb?«

»Ja, ich habe dich lieb, wirklich lieb, von ganzem Herzen lieb.«

»Dann kann uns nichts und niemand etwas anhaben. Gute Nacht, geliebte Johanna. Auf morgen!«

Sie ließ sich meinen Kuß gefallen und erwiderte ihn – aber so kalt, daß es mir auffiel. Mein Benehmen hatte sie befremdet, beängstigt: ich sah es an den unruhigen, forschenden Blicken, mit denen sie mich beobachtete. Endlich sagte sie mit einem tiefen Seufzer: »Versprich mir eins, lieber Hermann! Bitte, sei nie wieder so sonderbar, wie du es soeben warst! Du hast mich über alle Maßen geängstigt.«

Es klang unbeschreiblich einfältig und ernüchternd.

In meinem Leben waren mir noch viele unglückliche Stunden vorbehalten, aber die, welche ich verbrachte, als ich nach jenen Gesprächen mit Johanna und ihrer Mutter, grübelnd und mich selbst folternd, in den einsamen Wegen des dunkeln Tiergartens umherirrte, war eine der traurigsten.

 


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