Rudolf Lindau
Liebesheiraten
Rudolf Lindau

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Die Folgen dieses Auftrittes waren mannigfacher Art. Zunächst empfing ich am nächsten Tage einen Brief meiner Frau Schwiegermutter, die mich höflich bat, sie auf dem Heimwege vom Ministerium nach meiner Wohnung, vor dem Essen, wenn es mir möglich wäre, besuchen zu wollen. Ich hatte Zeit, mich auf diese Zusammenkunft vorzubereiten, die mir eine gewünschte Gelegenheit bot, mich auch Frau von Wehrenberg gegenüber einmal »auszusprechen«. – Sie empfing mich in dem wohlbekannten, ordentlichen, kalten Wohnzimmer, in dem ich Johanna meine Liebe gestanden und mit ihrer Mutter um den Preis gefeilscht hatte, für den sie mir ihr Kind überlassen wollte. Bittere, schwere Stunden hatte ich in dem Raum verlebt. Heute fühlte ich mich sorglos, fast wohlgemut. Es war mir, als ob die Stunde der Abrechnung mit Frau von Wehrenberg nahte. Und die Frau stand tief in meiner Schuld! Sie war mir schrecklich gewesen, solange ich Johanna geliebt hatte; aber seitdem mein Glück nicht mehr von Johannas Liebe abhing, besaß ihre Mutter keine Gewalt mehr über mich. Und ich freute mich des Gedankens, ihr dies zeigen zu können. Sie beobachtete mich zunächst mit einer gewissen Scheu, die mich ergötzte. Ich sagte mir sogleich, sie werde aus Johannas Schilderung des gestrigen Auftritts gefolgert haben, daß ich krankhaft erregt, möglicherweise geistig gestört sei. Die Geduld, die ich seit einem Jahre zur Schau getragen, hatte die beiden verwöhnt, und sie konnten sich den Ausbruch eines gesunden Zornes bei mir nur als etwas Krankhaftes vorstellen. Einen Augenblick kam mir der Gedanke, ob ich nicht, um die Komödie vollständig zu machen, nunmehr »den wilden Mann« spielen sollte; aber ich verwarf dies sofort wieder: es wäre ein unehrliches Mittel gewesen, mich von Johanna zu befreien. Ich durfte und wollte davon keinen Gebrauch machen. Mit eisiger Ruhe vernahm ich Frau von Wehrenbergs Klage über den gestrigen Auftritt. Mein Schweigen ermutigte sie zunächst. Ihre Worte gewannen an Schärfe und Bitterkeit; aber als ihre bewußten, ungerechten Übertreibungen und Verdrehungen auf keinen Widerspruch bei mir stießen, überkam sie augenscheinlich wieder großes Unbehagen. Sie stockte, hob von neuem an, machte eine längere Pause und fragte endlich entmutigt, bereits geschlagen, noch ehe ich den Kampf aufgenommen hatte, was ich zu dem zu sagen habe.

Darauf erwiderte ich in kurzen, wohl überlegten Worten, was ich auf dem Herzen hatte. Ich brauchte mir keine Mühe zu geben, innere Erregung zu verbergen: ich fühlte mich, nach der in meinem Geiste vollzogenen Trennung von Johanna, vollständig ruhig. Das Glück, das ich mit Johanna zu finden gehofft hatte, war unwiederbringlich verloren. Nun konnte mich nichts mehr tief schmerzen, was von ihr kam. Sie behielt es in ihrer Gewalt, mich hie und da zu ärgern, leicht zu verletzten – aber kränken, tief verstimmen, unglücklich machen konnte sie mich nicht mehr.

»Ich kann Ihr Bedauern über den gestrigen Vorfall nicht teilen«, sagte ich im gewöhnlichen, ruhigen Unterhaltungston. »Er hat Klarheit in mein Verhältnis zu Johanna gebracht . . . Ich gebe zu, daß dies Verhältnis kein erfreuliches ist; aber wenn Sie auch nicht eingestehen werden, daß dies Ihre Schuld ist, so werden Sie sich doch klar darüber sein, daß ich Ihnen und Johanna allein, Ihnen und Ihren Ratschlägen in erster Linie, die Verantwortlichkeit dafür zuschreibe.« Darauf gab ich in trockenen Worten die kurze Geschichte meiner Verlobung, Vermählung und unglücklichen Ehe. Ich war entschlossen, keine Rücksichten mehr zu nehmen gegenüber dem rücksichtslosen Egoismus meiner Frau und deren Mutter, und ich gebrauchte Ausdrücke, die jedes Zartgefühl verletzen mußten, die ich selbst heute, da jene Unterredung einer fernen Vergangenheit angehört, nur schwer mit meiner geistigen Veranlagung in Einklang bringen kann; aber ich war eben durch und durch verbittert, bis zur Gefühllosigkeit ergrimmt. Ich brachte es sogar über meine Lippen, von einem »schlechten Geschäfte« zu sprechen, das ich gemacht, als ich Johanna den größten Teil meines Vermögens verschrieben, mich gewissermaßen in ihre Abhängigkeit begeben hatte.

Frau von Wehrenberg wurde kreideweiß. »Ihre Sprache ist empörend,« sagte sie, »eines Edelmannes unwürdig. Ich kann sie nicht ferner mit anhören.«

»Ich habe diese Unterredung nicht gesucht«, erwiderte ich, »und es steht in Ihrer Macht, sie jeden Augenblick abzubrechen.«

»Mein armes, unglückliches Kind!« rief Frau von Wehrenberg, und zum ersten Male klang wahres Gefühl aus ihrer Stimme. Aber mich konnte in dem Augenblick nichts rühren. Ich hatte mich in eine stille, ingrimmige Wut hineingedacht und geredet.

»Ich bin schlechterdings nicht imstande, die Lage Ihrer Tochter beklagenswert zu finden«, sagte ich. »Ich bin kein Tyrann. Meine Frau hat nie schlechte Behandlung von mir erfahren und hat solche auch nicht zu befürchten. Sie steht an der Spitze einer kleinen, geordneten Wirtschaft, die sie mit genügenden Mitteln nach Gutdünken leitet. Ich bin ganz damit einverstanden, daß sich unsere Wege in derselben überhaupt nicht mehr kreuzen. Die Wohnung ist groß genug, um zu gestatten, daß jeder von uns darin für sich wohnt. Ich trinke meinen Kaffee ebensogern allein im meinem Zimmer als in Johannas mürrischer Gesellschaft. Ihr unfreundlicher Abschiedsgruß, der früher genügte, mich trübselig in mein Tagewerk zu schicken, und der mich seit einige Zeit erfreulicherweise gleichgültig läßt, wird mir nicht fehlen; ich bin auch bereit, allein zu essen und zu gestatten, daß Johanna ihre Mahlzeiten in Ihrer Gesellschaft einnimmt, und ich entbinde sie gern der Verpflichtung, die sie sich selbst auferlegt hat, jeden Abend meine Rückkehr abzuwarten. Diese Förmlichkeit hat sogar bei dem nunmehr zwischen uns bestehenden Verhältnis etwas Lächerliches. Aber ich äußere in dieser Beziehung keinen Wunsch. Wenn es Johanna Vergnügen macht, einen Teil der Nacht auf dem Sofa zuzubringen, so ist das ihre Sache. Ich will sie auch darin nicht stören; sie darf sich aber nicht einbilden, mir damit einen Beweis liebevoller Sorge und Aufmerksamkeit zu geben. Ich glaube vielmehr, daß sie mich damit ärgern will . . . aber auch das gelingt ihr nicht.«

»Schrecklich – schrecklich!« murmelte Frau von Wehrenberg.

»Höchst unerfreulich in der Tat; aber doch in erster Linie für mich, der ich in all meinen Erwartungen getäuscht worden bin. Sie haben keinen Grund, über ein Verhältnis zu klagen, das Sie allein geschaffen haben.«

»Ich? Wieso?«

»Das habe ich Ihnen bereits auseinandergesetzt. Wünschen Sie, daß ich es wiederhole?«

»Sie haben mir in einer halben Stunde mehr Beleidigendes gesagt, mehr Kränkungen zugefügt, als ich in meinem ganzen Leben erfahren hatte. Sie haben sich einer wehrlosen Frau gegenüber in einer Weise benommen, die ich bei einem Edelmann für unmöglich gehalten hätte. Ich verzichte darauf, Ihre ungerechten Vorwürfe ein zweites Mal zu hören.«

»Ich stellte mich einfach zu Ihrer Verfügung, um eine Frage zu beantworten, die Sie an mich gerichtet hatten. Was die ›Beleidigung der wehrlosen Frau‹ angeht, so gestatten Sie mir jedoch zu bemerken, daß ich Sie niemals angegriffen oder beleidigt, dagegen wiederholte Gelegenheit gehabt habe, mich gegen Ihre offenen oder versteckten Angriffe verteidigen zu müssen. Es klingt sehr beschämend für mich, wenn Sie sich als wehrlos darstellen und sagen, ich hätte meine Stärke gemißbraucht, um Sie zu beleidigen, aber glücklicherweise ist das nicht der Fall. In dem Kampfe, den ich seit dem Tage, an dem ich um Johannas Hand angehalten habe, mit Ihnen führen mußte, sind Sie der angreifende Teil, die Stärkere gewesen. Sie haben Ihre Stellung gemißbraucht, haben mich, wo und wie Sie konnten, gekränkt, haben das Herz Ihrer Tochter von mir abgewandt und mich unglücklich gemacht. Sie ernten, was Sie gesät, und haben kein Recht, darüber zu klagen, daß die Früchte, mit denen Sie mich allein vergiften wollten, auch für Sie und Ihre Tochter bitter sind. Und darum berühren mich Ihre unverdienten Vorwürfe durchaus nicht. Wären Sie mir eine gute Mutter gewesen, so hätten Sie in mir einen gehorsamen, liebevollen Sohn gefunden. Aber das haben Sie niemals auch nur einen Augenblick gewollt. Was sie eigentlich beabsichtigt haben, das habe ich nicht ergründen können. Bei Ihrer Klugheit hätten Sie, mit einiger Kenntnis meines Charakters voraussehen müssen, was nun eingetroffen ist. Ich kann mir den Irrtum, in dem Sie befangen gewesen sind, nur durch eine Vermutung erklären, die ich lieber nicht ausspreche.«

»Sprechen Sie nur, ich bin auf alles vorbereitet.«

»Sehr wohl: Sie sind die typische böse Schwiegermutter, die in dem Manne ihrer Tochter, die sie als ihr Eigentum betrachtet, einen Räuber erblickt. Sie haben mich von dem Tage an, da Sie mir Ihre Tochter überließen, sich von dieser trennen mußten, gehaßt, und Ihre Leidenschaft hat Ihren sonst so klaren Verstand verdunkelt, hat Sie blind gemacht und verkennen lassen, daß Sie mein Glück nicht zerstören, mich nicht kränken konnten, ohne auch Ihre Tochter zu verletzen, die durch unlösbare Bande mit mir verbunden ist.«

Frau von Wehrenberg erhob sich langsam. Ihr weißes Gesicht war aschfahl. Es schien mir, als ob ihre hellen Augen dunkel geworden wären. Die erweiterten Pupillen glänzten darin wie schwarze, giftige Beeren. »Gottlob! Es sind keine unlösbaren Bande«, sagte sie heiser. »Aber nun ist es genug! Ich wünsche, Sie niemals wiederzusehen.«

Sie wandte sich ab und verließ das Zimmer. Ich machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten, und entfernte mich gleich darauf, befriedigt mit dem Ergebnis meiner Aussprache mit Frau von Wehrenberg. Ich empfand nicht einen Schatten von Reue darüber, ihr so feindlich entgegengetreten zu sein; nein, es gewahrte mir große Befriedigung, sie tief gekränkt zu haben. Und dann erfüllte es mein Herz mit Hoffnungen, die ich bis dahin kaum zu hegen gewagt, daß nun auch Frau von Wehrenberg – wie Elise es getan – auf die Möglichkeit meiner Trennung von Johanna und damit einer Wiedererlangung meiner Freiheit hingedeutet hatte. Aber ich blieb bei meinem Entschluß, meinerseits nichts zu tun, um ein solches Ereignis herbeizuführen. Johanna und Frau von Wehrenberg hatte meine Ehe zu einer unglücklichen gemacht; sie sollten, wenn auch nicht vor der Welt, so doch vor meinem Gewissen, der »schuldige Teil« sein, wenn es schließlich zu einer Scheidung kommen würde.

Unsere gewöhnliche Essensstunde war vorüber, als ich nach Hause kam. In dem Maße, in dem sich Johanna mir entfremdet hatte, war es mir immer leichter geworden, in dem Umgang mit ihr alle äußeren Formen der Höflichkeit streng zu beobachten. Ich kann mir das Zeugnis ausstellen, daß mein Benehmen ihr gegenüber in dieser Beziehung tadellos war. So entschuldigte ich denn auch mein spätes Kommen: »Deine Mutter hatte mich zu sehen gewünscht. Unsere Unterredung hat etwas lange gedauert. Ich komme soeben von ihr. Entschuldige die Verspätung!«

Johanna sah mich fragend an, aber ich fühlte mich nicht veranlaßt, ihr mehr zu sagen. Ich durfte annehmen, daß die Mutter ihr einen vollständigen Bericht über unsere Unterhaltung erstatten, der allein für Johanna maßgebend sein würde.

Wir saßen uns bei Tische stumm gegenüber. Gleich nach dem Essen entfernte ich mich mit kurzem Gruß. Ich empfand nicht das Bedürfnis, mich mit Johanna auszusprechen, geschweige denn, mich mit ihr zu versöhnen. Mein Plan war gefaßt: meine und Johannas Wege sollten sich nicht wieder kreuzen; und auch da, wo sie sich unvermeidlich einander näherten, sollte keine Berührung mehr zwischen uns stattfinden.

Als ich am Abend vom Klub heimkehrte, fragte ich mich unterwegs, ob Johanna mich wohl wie gewöhnlich erwarten würde. Im Vorzimmer war das Gas in üblicher, sparsamer Weise so abgedreht, daß nur schwache Dämmerung herrschte, gerade genügend, um mir meinen Leuchter zu zeigen, aus dem ein Kästchen mit Schwefelhölzern und ein kleiner Brief für mich lagen. Dieser lautete, ohne Überschrift: »Zehn Uhr abends. Deinem, meiner Mutter gegenüber ausgesprochenen Wunsche gemäß, gehe ich jetzt zu Bett, ohne Deine Rückkehr abzuwarten. Johanna.«

Nein! die Frauen sollten mich nicht zum Haustyrannen stempeln! Ich antwortete auf die zwei Zeilen: »Liebe Johanna, ich habe Deiner Mutter gegenüber keinen Wunsch geäußert. Ich habe ihr nur gesagt, es erschiene mir überflüssig, daß Du des Abends auf meine Rückkehr wartetest, aber Du möchtest Dich in dieser Beziehung ganz von Deinem eigenen Gutdünken leiten lassen. Gute Nacht! Hermann.«

Am nächsten Morgen wurde mir, nachdem ich mich angekleidet hatte, der Kaffee in mein Zimmer gebracht, und ich verließ das Haus, ohne Johanna gesehen zu haben.

»Schön,« sagte ich mir, »das paßt mir ganz und gar.« Ich wollte zeigen, daß ich nicht nur den von Johanna getroffenen Maßregeln, unser Zusammensein auf ein kleines Maß zurückzuführen, keinen Widerstand entgegensetzte, sondern auch meinerseits geneigt war, dieses Maß noch zu verringern. Gegen zwölf Uhr schickte ich ihr einige Zeilen, in denen ich sie bat, zum Essen nicht auf mich zu warten: ich äße im Klub. Ich wollte erst noch hinzusetzen, ich wäre damit einverstanden, wenn sie ihre Mutter zu sich einlüde oder zu ihr ginge, aber nach einigem Überlegen unterließ ich dies. Ich wollte nicht den Schein erwecken, als ob ich annähme, daß Johanna meiner Erlaubnis bedürfe, um von der Freiheit, die ich ihr ließ, beliebigen Gebrauch zu machen. Ungehörige Ausschreitungen hatte ich nicht zu fürchten.

Am Abend – keine Johanna. – Am nächsten Morgen – Kaffee in meinem Zimmer ohne Johanna. Aber später, als ich vom Ministerium zur üblichen Stunde heimkehrte, fand sie sich zum Essen ein. Ich wußte, daß ihr ganzes Verhalten, ihre Blicke, Bewegungen, Worte, auf Verabredungen mit ihrer Mutter, auf Berechnung beruhten, und ich beobachtete sie deshalb aufmerksam. Sie erschien ernst, kalt, ruhig, keinesfalls verdrießlich oder gereizt. – Desto besser! – Ich sagte ihr einige gleichgültige Worte etwa wie einer unbekannten Tischnachbarin an der gemeinschaftlichen Tafel eines Gasthofes, und sie antwortete darauf in demselben Tone, sichtlich bemüht, unbefangen zu erscheinen. Aber sie war es nicht, und ich erkannte es leicht. Sie war engherzig, kleinlich, kalt, aber ehrlich und wahr, keine Heuchlerin oder Schauspielerin. Der Zwang, den sie sich, den Weisungen ihrer Mutter gehorchend, auferlegte, um unbefangen zu erscheinen, peinigte sie. Ich glaube, ich hätte sie durch andauernde große Höflichkeit ganz außer Fassung bringen, sie veranlassen können, weinend aufzuspringen und das Zimmer zu verlassen, aber dazu wollte ich es nicht kommen lassen: nicht etwa aus Mitleiden mit ihr, sondern weil mir, nach Lage der Dinge, der Ton, der seit zwei Tagen zwischen uns herrschte, am meisten zusagte. Auch Johanna gewöhnte sich schnell daran, wobei ihr angeborener Trotz und Lieblosigkeit zu Hilfe kamen. Nachdem sie die Furcht, die ihr mein erster Zornausbruch eingeflößt, überwunden hatte, konnte sie, in kaltem Verdruß gegen mich, die Rolle der von mir losgelösten Frau, die sie mit ihrer Mutter einstudiert hatte, ohne Mühe in größter Vollkommenheit durchführen. Die Worte, die wir miteinander auswechselten, waren ohne jede vertrauliche Bedeutung. Wir sprachen vom Wetter, von Tagesereignissen, ja von Politik, von der sie nicht das Geringste verstand, und für die ich selbst mich nur wenig interessierte. Mitteilungen, auch geringfügiger Art, welche auf unser gemeinsames Leben, wie es durch das Gesetz geschaffen war, Bezug hatten, empfing ich auf schriftlichem Wege, und ich erledigte sie in derselben Weise: Der Mietskontrakt laufe am ersten Juli ab, ob er am ersten Januar gekündigt werden solle? – Antwort: ich sei mit der Wohnung zufrieden; wenn Johanna es aber nicht sei, so möge sie kündigen. – Sie beabsichtigte, eine andere Köchin zu nehmen. – Selbstverständlich, ganz einverstanden. – Mit der Zeit gewann ich dieser Art des Verkehrs einen gewissen Humor ab. Für Johanna war und blieb sie bitterer Ernst. – Ihre Mutter hatte, so viel ich wußte, die Füße nicht wieder in unsere Wohnung gesetzt, ich hatte sie wenigstens nicht wieder dort getroffen, noch war ich ihr zufällig auf der Straße begegnet; aber ich wußte, daß Johanna jeden Nachmittag und häufig auch den Abend bei ihrer Mutter zubrachte. Ich konnte mir so ungefähr denken, was dort gesprochen wurde.

Ich hatte nur wenig vertraute Bekannte, und mein Bruder Lothar schien sich grundsätzlich nicht in meine Angelegenheiten mischen zu wollen, doch wurde mein Verhältnis zu Johanna bald überall bekannt, wo man überhaupt an ihrem oder meinem Schicksale Anteil nahm, und ich hatte somit keinen Grund, überrascht zu sein, als ich eines Tages einen Brief von Elise erhielt, der mich um Auskunft über die Vorgänge in meinem Hause bat, die – so schrieb sie – Stadtgespräch geworden wären. Ich gab ihr bereitwillig die gewünschte Auskunft, denn ich wußte, daß ich keinen besseren Freund als meine Schwester hatte; und darauf entspann sich ein regelmäßiger und ziemlich lebhafter Briefwechsel zwischen uns, in dem unter anderem die Frage meiner Trennung von Johanna wiederholt und eingehend erörtert wurde. Ich verharrte dabei auf dem ursprünglich von mir eingenommenen Standpunkte, daß ich es Johanna überlassen müsse, den Wunsch einer Trennung auszusprechen, und daß ich es für meine Pflicht hielte, sie in dieser Beziehung in keiner Weise, am allerwenigsten durch ungerechte oder unfreundliche Behandlung zu beeinflussen. – Elise mißbilligte meine »Schwäche«, wie sie das nannte, was ich einfach für die Gewissenhaftigkeit eines Ehrenmannes hielt, und behauptete, ich nähme viel zu große Rücksichten auf Johanna: sie sei deren nicht würdig. Und als ich sie deswegen ungerechtfertigter Gereiztheit gegen Johanna zieh und sie um eine Erklärung derselben bat, da kam sie mit wahrer Leidenschaftlichkeit auf die »unwürdigen« Bedingungen zu sprechen, unter denen sich meine Vermählung vollzogen hätte.

»Ich habe keine Worte dafür,« schrieb sie, »daß ein Mädchen, ehe es sich entschließt, einem Manne ihre Hand zu reichen, von diesem verlangt, er solle ihr eine möglichst große Summe Geldes zum Geschenk machen. Ich habe niemals verstanden, daß dies allein nicht bereits genügt hat, Dich seinerzeit über den Charakter Deiner jetzigen Frau aufzuklären.«

Ich versuchte, Johanna und gleichzeitig auch mich zu rechtfertigen. Ich schrieb, der geschäftliche Teil meiner Verbindung mit ihr sei das Werk ihrer Mutter gewesen, ich setzte meiner Schwester auch auseinander, daß Abmachungen, wodurch der zukünftigen Frau eine bestimmte Summe Geldes ausgesetzt wird, etwas Gebräuchliches seien und nirgends für unehrenhaft gälten; aber Elise wollte in dieser Beziehung keine Vernunft hören.

»Gebrauch mag es sein«, schrieb sie zurück, »und diejenigen, die es tun, mögen darauf bedacht sein, daß man es für ehrenhaft halt. Mir erscheint es abscheulich, ebenso wie es mir abscheulich erschienen ist, daß Lothar eine Geldheirat machen wollte. Ich habe ihm das nie verziehen – doch ist er mein Bruder – und ich werde es sicherlich Deiner Frau nicht verzeihen, die mir eine Fremde war und eine Fremde geblieben ist. Hätte sie Dich glücklich gemacht, so würde ich Entschuldigungen für sie gesucht und wohl auch gefunden haben, aber wie die Sachen nun einmal liegen, sage ich mir, daß sie, ganz abgesehen von dem niedrigen Charakter des Geschäfts, das sie gemacht hat, jetzt nicht einmal die Verpflichtungen erfüllt, die sie bei ›Abschluß‹ desselben stillschweigend, weil selbstverständlich, eingegangen ist. Eine liebende Frau konnte sie Dir nie werden, wenn sie Dich nicht liebte – und es ist jetzt ganz klar und desto schlimmer für sie, daß sie dies nie getan hat; aber sie hätte Dir eine freundliche, aufmerksame Frau werden sollen, bemüht, Dir das Leben im Hause angenehm zu machen. Dazu war sie verpflichtet, dafür war sie bezahlt. – Ich kenne Männer, die reine Geldheiraten gemacht haben, aber sich seitdem eifrig bemüht zeigen, ihre Frauen glücklich zu machen. Denen kann ich das Geschäft, in dem ihre Person der Kaufpreis war, zur Not noch verzeihen, obgleich sie mir nie ganz sympathisch werden können. Andere, die mit dem Gelde, das sie durch Heirat eines reichen Mädchens erworben haben, ein flottes Vergnügungsleben führen, ohne sich mehr um ihre Frauen zu kümmern, als die Gesetze des Anstandes es unbedingt erheischen, die halte ich für unehrlich, denn sie geben nicht, was die Frau für ihr teures Geld zu erwarten berechtigt war. Ein solcher Mann sollte, nach meinen Ideen, aus der anständigen Gesellschaft ausgestoßen werden. – Und beinahe ebenso schlimm erscheint mir nun ein Mädchen, das eine Geldheirat macht, und gleich darauf, ohne Rücksicht auf ihre Verpflichtungen, lediglich darauf bedacht ist, nach ihrem eigenen Geschmack zu leben, sei es, daß sie sich putzt, in Gesellschaft, Theater, Konzerte, oder – wie Johanna es tut – zu ihrer Mutter läuft, ohne sich um das Wohlbefinden des Mannes zu kümmern, dem sie in erster Linie, in vielen Fällen ausschließlich, die Mittel verdankt, ihrem Vergnügen frönen zu können. Daß es sich dabei gewöhnlich um sogenannte ›erlaubte‹ Zerstreuungen handelt, ändert an der Sache in meinen Augen gar nichts.

Ich bin nicht so beschränkt, daß ich sage, ein armer Mann soll niemals ein reiches Mädchen, ein armes Mädchen unter keiner Bedingung einen reichen Mann heiraten. Heiraten zwischen arm und reich sind im Gegenteil vollständig gerechtfertigt, sobald Geld dabei nicht den Ausschlag gibt. Laß ein armes Mädchen einen Millionär nehmen, wenn er ihr auch ohne seine Millionen als Mann gefällt, und umgekehrt. In solchem Falle ist Geld eine höchst angenehme ›Zugabe‹, gegen die kein vernünftiger Mensch das Geringste einzuwenden haben wird; aber wenn ein Mann seine zukünftige Frau ausschließlich unter den reichen Töchtern des Landes sucht, weil er sagt: ›eine arme Frau kann ich nicht ernähren, und ich wünsche eine reiche Frau, um auf diese bequeme Weise des Wohllebens teilhaftig zu werden, das Reichtum mit sich bringt‹, oder wenn ein Mädchen denkt: ›was soll mir ein armer Mann? Ich will mich putzen können, Reisen machen, Pferde und Wagen haben, bewundert und beneidet werden‹, sobald es sich – in einem Worte – um Geldheiraten handelt, so handelt es sich gleichzeitig um ein Geschäft, das beiden Teilen rein geschäftliche Verpflichtungen auferlegt: Geld und Wohlleben gegen Schönheit, Jugend, oder Stellung und Namen, kurz, gegen sozusagen persönliche Leistungen. Wo diese später fehlen, da findet eine unberechtigte Schädigung desjenigen statt, der Schönheit, Jugend, Stellung oder Namen kaufen wollte und dafür in barem Gelde bezahlt hatte. – Mir ist ein solcher Handel unter allen Umständen widerwärtig; aber ich bin, wie schon gesagt, bereit, ihn milde zu beurteilen, wenn das Geschäft ehrlich durchgeführt wird, das heißt, wenn der Teil, der Geld gezahlt hat, dafür empfängt, was er erwartet hatte und erwarten durfte; aber wenn von der anderen Seite diese Leistungen nicht erfolgen, so ist der – Mann oder Frau –, der seines Geldes wegen geheiratet worden ist, seiner Verpflichtungen gegenüber dem nichtzahlenden Schuldner ebenfalls enthoben. – Je mehr ich über die Sache nachdenke, desto widerlicher erscheint mir der Handel des Kaufens und sich Verkaufens, der unter dem wenig anstößigen Namen ›Vernunftheirat‹ gang und gäbe ist, seitdem die Menschheit besteht. Das hohe Alter macht ihn nicht ehrwürdiger und besser. Alle Untugenden und Verbrechen sind, gleichzeitig mit der Vernunftheirat – mit dem Menschen – zur Welt gekommen, und daß sie sich stets und häufig wiederholen, entschuldigt sie nicht. – Nenne mich überspannt, wenn du willst, sage, ich spräche mit der Unerfahrenheit eines Kindes, der krankhaften Empfindsamkeit einer alten Jungfer – ich weiß, im Grunde deines Herzens wirst du mir in vielen, wenn vielleicht auch nicht in allen Punkten zustimmen, und darum wiederhole ich: du hast keine Rücksichten auf Johanna zu nehmen, da diese dir pflichtvergessen gegenübersteht! – Mache Dich frei von ihr!«

Elise hatte darin recht, daß ich in vielen Punkten ihrer Meinung war, aber ganz konnte ich mir dieselbe nicht aneignen. Ich fand noch immer Entschuldigungen für Johanna, und gerade, weil ich aufgehört hatte, sie zu lieben, mußten diese Entschuldigungen doppelten Wert für meine Entschließungen haben. Ich verblieb dabei, sie mit ruhiger, freundlicher Höflichkeit zu behandeln. – Und so lebten wir still und gleichgültig nebeneinander her.

Auch das Weihnachtsfest, vor dem ich mich gefürchtet hatte, ging vorüber, ohne eine Versöhnung herbeigeführt zu haben: es vergrößerte vielmehr noch die Entfremdung, die sich zwischen mir und Johanna eingenistet hatte und machte sie zu einer vollständigen, unwiderruflichen.

Am vierundzwanzigsten Dezember erhielt ich auf dem Ministerium einen kurzen Brief von Johanna: »Wenn Du nichts dagegen hast, so möchte ich den Heiligabend bei meiner Mutter verbringen.«

Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, ich atmete befreit auf, als ich die Mitteilung erhielt. Aber ich wußte nicht, was ich mit dem freien Abend anfangen sollte. Ein Gefühl der Beschämung hielt mich ab, in den Klub zu gehen und dadurch meine Vereinsamung offenkundig zu machen, auch den eigenen Dienstboten wollte ich mich aus demselben Grunde nicht zeigen. Ich ging jedoch gegen vier Uhr nach Hause – das war unverfänglich – und da mir der Gedanke kam, Johanna könnte in ihrer Knauserei unterlassen haben, das Dienstmädchen und die Köchin anständig zu beschenken, so ließ ich die beiden in das Wohnzimmer kommen und gab einer jeden von ihnen etwas Geld. Das hatten sie augenscheinlich nicht erwartet, denn sie dankten mir gleichzeitig freudig und überrascht. –»Die gnädige Frau hatte uns bereits reichlich beschenkt; der gnädige Herr sind zu gütig.«

Ich blieb noch etwa eine halbe Stunde in der halbdunklen Wohnung, in der sich nichts rührte und regte, und dann schlich ich mich davon. Ich wanderte eine Zeitlang zwecklos durch die belebten, hell erleuchteten Straßen, dann kam mir der Gedanke an meinen Bruder: vielleicht war er ebenso allein wie ich. Ich hätte ihm schreiben, eine Verabredung für den Abend mit ihm treffen sollen. Aber den Gedanken wies ich sogleich wieder zurück. Etwas, worüber ich mir nicht klar Rechenschaft ablegte, verhinderte mich, ihn zum Vertrauten meines häuslichen Elends machen zu wollen. Und dabei fiel mir peinlich aufs Herz, wie fremd wir beide uns geworden waren. Seit Wochen hatte ich ihn einige Male flüchtig im Klub begrüßt und dort wenige Worte mit ihm gewechselt. Sonst hatte ich ihn überhaupt nicht gesehen. Weder in meiner Wohnung, noch auf meinem Büro, wo er früher noch gelegentlich zu erscheinen pflegte, hatte er sich blicken lassen, und meine wiederholten Versuche, ihn in seiner Wohnung anzutreffen, waren vergeblich gewesen. Und nun machte ich mir langsam klar, daß die Entfremdung zwischen uns, die ich seit dem ersten Tage seiner Rückkehr nach Berlin bemerkt hatte, durch sein Benehmen herbeigeführt worden war. Er hatte zuerst aufgehört, mir brüderliches Vertrauen zu schenken, ja, manchmal war es mir vorgekommen, als ob er mir zürnte. Aber weshalb? Von diesem Punkte wanderten meine Gedanken auf seine, seitdem wieder aufgelöste Verlobung und auf Natalie. Johanna hatte mir eines Tages im Zorn gesagt, sie wisse mehr von meinen Beziehungen zu der ehemaligen Braut meines Bruders, als ich zu glauben scheine. Was hatte sie damit sagen wollen? Was konnte sie wissen, da zwischen mir und Natalie nichts geschehen war, das ich zu verbergen gehabt hätte. – Ja, mein Herz war unruhig und gequält gewesen. Aber ich hatte ihm nicht erlaubt, laut zu sprechen. Ich hatte nicht hören wollen, was es, mir allein vernehmbar, sagte, daß ich Natalie und daß sie mich liebte. Siegreich war ich am Tage meines Abschiedes von der Braut meines Bruders aus der furchtbarsten Anfechtung meines Lebens hervorgegangen, und während der kurzen Wochen am italienischen See, als ich wähnte, Johanna liebe mich, hatte ich geglaubt, das unerwartete Glück, das sie mir schenkte, sei der Lohn meiner ehrenhaften Standhaftigkeit. – Was hatte mir Johanna in bezug auf Natalie vorzuwerfen, was Lothar? Aber ich fühlte, daß zwischen den beiden eine Gemeinsamkeit feindlicher Gefühle gegen mich bestand, die auf meine Beziehungen zu Natalie zurückzuführen war. Ähnliches hatte ich mir bereits an dem Tage gesagt, als Lothar mich, nach Beendigung seines langen Urlaubes, auf dem Ministerium begrüßt hatte und mir damals seine befremdliche und entfremdende Kälte aufgefallen war. Ich wiederholte es mir jetzt, aber klarer, deutlicher, und ich brachte, was ich früher nicht getan, Johanna in Verbindung mit Lothar. Es war ganz ausgeschlossen, daß die beiden sich gesehen, sich gewissermaßen gegen mich verschworen hatten. Aber beider Argwohn, gleich ungerecht und doch nicht ganz unbegründet, konnte aus ein und derselben Quelle fließen. Ich grübelte und grübelte, ohne zu einem Ergebnis kommen zu können. Kein Mensch wußte, daß ich Natalie geliebt, ich selbst hatte es früher nur undeutlich geahnt, gefürchtet; jetzt machte ich es mir klar, nachdem ich mich von Johanna losgesagt hatte, nachdem mein Herz wieder frei war, als hätte ich Johanna nie geliebt.

Ich hatte mir nichts vorzuwerfen, und doch empfand ich etwas wie Gewissensbisse. Wäre ich nicht vielleicht milder Johanna gegenüber gewesen, wenn ich sie wahrhaft, einzig geliebt hätte? War es nicht etwa doch meine Schuld, daß die Verlobung zwischen Natalie und Lothar aufgelöst worden war? Ich hatte niemals Bestimmtes über die näheren Umstände dieser Auflösung erfahren können. Daß sie durch Natalie herbeigeführt worden war, darüber hegte ich keinen Zweifel; aber was hatte das junge Mädchen zu dem Entschlusse getrieben? – Man erzählte, der Verdruß, daß sie und ihre Eltern nicht zu meiner Hochzeit eingeladen worden seien, hätte zur Lösung der Verlobung geführt. Das konnte ich nicht glauben. Schon mehrere Wochen vor meiner Verheiratung war die Familie Ellrichs mit der Tatsache bekannt gemacht worden, daß die Hochzeit in Nortorf im engsten Familienkreise stattfinden solle, daß nur die Mutter der Braut und die Geschwister des Bräutigams daran teilnehmen würden. Zur weiteren Erklärung hatten wir, Lothar und ich, damals noch hinzugefügt, eine solche Einschränkung sei angeordnet worden aus Rücksicht auf Frau von Wehrenberg, die ursprünglich gewünscht hätte, daß die Vermählungsfeier in ihrem Hause stattfände. Nur wegen der ungenügenden räumlichen Verhältnisse der Wehrenbergschen Wohnung wäre davon Abstand genommen worden. – Natalie und ihre Eltern schienen damals durch diese Aufklärungen ganz beruhigt worden zu sein, und keiner von ihnen hatte Lothar oder mir gegenüber eine Silbe darüber geäußert. Nein, Nataliens Entschluß war durch andere Gründe herbeigeführt worden. Es wurde mir jetzt sonnenklar: Natalie hatte aufgehört, Lothar zu lieben, weil sie angefangen hatte, mich zu lieben, und während ich, durch ehrenhafte Rücksichten gebunden, mit offenen Augen in mein Verderben gegangen war, hatte sie, entschlossen sich nur dem geliebten Manne als Frau hinzugeben, mit Lothar gebrochen. – Aber wer konnte das außer ihr und mir wissen? Wer konnte das auch nur ahnen? Natalie war zu stolz, als daß sie das, was in ihrem Herzen vorging, einem anderen anvertraut hätte. Und doch konnte ich den Gedanken nicht verscheuchen, daß Johanna sowohl wie Lothar die wahren Beweggründe von Nataliens Handlung erkannt hatten. Nur aus diese Weise vermochte ich mir Johannas Äußerungen über meine Beziehungen zu Natalie und Lothars Haltung mir gegenüber zu erklären. – Ich sagte mir, daß ich mir recht unnütze Gedanken machte; aber ich konnte sie nicht verscheuchen.

Der kurze Dezembertag war längst zu Ende, der »Heilige Abend« gekommen. Der Schnee fiel in großen, losen Flocken lässig zur Erde und bedeckte alles ringsumher mit seiner leichten, kalten Decke. In vielen Häusern leuchtete schon der Weihnachtsbaum. Meine Gedanken wanderten auf frühere, glücklichere Weihnachten zurück; aber nichts, was einer sentimentalen Rührung ähnlich gewesen wäre, bewegte mein Herz. Ernst, nachdenklich zog ich durch die belebten Straßen. Von Zeit zu Zeit blieb ich vor einem Schaufenster stehen, in dem Weihnachtsgeschenke verlockend ausgelegt waren. Sie reizten mich nicht. Ich hatte keinen zu erfreuen. Ich hatte den Dienstmädchen Geld gegeben. »Aufzubauen« hatte ich niemand etwas. – Plötzlich trat aus einem Laden, vor dem ich mich gerade aufhielt, ein Herr, der von dem Geschäftsführer höflich bis zur Tür geleitet wurde, und in dem ich, aber erst so spät, daß es mir nicht mehr möglich war, mich abzuwenden, Herrn Ellrichs erkannte. Er sah mich in demselben Augenblick. Von uns beiden war ich allein der Verlegene. Er streckte mir sogleich, mit der ihm eigenen Unbefangenheit, die Hand entgegen und rief im alten, lauten Tone:

»Herr von Nortorf! Welch angenehme Überraschung! Ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk! Seit einer Ewigkeit habe ich Sie nicht gesehen! Wie geht es Ihnen, mein werter Herr?«

Es gibt Leute, die über die größten gesellschaftlichen Unannehmlichkeiten ohne jede Anstrengung hinwegkommen, sei es aus Philosophie, sei es aus Mangel an Zartgefühl. Herr Ellrichs gehörte jedenfalls zu diesen glücklichen Dickhäutern. Da brauchte ich mich auch nicht weiter darum zu kümmern, daß meine Beziehungen zu seinem Hause, nachdem sie der freundlichsten Art gewesen, durch einen peinlichen Zwischenfall plötzlich abgebrochen worden waren. Ich erwiderte Herrn Ellrichs kräftigen Händedruck, sagte ihm, ich befände mich ganz wohl, und dann fügte ich hinzu, ohne mir etwas dabei zu denken, einfach als höfliche Gegenerkundigung auf seine Anfrage nach meinem Befinden:

»Und wie geht es Ihnen, Herr Ellrichs, und den verehrten Ihrigen?«

»Ausgezeichnet, ganz gut, danke der gütigen Nachfrage.« Und plötzlich schien es ihm einzufallen, daß wir doch eigentlich in einem Verhältnis zueinander ständen, das sein herzliches Entgegenkommen kaum gerechtfertigt erscheinen ließ. Er wurde verlegen und wiederholte zerstreut: »Ausgezeichnet, vortrefflich, danke der gütigen Nachfrage.«

Die Tür, vor der wir stehen geblieben waren, wurde geöffnet, und ein mit Paketen beladener Diener trat eilig auf die Straße.

»Dort! In meinen Wagen!« rief ihm Herr Ellrichs zu. Die Unterbrechung kam ihm jedenfalls gelegen: »Entschuldigen Sie mich,« setzte er hinzu, sich wieder an mich wendend, »meine Tochter wartet auf mich, wie Sie sehen.« Er deutete über seine Schulter mit dem Daumen nach dem Fahrweg: »Sie wissen – Weihnachten – da hat man immer Eile . . . Aber hat mich sehr gefreut . . . Auf Wiedersehen!«

Ich konnte nach meinem Gefühl nicht anders als mich umwenden, da Herr Ellrichs mir gesagt hatte, seine Tochter sitze in dem Wagen, der zwei Schritte hinter mir, dicht am Bürgersteig, Halt gemacht hatte. Und da, an der von dem Ladendiener geöffneten Tür, erblickte ich Natalie. Ich trat auf sie zu und, meinen Hut ziehend, murmelte ich einige Worte der Begrüßung. Ich verstand nicht, was sie leise darauf entgegnete, ich sah nur an der leichten Bewegung ihrer Lippen, daß sie gesprochen hatte. Ihre Augen ruhten dabei ruhig und ernst, aber nicht unfreundlich auf mir; und sie reichte mir nicht die Hand.

Gleich darauf stieg Herr Ellrichs in den Wagen, wobei Natalie sich nach der anderen Seite hinübersetzte, um ihrem Vater Platz zu machen. Herr Ellrichs zog noch einmal höflich den Hut und winkte zum Abschied mit der Hand, die Tür wurde zugeschlagen und der Wagen rollte davon.

Ich weiß nicht, wie lange ich unbeweglich an demselben Platze stehen blieb. Endlich ging ich langsam weiter. Auf einmal erblickte ich mich selbst in einem großen, hell erleuchteten Spiegel, der in einem der Schaufenster angebracht war. – Meine Kopfbedeckung und meine Kleider waren mit Schnee bedeckt und nicht weißer als mein abgehärmtes Gesicht. Und so, in meinem einsamen kalten Elend, hatte Natalie mich gesehen, an diesem Abend, da alles sich freuen, jeder Mensch im Kreise seiner Geliebten Freude geben und finden soll. Da wurde mir weich ums Herz, das wirre Grübeln und Denken, das mich ziellos durch die Straßen getrieben hatte, wich einem Gefühl schwerer Traurigkeit. Ich fühlte mich müde zum Sterben. Wenn ich nur erst aus dem hellen Lichte, dem lauten Treiben wäre! Da hielt vor mir eine Droschke.

»Fahren Sie mich irgendwohin, weit weg von hier, wo es nur ruhig ist!«

Der Kutscher sah mich verwundert an.

»Hier ist ein Taler.«

Der Mann zog seine ungeheuren Handschuhe aus und begann nach kleinem Gelde zu suchen.

»Behalten Sie den Rest!«

»Dafür werde ich gern ein Glas auf Ihr Wohl trinken. Man kann es heute abend gebrauchen, wenn man allein auf der Straße ist. Meinen Sie nicht auch?«

Das Fuhrwerk setzte sich langsam in Bewegung. Die große Verkehrsstraße, in der wir uns befanden, war mit Gefährt aller Art überfüllt, und der Weg war holprig und schlecht. Es war noch nicht möglich gewesen, die im Laufe des Nachmittags gefallenen gewaltigen Massen Schnee zu beseitigen. – Schaufenster, Laternen, Leute, Wagen, Pferde, hier und da eine dunklere Straße zur Rechten und Linken glitten vor meinen Augen vorüber; dann wurde es ruhiger, einsamer, dunkler um mich her – endlich ganz still.

Der Wagen hielt, der Kutscher stieg schwerfällig vom Bocke, machte eine weite Armbewegung, schüttelte den Schnee von seinem großen Mantel und öffnete sodann die Wagentür.

»Hier ist es Ihnen wohl still genug«, sagte er.

»Ja, hier ist es gut. Wo sind wir eigentlich? Ich habe nicht auf den Weg geachtet.«

»Am Ende von Moabit. In der Brücken-Allee.«

Mich fror. »Wissen Sie in der Nähe ein ruhiges Lokal, wo ich ein Glas Punsch bekommen könnte?«

»Jawohl! Zwei Schritte von hier. Im Charlottenburger Hof. Der Mann hat auf . . . Soll ich Sie hinfahren oder kennen Sie den Weg?«

»Fahren Sie mich nur dorthin. Und lassen Sie sich dann auch ein Glas für meine Rechnung geben. Es ist kalt geworden.«

»Ja, bitter kalt!«

Das große Gastzimmer war leer und nur spärlich erleuchtet. Der Kellner, der bald darauf hereintrat, machte verwunderte Augen, als er mich sah. Er führte mich in ein anderes kleines Zimmer, in dem es behaglich warm war, und nachdem er mir den Überrock und Hut abgenommen und im Vorzimmer aufgehängt hatte, braute er mir ein Glas Glühwein, an dem ich mir, während ich die heiße Flüssigkeit langsam herunterschlürfte, die starren Hände erwärmte.

Nach wenigen Minuten trat der Kellner wieder in das Zimmer.

»Der Kutscher fragt, ob er auf Sie warten soll?«

»Das ist nicht nötig. Haben Sie ihm etwas zu trinken gegeben?«

»Jawohl.«

»Gut! dann mag er meinetwegen weiterfahren.«

Darauf blieb ich allein, der einzige Gast in der großen Wirtschaft. Um mich herum war es still. Von Zeit zu Zeit vernahm ich Lachen und Sprechen aus einem anderen entfernteren Teile des weitläufigen Gebäudes. Nach geraumer Weile klingelte ich, bezahlte dem Kellner und entfernte mich. Es war noch früh: etwa neun Uhr. Die Ruhe in dem warmen Gastzimmer und das heiße Getränk hatten mir wohlgetan. Die große Müdigkeit, die mich in der Leipziger Straße überfallen hatte, war von mir gewichen und mit ihr auch der peinigende Zustand hilfloser Traurigkeit. Ich war wieder »normal«: freudenlos, aber nicht verzweifelnd. Nataliens Bild, wie sie so still und vornehm im Wagen gesessen hatte, wollte mir nicht aus dem Sinn. Ich versuchte, es zu verscheuchen, aber es kehrte immer wieder zurück. Was mußte sie von mir gedacht haben, als sie mich so jämmerlich vor sich stehen sah? Was hatte sie wohl auf meinen Gruß erwidert?

Einige Schritte vor dem Ausgange des Seitenweges, der von der Charlottenburger Chaussee nach dem Charlottenburger Hofe führt, steht eine Ruhebank. Sie war, wie alles rings umher, dicht mit Schnee bedeckt. Auf der Bank saß eine Gestalt. Ich erkannte bei dem schwachen Lichte der Schneelandschaft einen zusammengekauerten Mann, dessen Kopf auf die Brust gesunken war, und der zu schlafen schien. Ich blieb vor ihm stehen. Er rührte sich nicht. Ich rief ihn an, ein-, zweimal. Dann legte ich leise die Hand auf seine Schulter. Er hob schnell den Kopf und war sogleich auf den Füßen: eine untersetzte Gestalt, ärmlich gekleidet. So viel konnte ich erkennen.

»Was gibt's?« fragte der Mann barsch.

»Sie werden erfrieren, wenn Sie hier einschlafen.«

Er antwortete nicht.

»Gehen Sie nach Hause.«

»Nach Hause?«

»Haben Sie kein Obdach?«

»Nein.«

»Soll ich Ihnen eins für heute nacht verschaffen?« – »Kommen Sie bis an jene Laterne«, fuhr ich fort, auf die nahe Landstraße deutend. »Ich kann Ihnen vielleicht genug geben, um einige Tage zu leben.«

Er folgte mir stumm, schleppenden Fußes. Unter der Laterne blieb ich stehen und zog meine Börse aus der Tasche. Es war dies nicht etwa eine bedenkliche Handlung, denn die große Straße war von Fußgängern und Wagen genügend belebt, um den Mann, wenn er ein Verbrecher gewesen wäre, von einem Überfall abzuhalten.

»Hier,« sagte ich, »nehmen Sie das!«

Er streckte zögernd die Hand aus, eine rot gefrorene, schwielige Hand, die Hand eines Arbeiters. Er betrachtete lange, was ich hineingelegt hatte.

»Ich bin kein Bettler,« sagte er leise, »aber es geht mir schlecht. Ich danke Ihnen!«

Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, so schien es mir, und sein mageres Gesicht trug keine Spuren von Laster oder Verwilderung.

»Wie kamen Sie dazu, sich in der kalten Winternacht dort niederzusetzen?« fragte ich teilnehmend. »Sie waren schon halb eingeschlafen, als ich Sie anrief.«

»Ja.«

»Sie hätten erfrieren können.«

»Ich wollte mich nur etwas ausruhen, ich war müde. Ich war den ganzen Tag umhergelaufen, Arbeit suchend.«

»Im Tiergarten konnten Sie doch nicht hoffen, Arbeit zu finden.«

»Nein.«

»Nun, was wollten Sie dort?«

Er sah mich unruhig an, er sprach nicht; aber ich las die Antwort in dem schmerzlichen Zucken der blutlosen Lippen und in dem scheuen Blick der müden, hoffnungslosen Augen. Sterben wollte der Mann! Tiefes Mitleiden ergriff mich.

»Hier«, sagte ich. »Nehmen Sie auch dies.« Und ich gab ihm noch etwas mehr Geld. »Ich wünsche, daß es Ihnen bald besser gehen möge.«

»Herr«, sagte er. Er atmete tief und laut. Es klang wie ein unterdrücktes Schluchzen. Mein Gesicht war von der Laterne hell beleuchtet. Er betrachtete es aufmerksam: »Ich werde Sie wiedererkennen, wenn ich Sie wieder antreffen sollte. – Ich danke Ihnen. – Gott segne Sie!«

Er wandte sich kurz ab, dem Brandenburger Tor zu. Ich bemerkte jetzt erst, daß er hinkte. Er schlenkerte beim Gehen lebhaft mit den Armen und war sichtlich bemüht, sich rasch zu entfernen, aber er kam mit seinem lahmen Bein nur langsam vorwärts. Ich blickte ihm eine Weile nach. Dann begab ich mich durch die Hofjäger-Allee schnelleren Schrittes und leichteren Herzens nach meiner Wohnung. Ich war mit dem Abschluß des Abends, der so traurig begonnen hatte, zufrieden. Ich hatte nun auch noch meine Weihnachtsfreude gehabt!

In meiner Wohnung rührte sich nichts. Ich ging auf den Fußspitzen den Gang hinunter, der, an Johannas Schlafzimmer und der Küche vorbei, nach den beiden kleineren Räumen führte, die von Johanna nicht mehr betreten wurden, und in denen ich mich zu Hause fühlen durfte. Die Küchentür stand halb offen. Das Hausmädchen, auf einem Stuhle sitzend, die häßlichen, roten Hände im Schoße ineinander gelegt, war fest eingeschlafen. »Johanna ist noch nicht zu Hause«, sagte ich mir. Ich fürchtete, sie könnte bei ihrer Rückkehr in meinem Zimmer nachsehen wollen, ob ich vor ihr heimgekehrt sei, und ich ging deshalb leise nach dem Vorzimmer zurück, wo ich das Gas etwas höher schrob und meinen Überrock so hinlegte, daß Johanna ihn beim Eintritt sogleich sehen mußte; dann schlich ich mich nach meinem Zimmer zurück, wo ich mich einriegelte. Ich wollte, wenn möglich, vermeiden, an jenem Abend mit Johanna zusammenzutreffen.

Auf meinem Tisch lag ein kleines Paket »durch Eilboten abzugeben«, das während meiner Abwesenheit im Hause angekommen war. Es enthielt verschiedene hübsche kleine Sachen, die meine Schwestern mir mit einer Karte »Frohe Weihnachten« schickten. Es gab doch gottlob noch gute Menschen, die meiner in Liebe gedachten.

Nach einer kleinen Weile – es mochte etwa zehn Uhr sein – wurde stark geklingelt.

»Das wird Johanna sein«, sagte ich mir.

Ich lauschte. Nichts regte sich. Es klingelte zum zweiten Male, lange und heftig. Ich trat leise aus meiner Stube und als ich bemerkte, daß in der Küche alles still blieb, ging ich hinein und weckte das Mädchen. »Öffnen Sie die Tür! Es hat schon zweimal geklingelt.« Sie erhob sich schnell und taumelte, noch schlaftrunken, der Eingangstür zu. Ehe sie dieselbe erreicht hatte, wurde von neuem ungeduldig geklingelt. Ich war bereits wieder in meinem Zimmer.

»Nun! Warum öffnen Sie nicht?« hörte ich Johanna unfreundlich fragen. »Ich stehe seit einer Stunde vor der Tür.«

»Ich war eingeschlafen, gnädige Frau.«

»Sie schlafen immer, wenn man Sie gebraucht! Es ist wirklich nicht mehr zum Aushalten mit Ihnen!«

»Welch gute, liebe, freundliche Frau ich doch habe«, sagte ich vor mich hin.

Ich vernahm Johannas Schritt, der sich ihrem Zimmer näherte. »Ist der Herr schon zu Hause?« hörte ich sie weiter fragen.

»Ja! Gnädige Frau.«

Darauf wurde eine Tür geöffnet und geschlossen, und dann wurde es wieder still.

»Nun«, dachte ich mir, »wird sich die gute Frau, nach vollbrachtem Tagewerke, das sie mürrisch begonnen und mit Schelten beschlossen hat, zur wohlverdienten Ruhe begeben, vortrefflich schlafen und morgen frisch und munter, mit klaren Augen und reinem Gewissen zu fortgesetztem fröhlichem Muckschen wieder erwachen! – Wie ist es möglich, daß ich dieses öde Herz, diesen kleinen Geist nicht rechtzeitig erkannt habe?«


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