Rudolf Lindau
Liebesheiraten
Rudolf Lindau

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Am nächsten Morgen wurde mir der Kaffee in gewöhnlicher Weise auf mein Zimmer gebracht. Ich schloß daraus, daß Johanna auf meinen Gruß am ersten Feiertage verzichtete – was mir angenehm war – und ich verließ das Haus, ohne sie gesehen zu haben. Vom Ministerium aus, wo ich mich nur kurze Zeit aufhielt, schrieb ich Johanna, ich würde am ersten und zweiten Feiertage nicht zu Hause essen, sie möchte also nach ihrem Gefallen über sich verfügen. Ich erhielt keine schriftliche Antwort – hatte auch keine erwartet, der Bote meldete mir nur, er habe meinen Brief der »gnädigen Frau« selbst übergeben, und diese habe darauf gesagt: »Es wäre gut.« – »Sehr gut, in der Tat«, fügte ich in Gedanken hinzu.

Es war helles, schönes Winterwetter. Ich verließ mein Büro. Unter den Linden wimmelte es von geputzten Leuten, mit geröteten, freundlichen Sonntagsgesichtern. Ich sah viele neue Mäntel, Muffen und Pelzmützen, die von jungen Mädchen, mit hellen, zufriedenen Augen zur Schau getragen wurden; die ehrbaren Eltern wanderten Arm in Arm hinter ihnen und freuten sich der leicht dahinschreitenden hübschen Kinder. – Da erblickte ich zu meiner Linken, inmitten des Weges zwischen der doppelten Lindenreihe, meinen armen Mann vom vergangenen Abend. Ich erkannte ihn zuerst an dem Schlenkern mit den Armen und dem humpelnden Gange. Er trug die dünnen Kleider von gestern und ging geschäftig, ohne nach rechts oder links zu blicken, seines Weges. Ich folgte ihm eine Strecke und in der Nähe des Kaiserlichen Palais überholte ich ihn.

»Nun«, sagte ich, als ich neben ihm war. »Wie geht es heute morgen? Besser als gestern abend? Erkennen Sie mich?«

»Oh . . . Herr . . . Sind Sie es!«

Das elende, aber nicht häßliche Gesicht des Mannes leuchtete förmlich auf in Freude.

»Frieren Sie nicht, in dem dünnen Anzuge?«

»Nein, ich friere nie, wenn ich gehe. Ich bin lahm – wie Sie sehen. Ich habe mir vor zwei Jahren das Bein zerquetscht . . . In der Fabrik . . . Und da muß ich mit den Armen nachhelfen, wenn ich vom Flecke kommen will. Das hält warm!«

Der Mann gefiel mir, er hatte ein gutes Gesicht. Und dann: daß ich ihm wohlgetan hatte, das machte mich ihm freundlich gesinnt.

»Ein warmer Rock wird Ihnen nicht schaden«, sagte ich. »Kommen Sie am nächsten Sonntag früh um neun Uhr zu mir, und holen Sie ihn sich! Wie heißen Sie?«

»Mertens, Herr – Friedrich Mertens.«

»Was sind Sie?«

»Maschinenarbeiter. Aber es will nicht mehr recht gehen . . . mit dem lahmen Bein . . . und Zeichnen habe ich nicht gelernt . . .«

»Werden Sie meine Adresse behalten, wenn ich sie Ihnen sage?«

»Ganz sicher, Herr!«

Ich gab ihm meinen Namen und meine Wohnung. »Also Sonntag um neun Uhr.«

»Sonntag, um neun Uhr, Herr von Nortorf. Sie sind sehr gütig.«

Er hinkte weiter und noch schneller als zuvor: seine Arme flogen hin und her. Aber niemand hätte über den armen Krüppel mit dem stillen, geduldigen Gesichte lachen können.

Ich hatte Johanna seit drei Tagen nicht gesehen. Ich befand mich dabei ganz wohl. Ich fürchtete mich vor dem ersten Wiederzusammentreffen mit ihr. Als ich am zweiten Feiertag abends gegen zwölf Uhr aus dem Klub nach Hause kam, fand ich auf dem Leuchter, dem gewöhnlichen »Poste-restante-Bureau« von Johannas Briefen, ein Schreiben für mich liegen. Ich erkannte schon an der Größe des Briefes und an dem Umstande, daß der Umschlag mit Siegellack verschlossen war, daß es sich nicht um eine der üblichen, kurzen Mitteilungen handeln konnte. Das Herz klopfte mir. Ich entledigte mich schnell meines Hutes und Überrockes und begab mich auf mein Zimmer. Dann öffnete ich den Brief: ein acht Seiten langes Dokument, geradlinig, sorgfältigst in Johannas schönster englischer Handschrift geschrieben. Es war darin kein Wort verbessert oder unterstrichen, alles kühl, gelassen, makellos in der äußeren Erscheinung, gerade wie Johanna selbst. Unterschrift: »Johanna von Nortorf, geb. von Wehrenberg«. Nicht: »Deine Johanna« wie früher oder »Johanna« wie in der letzten Zeit; nein, ohne Gruß, ohne ein überflüssiges Wort, einfach, aber vollständig: »Johanna von Nortorf, geb. von Wehrenberg«. Sogar der anspruchslose kleine »Schnörkel«, den Johanna unter ihrem Namen zu machen pflegte, fehlte. Es war ein Abschiedsbrief in bester Form, mit einer Überschrift: »Lieber Hermann!«

Ich las das Schriftstück zuerst flüchtig, dann aufmerksam, jedes Wort wägend, von Anfang bis zu Ende durch. Bei einigen Stellen stieg mir das Blut ins Gesicht, und ich ballte die Fäuste, aber als ich alles gelesen hatte, wurde mir das Herz so voll vor Freude, daß ich mich erhob, unwillkürlich die Arme ausbreitete, tief aufatmete und laut vor mich hinsagte: »Gott sei Dank!«

Der Brief war augenscheinlich das Ergebnis langer, reiflicher Überlegungen. Johanna hatte ihn nur abgeschrieben, die Verfasserin desselben war Frau von Wehrenberg, höchst wahrscheinlich hatte auch Justizrat Schlosser, der Rechtsbeistand und langjährige vertraute Freund ihres Hauses, derselbe, der meinen Heiratskontrakt mit Johanna aufgesetzt, dabei geholfen.

Der Brief begann wie eine wissenschaftliche Abhandlung mit einer »Einleitung«. Darin hieß es, die letzten Tage – nämlich die Weihnachtstage – hätten in Johannas Herzen den schweren Entschluß gereift, einem Verhältnis ein Ende zu machen, dessen Schmach sie tief empfände, und das auch für mich ein unerfreuliches sein müsse. Sie erachte es als unnütz, hier anzuführen, teilweise zu wiederholen, durch welche Umstände dieses beklagenswerte Verhältnis herbeigeführt worden sei; aber es sei ihr Recht und ihre Pflicht, sich selbst gegenüber, noch einmal ausdrücklich festzustellen, daß sie keine, auch nur die kleinste Schuld dabei träfe. – Nun kam in großer Länge die mir bereits hinlänglich bekannte Aufzählung aller häuslichen Tugenden meiner lieben Frau. Sie erschien danach wie ein wahrer Engel; und das Eigentümliche war, daß sie bei diesem Selbstlob kaum übertrieb, geschweige denn eine Unwahrheit sagte. Ja, Johanna war durchaus eine sogenannte »anständige« Frau. Dagegen ließ sich nichts sagen, das Zeugnis hätte ich ihr jeden Augenblick ausstellen müssen. Sie hatte mir niemals Grund gegeben, auf sie eifersüchtig zu sein, sie hatte mit keiner lebenden Seele kokettiert, auch nicht mit mir, niemals auf die bewundernden Blicke geantwortet, die ihre Schönheit, wenn sie sich öffentlich zeigte, auf sich zog. Sie war weder putzsüchtig noch vergnügungssüchtig, sie kleidete sich einfach, nach meinem Geschmack, sie ging aus, wenn ich es vorschlug und wohin ich wünschte, sie war häuslich, sparsam, ordentlich, pünktlich, aufmerksam, einem jeden meiner Wünsche gefügig. Ja, sie verdiente einen ersten »Tugendpreis« – und daß sie mich nicht liebte, nie geliebt, daß sie mir, gehorsam der »Mama«, die Hand gereicht hatte, um eine Mustergattin zu werden, wie sie eine Mustertochter gewesen war, machte sie jenes Preises nicht weniger würdig.

Nachdem dies in dem Briefe in einer Weise klargelegt war, die den Mann, der ein solches Kleinod von Frau nicht zu schätzen gewußt hatte, als ein Scheusal erscheinen ließ, hieß es nun weiter, »trotz allem Vorhergesagten, das Du sicherlich nicht in Abrede stellen wirst, hast Du aus Gründen, nach denen ich vorziehe, nicht weiter zu forschen, wenige Wochen nach unserer Verheiratung eine tiefe Abneigung gegen mich gefaßt, die gelegentlich in Zornausbrüchen, hauptsächlich aber in einer fortwährenden üblen Laune zutage getreten ist. Nichts im Hause fand Deinen Beifall, nie hörte ich ein freundliches Wort von Dir, wohl aber häufige und ungerechte Klagen, über die Entlassung eines Dieners, die Besuche meiner Mutter usw. usw.«

Hier log Frau von Wehrenberg, und Johanna, welche die Lügen der Mutter säuberlich abgeschrieben hatte, log bewußt ebenfalls, aber das machte weiter nichts aus, ärgerte mich auch nur einen kurzen Augenblick; unangenehm berührte mich dagegen die Stelle von den geheimnisvollen Gründen meiner Abneigung, nach denen Johanna nicht weiter forschen wollte. Das war eine nur für mich, aber mir klar verständliche Anspielung auf meine Beziehungen zu Natalie. Doch ich las weiter.

Es folgte mit vielen Einzelheiten eine Erzählung der »teuflischen Kunst«, mit der ich langsam, systematisch, die Bande, die mich an meine mir angetraute Frau fesseln sollten, erst gelockert, zuletzt gewaltsam zerrissen hatte. In einem Auftritt von unbeschreiblicher Heftigkeit, der sie in Todesangst aus meiner Nähe getrieben, hätte ich mich von ihr losgesagt; ihre unglückliche Mutter aber, die in natürlicher Sorge um das Wohl ihrer Tochter mit Heldenmut den Versuch gemacht, mich zu meiner Frau zurückzuführen, hätte für ihre Aufopferung Schmähungen der kränkendsten Art geerntet.

Den Abschluß der Aufzählung meiner Übeltaten gab mein Verhalten während der Feiertage. »Drei Tage lang – und gerade jene drei Tage lang, die vor allem geeignet sind, gelockerte Familienbande wieder enger zu knüpfen – Tage, auf die ich gewartet hatte, in der leider getäuschten Hoffnung, sie würden eine Versöhnung herbeiführen, hast Du Dich im Hause nicht sehen lassen, wenigstens nicht vor mir. Meine weibliche Würde, mein Selbstgefühl empören sich gegen die Beleidigungen, mit denen Du mich überschüttest, meine gesellschaftliche Stellung, ja mein Ruf sind in Gefahr, darunter zu leiden, und ich habe die Zustimmung meiner unglücklichen Mutter, Schritte zu tun, um mich aus der elenden Lage zu befreien, in die Du mich, ohne das geringste Verschulden meinerseits, hineingetrieben hast.«

Diese »Schritte«, die wohl der juristische Beirat vorgezeichnet hatte, waren folgende: Unser gemeinsamer Hausstand sollte aufgelöst werben, Johanna wollte zu ihrer Mutter zurückkehren, sie überließ es späteren Erwägungen, ob dies auf Grund eines gütlichen Übereinkommens oder einer gerichtlichen Entscheidung geschehen sollte. Sie fühle sich den Verhandlungen nicht gewachsen, die nötig sein würden, um dies in die Wege zu leiten, und der Herr Justizrat Dr. Schlosser, den sie mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragt habe, werde zu dem Behuf mit mir oder dem Rechtsanwalt, den ich ihm namhaft machen würde, in Verbindung treten.

Zum Schluß eine Bitte, wohl die letzte, die sie je an mich richten werde: wollte ich ihr gestatten, zur Wiederherstellung ihrer angegriffenen Gesundheit sogleich das Haus zu verlassen, in dem sie sich unglücklich fühlte, und zu ihrer Mutter zu ziehen? Sie werde dies jedoch nur mit meiner Erlaubnis tun, und sei, so schwer ihr dies auch werden würde, so lange unser gegenseitiges Verhältnis nicht neu geordnet, jeden Augenblick bereit, auf meinen Befehl zu mir zurückzukehren. Punktum. »Johanna von Nortorf, geb. von Wehrenberg.«

Das Nächste, was ich tat, nachdem ich den ganzen Inhalt des langen Schriftstückes in mich aufgenommen hatte, war, zwei Zeilen an meine scheidende Frau zu schreiben:

»Liebe Johanna, ich gebe Dir gern die Erlaubnis, zur Pflege Deiner Gesundheit zeitweilig zu Deiner Mutter zu ziehen und bei dieser bis auf weiteres zu wohnen. Die Erledigung der übrigen, in Deinem Briefe angeregten Punkte behalte ich mir für später vor. Mit besten Wünschen für Dein Wohl – Hermann.«

Dann dachte ich über alles nach, was geschehen war und was demnächst wohl geschehen würde. Die von Johanna gegen mich erhobenen Anklagen berührten mich nur leicht. Ich wußte, daß sie im Grunde ungerecht waren, mein Gewissen sprach mich in dieser Beziehung vollständig frei, auch konnte ich mir sagen, geflissentlich nichts getan oder unterlassen zu haben, um Johanna zu dem Entschlusse zu treiben, eine Trennung vorzuschlagen. Was ich gewünscht hatte, war gekommen, gerade so wie ich es gewünscht hatte: ohne mein Dazutun, ohne mein Verschulden! Ich hatte mich nicht »mit teuflischer Kunst« von Johanna losgelöst, sie war mir durch ihre Lieblosigkeit verloren gegangen, und ich wünschte, sie nie wiederzufinden.

In dieser Beziehung überkam mich plötzlich eine Befürchtung: Wenn jener Brief nur ein gewagtes Manöver war, das mich zum Nachgeben bringen sollte! – Frau von Wehrenberg mochte nicht vergessen haben, wie gefügig ich mich gezeigt, als es sich darum gehandelt hatte festzustellen, welche Summe Geldes ich Johanna bei meiner Verheiratung mit ihr verschreiben sollte. Sie mochte wähnen, daß, nachdem ich einen so großen Preis für ihre Tochter gezahlt hatte, ich sie nicht ohne weiteres aufgeben würde. Die Frau legte sich möglicherweise keine Rechenschaft ab von der vollständigen Wandlung, die in meinen Gefühlen Johanna gegenüber vorgegangen, und ihr Brief war auf meine Liebe, meine Schwäche berechnet. Sie meinte die Sache vielleicht gar nicht so ernst, wie ich sie nehmen wollte. Sie konnte geneigt sein nachzugeben, wenn sie erkannte, daß ich es nicht tun wollte. Bei dem Gedanken trat mir der Angstschweiß auf die Stirn. Nein! Ich hatte eine Zeitlang alles für verloren gehalten und mit diesem Gedanken leben können; aber jetzt, nachdem ich einen Augenblick gehofft hatte, meine Freiheit wieder zu erringen, wollte ich unter keinen Umständen in das kalte Gefängnis, das die Verbindung mit Johanna mir geschaffen hatte, zurückkehren. »Vorsicht! Ruhe!« sagte ich mir. Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, immer daran denkend, was ich zu tun habe, um mich für alle Zeiten von Johanna zu befreien. Ich hatte ein Recht daran zu denken, jetzt, nachdem Johanna zuerst, ohne mein Verschulden, von Trennung gesprochen hatte.

Am nächsten Morgen ging alles seinen gewohnten Gang. Ich verließ das Haus, ohne Johanna gesehen zu haben. Auf dem Ministerium erhielt ich im Laufe des Nachmittags eine kurze Mitteilung von ihr: »Ich danke für die Bereitwilligkeit, mit der Du meine Bitte berücksichtigt hast. Ich bin jetzt bei meiner Mutter. Die beiden Mädchen sind benachrichtigt, daß ich vorläufig nicht zurückkehre. Ich habe ihnen zum fünfzehnten Januar gekündigt und den Lohn bis dahin im voraus bezahlt. Sie haben nichts mehr zu fordern. Im kleinen Schreibtisch, den der beifolgende Schlüssel öffnet, findest du alle anderen Schlüssel. Johanna.«

»Musterfrau bis zum letzten«, sagte ich mir.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Pünktlich um neun Uhr ließ sich Friedrich Mertens bei mir melden. Ich hatte ihn ganz vergessen. Er war frisch rasiert und sah ordentlich aus. Er hatte wirklich ein gutes Gesicht. Je mehr ich es kennen lernte, desto besser gefiel es mir. Ich suchte in meinem Kleiderschrank und fand bald unter meinen alten Sachen einen vollständigen Anzug. Mertens stand während der Zeit stumm da und so stramm, wie sein krankes Bein es gestattete.

»Hier,« sagte ich, ihm die Sachen hinreichend, »es wird schon passen, wir sind so ziemlich einer Größe. Sie sind breitschultriger als ich; aber der Rock ist weit.«

»Wie soll ich Ihnen danken, Herr?«

»Sie brauchen mir gar nicht zu danken.«

Er wandte sich zum Gehen. Es gefiel mir an dem Manne, daß er immer so kurz angebunden war. Und plötzlich kam mir ein Gedanke:

»Warten Sie noch einen Augenblick«, sagte ich. »Wo sind Sie her?«

»Aus Buckau bei Magdeburg.«

»Was war Ihr Vater?«

»Maschinenarbeiter.«

»Lebt er noch?«

»Nein! Meine Eltern sind vor vielen Jahren gestorben.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Wie alt sind Sie?«

»Achtunddreißig Jahre.«

Er sah wenigstens zehn Jahre älter aus.

»Haben Sie gedient?«

»Beim vierten Artillerie-Regiment in Magdeburg.«

»Und Sie sind also Maschinenarbeiter gewesen?«

»Ja.«

»Und seitdem Sie arbeitsunfähig geworden sind?«

»Ich bekomme monatlich sechs Mark Unterstützung. Davon kann ich nicht leben; ich habe Arbeit gesucht, aber selten gefunden. Ich bin nicht so kräftig, wie ich aussehe.« Der Mann sah nicht kräftig aus. »Ich kann das lange Stehen nicht aushalten, ich kann auch nicht schwer tragen.«

»Haben Sie Zeugnisse?«

»Ja.«

»Sind sie gut?«

»Ich habe sie bei mir.«

Er zog eine alte, große, lederne Brieftasche hervor und überreichte mir zwei Papiere, die ihm das Zeugnis eines fleißigen, ordentlichen Arbeiters ausstellten. In einer Fabrik hatte er vierzehn Jahre, in der anderen zwei – bis zu seinem Unfall – gearbeitet.

»Ich bin, seitdem ich gedient habe, nur in den zwei Fabriken gewesen«, sagte er. »Die erste verließ ich, weil ich mich verbessern konnte. Wäre ich dort geblieben, so hätte man mir nach sechzehnjährigem Dienst mehr als sechs Mark monatliche Unterstützung gegeben; in der zweiten Fabrik war ich nur zwei Jahre, da hatte ich keine großen Ansprüche zu machen. Und dann: ich habe mir den Unfall durch Unvorsichtigkeit zugezogen. Man ist mir eigentlich gar nichts schuldig.«

»Ich will Ihnen etwas sagen, Mertens. – Sie können doch Schuhe putzen und Kleider bürsten und des Morgens eine Tasse Kaffee kochen und ein Zimmer ausfegen und hier und da einen Weg machen?«

»Ein alter Soldat, Herr!«

»Wollen Sie bei mir in Dienst treten?«

Eine Blutwelle schoß ihm in das blasse Gesicht, das jäh errötete. »Oh, Herr! Sie sollen einen treuen Diener an mir haben.«

»Das ist dann abgemacht. Über den Lohn werden wir uns schon einigen. Sie können morgen früh antreten.«

Es ist mir, wenn auch nicht oft, im Leben vergönnt gewesen, glückliche Gesichter zu sehen; aber ein glücklicheres als das von Friedrich Mertens, als er mit dicker Stimme sagte: »Dann kann ich wohl den Anzug gleich hier lassen?« habe ich nicht gesehen. Es war wie heller Sonnenschein, und es erwärmte mein Herz und machte mich leicht und froh.

Im Laufe des Nachmittags entließ ich die Mädchen. Einige Taler befriedigten ohne jede Schwierigkeit gewisse Ansprüche auf Wohnung und Kost bis zum fünfzehnten Januar, die sie noch geltend machten. Und damit hatte ich vollständig aufgeräumt mit den Verhältnissen, in denen ich die elendste Zeit meines Lebens verbracht hatte. Als ich abends wieder nach Hause kam, durch alle Zimmer gehen konnte, ohne unangenehme Begegnungen zu machen, und die ganze Wohnung leer, ganz leer fand, da überkam mich ein Gefühl des Wohlseins, das ich nicht beschreiben kann.

Ich bemerkte, daß Johanna sämtliche Sachen, die sozusagen als ihr »Privateigentum« bezeichnet werden konnten, mit fortgenommen hatte. Dazu hatte sie meinen Segen.

Am nächsten Morgen trat Mertens an. Ich zeigte ihm sein Zimmer, gab ihm einige, auf seinen Dienst bezügliche Anweisungen und ließ ihn in der Wohnung zurück, als wäre er ein alter, erprobter Diener gewesen. Ich fühlte mich sicher, in meinem Vertrauen zu dem Manne nicht getäuscht zu werden.

Die Unterhandlungen mit dem Rechtsanwalt meiner Frau nahmen einen schnellen Verlauf. Ich glaube, ich überraschte den Mann durch die ruhige Bereitwilligkeit, mit der ich auf seine Vorschläge einging. Dieselben waren, insofern sie Geldfragen betrafen, vom kleinlichsten Geiste eingegeben, so daß ich nicht umhin konnte, einige Male bitter lächelnd den Kopf zu schütteln. Der Herr Justizrat bewahrte dabei eisige Ruhe und schien davon nichts sehen zu wollen. Er begnügte sich damit, bei jedem Punkte, den er durch seine Fragen und meine Antworten als erledigt betrachten zu können glaubte, nach einer kurzen Wiederholung dessen, was verhandelt worden war, zu fragen: »Sie sind also einverstanden?«, worauf ich dann immer erwiderte: »Einverstanden!« Dann gingen wir geschäftsmäßig auf etwas anderes über. Der mit der Vertretung der Interessen meiner Frau betraute und in Ausübung seiner amtlichen Pflichten äußerst gewissenhafte Mann hatte sich in einem Taschenbuche alles, bis auf die geringfügigsten Einzelheiten, aufgeschrieben, worüber er mit mir unterhandeln wollte, so daß wir ohne Zeitverlust von einem Punkt zum andern übergehen konnten. Im Verlauf einer halben Stunde war zwischen ihm und mir alles zur anscheinend gegenseitigen Befriedigung geregelt.

Die wichtigste Frage, die allen anderen vorangegangen, war natürlich die meines zukünftigen Verhältnisses zu Johanna gewesen, und bei dieser Frage allein, als der Herr Justizrat zunächst meine Vorschläge zu hören wünschte, hatte ich etwas »diplomatisiert«. Ich hatte ihm anscheinend unbefangen gesagt, wie meine Frau sich die Sache dächte. Sie hätte den Wunsch einer Lösung unseres bisherigen Verhältnisses zuerst geäußert, und da wäre es doch auch an ihr, darauf bezügliche Vorschläge zu machen. Aber Herr Dr. Schlosser war, zu meiner Freude und Beruhigung, darauf vorbereitet, diese Frage klar und deutlich zu beantworten. Meine Frau – so glaubte er versichern zu können – wünschte, sich von mir scheiden zu lassen, unter der Bedingung selbstverständlich, daß sie der »klagende Teil« sei und ich mich damit einverstanden erklärte, zu tun, was nötig sein würde, um als der »schuldige« zu erscheinen. Ich wußte genau, wie ich mich zu benehmen hatte, um meine Frau »böswillig zu verlassen« und »schuldig« zu werden, aber ich hielt es für besser, nicht für so gut unterrichtet zu erscheinen, und bat um Aufklärungen, die mir der Herr Justizrat auch bereitwillig gab. Er fügte hinzu, er halte es für seine Pflicht, mich darauf aufmerksam zu machen, daß ich wohl daran tun würde, in der Sache nichts zu entscheiden, ohne auch meinerseits einen juristischen Beistand gewählt zu haben. Ich dankte ihm für den guten Rat, den ich zu befolgen versprach, und sagte ihm, mein Rechtsanwalt werde sich, voraussichtlich schon in den nächsten Tagen, mit ihm in Verbindung setzen. Ich machte ihm denselben auch sogleich namhaft: den Rechtsanwalt und Notar Herrn Dr. Lebrecht, einen langjährigen, bewährten Freund von mir.

Mit diesem hatte ich am Abend desselben Tages eine längere Unterredung, in der ich viele Unfreundlichkeiten zu hören bekam, die mich aber in keiner Weise verletzten. Lebrecht, der seinen angesehenen Kollegen respektlos »einen alten Fuchs« nannte, sagte, nachdem ich meinen Vortrag über die Verhandlungen mit Dr. Schlosser beendet hatte, dieser habe mich gehörig »hineingelegt«, und gab mir zu bedenken, an den vorläufigen Abmachungen, die in keiner Weise einen bindenden Charakter trügen, dies und jenes zu ändern. Es sei ja unerlaubt, sich so vollständig »ausziehen« zu lassen, wie ich dies eingeräumt habe.

»Ich kann nicht aus mein Wort zurückkommen, ich habe es einmal gegeben . . .«

»Nein! Das hast du nicht getan. Eure Unterredung unter vier Augen ist, vorläufig noch, ohne jede Bedeutung. Überlasse es mir, darauf zurückzukommen, und sei überzeugt, daß Schlosser auch gar nichts anderes erwartet hat! Sein Rat, du solltest einen Advokaten konsultieren, war billig. Dahin mußte es unter allen Umständen kommen. Das wußte Schlosser sehr gut. Er hat dir Unschuldigen mit seiner Rechtschaffenheit imponieren wollen, und ich sehe, nicht ohne Verwunderung – denn du bist doch auch ein Stückchen Jurist –, daß ihm dies gelungen ist.«

Darüber beruhigte ich meinen Freund, der geneigt schien, sich unnütz aufzuregen. Dr. Schlosser, den ich durchaus nicht tadeln wollte, sich der ihm anvertrauten Sache so eifrig anzunehmen, hatte mich nicht getäuscht; aber ich war fest entschlossen, mich in dem widerwärtigen »Handel« mit meiner Frau übervorteilen zu lassen. Sie konnte alles bekommen, was sie verlangte, noch mehr, wenn sie darauf bestand, und ich machte es Lebrecht zur Freundschaftspflicht, sich in dieser Beziehung meine Anschauungen aneignen zu wollen.

»Du mußt mir dies zu meiner Beruhigung fest versprechen«, sagte ich. »Ob ich einige tausend Taler ärmer oder reicher bin, ist mir ganz gleichgültig; aber ich lege den größten Wert darauf, meine zukünftige Ruhe hängt davon ab, mir stets sagen zu können, daß ich in meinen Beziehungen zu meiner Frau, vom ersten Anfang bis zum letzten Ende, der leidende, der betrogene Teil, wenn du willst, gewesen bin.«

Lebrecht gab darauf nach; aber ich trennte mich erst von ihm, nachdem er mir dies fest versprochen und dies durch Handschlag bekräftigt hatte, ganz in meinem Sinne, den er voll erfaßt hatte, vorzugehen. »Meine Advokatenseele sträubt sich dagegen,« sagte er, »aber du hast mein Wort und kannst ruhig sein.«

Fernere weitläufige Unterhandlungen in der Sache blieben mir erspart. Lebrecht nahm mir alles ab. Eines Tages teilte er mir mit, meine Frau habe die Klage auf Scheidung eingereicht, später legte er mir die von ihm aufgesetzte »Klagebeantwortung« vor, an der ich nicht ein Wort zu ändern fand, und dann sagte er mir, nun müsse ich mich in Geduld fassen, das Urteil würde schwerlich vor Herbst gefällt werden, es sei, wie ich wohl wüßte, althergebrachter und weiser Brauch, Ehescheidungsprozesse nicht übers Knie zu brechen, sondern in die Länge zu ziehen, »um den Parteien Zeit zu geben, sich noch eines anderen zu besinnen«.

Ich lebte nun zurückgezogen und ohne mich anders als durch Lesen und Spazierengehen zu erholen und zu zerstreuen. Ich hatte, nach einem leichten Abkommen mit meinem Hauswirte, die alte Wohnung, die zu groß und zu teuer für mich war, verlassen und eine andere bezogen, die »am Ende der Welt«, wie meine Bekannten sagten, in einer neuen, stillen Straße, dem Westende des Tiergartens gelegen war. Ich hätte mich dort in meinen behaglichen Junggesellenmöbeln ruhig und wohl befinden sollen; doch war mein Befinden nicht vom besten. Ich schlief schlecht, aß nur wenig und fiel zusehends ab. Meine Kollegen bemerkten dies, aber sie erkundigten sich doch nur mit Zurückhaltung nach meiner Gesundheit. Es war natürlich bekannt geworden, daß ich von meiner Frau getrennt lebte, man wußte, daß sie sich von mir scheiden lassen wollte, und nahm vielleicht an, daß die mit einem solchen Prozesse verbundenen Unannehmlichkeiten, möglicherweise auch Herzenskummer an mir nagten. Ich hatte keine Veranlassung, fremde Menschen zu meinen Vertrauten zu machen, ich war nicht mitteilsam, aber ich begann damals, zu meiner eigenen Beruhigung, mich mit diesen Aufzeichnungen, der wahrheitsgetreuen Darstellung der Ereignisse der letzten zwei Jahre, zu beschäftigen; sonst war meine Schwester Elise die einzige Person, mit der ich mich, und zwar brieflich, über meine Lage aussprach. Sie hatte mich zu der Wendung, welche die Dinge zu nehmen versprachen, beglückwünscht und die von mir betreffs der geschäftlichen Fragen eingenommene Haltung vollständig gebilligt. Natürlich dürfte ich nicht darüber streiten, ob das Silber, Leinen und Tischzeug, dies oder jenes Möbel Johanna oder mir gehörte. Mochte sie nehmen, was ihr gefiel, wenn sie nur selbst mit allem, was an sie erinnerte, für alle Zeiten aus meinem Gesichtskreise verschwand! »Ich brauche Dir nicht zu sagen,« setzte sie hinzu, »daß ich keinen glücklicheren Gebrauch von meinem Gelde machen kann, als wenn ich Dir gebe, was Du davon haben willst. Ich bin reich und habe wenig Bedürfnisse. Von einer Schwester darf ein Bruder borgen oder nehmen, wie es ihm gefällt. Du weißt, wie ich in dieser Beziehung denke.« Aber ich geriet nicht in die Lage, von ihrem Anerbieten Gebrauch zu machen. Ich kam bei meiner zurückgezogenen Lebensweise mit dem Wenigen, was ich besaß, und mit meinem Gehalt leicht aus. Dies hatte ich zum großen Teil auch meinem neuen Diener zu verdanken.

Mertens war ein Kleinod für mich. Er sorgte für mich nicht allein mit nie ermüdender Aufmerksamkeit, nein, mit Liebe möchte ich sagen. Er hatte in den ersten drei Tagen bis in alle Einzelheiten gelernt, was ich zu meiner persönlichen Bedienung von ihm verlangte. Meine Wohnung sah wie ein Schmuckkästchen aus. Ich glaube, er gebrauchte eine Viertelstunde, um ein Paar Stiefel zu putzen. Aber wie sie auch glänzten! Er hatte in früheren Jahren häufig seine Mahlzeiten selbst zubereiten müssen und besaß natürliche Anlagen zur Kochkunst; diese wußte er in geheimnisvoller Weise auszubilden. Als ich eines Tages angespannt nach Hause kam und ihm auftrug, aus einem benachbarten Speisehause etwas Essen für mich zu holen, fragte er schüchtern, ob ich es einmal mit seiner Küche versuchen wollte. Und als ich dies bejahte, bereitete er mir ein äußerst einfaches, aber gleichzeitig recht schmackhaftes kleines Mahl, das mir auf dem mit einem blendend weißen Tuche gedeckten Tische und mit dem schön geputzten alten Silberzeug besser mundete als die reichlichen Mahlzeiten, die ich seit Monaten im Klub einnahm. Von jenem Tage ab aß ich nun häufig zu Hause, und es schien Mertens große Freude zu machen, wenn er mir bei solchen Gelegenheiten eine »Überraschung« in Form einer neuen Schüssel, deren Fertigung er einer der Köchinnen im Hause abgelernt haben mochte, bereiten konnte. Ein Schmerz war es ihm, wenn ich appetitlos dasaß und die Schüsseln, wenig berührt, aus dem Speisezimmer nach der Küche zurückgetragen werden mußten.

»Es ist wohl nicht gut?« fragte Mertens dann besorgt.

»Es ist ganz gut, aber ich habe keinen Hunger.«

»Sie sehen angegriffen aus. Sie sollten sich etwas Erholung gönnen.«

Mertens hatte noch nicht gelernt, in der dritten Person zu seinem Herrn zu sprechen. Wenn es in meiner Absicht gelegen hätte, ihn zu entlassen, so würde ich ihm beigebracht haben, in welcher Form ein gutgeschulter Diener mit seinem Herrn zu sprechen hat; aber ich fühlte mich durch Mertens' vertraulichere Redeweise nicht verletzt und hätte ihm keine Lehren geben wollen, die die gesellschaftliche Entfernung zwischen uns größer, im Äußeren erkennbarer gemacht hätte, als sie es war. Mir war Mertens »respektvoll« genug, da er mir alles zuliebe tat, was er mir an den Augen absehen konnte, und da er in einer Weise zurückhaltend war, die mir dafür bürgte, daß ich niemals taktloser Vertraulichkeiten seinerseits gewärtig zu sein brauchte. Ich hatte ihn deswegen auch nicht in Livree gesteckt. Er bediente in einem von mir abgelegten Anzuge, den er sich irgendwo hatte passend machen lassen, und in dem er ordentlich und gut aussah.

»Sie sehen angegriffen aus – Sie sollten sich etwas Erholung gönnen«, hatte mir Mertens eines Tages wieder einmal gesagt. Er war von den Leuten, die im alltäglichen Leben mit einer sehr geringen Zahl von Redensarten auskommen. Nach meiner Erfahrung sind derartige einfache Menschen gewöhnlich zuverlässig. Sie sagen bei der ersten Gelegenheit, was sie sagen wollen, und ändern daran im Wiederholungsfalle nichts.

»Ja, Mertens, Sie haben recht. Ich bin müde. Ich will sehen, ob ich einen Urlaub bekommen kann.«

Das war im Monat Juni, der in jenem Jahre ungewöhnlich warm auftrat. Ein vierwöchiger Urlaub wurde mir ohne weiteres bewilligt. Man sah mir wohl an, daß ich ihn gebrauchte.

Meinen Reiseplan hatte ich bereits gemacht. Ich wollte zunächst nach Nortorf fahren und dort zwei oder drei Tage bleiben. Mertens sollte mich dorthin begleiten und in Nortorf zurückbleiben. Ich gedachte, ihn beim alten Franz in die Lehre zu geben, um von diesem in die Geheimnisse des »höheren Dienstes« eingeweiht zu werden. Ich kannte Franz, und ich kannte auch Mertens schon genügend, um sicher zu sein, daß sich die beiden gut vertragen würden.

Von Nortorf wollte ich dann an die Nordsee gehen. Ich kannte dort von früher her einen entlegenen Ort, nach dem sich nur wenige Reisende oder Badegäste, und auch diese erst im Hochsommer, verirrten. Ich war sicher, dort keinen Bekannten anzutreffen, auch niemand, der sich hätte versucht fühlen können, Bekanntschaft mit mir anzuknüpfen, und ich wußte aus Erfahrung, daß ich in einem kleinen, reinlich gehaltenen Hause, hoch auf der Klippe, auf der sich ein Teil des Dorfes ausbreitete, gute Aufnahme finden würde. Peter Köhn, der Besitzer desselben, hatte mir auf meine telegraphische Anfrage bereits geantwortet, daß ich willkommen sein würde.

Elise empfing mich in Nortorf mit offenen Armen und fing an zu weinen, als sie mich begrüßte; auch Karl und Ellen behandelten mich mit wohltuender Herzlichkeit.

»Du solltest bei uns bleiben,« sagte Karl; »was willst du in dem kleinen Neste an der See anfangen, wo es um diese Zeit kaum etwas zu essen gibt? Laß Ellen für dich sorgen. Du schlotterst ja in deinen Kleidern! Hast du mit einem Doktor gesprochen? Was fehlt dir eigentlich?«

Ich dankte: ich hatte nun einmal mein Herz darauf gesetzt, an die See zu gehen. Sie hatte mir noch immer gut getan. Ich durfte mich auch diesmal auf sie verlassen. Einen Arzt hatte ich nicht gesprochen. Es fehlte mir auch nichts Besonderes.

Karl beruhigte sich nicht sogleich bei diesen Erklärungen, und er und Ellen kamen wiederholt freundschaftlich dringend auf ihre Einladung, bei ihnen zu bleiben, zurück. Aber ich sehnte mich nach vollständiger Ruhe, ich wollte ganz frei sein, und dazu mußte ich für Geld bei fremden Leuten wohnen. Die aufmerksamste Gastfreundschaft konnte mir nicht bieten, was ich finden wollte. – Ich gehörte nicht zu denen, die Zerstreuungen suchen, um einen Kummer zu betäuben, und die sich dabei gewöhnlich ganz gut vergnügen. Und ich hatte einen schweren Kummer, der mit derselben Stunde an mir zu nagen angefangen hatte, als die Hoffnung, ich werde meine Freiheit wieder gewinnen können, in mir erwacht war. Aber das durfte ich keiner lebenden Seele anvertrauen.

Elise hatte eine Ahnung davon! Wie ich dies erfuhr, war eine große Überraschung und gleichzeitig eine Offenbarung für mich. Das Gespräch, das dahin führte, begann am Vorabend meiner Abreise im Parke, wo ich nach dem Essen einen Spaziergang mit Elisen unternommen hatte. Karl war, nach seiner Gewohnheit, über den kurz vor Tische angekommenen Zeitungen eingeschlafen, Ellen besorgte verschiedenes in der Wirtschaft und wollte später die Kinder zu Bett bringen.

»Bist du sicher, keine Geldsorgen zu haben?« fragte mich Elise.

»Ganz sicher!«

»Aber du besitzst ja so gut wie nichts mehr, mein armer Bruder.«

»Genug für meine jetzigen Bedürfnisse.«

»Ja, aber später?«

»Laß ›später‹ spätere Sorge sein, liebes Kind! ›Später‹ kommt manchmal gar nicht und ist außerdem für die meisten Menschen nicht sehr lang. Ja, wenn ich fünfhundert Jahre zu leben und heute darüber nachzudenken hätte, wie ich mich während der mir noch verbleibenden vierhundertundsiebzig Jahre durchschlagen sollte, ja, dann könnte ich mir auch Geldsorgen machen; aber das Leben ist ja kurz.«

»Wie kannst du nur so sprechen? Du betrübst mich. Du bist jung und hast, so Gott will, noch ein langes Leben vor dir!«

»Ich wollte dich nicht betrüben, liebe Liese. Aber was soll ich dir sagen? Du fragst mich, ob ich Geldsorgen habe, und da antwortete ich ›nein‹ und erkläre dir, daß ich auch keinen vernünftigen Grund sehe, mir welche zu machen.«

»Aber was fehlt dir? Was macht dich krank und elend jetzt, da doch alles so viel besser zu werden verspricht, als wir vor kurzem noch hoffen durften?«

»Ja, was mir fehlt«, sagte ich nachdenklich, und dabei seufzte ich unwillkürlich.

»Was fehlt dir, Hermann? Sag' es mir, sage es deiner Schwester, die niemand auf der Welt so lieb hat wie dich, der du alles – verstehst du? – alles anvertrauen kann!«

Was sollte das bedeuten? Ich schwieg.

Wir waren auf einer Lichtung angelangt. Feierliche Ruhe lag über den alten Bäumen, die im bläulichen Lichte des Mondes schliefen. Kleine, in milden Opalfarben erglänzende Wolkenstreifen zogen langsam vor der am tiefen Himmel goldig leuchtenden Scheibe vorüber, sie sanft verschleiernd, ohne sie zu verdecken oder zu verdunkeln.

»Es macht mich traurig, etwas Geheimes von dir zu wissen, ohne daß du es mir anvertraut hast«, fuhr Elise leise fort. »Es kommt mir vor wie Verrat an dir.«

»Bitte,« sagte ich sanft und eindringlich, »bitte, erkläre mir, was du sagen willst. Du ahnst nicht, wie sehr mich deine dunkeln Worte beunruhigen.«

Elise ließ sich nicht drängen. Sie sagte mir: »Sei nicht böse, wenn ich mich irre«, und dann erzählte sie, was außer ihr noch viele wußten, sicherlich Johanna und Lothar, und was mir nun Johannas Anspielungen aus mein Verhältnis zu Natalie und teilweise auch Lothars unfreundliche Haltung mir gegenüber erklärte. Ich hatte es nicht erfahren, Natalie, mit mir die Meistbeteiligte bei der Angelegenheit, wahrscheinlich auch nicht. Sonst wußte es »alle Welt«! Das geht gewöhnlich so. Aber, daß ich es nicht geahnt hatte! Es war doch so einfach!

Eine aus dem Ellrichsschen Dienst entlassene Kammerjungfer hatte, als sie ihre Stellung nach einem Streite mit Frau Ellrichs verloren, vor geraumer Zeit bei ihrer neuen Herrschaft erzählt, die Verlobung zwischen Herrn von Nortorf und Fräulein Ellrichs sei zurückgegangen, weil Fräulein Ellrichs sich nachträglich in den Bruder ihres Bräutigams verliebt hätte. In der Küche habe man von nichts anderem gesprochen; die Herrschaften hätten es nicht sehen wollen, oder sie wären mit Blindheit geschlagen gewesen. Fräulein Natalie hätte sich gar nicht mehr um ihren Auserwählten gekümmert und nur Augen und Ohren für den andern gehabt, mit diesem sich stundenlang unterhalten, während der Bräutigam mit seinem zukünftigen Schwiegervater Karten gespielt hätte. Herr Lothar von Nortorf allein scheine in der Tat nichts von dem, was vor seinen Augen vorging, bemerkt zu haben. Er wäre seiner Eroberung wohl zu sicher gewesen, und er hätte seinen Bruder um so weniger beargwöhnen können, als dieser der verlobte Bräutigam einer andern gewesen wäre, mit der er sich auch schließlich bekanntlich verheiratet habe; aber das verhindere nicht, daß er seinerseits eine unverkennbare Zuneigung zur Braut seines Bruders gefaßt habe. Man hätte nur zu beobachten brauchen, wie die beiden sich ansahen! Nicht wie Bruder und Schwester. Nein, wie zwei richtig Verliebte! Wie Fräulein Natalie ihr Spiel zu gewinnen gedacht habe, wisse man nicht. Sie habe ihre eigene Vermählung immer hinausgeschoben; aber bald nach der Hochzeit Hermann von Nortorfs mit Fräulein von Wehrenberg sei es eines Tages zu einem heftigen Auftritte zwischen Fräulein Ellrichs und ihrer Mutter gekommen. Der Vater habe sich in die Sache gemischt und gegen die Mutter Partei für die Tochter genommen. Das Ende vom Liede sei gewesen, daß Fräulein Natalie unter einem Vorwande Streit mit ihrem Bräutigam gesucht und ihm am nächsten Morgen seinen Ring und seine Geschenke zurückgesandt habe. Fräulein Natalie sei darauf ganz schwermütig geworden, und ihre Eltern wären deshalb längere Zeit mit ihr auf Reisen gegangen.

Elise erzählte mir dies mit ängstlicher Schonung. Ich mußte verschiedene Fragen an sie richten, um alle Aufklärung zu erhalten, die ich zu haben wünschte; und auch dann noch ließ Elise mich vieles mehr erraten, als aus ihren Mitteilungen klar verstehen. Sie selbst hatte die Geschichte erst lange nach meiner Verheiratung, während eines Besuches in Berlin, von einer unserer Kusinen, Klara von Nortorf erfahren, aber gleichzeitig gehört, daß die Angelegenheit eine Zeitlang Stadtgespräch gewesen war. Frau von Wehrenberg mußte selbstverständlich davon gehört haben, und es war mit Sicherheit anzunehmen, daß sie darüber mit ihrer Tochter gesprochen hatte; auch Lothar konnte die Sache sehr wohl zu Ohren gekommen sein. Auf welche Weise, wußte Elise nicht. Schwerlich hatte er sie aber bereits gekannt, als er der Familie die Auflösung seiner Verlobung mit Fräulein Natalie mitgeteilt, wahrscheinlich hatte er sie erst nach seiner Rückkehr nach Berlin erfahren.

»Ich war vollständig verwirrt, als ich die Geschichte hörte«, fuhr Elise fort. »Meine erste Bewegung war, alles als niedrigen Dienstbotenklatsch in Abrede zu stellen. Klara ist nicht bösartig, wie du weißt, und hat immer große Stücke auf dich gehalten. Sie gab zu, daß in den Berichten der Kammerjungfer vieles verdreht und erlogen sein könnte, aber irgend etwas müßte doch wohl an der Sache gewesen sein, ganz aus der Luft hätte sie das Mädchen nicht greifen können. – Ich konnte an gar nichts anderes mehr denken. Da kam mir auch ins Gedächtnis zurück, wie du am Tage deiner Verheiratung ausgesehen hattest, und schließlich – sei mir nicht böse, wenn ich dich falsch beurteile – bin auch ich dazu gekommen, der Geschichte, teilweise wenigstens, Glauben beizumessen. Daß du nichts Schlechtes gewollt oder getan hast, weiß ich. Das brauchst du mir gar nicht zu sagen, dafür zeugt ja auch deine Verheiratung mit Johanna. Was in Fräulein Ellrichs Herzen vorgegangen, ist mir ganz gleichgültig. Ich kenne sie nicht und werde sie schwerlich kennen lernen. Das einzige, was mich kümmert, ist die Frage, ob du Fräulein Natalie geliebt hast, ob du sie noch liebst, und ob dies es ist und der Gedanke, daß du dich der ehemaligen Braut deines Bruders niemals wirst nähern können, was dich unglücklich macht?«

Elise hatte mit sanfter, lieber Stimme gesprochen. Jetzt trat sie vor mich hin, das bleiche, edle Antlitz noch weißer und schöner im Lichte des Mondes, und sagte mit der innigen, einzigen Zärtlichkeit der älteren Schwester, die auch in dem Manne noch den »kleinen Bruder« liebt und vor Unheil bewahren möchte: »Sag mir, Hermann, was dich quält, sage es mir, mir kannst du doch alles vertrauen! Könnte ich dir je zürnen, selbst wenn du Unrecht getan hättest?«

Ich war zu schwach, um schweigen zu können, und ich öffnete der treuen Schwester mein lange verschlossenes Herz und erkannte nun selbst erst, was es an Schmerz und Liebe barg. Ich sagte alles, was mich anging, ich verschwieg jedoch Nataliens letzte Worte bei meinem Abschied von ihr, denn sie offenbarten ein Geheimnis, das mir nicht angehörte. – Ja, ich hatte Natalie geliebt, ohne es zu wollen, lange Zeit, ohne es zu wissen, ich hatte nie gewagt, meine Gefühle für sie zu prüfen, ans helle Tageslicht zu ziehen, sie hatten in Geheimnis und Dunkel an meinem Herzen gefressen, den wuchernden, ersten Keimen einer tödlichen Krankheit gleich; als ich sie unwillig erkannt, da war schon mein ganzes Sein von ihr durchtränkt gewesen. Doch hatte ich auch dann noch dagegen gekämpft, mutig, ehrlich, mit all meinen Kräften, und kurze Zeit, während des Aufenthalts an den italienischen Seen, gehofft, als Sieger aus dem schweren Kampfe hervorzugehen. Ich hatte mein eigenes Glück nur im Glück Johannas finden wollen und mich diesem allein und ganz geweiht. Die Hoffnung zu gesunden, ehrlich glücklich zu werden, war an Johannas Herzlosigkeit zerschellt. – Oh, über die Leiden eines Ehrenmannes, der neben einer tugendhaften Frau leben muß, die nicht lieben kann, und die er aufgehört hat zu lieben! Wie kurz der Weg von erkaltender Liebe zur Gleichgültigkeit, zur tiefen Abneigung, zum ingrimmigen Haß! Und die Ohnmacht des Leidenden, der zehrende Gram, den er mit sich schleppen muß, während sie in der Kleinheit ihres Herzens wunschlos, erhaben neben ihm durchs Leben schreitet! Die Stimme versagte mir fast: »Ich bin sehr unglücklich gewesen, Elise!«

»Mein armer Bruder!«

Ich gebrauchte geraume Zeit, um mich einigermaßen wieder zu sammeln. Wir hatten uns auf einer Bank niedergelassen. Elise hielt meine Rechte zwischen ihren beiden Händen. Ich fuhr leise fort. Ich sprach von Natalie. Hatte ich es vermeiden können, zu ihr zurückzukehren in dem Maße, wie ich von Johanna abgestoßen wurde. Natalie war in ruhiger, herzgewinnender Weise edel und gut, sie hatte eine stille, doch unverkennbare Freude am Schönen und Großen, alles Niedrige war ihr fremd und unverständlich, Untergebenen gegenüber zeigte sie sich milde und nachsichtig, Gleichgestellten freundlich und verständig, und rührend war ihr Verhältnis zu den Eltern, deren beleidigende Schwächen sie in kindlicher Liebe und Dankbarkeit nicht sah. »Die Stunden, die ich in ihrer Gegenwart verlebt habe, die durch keinen unlauteren Gedanken getrübt wurden, waren die schönsten meines Lebens. Ich kann sie nie vergessen.«

»Wie du sie liebst!« sagte Elise.

»Ja! Und das ist mein Kummer; aber ich kann ihn tragen.«

»Dazu helfe dir Gott!«

Wir erhoben uns und traten den Weg nach Hause an. Nach einer Weile fragte ich Elisen, ob Karl und Ellen die Erzählung der Kammerjungfer kannten.

»Ja.«

»Was haben sie dazu gesagt?«

»Karl kümmert sich, wie du weißt, wenig um das Gerede der Leute. ›Klatsch‹, hat er gesagt und nicht weiter davon sprechen hören wollen. Ich glaube, er denkt nicht mehr daran. Ellen hat so viel zu schaffen im Hause, mit den Kindern und der großen Wirtschaft, daß sie nicht leicht dazu kommt, sich um andere zu kümmern. Und dann ist sie gutmütig und hält auf die Familie, und glaubt nicht ohne weiteres Schlechtes von ihren Verwandten. Sie sagte nur: ›Der arme Hermann sollte mir leid tun, wenn es wirklich wahr wäre, was man von ihm sagt; aber es wird wohl verdreht und übertrieben sein. Schade ist es aber doch, daß Lothar die reiche Partie nicht gemacht hat. Karl sagte mir, Lothar könnte Geld recht nötig gebrauchen.‹ – Seitdem sind wir nicht wieder auf die Angelegenheit zurückgekommen.«

»Und Marie?«

»Ja, Marie! Der hat die Sache natürlich viel Sorgen gemacht – wie mir! Aber sie hat nie etwas Schlechtes von dir geglaubt. Du warst ja immer ihr Liebling und bist es geblieben.«


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